nach Cindy Sherman

dr. phil. fritz franz vogel bild- und kulturwissenschaft Uni Zürich / KHIST • i-mage: inszenierte Fotografie vor/nach Cindy Sherman • 23.10.2006 1....
Author: Gesche Lorenz
24 downloads 0 Views 395KB Size
dr. phil. fritz franz vogel

bild- und kulturwissenschaft

Uni Zürich / KHIST • i-mage: inszenierte Fotografie vor/nach Cindy Sherman • 23.10.2006

1. Einführung in die Thematik: Inszenierungen in Alltag, Politik, Medien, Theater und Kunst 1a. Begriff – Genesis und Verwendung: Inszenierung in aller Munde (gemacht, künstlich hergestellt). Man könnte alles darin subsumieren, was ein Bildausschnitt ist (Kamera/Sucher, Zoom, Beschnitt bei Vergrösserung und bei Druck), dann auch die Art und Weise der Abbildung und deren Präsentation/Veröffentlichung (Einzelbild, Diashow,

Printmedien, digitale Präsentationen, Web). Fotografien sind heute in den meisten Fällen via Offsetdruck vermittelt (Raster, Papierfärbung, Kontext mit Text/Schrift, Printmedien wie Bücher, Kataloge, Fachzeitschriften). – Wortfeld im engeren Sinne: in Szene gesetzt, inszeniert, szenisch, theatralisch, Dekor, staged/constructed photography, mise-en-scène, images fabriqués, Szenerie (fiktive Umgebung, Ambiente), Bühnenbild (Dekor zur Situierung eines Ereignisses), Ausstattung (Materialität, Timbre, Energie), Maske (zweites Gesicht, andere Haut/Identität, dann auch Schminke), Verkleidung (Rollenwechsel), dann auch literarische Momente (Narration/Erzählung), Dramaturgie (Bezüge aufeinander, Schnitttechnik, Präsentationsmodi, Tableau) 1b. Bezug zur Fotogeschichte, zur Kunstgeschichte – Theaterfotografie: ist grundsätzlich dokumentarische Fotografie (Aufzeichnung von Stücken, Rollenporträts, Bühnenbilder, Pressematerial) – Varianten mit unterschiedlicher Betonung: Fototheater, Fotoperformance, narrative Fotografie, szenische Fotografie, Fotogeschichten/Fotosequenzen, inszenierende/inszenierte Fotografie – Theatralität: Herstellung/Produktion mit Aussenwirkung, reale Anwesenheit von Spielern und Publikum (spielen–zuschauen), Aufführungspraxis (z.T. nur performativ/einmalig, z.T. eine gewisse Wiederholbarkeit), Effekt und Affekt, Information und Emotion, Realität und Künstlichkeit, Imaginations- und Repräsentationskraft – Fringe-Thema: Inszenierte Fotografie ist ein Randthema innerhalb der Fotografie: zunehmend im künstlerischen Bereich (Individualismus, Verschwinden der Technik, resp. Allgemeingültigkeit und -verfügbarkeit der Technik, Hervorbrechen der Idee, Absolution der Idee, relativ schnelle mediale Umsetzung, mediale Rezeption und Wirkung, Teil der neuen Rezeption innerhalb der Neuen Medien, die Fotografie als prima inter pares, Fotografie als mittlerweile etablierte Kunstform – Formen: allegorische Bilder (Personifikationen von Begriffen, Sprüchen, Motiven), Metaphern (in sich geschlossene, z.T. hermeneutische Sinn-Bilder, symbolische Ebene), icons (Schlüsselbilder, stehende Begriffe/Bilder) als Quellen für fotografische Inszenierungen, Aktualisierungen – Rezeption: heute vor allem im Kunst- und Medienkontext, noch nicht jedoch im Theaterkontext (Fotografie als junges Medium ist oft auch der Einstieg in die künstlerische Tätigkeit) – künstlerische Methoden: von der Spiegelung bis zur Pervertierung des Realen, Verführungen, symbolischer Transfer, Einbau einer unbewussten Ebene (Schatten/Ahnung, Aura/Numinoses/Mystik) – Fragen nach der Notwendigkeit, dem theoretischen Unterbau (Idee>Werk, i-mage/image) 1c. Herkunft Die inszenierte Fotografie bewegt sich in verschiedenen Kontexten, erhält somit auch von verschiedenen Quellen Nahrung. – anthropologische Konstanten: Spiel-, Darstellungs- und Mitteilungsbedürfnis, kreative Beschäftigung/Produktion, Zeigegestus einsiedlerstr. 34

