Manfred Gailus

Mir aber zerriss es das Herz Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz

Vandenhoeck & Ruprecht

Manfred Gailus: Mir aber zerriss es das Herz

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

Manfred Gailus: Mir aber zerriss es das Herz

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Manfred Gailus: Mir aber zerriss es das Herz

Manfred Gailus

Mir aber zerriss es das Herz Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz

2. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

Manfred Gailus: Mir aber zerriss es das Herz Manfred Gailus, Professor für Neuere Geschichte in Berlin, forscht, schreibt und spricht vor allem über die Geschichte der protestantischen Kirchen seit dem Kaiser­ reich. Er hat dazu zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht. 2008 erschien der von ihm herausgegebene Sammel­band Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im »Dritten Reich«. Mit der Lebensgeschichte von Elisabeth Schmitz beschäftigt er sich seit vielen Jahren.

A Vicky Pothou pour tout

Mit 33 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55008-3 ISBN 978-3-647-55008-4 (E-Book) Umschlagabbildung: © Dietgard Meyer © 2011, 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: fgb freiburger graphische betriebe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt 7

Mit großer Verspätung: Eine protestantische Ikone wird entdeckt

18

Kindheit und Jugend in Hanau und Frankfurt am Main

38

Zwischen Zwanzig und Dreißig: Studium in Berlin und die Harnacks

58

Der Beruf, das Alleinleben und die Freundinnen

80

Als Hitler kam: Martha Kassel, Karl Barth und die Denkschrift gegen die Judenverfolgung

108 Kristallnachtschock, Frühpensionierung und Judenhilfe: Gefährliche Zuspitzungen 1938 bis 1943 142 Rückkehr nach Hanau: Heimatprovinz als geistiges »Exil«? 174

Geschichte eines Geheimnisses: Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift in der Erinnerungskultur