ch – 8820 wädenswil

fon/fax: 044 780 07 51

e-post: [email protected]

dr. phil. fritz franz vogel

bild- und kulturwissenschaft

– Theater: Freizeit-, Vereinsbeschäftigung, populäres gesellschaftliches Ereignis, Melodramatik in der Umsetzung, Volkstheater in unterschiedlichen Ausprägungen (Volkstheater wie Commedia dell’arte, Komödie, Lustspiel, Backstage-Comedy, Burleske, Persiflage, Boulevard- und Kriminalstück; E-Theater wie Schauspiel, Drama, Tragödie, Lehrstück; Stücke mit religiöser Komponente wie Mysterien-, Mirakel- und Passionsspiel, Elegie, Parabel und Gleichnis; freiere (Unterhaltungs)formen wie Satire, Farce, Kabarett, Traumspiel, Tableau, Tableau vivant, Monolog, Biografie, Rollenspiel, Fetischtheater und Text-Bild-Collage. Ingredienzien des Theaters sind: Präsentationsformeln/Formalisierungen (Akte/Szenen), Referenzen (historisches Bewusstsein), Auflösung historischer Ebenen/Synchronismus, Auftritte, Publikum, Rituale/Wiederholbarkeit, Experiment, soziale Interaktion, Rezeption/Kritik. Hinterfragung des Wahrheitsgehaltes (Illustration/Fiktion/Fake vs. Aufklärung/Realität)

– Literatur/Geschichte/Kunstgeschichte (Antike, Romantik, 19.Jh.): Geschichten/Plots, Ereignisse/Erzählstrang – Tableau vivant: Kunstform der Rezeptionsästhetik, gesellschaftliches Ereignis, Ratespiel/Infotainment – Diorama/Jahrmarkt: Unterhaltung, Amusement (Abgrenzung zwischen Dokumentarfoto und inszenierter Fotografie ergibt sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Ambitionen der straight photography) – Film: Wechselwirkung (vor allem zur Stummfilmzeit), Standfotografie (Teil der Werbung). Dem Film fehlt die Theatralität (bloss virtuelle Anwesenheit von Figuren) – Werbeplakate: Collage/Montage, Einbindung von Text/Typografie als Teil der Binnenerzählung – allgemeine Ikonografie: Selbstläufer aus dem Geist der Romantik (Individuum im Zentrum: eigene Sichtweisen, eigene Individualität, Fabulierlust/-kunst, Kopierwille/cut&paste, eine der Mode inhärente Kreativitätstechnik), heute Postpostromantik, resp. Postpiktorialismus (Bild als ideeller Träger, als Metapher/Zeuge/Ikone, Bilderinflation, Text/Bild) 1d. Bezugsfelder Wo bewegt sich die inszenierte Fotografie? Es gibt keine generelle Richtung, von da nach dort, es sind verschiedene parallele Modi von Inszenierungsstrategien vorhanden und von technischen Einflussmöglichkeiten abhängig. Zu unterscheiden sind sie grosso modo nach verschiedenen Gesichtspunkten, obwohl diese Unterteilung nicht immer Sinn macht. Verwandtschaften können sich aus sich widersprechenden Optiken ergeben. – inhaltlich (Personen, Objekte) und formal (Einzelbild, Serien, Tableau) – technisch (Daguerreotypien, Film/Papier-Prozess, Sofortbild, Dia, Digitaldruck auf Fotopapier, auf Textilien, auf Keramik uam., Plotter); Tageslichttechniken wie Kompositfotografie, Collage, Edeldruckverfahren; Labortechniken wie Montage, Sandwich-Verfahren, Solarisationen, Kopien auf spezielle Träger wie Baryt, PEPapier, Dia, Papier; digitale Bearbeitungstechniken mit Photoshop – historisch (kamerabedingt, Ansichtskarten, surrealistische Tendenzen, Kunstfotografie) – ästhetisch (Populärfotografie, signierter vintage print, Edition, Museumsabzug, Offsetdruck); Ansprüche (individuell, peergroup, gesellschaftlich, regional/international), Präsentationsformen (Zeitung, Ausstellung, Buch) und Kontextmodi (Dokument, Werbung, Experiment, Kunst) – Inszenierungsstile: Selbstinszenierungen, Einzelfigur, Gruppenfigur, Stillleben, narrative Tableaus, fotografische Skulpturen oder Objektinstallationen, Miniaturbühnen, Grossbühnen, Naturbühnen, analog oder digital montierte Szene, Szenen mit Tieren. 1e. Personalunion/Verantwortung in der künstlerischen Fotoinszenierung (Autor als Produzent) – Künstler/Erzähler: Idee/Kreation, Konzept, Kontext, Umsetzung, Quellenrezeption (Literatur, Ikonografie, Kulturgeschichte, Werbung), Narration/Dramaturgie (verschiedene Motivationen wie Aufklärung, Allegorie/Metapher, Parodie, Fake, Aktualisierung/Ästhetisierung, Zeitvertreib/Divertimento), Einrichtung/Konstruktion, Szene/Szenerie, Bühne/Kulisse, Requisiten, Figuren, Objekte. Dabei gibt es drei wesentliche einsiedlerstr. 34