189 Elisabeth Schmitz und der Protestantismus des 20. Jahrhunderts 218

Danksagung

221 Anhang

–  5  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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I Mit großer Verspätung: Eine protestantische Ikone wird entdeckt »Als wir zum 1. April 33 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmer­ kästen, zu der satanischen Hetze der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte ›Gesetze‹, zu den Methoden von Buchenwald – da und tausendmal sonst sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, daß die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überläßt, ob er etwas sagen will, und was. […] Kommen tut nach Ankündigung der Regierung zweifellos die völlige Trennung zwi­ schen Juden und Nichtjuden. Es gehen Gerüchte um – und Der­artiges hat auch in ausländischen Zeitungen gestanden – daß ein Zeichen an der Kleidung beabsichtigt sei. Unmöglich ist nichts in diesem Lande, das wissen wir. […] Wir haben die Vernichtung des Eigentums erlebt, zu diesem Zweck hatte man im Sommer die Geschäfte bezeichnet. Geht man dazu über, die Menschen zu bezeichnen – so liegt ein Schluß nah, den ich nicht weiter präzisieren möchte. Und niemand wird behaup­ ten wollen, daß diese Befehle nicht ebenso prompt, ebenso gewissenlos und stur, ebenso böse und sadistisch ausgeführt würden wie die jetzi­ gen. Ich habe schon diesmal von grauenhaften blutigen Exzessen ge­ hört. Die Presse der ganzen Welt ist voll von dieser Katastrophe, und hier hat man den Eindruck, daß sie schon jetzt, wo die zahllosen Ver­ haftungen noch andauern, bei den Menschen wieder vergessen wird – auch in kirchlichen Kreisen. Darf die Kirche das zulassen? Ich bin über­ zeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht be­ weisen, aber ich glaube es.« Beunruhigt, angewidert von den barbarischen Pogromereignissen, aufrüttelnd, anklagend und mit nahezu prophetischen Vorahnungen hinsichtlich der bevorstehenden Vernichtung der Juden  – so schreibt eine Berliner Studienrätin zwei Wochen nach der Pogromnacht vom 9.  auf den 10. November 1938 an den Dahlemer Pfarrer Helmut Gollwitzer.1 –  7  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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Wieder und wieder hatte sie seit 1933 in diesem Sinne an namhafte Theologen und Kirchenführer appelliert und sie gedrängt, die Kirche möge endlich ein öffentliches Wort für die Verfolgten sprechen. Faktisch geschah jedoch nichts. Ihre Appelle, Memoranden, Vorschläge versande­ ten. Ihr selbst geht das ohnmächtige Miterleben der Gewaltereignisse derart nahe, dass sie krank wird. Der 9. November 1938 ist der letzte Tag, an dem die Lehrerin eine Schule des »Dritten Reiches« betritt. Sie lässt sich zunächst krank schreiben. Bald darauf quittiert sie aus eigener Initiative, unter höchstem persönlichen Risiko, den Schuldienst, um endlich von der für sie unerträglichen Pflicht befreit zu sein, ihren Schülerinnen in den Fächern Deutsch, Geschichte und Religion nationalsozialistische Unterrichtsziele zu vermitteln. Wer war diese außergewöhnliche Frau und warum blieb sie bis heute weithin unbekannt? So ganz unbekannt ist sie inzwischen nicht mehr, die Historikerin und Theologin Dr. Elisabeth Schmitz. In Hanau, ihrem Geburtsort, ehrten die Stadt und die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck sie im November 2005 mit einem würdigen Gedenkstein.2 In Berlin, wo sie von 1915 bis 1943 lebte und arbeitete, und wo sie zu jener Persönlichkeit her­anreifte, die aus heutiger Sicht in Erstaunen versetzt und vielfach Bewunderung hervorruft – in Berlin fehlt es noch immer an angemessener Wahrnehmung und Anerkennung ihrer Lebensleistung. Immerhin gab es dort 2007 eine wissenschaftliche Konferenz zu ihrer Biografie, aus der ein erstes Buch hervorging.3 Bischof Wolfgang Huber hat seit seiner vielbeachteten Zehlendorfer Bußtagspredigt vom November 2002 wiederholt an ihr Wirken erinnert, zuletzt auf der Berliner Landessynode vom November 2008.4 Dass ihr Stern weiter im Steigen begriffen ist, daran ist heute, mehr als dreißig Jahre nach ihrem Tod und nach völliger Vergessenheit, nicht zu zweifeln. Der US -Theologe und Filmemacher ­­Steven D. Martin fand die Elisabeth-Schmitz-Story so spannend, dass er im Jahr 2008 alles Übrige stehen und liegen ließ und einen historischen Dokumentar­film über sie drehte.5 Bundeskanzlerin Angela Merkel hob anlässlich ihrer Gedenkrede zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 2008 in der Berliner Synagoge Rykestraße das beispielhafte Verhalten der protestierenden Studienrätin ausdrücklich hervor: Schweigen, Achselzucken, Wegsehen  – so habe sich damals die große Mehrheit der Deutschen verhalten. Elisabeth Schmitz, so Merkel, sei eine rühmliche »Ausnahme von der Regel des Schweigens« gewesen. 6 Aufgewachsen als dritte Tochter des Hanauer Gymnasialprofessors August Schmitz, protestantisch-kirchlich und bildungsbürgerlich geprägt, nimmt sie nach dem Abitur 1914 ein Studium der Germanistik, Geschichte und Theologie auf, zunächst zwei Semester in Bonn, dann seit –  8  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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1915 in Berlin. Ihre bevorzugten Lehrer sind der liberale Theologe und Kirchenhistoriker Adolf von Harnack und der renommierte Historiker Friedrich Meinecke. 1920 promoviert sie bei Meinecke mit einer histo­ rischen Studie über Edwin von Manteuffel, einen konservativen Politikberater des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. zur Zeit der Revolution von 1848/49. Schmitz hätte durchaus die Voraussetzungen zu einer wissenschaftlichen Karriere gehabt, doch die zeitbedingten Barrieren für Frauen an den Hochschulen um 1920 lassen ein solches Ziel unerreichbar erscheinen. So geht sie in den Höheren Schuldienst und erhält, nach langen Jahren des Wartens und befristeten Dienstes, 1929 endlich die ersehnte Studienratsstelle am Luisen-Oberlyzeum in Berlin-Mitte. 