ch – 8820 wädenswil

fon/fax: 044 780 07 51

e-post: [email protected]

dr. phil. fritz franz vogel

bild- und kulturwissenschaft

Erzähltypen: der nüchtern-dokumentarische Erzähler, der retrospektiv-autobiografische Erzähler, der expressiv-fiktionalisierende Erzähler – Direktor/Regisseur: Organisation, Bestimmung der Technik, der Kamera, Aufnahmematerial, Aufnahmewinkel, Optik, Licht, Verlauf (Einzelbild, Serie/Sequenz, Werkgruppe, Zyklus, Druck etc.), Budget/Geldbeschaffung, Führung von Mitarbeiterinnen, Dokumentation/Archiv, Kontextualisierung, Präsentation, Vertrieb, Copyright – Akteur: Personen//Darsteller, Rollen/Identitäten, Kostüm, Maske, Handlung/Attitüden, gestisches/(panto)mimisches Vokabular, Spielweise/Interpretation, Dauer. Allenfalls Stellvertreter-Personen, die den Part des Akteurs oder die im Voraus festgelegten Rollen übernehmen (technische Komplexität, erhöhter Personalaufwand, Genre- und Sittenbilder mit Distanz zu BildautorIn)

Ausgewählte Literatur Alfano Miglietti, Francesca: Extreme bodies. The use and abuse of the body in art. Milano 2003. (M. Barney, Boltanski, Koons, Moffatt, Molinier, Mori, Orlan, Schwarzkogler, Serrano, Sprinkle, van Lamsweerde, Witkin) Ardenne, Paul: L’image corps. Figures de l’humain dans l’art du 20e siècle. Paris 2001. (Appelt, Barney, Bellmer, Biefer&Zgraggen, Blume, Boltanski, Cahun, Calle, Coplans, Dillenkofer, Export, Fleischer, Gilbert&George, Klauke, Lüthi, Molinier, Mori, Morimura, Newton, Orlan, Pierre&Gilles, Schwarzkogler, Sherman, Sprinkle, Tobreluts, Tunick, van Lamsweerde, Wurm) Baqué, Dominique: La photographie plasticienne. Un art paradoxal. Paris 1998. (Appelt, Boltanski, Chevallier, Coplans, Costin, Faucon, Fischli/Weiss, Fleischer, Hocks, Jones, Knorr, McCarthy, Michals, Moffatt, Mogarra, Orlan, Pierre&Gilles, Samaras, Sherman, Morimura, Simmons, Skoglund, Wall, Wegman, Webb, Witkin) Coleman, A.D.: The grotesque in photography. A first collection of photographers whose fantastic visions of life are as revolutionary as those of the Impressionists. New York 1977. (Adál, Carey, Dutton, Krims, Meatyard, Michals, Mortensen, Samaras, Tress, Uelsmann) Cotton, Charlotte: The photograph as contemporary art. London 2004. (Bosse, Bratkov, Calle, Casebere, Crewdson, diCorcia, Divola, Fischli/Weiss, Fontcuberta, Gaskell, Hubbard/Bichler, Hunter, Jones, Kaoru, Kurland, Lucas, Manchot, McMurdo, Meatyard, Mir, Moffatt, Mori, Morimura, Orimoto, Sherman, Shonibare, Taylor-Wood, van Lamsweerde, van Meene, Wall, Wearing, White, Wurm) Doswald, Christoph (Hg.): Missing link. The image of man in contemporary photography. Zürich 2000. (AK) (Barney, Beecroft, Breuning, G. Brus, Coplans, diCorcia, Dillenkofer, Export, Gilbert&George, Hubbard, Klauke, Lüthi, Manon, Markowitsch, Michailow, Moffatt, Mori, Morimura, Pierre&Gilles, Rondinone, Saudek, Schwarzkogler, Sherman, Shonibare, van Lamsweerde, Villiger, Wall, Wegman, Witkin, Wurm) Exit 21. Léon/Spanien 2006. Themenheft Remakes. (Clark et Pougnaud, López, Morimura, Muniz, Ray, Rheims, Samuels, Stehli, Vilariño, Wang, White, Witkin) Folie, Sabine / Glasmeier, Michael: Tableaux vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video. Wien 2002. (AK) (Antin, Cahun, Cameron, Export, Gilbert&George, Klossowski, Morimura, Orlan, Pierre&Gilles, Seiffert, Sherman, Sugimoto, Wilke, Yevonde) Grundberg, Andy / McCarthy Gauss, Kathleen: Photography and art. Interactions since 1946. New York 