1933 erweist sich die kritische Protestantin von Anfang an als völlig immun gegenüber den mächtigen national-völkischen Versuchungen, denen viele Protestanten erliegen. Sie beobachtet, wie parallel zum poli­ tischen Umbruch die evangelischen Kirchen dem anschwellenden Nationalsozialismus bereitwillig, vielfach fasziniert, ihre Türen öffnen, um die »Ideen von 1933« einströmen zu lassen. Mit Entsetzen sieht Schmitz, wie nationalsozialistische Pfarrer und Kirchenvolk in der »Glaubens­ bewegung Deutsche Christen« ein »artgemäßes Christentum« inszenieren, wonach »Rasse, Blut und Boden« als geheiligte Werte einer gött­ lichen Schöpfungsordnung zu würdigen seien. Seit April 1933 beschwört sie namhafte Theologen und Kirchenführer wie Karl Barth, Friedrich von Bodelschwingh, Martin Niemöller, Walter Künneth und viele andere, gegen Unrecht und Verfolgung, besonders der Juden, zu protestieren. Sie schließt sich 1934 der Bekennenden Kirche an. Im Sommer 1935 verfasst sie im Alleingang ein etwa zwanzigseitiges Memorandum zur »Judenfrage«, worin sie mit drastischen Beispielen die Aufhetzung der öffentlichen Meinung, die Ausgrenzung »nichtarischer« Kinder in den Schulen, die Probleme der christlich-jüdischen Mischehen sowie die bösen Konsequenzen für die betroffenen »Nichtarier« schildert und das notorische Nichthandeln ihrer Kirche beklagt. Sie stellt diese ano­nyme Denkschrift in zahlreichen Exemplaren der Bekennenden Kirche zur Verfügung, die freilich nicht wagt, davon öffentlichen Gebrauch zu machen. Ihre scharfe Kritik an der nationalsozialistischen Juden­politik bleibt in den Schubladen der Kirchenopposition liegen. 1937 wird sie wegen »Wohngemeinschaft mit einer Jüdin« – sie teilte seit Herbst 1933 ihre Wohnung mit einer befreundeten »nichtarischen« Ärztin – von der NSDAP angegangen, die sie deshalb aus dem Amt drängen will. Im November 1938 verweigert sie den Schuldienst, weil sie sich  – nach eigenen Worten  – außer­stande gesehen habe, die Weltanschauung und die Unterrichtsziele eines Staates zu lehren, der die Synagogen anzünden lasse. Sie drängt –  9  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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Pfarrer Helmut Gollwitzer in Berlin-Dahlem in Vorgesprächen dazu, in seiner Predigt zum Buß- und Bettag am 16. November 1938 klare Worte zu den Pogromereignissen zu sprechen, die gerade eine Woche zurückliegen. In einer beeindruckend dichten Folge von Briefen an Gollwitzer gelingen ihr in diesen Wochen außerordentlich präzise, hellsichtige Schilderungen einer Schreckenszeit, von der etliche ihrer Freundinnen und Bekannten direkt betroffen sind. Besonders ihr eingangs zitierter Aufschrei vom 24.  November ist aus heutiger Rückschau als ein »Jahrhundertbrief« zu werten, der zum Klarsten und Klügsten gehört, was zu dieser Zeit von Zeitgenossen überhaupt gesehen und gesagt werden konnte. Fortan wirkt Schmitz als frühpensionierte Lehrerin in Kreisen des christlichen Widerstands in Berlin und ist aktiv an lebensrettender Unterbringung und Versorgung rassistisch Verfolgter beteiligt. Sowohl in ihrer Berliner Wohnung wie in ihrem Wochenendhäuschen »Pusto« in Wandlitz gewährt sie gefährdeten Personen ein Unterkommen. Noch vor Kriegsende kehrt sie im August 1943 endgültig nach Hanau zurück. Nach siebenjähriger Unterbrechung unterrichtet sie dort seit 1946 nochmals als Studienrätin bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 1958. Von ihren verborgenen Widerstandsaktionen in Berlin spricht sie nicht. Dass sie es war, die unter erheblichen Gefahren 1935/36 die anonyme Denkschrift verfasste und in 200 Exemplaren subversiv verbreitete, bleibt merkwürdigerweise für viele Jahrzehnte ein Geheimnis. Auch als sie im September 1977 stirbt, weiß nahezu niemand, dass sie die Autorin der inzwischen mehrfach publizierten, historisch bedeutenden Denkschrift war. Erst 1999, über zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod, wird diese Tat­ sache durch eine Publikation ihrer ehemaligen Berliner Schülerin, der Pfarrerin Dietgard Meyer, zweifelsfrei enthüllt.7 * Aus guten theologischen Gründen kennen Protestanten die religiöse Praxis der Heiligenverehrung nicht. Gleichwohl haben sie ihre eigenen Glaubenshelden, ihre Märtyrer und andere Höchstverehrte, ihre bewunderten Vorkämpfer und Idole. Faktisch fällt ihnen in der kirchlichen Erinnerung und Gedenkkultur die Rolle von »protestantischen Heiligen« zu.8 Für das zurückliegende und für die Deutschen so fatale 20.  Jahrhundert erinnern Protestanten vor allen anderen an Dietrich Bonhoeffer, der als Theologe im Jahr 1940 in den politischen Widerstand ging, 1943 verhaftet und kurz vor Kriegsende im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet wurde. Andere werden Martin Niemöller nennen, den charis­ matischen Dahlemer Prediger, der das Regime von der Kanzel kritisierte, Anfang Juli 1937 verhaftet wurde und bis Kriegsende in KZ -Haft blieb. –  10  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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Oder den schlesischen Pfarrersohn und Schriftsteller Jochen Klepper, der mit seiner »nichtarischen« Frau und deren Tochter aus Verzweiflung über drohende Deportation in den gemeinsamen Suizid ging. Wieder andere erinnern an den Schweizer reformierten Theologen Karl Barth, der 1935 aus seinem Amt als Hochschullehrer in Bonn gedrängt wurde, oder an den bereits im April 1933 von der Frankfurter Universität vertriebenen Theologen Paul Tillich. Der junge, reformierte Wuppertaler Pfarrer Helmut Hesse predigte 1943 gegen die Judentötungen und bezahlte seinen Bekennermut im KZ Dachau mit dem Leben. Protestantische Frauen gehörten bisher nicht oder kaum zu diesem Kreis der gedenkpolitisch Anerkannten und Hochgeehrten. Dabei gibt es in der Zeit des »Dritten Reiches« eine Reihe beeindruckender Frauenpersönlichkeiten, die unbedingt das Zeug dazu hätten, in diese virtuelle protestantische Heiligen- und Heldengalerie aufgenommen zu werden. Erwähnt seien hier stellvertretend für viele die Breslauer Stadtvikarin Katharina Staritz, die wegen ihres Einsatzes für »nichtarische« Christen 1941 aus dem Kirchenamt gedrängt und zeitweilig im KZ Ravensbrück inhaftiert wurde; die Slawistin Hildegard Schaeder, die wegen »Begünstigung flüchtiger Juden« 1943 in Berlin Gestapohaft erhielt und anschließend ebenfalls in das KZ Ravensbrück eingeliefert wurde; die Sozial­ fürsorgerin Gertrud Staewen, die eine führende Rolle in der Dahlemer Kirchenopposition spielte und sich mit hohem persönlichen Risiko in der illegalen Judenhilfe engagierte. Alles dies sind Namen, die heute kaum jemand kennt. Sie alle gehörten in die protestantische Heldengalerie, in der es auch Heldinnen gab. Zumeist gelten sie als »stille Helden«, die kaum großes Aufheben von ihrer gefahrvollen Solidarität mit Verfolgten machten. Die Historikerin und Theologin Elisabeth Schmitz wäre eine vorzügliche Kandidatin für protestantisches Gedenken, für die Aufnahme in diese inoffizielle Heldengalerie.9 Mehr als sechzig Jahre nach der Niederschrift, im Jahr 1999, enthüllte