1987. (AK) (Brooks, Callis, Cowin, Cumming, Divola, Elk, Kasten, Levinthal, Michals, Samaras, Simmons, Sherman, Skoglund, Wegman, Witkin) Hoy, Anne H.: Fabrications. Staged, altered, and appropriated photographs. New York 1987. (Antin, Boltanski, Brooks, Callis, Charlesworth, Cowin, Drahos, Faucon, Krims, Levinthal, Meatyard, Michals, Nicosia, Rainer, Samaras, Sherman, Simmons, Skoglund, Tosani, Tress, Webb, Wegman, Witkin uam.) Köhler, Michael: Das konstruierte Bild. Fotografie – arrangiert und inszeniert. München/Schaffhausen 1989. (Boonstra, Brooks, Colvin, Divola, Drahos, Evers, Faucon, Fischli/Weiss, Gantz, Haxton, Hocks, Kasten, Koons, Nagatani, Nicosia, Sherman, Sixma, Tas, Tress, Webb, Witkin, Zwerver) Kunstforum international. Bd.83, 1986 [Themenheft: Inszenierte Fotografie I (Evergon, Gantz, Kunc, Ottinger, Oyne, Prinz, Wegman, Witkin)]; Bd.84, 1986 [Themenheft: Inszenierte Fotografie II (Blume, Boltanski, Brus J., Felber, Fischli/Weiss, Gerdes, Hocks, Klauke, Lüthi, Manon, Sherman, Tas, Tillmann/Vollmer, Wall, Webb)]; Bd.129, 1995 [Themenheft: Die fotografische Dimension (Appelt, Boltanski, Fischli/Weiss, Hocks, Krims, Prince, Samaras, Sherman, Simmons, Skoglund)]; Bd.132, 1996 [Themenheft: Die Zukunft des Körpers (Käch, Orlan, Sherman, Soltau, van Lamsweerde )]; Bd.171, 2004 [Themenheft: Der Gebrauch der Fotografie I (Blume, Cameron, Sherman, Talbot, Wall)]; Bd.172, 2004 [Themenheft: Der Gebrauch der Fotografie II (Bayard, Beecroft, Bourdin, Export, Florschuetz, Klauke, Lerski, Wall)]. Lingwood, James: Staging the self. Self-portrait photography 1840s–1980s. Frome/London 1986. (AK) (Appelt, Bayard, Bellmer, Chadwick, Coplans, Dater, Day, Golden, Krims, Lerski, Meatyard, McBean, Michals, Molinier, Mortensen, Rainer, Ray, Rejlander, Samaras, Sherman, Tress, Uelsmann) Pauli, Lori: Acting the part. Photography as theatre. London/New York 2006. (AK) (Antin, Barney, Bartholomew, Bayard, Cahun, Cameron, Carroll, Crewdson, Day, Dolejš, Evergon, Hiller, Hosoe, Kells, Krims, Meatyard, Michals, Morimura, Mortensen, Nes, Price, Ray, Rejlander, Robinson, Sherman, Shonibare, Wall, Wang, Yevonde, Zahalka) Roche, Denis: Autoportraits photographiques 1898–1981. Paris 1981. (Appelt, Block/Broekmans, Boltanski, Bramly, Calle, Chevallier, de Nooijer, Export, Gilbert&George, Golden, Halsman, Krims, Lüthi, Magritte, Michals, Molinier, Orlan, Ray, Samaras, Sherman, Tress, Wegman) Sayag, Alain: Images fabriquées. Paris 1984. (AK) (Boltanski, Boonstra, Brooks, Callis, Cumming, Drahos, Faucon, Krims, Nicosia, Noijer, Ray, Saudek, Simmons, Skoglund, Tosani, Webb, Witkin) Sobieszek, Robert A. / Irmas, Deborah: The camera I. Photographic self-portraits from the Audrey and Sydney Irmas Collection. New York 1994. (AK) (Appelt, Bartholomew, Bellmer, Cahun, Cowin, Dater, Golden, Krims, McBean, Meatyard, Michals, Molinier, Mortensen, Rainer, Ray, Rejlander, Samaras, Saudek, Sherman, Uelsmann, Wegman, Witkin) Vergne, Philippe / Legrand, Véronique: L’art au corps. Le corps exposé de Man Ray à nos jours. Marseille 1996. (AK) (Barney, Bellmer, Brus, Export, Gilbert&George, Journiac, Klauke, Lüthi, McCarthy, Molinier, Ontani, Orlan, Schwarzkogler, Sherman, Elk, van Lamsweerde, Wegman, Wilke) Vogel, Fritz Franz: The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005. Köln 2006. Aktuellste Liste unter www.stagedphotography.ch Walter, Christine. Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie: Eileen Cowin, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Tayler-Wood. Weimar 2002. einsiedlerstr. 34

ch – 8820 wädenswil

fon/fax: 044 780 07 51

e-post: [email protected]

dr. phil. fritz franz vogel

bild- und kulturwissenschaft

Analyseraster für Fotografien Die schriftliche, verbalisierende Datenerhebung, also ein Leitfaden der Fotoanalyse, im Hinblick auf eine sinnvolle und erschliessende Katalogisierung und Archivierung des Bildes umfasst folgende Fragestellungen: 1. Bezüglich Erwerb – Erscheinungsort (Zeitung, Magazin, Buch, Loseblattsammlung etc.) – Fundort (herrenlose Ware, Archiv, Sammlung etc.) – Aufbewahrungsort (private Sammlung, Album, lose Fotos in Schachtel) (Was ist bewusst nicht vorhanden? Wo sind Fehlstellen? Wo Bruchstellen? Wo Verdichtungen? Auswahlmodi als Ausdruck einer psychischen Binnenstruktur) – Primär-, Sekundär- oder Tertiärquelle und deren Erscheinungszeit – Erscheinungsart (Negativ, Originalfoto manueller oder industrieller Herstellung, Reprografie, digitalisierte Kopie, digitale Datei, Pixelbild, gedrucktes Bild, gerastertes Bild) – Grösse, Beschnitt, Oberfläche, Tönung, Papierrand – Einzel- oder Reihenbild, intendierter Bildvergleich – Grad der Öffentlichkeit (geheim, privat, öffentlich, Gemeinplatz) – Grad der Wahrheit (autochthon, imitiert, zensuriert, gefälscht) – Eingriffe in die Sammlung (Zensur, Auswahlmodi) – – – –

Erscheinungszeit in der Primär-, Sekundär- oder Tertiärquelle Zeitraum der Sammlertätigkeit Zeitpunkt des Bilderwerbes generelle Provenienz (Kette der Eigentümer)

2. Bezüglich Analyse der Cadrage – Aufnahmeort des Bildes – Aufnahmezeit des Bildes (Datierbarkeit aufgrund von modischen Accessoires und Design von Schmuck, Kleider, Haarschnitt, Bildzubehör, aufgrund der Freizügigkeit der Gruppen- und Personengliederung, der Aufnahmetechnik, Vergleich zu zeitspezifischen kulturellen Äusserungen wie Warenhauskataloge, historischen Quellen, künstlerischer Produktion etc.) – Textinformation der Bildlegende, der Beschriftung (Hinweise auf die sozialen, kulturellen, politischen, ökonomischen oder wissenschaftlichen Grundlagen) – Information der industriellen Bildfertigung (Trägermaterial, Stempel, Datierung, Codierung) – Aufnahmesituation, Staffelung des Bildaufbaus: Vorder-, Mittel- und Hintergrund, Zentrum und Umfeld – Sach- oder Dokumentaraufnahme

3. Bezüglich Inhalt – Ikonografische Beschreibung des Bildes – Personen und ihre Erscheinung – Gegenstände und ihre Erscheinung – Verhalten der Abgebildeten gegenüber der Aufnahmesituation (Auftragsarbeit, Momentaufnahme, Schnappschuss etc.) – soziales Umfeld: Bild einer privaten oder einer öffentlichen Geschichte/Biografie, Grad der Privatheit/Öffentlichkeit, Identität/Identifizierbarkeit der Abgebildeten – Fakten – Vermutungen und Hypothesen