Dietgard Meyer, eine ehemalige Schmitz-Schülerin und Lebensfreundin, erstmals das Geheimnis um die anonyme Protestschrift von 1935/36. Das war zunächst nicht mehr als eine kleine Sensation in Spe­ zialistenkreisen. Aber viele begannen jetzt zu fragen: Wer war diese Frau? Wie konnte sie diese erstaunliche Schrift verfassen? Und warum blieb die Sache so lange ein Geheimnis? Zunächst war das historischbiografische Wissen über Schmitz sehr begrenzt. Auf die Enthüllung folgten Vorträge, Zeitungsartikel, Aufsätze, Interviews, öffentliche Veranstaltungen, Radiosendungen, ein Buch, ein Film – und dennoch: auch zehn Jahre nach der Enthüllung ist die Schmitz-Geschichte noch immer weithin unbekannt und überdies mit vielen Rätseln behaftet. –  11  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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Elisabeth Schmitz war zeitlebens niemals eine bekannte oder prominente Frau. Publizistisch aktiv war sie nicht. Außer mit ihrer Dissertation (erschienen 1921) und wenigen Aufsätzen, sämtlich zu historischen Themen, meldete sie sich kaum öffentlich zu Wort, jedenfalls nicht schriftlich und in gedruckter Form. Den professionellen theologischen und kirchenoffiziellen Diskurs mied sie. Er war ihr als Frau und nicht­ ordinierte Nebenfachtheologin ohnehin kaum zugänglich. Das meiste, was sie schrieb – und sie schrieb viel und darunter sehr Bedeutendes – blieb privat oder halbprivat und kursierte im Freundes- und Bekanntenkreis. Sie wirkte mehr im Verborgenen, vor allem durch Briefe, im Kontext ihrer weit verzweigten persönlichen Vernetzungen. Sie stand zwar in Verbindung mit renommierten Persönlichkeiten wie Adolf von Harnack, Friedrich Meinecke, Karl Barth und manchen anderen wissenschaft­ lichen Größen der Zeit, und sie diskutierte mit diesen und anderen Koryphäen auch Politisches und Theologisches auf gleicher Augenhöhe. Aber alles dies geschah vorwiegend im privaten oder halböffentlichen Bereich von »Zirkeln«, »Kreisen« und Arbeitsgemeinschaften und schlug sich in einem sehr umfangreichen Briefwechsel nieder, kaum jedoch in eigener publizistischer Tätigkeit. Schmitz und ihre Freundinnen pflegten eine für das 20.  Jahrhundert ungewöhnlich intensive Briefkommunikation. Das Gespräch in Briefen war ihr eigentliches Medium, hier erreichte sie außergewöhnliche Virtuosität.10 Der große Auftritt auf der öffentlichen Bühne hingegen war ihre Sache nicht. Gewiss, sie hielt Vorträge, in der Schule, anlässlich von Gedenkfeiern etwa, oder in vertrauten Kreisen der Berliner Kirchenopposition, so im Charlottenburger Mittwochskreis um Anna von Gierke. Aber die Zeitungsöffentlichkeit, kontroverse Debatten in Zeitschriften und dergleichen öffentliche Bühnen mied sie. Es fehlte ihr dazu wohl auch etwas an Mut. Offenbar war sie sich nie ganz sicher, ob sie denn wirklich Wichtiges zu sagen hätte. Das entsprach ihrer Persönlichkeit: eher distanziert, stets zurückgenommen, diskret und unauffällig, sicher auch etwas schüchtern, vorsichtig, öffentlichkeitsscheu. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum sie von ihren Zeitgenossen als bedeutende Protestantin des 20. Jahrhunderts kaum erkannt worden ist und nach 1945 so wenig Anerkennung und Würdigung erfuhr. Hinzu kommt die durch die gefahrvollen Zeitumstände von 1933 bis 1945 erzwungene extreme Verschwiegenheit im Umkreis jener Frauenvernetzungen, in denen sie wirkte: Diese engagierten Frauen taten dasjenige, was sie glaubten aufgrund tiefer Wertüberzeugungen unbedingt tun zu müssen, unter größtmöglicher Verschwiegenheit. Sie erwies sich als geradezu überlebensnotwendig. Und diese Tugend der Verschwiegenheit löste sich bei vielen nach 1945 nicht einfach auf. Sie war bei Schmitz –  12  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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und vielen ihrer Weggefährtinnen zur zweiten Natur geworden. Die verschworenen Geheimnisträgerinnen hielten daran unbedingt fest, auch noch zu Zeiten, als die historischen Umstände längst andere geworden waren. Ein weiterer Grund für die Schmitzsche Namenlosigkeit war die notgedrungen anonym in Umlauf gebrachte Denkschrift. Auf keinem der 200 von ihr subversiv hergestellten und vermutlich auch verteilten Exemplare stand ihr Name. Es war daher nicht ganz unplausibel, die Denkschrift nach 1945 einer anderen mutigen Frau zuzuschreiben: der im Umkreis von Martin Niemöller tätigen kirchlichen Sozialfürsorgerin Margarete Meusel, die kurz zuvor, im Mai 1935, ein Memorandum zugunsten der »evangelischen Nichtarier« verfasst hatte. Ein zusätzlicher Grund dafür, dass Schmitz so eklatanter Geschichts­ vergessenheit anheimfiel, lag in der durch die Kriegsumstände erzwungenen Abtrennung von ihrem eigentlichen Wirkungsfeld, da Schmitz seit August 1943 wieder in Hanau lebte. Hier fühlte sie sich, zumindest während der ersten Nachkriegsjahre, abgeschnitten, fast wie im Exil. Sie war aus ihrem kulturprotestantischen Beziehungsfeld in Berlin herausgerissen, fern der Hauptstadt, in die zurückzukehren nach dem verheerenden Krieg und dem einsetzenden Kalten Krieg für sie wenig Anlass bestand. Die besten Freundinnen, die wichtigsten theologischen Bezugspersonen, die große liberalprotestantische Welt der Harnacks und Meineckes, die verschworenen Gemeinschaften der Bekennenden Kirche – alles dies war verloren, zerstört, die Personen teils nicht mehr am Leben, teils in alle Welt zerstreut. In der kleinen Welt von Hanau noch einmal neue Anschlüsse zu finden, das fiel der inzwischen über Fünfzigjährigen sichtbar schwer. Und wie sollte die kleine, recht provinzielle, zugleich schwer kriegszerstörte Stadt Hanau die einstige kulturelle Fülle, die vielfältigen Anregungen und den geistigen Reichtum der Metropole ersetzen? Und die Berliner Nachkriegskirche, die konservative Bischofskirche unter dem absoluten Regiment von Otto Dibelius, hatte kirchen­kritische Personen wie Schmitz und ihresgleichen rasch marginalisiert. Martin Albertz, der reformierte Spandauer Superintendent und einer der mutigsten Bekenner des Kirchenkampfes, liefert dafür ein beredtes Beispiel in der frühen Nachkriegszeit. Viele, die sich an vorderster Front im Kirchenkampf exponiert hatten und durch Verfolgung und Kriegs­ umstände verstreut wurden, rief die konservative Kirche nicht zurück: Martin Niemöller, Günther Dehn, Wilhelm Jannasch, Willi Ölsner, Franz Hildebrandt. Helmut Gollwitzer kehrte 1957 zwar nach Berlin zurück, aber nicht, um in der Nachkriegs­kirche eine Position zu bekleiden, sondern als kritischer