4. Bezüglich Autorenschaft – Wer hat das Bild gemacht, ausgelöst? – Ist das Bild ein digitales Konstrukt ohne Autor? Welche Haltung des Autors steckt dahinter? – Welches ist die Intention des Bildes? Subjektives oder objektives Bild? Welches sind offene oder versteckte Absichten und Interessen? einsiedlerstr. 34

ch – 8820 wädenswil

fon/fax: 044 780 07 51

e-post: [email protected]

dr. phil. fritz franz vogel

bild- und kulturwissenschaft

– Aufnahmebedingungen (Auftragsarbeit, Gefahrensituation der Aufnahme, aufnahmetechnische Leistungen und Defizite, technisches Wissen, biografischer Hintergrund, Kenntnisse der zu fotografierenden Umstände, klimatische Bedingungen/Wetter, physische und psychische Aufnahmebereitschaft, Zugänglichkeit des zu erforschenden Gegenstandes) – soziales Verhältnis zwischen Fotograf und fotografiertem Objekt oder Subjekt (Anteilnahme des Fotografen am Geschehen, am sozialen Umfeld, am Konfliktpotential) – Anwesenheit des Autors im Bild (Selbstauslöser, physische oder psychische Anwesenheit oder Versteck hinter mechanisch-elektronischer Funktion)

5. Bezüglich Aufnahmetechnik – analog, digital (Auflösung, Pixel) – Kamera- und Filmmaterial – Kamera- und Filmformat (Kleinstbild, Kleinbild, Mittelformat, Grossformat, Spezialkameras wie Luftaufnahmen, Mikroskopie, Infrarot etc.) – Brennweite (Weitwinkel-, Normal- oder Teleoptik) – Standort und Haltung des Autors – Distanz zwischen Objekt und Kamera – Grad der Inszenierung – Grad und Art der Gestaltung des fertigen Bildes – Kunst-, Blitz- oder Tageslicht

6. Bezüglich Rezeption – Private oder öffentliche Verwendung – Beziehung zwischen Bild und Benutzer, Gebrauchsweise (Archiv, Rahmung, Ordnung, ästhetische Aufmachung) – Stellenwert des Bildes, der Bilder beim Besitzer (Bilder als Teil der den Besitzer umgebenden Güter, der Objektwelt, der geistigen und materiellen Kultur) – Ergebnis von Interviews oder Assoziationsketten bei Gewährsleuten – Vergleich und Differenzierung mit andern Bildern (Kategorienbildung)

7. Bezüglich Interpretation – Wesen des Bildes, der Bilder? Haben die Bilder Beweischarakter? Sind es Genrebilder oder sind sie experimentell? – Was löst die Fotografie im Sinne einer non-verbalen Kommunikation beim Betrachter aus? – Welche Beurteilung ergibt sich aus historischer und aus aktueller Sicht? – Ist die Bildinformation lediglich zur Illustration gut oder verweist sie auf einen interessanten Kontext? («Ein Bild zeigt mehr als tausend Worte!»)

Die inszenierte Fotografie als Spezialgebiet umfasst neben den allgemeinen Fragestellungen weitere Differenzierungsmerkmale: – Genre (Selbstbild, Einzel-/Gruppenfigur, Miniaturbühne, Grossbühne, Naturbühne, analoges/digitales Bildszenerie) – Grad der Inszenierung von aussen (Authentizität, Artifizialität, Genrebild) – Grad der Inszenierung von innen (Aussagekraft, Neuheit, Hermetik/Hermeneutik, Affekt/Effekt, Spiel- und Handlungsrepertoire, Szenerie/Kulisse, Requisiten) – Fotoart (Szenenfotos, Rollenporträts oder Bühnenbildfotografien) – Auftrag (Theaterinstitution, Beteiligte, Presse, Einzelbild/Serie) – Verwendung (Illustration/Bildbeleg, Zeitung/Zeitschrift, Archivdokumentation/Aushangfotografie) – gesellschaftliche Zuschreibung (Privaterinnerung/ kollektives Gedächtnis, objektive Authentizität/subjektive Fotografenhaltung) – individuelles Fotografieverständnis (journalistisches Auftragsbild/künstlerische Umsetzung einer Aufführung/freie künstlerische Arbeit)

einsiedlerstr. 34

ch – 8820 wädenswil

fon/fax: 044 780 07 51

e-post: [email protected]