Theologe und Zeitgenosse, als Freigeist an der Freien Universität. Gleiche Marginalisierungen oder völliges Vergessen trafen –  13  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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auch viele liberale Vorkriegsprotestan­tinnen und im Kirchenkampf exponierte Frauen, beispielsweise die renommierte Frauenrechtlerin Agnes von Zahn-Harnack oder die Slawistin Hildegard Schaeder, die Professorin Elisabeth Schiemann und Elisabeth Schmitz. Bis zur Enthüllung des Jahres 1999 wusste die Berliner Nachkriegskirche von Schmitz’ Einsatz zugunsten der Verfolgten, von ihrer Denkschrift, von ihrem beispiel­ haften Engagement zu Zeiten des Novemberpogroms 1938 und während der schlimmen Folgejahre buchstäblich nichts. Viele Nazi-Pfarrer hatte sie hingegen wieder integriert, darunter auch den sippenforschenden Pfarrer und aktiven kirchlichen Judenverfolger Karl Themel, der nach seiner Pensionierung im Jahr 1954 als ehrenamtlicher Landeskirchen­ archivar und Kirchenhistoriker zu neuen Ehren kam.11 Wie alle geschichtswissenschaftlichen Biografien bedarf auch diese Lebensgeschichte einer Einbettung in die historisch-kulturellen Kontexte, in denen die Protagonistin sich bewegte und zu der wurde, die wir heute erinnern. Prägend waren für ihre persönliche Entwicklung zunächst die häuslichen Verhältnisse ihrer Hanauer Herkunftsfamilie, insbesondere die stark dominierende Figur des Vaters – ein wilhelminischer Gymnasialprofessor par excellence mit umfassend klassisch-philolo­ gischer Aus­bildung und breiter historisch-literarischer Bildung. Hinzu kamen spätere wahlverwandt­schaftliche geistige Vaterfiguren wie Adolf von Harnack, der ihr nach eigenem Bekenntnis der wichtigste Ratgeber von allen war, und der Ideenhistoriker Friedrich Meinecke, mit dem sie noch bis in die Nachkriegszeit 1945/46 im Briefwechsel stand. In den bewegten Jahren seit 1933 rückte der reformierte Jahrhunderttheologe Karl Barth als maßgebliche Autorität für sie ins Zentrum. Entscheidend wichtig waren sodann ihre zahlreichen Freundinnen, die ihren Weg zum Teil ein Leben lang begleiteten und mit denen sie in regem geistigen Austausch stand. Als berufstätige ledige Frau war diese intensive Frauen­ vernetzung, neben ihrer Hanauer Herkunftsfamilie, ihr primäres soziales Beziehungsfeld, in dem sie lebte und sich entfaltete. Einige wichtige Namen bester Freundinnen seien genannt: anfangs in Berlin seit 1915 die fast gleich­altrige, jüngste Harnack-Tochter Dr. Elisabet von Harnack, mit der sie zeitweilig zusammen studierte. Später wird die stark literarisch-künstlerisch veranlagte Dr. Martha Kassel wichtig, eine ausgebildete Ärztin jüdischer Herkunft, mit der sie vor allem während der Hitler­zeit – bis zu Kassels Emigration im Dezember 1938 – eng verbunden war. Hinzu kommen die Historikerin Dr. Elisabeth Abegg, ihre ältere, erfahrene Lehrerkollegin an der Berliner Luisenschule seit 1929, und die Pflanzengenetikerin Prof. Dr. Elisabeth Schiemann, eine der ersten Hochschullehrerinnen in Berlin. Mit beiden Frauen war Schmitz –  14  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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durch gemeinsame Positionen bei umstrittenen Fragen des Kirchenkampfes, etwa hinsichtlich der »Judenfrage«, sehr eng verbunden. Beide Mitstreiterinnen gehörten zu den wenigen Eingeweihten, die um ihre Denkschrift wussten. Schmitz lebte in dieser intensiv gepflegten Kultur der weiblichen Freundschaftsbeziehungen und ist ohne sie überhaupt nicht zu denken. Schließlich entwickelt sich Schmitz im überwiegend nationalprotestantisch ausgerichteten Feld der evangelischen Kirchen und der Theologie des 20. Jahrhunderts. Biografisch beginnt ihr Weg mit kirchlichfrommen, bisweilen pietistischen Elternhausprägungen in Kindheit und Jugend, gefolgt von ersten, frühen Horizonterweiterungen und Emanzipationen von enger kirchlicher Herkunftsprägung an der Frank­furter Schillerschule bis zum Abitur 1914, besonders wohl durch ihre liberal-moderne Religionslehrerin Dr. Carola Barth. Entscheidend wichtig werden dann vor allem die kulturprotestantischen Einflüsse im großbürgerlichen Hauptstadtmilieu der Harnackfamilie und deren Freundeskreisen, schließlich Anschlüsse an die gegenüber dem deutschnationalen und völkischen mainstream entschieden kritische Theologie Karl Barths und selbstverständlich auch eigene kirchenpolitische und theologische Wortmeldungen in den Zirkeln und Diskursen der Bekennenden Kirche. Dort ist sie, die »protestierende Protestantin«, stets am oppositionellen, linksliberalen protestantischen Rand zu finden. Dass Elisabeth Schmitz durch ihre vielfachen theologischen Diskussionsbeiträge, durch ihr insistierendes Nachfragen und opponierendes Bezweifeln, durch ihren praktischen Einsatz in der Verfolgtenhilfe ein herausgehobener Platz als genuine protestantische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts gebührt, soll in dieser Biografie gezeigt werden. Als Ausnahmefigur kommt ihr historische Bedeutung zu. Die biografische Rekonstruktion ihres Lebens stößt freilich auf nicht geringe Schwierigkeiten. Ein sehr erheblicher Teil  ihres persönlichen Nachlasses, den sie in ihrer Berliner Wohnung Luisenstraße 67 aufbewahrte, ging durch totalen Brandschaden bei einem Bombenangriff im November 1943 verloren. Nur einige zentrale Lebensdokumente und andere wichtigste Schriftstücke  – alles, was in eine Aktentasche hineinpasst  – hatte sie zuvor bereits in Sicherheit gebracht. Darunter befand sich die handschriftliche Rohfassung ihrer Denkschrift, die erst im Jahr 2004 durch Zufall in einem Hanauer Kirchenkeller gefunden werden konnte. Fast alle Briefe, die sie während ihrer Berliner Zeit (1915–1943) erhielt, dürften damit verloren sein. Darüber hinaus auch viele andere eigene Schriftzeugnisse: Vortragsmanuskripte, Notizen, Terminkalender, Zeitungsausschnitte, die sie zu wichtigen Themen zu sammeln pflegte. –  15  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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Auch der größte Teil  ihrer Berliner Bibliothek ging verloren. Für eine Frau wie sie, die so sehr in Büchern, mit Büchern und von Büchern lebte, wäre die Überlieferung dieser Bibliothek eine außerordentlich aussage­ kräftige Informationsquelle über ihren Bildungsweg, über ihre Lektüre und ihre geistig-literarischen und künstlerisch-ästhetischen Vorlieben seit der Studentenzeit gewesen. Zu den Verlusten gehören ferner Zeitschriften und Zeitungen, die wichtige Aufschlüsse über ihre allgemeinpolitischen, kirchlichen und theologischen Präferenzen hätten liefern können. Ein zweiter misslicher Umstand ist die weitgehende Auflösung und Zerstreuung ihrer Hanauer Hinterlassenschaften nach ihrem einsamen Tod im »deutschen Herbst« von 1977. Ihre zweite Bibliothek, die sie seit 1945 in Hanau anlegte, ging damit ebenfalls verloren. Dazu ge­hörten frühe Nachkriegszeitschriften und sonstige Periodika, die sie in ­Hanau seit Kriegsende noch in erheblichem Umfang las. Wichtige Teile ihrer persönlichen Schriftstücke, darunter die »Elternbriefe«, die sie seit ihrer Studentenzeit 1914 »nach Hause« schrieb, und andere persön­liche Unterlagen gingen bei der Auflösung des Hanauer Familienbesitzes an Dietgard Meyer. Leider stehen sie bis heute der Forschung nicht zur Verfügung.12 Einen sehr wichtigen Nachlassteil, die vor November 1943 aus der Berliner Wohnung sichergestellten Lebensdokumente und wichtigsten persönlichen Manuskripte und etliche Briefe, fand der passionierte Schmitzforscher Gerhard Lüdecke durch Zufall in einer verstaubten Aktentasche in einem Hanauer Kirchenkeller. Ohne diesen höchst wichtigen Aktenfund wäre eine Schmitz-Biografie kaum möglich.13 Im Hanauer Stadtarchiv schließlich finden sich sehr verstreute, disparate Schriftstücke aus dem Schmitzschen Familienbesitz, darunter wichtige Familienfotos und einige bedeutende Vortragsmanuskripte aus der Nachkriegszeit.14 Alle diese – schmerzlich lückenhaften – Unterlagen lassen sich ergänzen durch Briefe, die Schmitz an andere Personen schrieb. Hervorzuheben ist die für die Biografie wertvolle, dichte Briefüberlieferung im Nachlass Elisabet von Harnack. Er enthält Schmitz-Briefe aus der Zeitspanne von 1917 bis 1948, mit Schwerpunkt auf den frühen Jahren bis 1930.15 Wichtige ergänzende Briefe sind ferner überliefert im Karl-BarthArchiv (Basel), im Nachlass Friedrich Meinecke, in den Über­lieferungen von Elisabeth Schiemann, Elisabeth Abegg und anderen Personen, mit denen sie im Briefwechsel stand.16 Durch Zufall fand sich erst kürzlich eine eindrucksvoll dichte Briefserie, die Martha Kassel als Emigrantin in den USA kurz vor ihrem Lebensende zwischen 1949 und 1952 an eine deutsche Jugendfreundin schrieb. Sie ermöglicht erstmals eine Annäherung an das Leben dieser bislang völlig unbekannten Frau, die im Leben –  16  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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von Schmitz zeitweilig eine bedeutende Rolle spielte. Immerhin teilten beide Frauen nach der von den Nazis erzwungenen Erwerbslosigkeit der »nichtarischen« Ärztin von 1933 bis Ende 1937 die Schmitzsche Wohnung Luisenstraße 67.17 Schließlich ergibt sich eine weitere Ergänzung des Persönlichkeitsbildes durch die Sammlung von fragmentarischen Überlieferungen und Zeitzeugenberichten, angefangen mit jenen von Dr. Renate Ludwig, ­Lydia Forsström und Dietgard Meyer, den drei Schmitzschen ›Ziehtöchtern‹, die ursprünglich ihre Schülerinnen waren und dann lange über die Schulzeit hinaus mit ihrer einstigen Lehrerin in Verbindung blieben. Alle drei haben schriftliche oder mündliche Zeugnisse hinterlassen, die für eine Biografie von großem Wert sind.18 Da viele Personen aus dem Berliner Freundeskreis von Schmitz jüdisch oder jüdischer Herkunft waren, sind heute transatlantische familiengeschichtliche Quellenfunde keine Seltenheit, wie beispielsweise im Fall von Charles Milford (Palo Alto/ USA)19 und Peter B. Loewenberg (Great Falls/Virginia, USA)20 . Überdies steuerten viele Hanauer Schülerinnen und andere Zeitzeugen, die Schmitz persönlich kannten, Erinnerungen an ihre Schulzeit und ihre Lehrerin aus den 1950er Jahren bei und halfen so, das Bild der Protagonistin für die späteren Lebensphasen zu vervollständigen. 21 Alles in allem ist dies eine schwierige, aber doch hinreichende Quellenlage, um das Wagnis einer Biografie dieser vergessenen Frau einzugehen. Denn diese Lebensgeschichte muss geschrieben werden. Die Protestanten, die evangelischen Kirchen des 20.  Jahrhunderts haben die histo­ rische Bedeutung dieser Frau, die zeitlebens in ihren Reihen mitwirkte, nicht erkennen können oder erkennen wollen. Man hat sie schlicht übersehen, überhört, vergessen. Und wo sonst findet sich ein Lehrer, eine Lehrerin, der oder die während der Hitlerzeit aus eigener moralischer Gewissensentscheidung auf die Beamtenposition verzichtete, um der unerträglich gewordenen Pflicht zur Erziehung junger Schüler zum »nationalsozialistischen Menschen« enthoben zu sein? In der zentralen Frage des christlich-jüdischen Verhältnisses nahm Schmitz inmitten eines weit verbreiteten christlichen Antijudaismus und umgeben von einem aggres­ siven staatsoffiziellen Antisemitismus Erkenntnisse vorweg, die erst in den jüngsten Jahrzehnten von der akademischen Theologie wahrgenommen werden. Angemessene Anerkennung und Würdigungen hat die »protestierende Protestantin« zu Lebzeiten nicht erfahren dürfen. Der neue deutsche Protestantismus des 21.  Jahrhunderts wird der Erinnerung an diese Frau gewiss einen hohen Wert zumessen. Er wird sie, über kurz oder lang, in den »protestantischen Heiligenstand« erheben. –  17  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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II Kindheit und Jugend in Hanau und Frankfurt am Main Es war schon ein fester Brauch geworden: Wie jedes Jahr zu Anfang September stand die Stadt Hanau auch 1893 ganz im Zeichen von »­Sedan«. Hanauer Bürger feierten den militärischen Sieg über den französischen Erbfeind am 2.  September 1870 bei Sedan, der zugleich Anstoß zur Reichsgründung im Januar 1871 war. Drum, wer ein Deutscher heißen mag, Halt im Gedächtnis diesen Tag Auf ew’ge, ew’ge Zeiten! Und kommt ein Feind, gebt euch die Hand, Laßt uns fürs liebe Vaterland, wie die von 70 streiten! So las man’s am Samstag den 2. September 1893 im Hanauer Anzeiger, dem »Amtlichen Organ für Stadt- und Landkreis Hanau« am Schluss eines patriotischen Gedenkartikels zur Erinnerung an die siegreiche Schlacht gegen die Franzosen.1 Und selbstverständlich war die Stadt bemüht, durch eine würdige Gedenkfeier ihrer tadellos »vaterländischen« Gesinnung Ausdruck zu verleihen. Am Montag den 4.  September berichtete das Blatt über die städtische Sedanfeier. Die schöne Gedenkfeier habe wieder einmal eindrucksvoll bewiesen: Hanau gehöre in die vorderste Reihe jener Städte, die stets darum bemüht seien, die Erin­nerung an den großen Tag unter Beteiligung weitester Volkskreise besonders würdevoll zu begehen. Bereits am Samstagvormittag habe es in den städtischen Schulen patriotische Feiern gegeben. Gegen Abend fand, wie alljährlich, ein großes öffentliches Konzert der Kämpferschen Musik­ kapelle auf dem Marktplatz statt. »Zwischen 7 bis 8 Uhr ertönte zur Feier des Tages von sämmtlichen Kirchthürmen erhebendes Glocken­ geläute, nach dessen Beendigung programmgemäß der Kommers in der ›Centralhalle‹ begann, der diesmal eine ungewöhnlich große Zahl patriotischer Männer herangezogen hatte, ein Beweis dafür, daß Alle noch gern an jene einzigen Stunden von Sedan 1870 zurückdenken, in welchen im ganzen deutschen Vaterlande kein Hader und keine Zwietracht, wohl –  18  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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aber eine flammende Begeisterung und ein Enthusiasmus ohne Gleichen bestand. […] Die Festrede hielt Herr Oberbürgermeister Dr. Gebeschus; in zündenden Worten beleuchtete derselbe die hohe Bedeutung des Sedantages und schloß mit dem stürmisch aufgenommenen Hoch auf Se. Majestät den Kaiser Wilhelm II.« Der Sonntag, so fährt der Bericht fort, habe mit einem feierlichen Umzug zum Friedhof begonnen, wo eine Gedenkfeier für die gefallenen Krieger abgehalten wurde. Am Nachmittag folgte ein patriotisches Volksfest im nahe bei Hanau gelegenen Schlosspark Wilhelmsbad, das der diesjährigen Sedanfeier einen würdigen Abschluss verliehen habe.2 Diese hochpatriotische Sedanfeier von Anfang September 1893 re­ präsentiert das bessere, bürgerliche Hanau und alles dasjenige, was ihm lieb und teuer war. In Erscheinung traten die Honoratioren der Stadt: neben dem Oberbürgermeister Eugen Gebeschus als weitere Jubelfeierredner ein Hofuhrmacher und Landgerichtspräsident Karl L. A. Koppen, ferner ein hoher preußischer Militärkommandeur als Vertreter der örtlichen Garnison, schließlich ein Lehrer und ein Pfarrer. Hochrufe auf Wilhelm II., König von Preußen und Deutscher Kaiser, waren zu hören, auch wenn man im Raum Frankfurt und generell in Hessen – seit 1866 durch das machthungrige Preußen einverleibt  – die allmächtigen Preußen nicht sonderlich liebte. Aber deutlich mehr als über den Kaiser jubelten die Besucher auf dem vornehm-bürgerlichen Festkommers dem erst kürzlich abgedankten Reichskanzler »Fürst Bismarck« zu, der, so sein Lobredner Landgerichtspräsident Koppen, als einziger jener großen Männer von 1870/71 noch heute unter den Lebenden weile. 3 Eine Woche zuvor berichtete das Hanauer Bürgerblatt über die bevorstehende Frankfurter »Bismarckfahrt nach Kissingen«: Diejenigen Damen und Herren, die an der Huldigungsfahrt für den Eisernen Kanzler am 27. August nach Kissingen teilnehmen möchten, wurden ersucht, sich umgehend anzumelden. Das Programm der diesjährigen Bismarckhuldigung sah eine Fahrt mit dem Sonderzug von Frankfurt nach Kissingen vor, anschließend Festmarsch mit Musikkapelle durch die Stadt, gemeinsames Mittagessen und Festzug zur Wohnung des Fürsten Bismarck mit anschließendem Empfang. Nach dem Rückmarsch in die Stadt sei ein Festkommers in Kissingen vorgesehen, anschließend erfolge die Rückfahrt nach Frankfurt. Es sei dafür gesorgt, so versicherten die Veranstalter, dass alle Teilnehmer »den Fürsten Bismarck in nächster Nähe sehen und hören können«. Am 28. August berichtete der Hanauer Anzeiger über die patriotisch erhebende Bismarckfahrt: Über tausend Personen hätten sich im Extrazug befunden, der um 11 Uhr in Kissingen eintraf. Auch durch einen Regenguss ließen sich die Teilnehmer ihre Feststimmung –  19  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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nicht trüben. Zwischen zwei und drei Uhr nachmittags erfolgte die Huldigung im Garten des Bismarckschen Anwesens. Nach einer Ansprache durch den Frankfurter Justizrat Humser habe der »wohlgelaunte Fürst« in nahezu halbstündiger Rede geantwortet und mit einem Hoch auf die Stadt Frankfurt geschlossen.4 So etwa war sie beschaffen, die wilhelminisch-bürgerliche Welt von Hanau, in die Elisabeth Schmitz am 23.  August 1893 als Tochter des Gymnasialprofessors August Schmitz und seiner Ehefrau Clara Marie hineingeboren wurde. Man war in den neuen Beamten- und Bürger­ häusern außerhalb der Ringmauern stolz auf die deutschen Erfolge seit der Reichsgründung von 1870/71, auf das große vereinigte Deutsche Reich, dass jetzt von Straßburg und Metz im Westen bis Tilsit im ­Osten reichte. Nicht minder stolz war man auf den eigenen bürgerlichen Aufstieg und wachsenden Wohlstand, auf des neuen Reiches imposante Wirtschaftskraft und neue politische Geltung in der Welt. Und man jubelte selbstverständlich dem neuen jungen Kaiser Wilhelm II. in Berlin und seinen Weltmachtambitionen zu. Aber mehr noch verehrte man vielerorts, wie hier in Hanau, den greisen Staatsmann Otto von Bismarck als den eigentlichen Schöpfer des neuen Reiches. Es waren die Etablierten und Arrivierten, die sich bei diesen patriotischen Feiern besonders auf der öffentlichen Bühne der Stadt präsentierten. Der Neu-­ Hanauer Gymnasialprofessor August Schmitz könnte dabei gewesen sein auf dem exklusiven, abendlichen Festkommers oder der Kissingenfahrt. Aber ver­mutlich hatte er in diesen hochpatriotischen Spätsommer­wochen des Jahres 1893 wichtigere häuslich-familiäre Dinge zu regeln. Das Kirchenbuch der Hanauer Marienkirchengemeinde verzeichnet unter Nr. 734 für das Jahr 1893: Am 23. August sei dem August Schmitz in der Bogenstraße 16, »Professor am hiesigen Gymnasium, auch Kirchenältester der Marienkirche und dessen Ehefrau Maria Clara, geb. Bach«, eine Tochter geboren worden. Sie sei am 5. Oktober »im Hause« auf den Namen Emilie Elisabeth getauft worden. Als Taufpaten werden Emilie Heeren aus Hannover und der Theologe Fritz Höhndorf, Superintendent in Sangershausen, genannt.5 Elisabeth Schmitz war die jüngste von drei Schmitz-Töchtern. Die älteste Schwester Maria war zu diesem Zeitpunkt bereits acht Jahre alt, die mittlere Schwester Bertha zählte sechs Jahre. Die drei Töchter wuchsen in einer wohlsituierten, bildungsbürgerlichen Familie auf und gehörten zweifellos von frühester Kindheit an zur besseren Hanauer Gesellschaft, die an Sedantagen alljährlich festlich-froh und hochpatriotisch gestimmt war und zur sonntäglichen Volksbelustigung hinaus nach Wilhelmsbad zog. Der Vater titulierte offiziell stets als »Professor« oder »Gymnasialprofessor«. Er hatte ein –  20  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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Hanau um 1900: Marktplatz mit Neustädter Rathaus und Grimm-Denkmal

Das Elternhaus Schmitz Corniceliusstraße 16 in Hanau

–  21  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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wissen­schaftliches Studium absolviert und war faktisch Studien­rat, freilich ohne Dissertation oder Habilitation. Aber der Professoren­titel schmückte doch ungemein. Er unterrichtete an der Hanauer »Hohen Landesschule«, dem traditionsreichen Gymnasium der Stadt. Ursprünglich stammte der 1849 geborene August Schmitz aus einer wohlhabenden protestantischen Kaufmannsfamilie aus dem niederrheinischen Mönchengladbach. Seine pietistisch geprägten Eltern konnten sich erlauben, den Sohn auf das betont kirchlich-erweckliche »evangelisch-stiftische Gymnasium zu Gütersloh« zu schicken, wo er in Pension lebte. Es handelte sich um eine landesweit bekannte, kirchennahe Schulgründung von 1851, deren Ziel es war, in Opposition zur angeblich betont weltlich und zu ausschließlich auf die ›heidnische‹ Antike orientierten, humanistischen Ausbildung an Gymnasien eine kirchennahe, evangelisch-fromme Erziehung zu bieten. Mehr als die Hälfte der Lehrer waren Pfarrer oder junge Pfarramtskandidaten. Schüler und Lehrer versammelten sich allmorgendlich zur Andacht in der Aula, besuchten gemeinsam den Sonntagsgottesdienst, hinzu kamen obligatorische Abendandachten. Öffentliche Vergnügungen wie Theater oder Konzert bot das kleine Gütersloh kaum, die Teilnahme an Tanzkursen war den Schülern ausdrücklich verboten. Im Unterricht dominierten die alten Sprachen, vor allem Grammatik musste gepaukt werden. Lessing, Goethe, Schiller und andere Heroen der literarischen Klassik traten im Vergleich zu staatlichen Gymnasien deutlich zurück. Eine besondere Rolle spielte neben dem Direktor der Anstaltsgeistliche, der die Schüler in Einzelgesprächen ins Gebet zu nehmen pflegte und ihnen Privatbeichten abnahm. Wer diese Schule absolvierte, schlug auffallend häufig die Theologenlaufbahn oder andere kirchennahe Berufswege ein. 6 August Schmitz studierte nach dem Abitur 1868 zunächst Theologie, später auch Philosophie und Geschichte, an den Universitäten Berlin, Tübingen und zuletzt Bonn. Aber zum professionellen Theologen fühlte er sich offenbar nicht berufen. Als Junglehrer debütierte er seit 1875 an der Realschule Düsseldorf. Durch Verfügung des Provinzialschulkollegiums wurde der Kandidat des Höheren Schulamtes im März 1877 mit der Wahrnehmung einer Lehrerstelle an der Hohen Landesschule in Hanau beauftragt.7 August Schmitz, der Hanauer Neubürger, reüssierte rasch. Er ver­ körpert geradezu eine Bilderbuchkarriere der Gründerzeit. 1879 rückte er in eine voll dotierte ordentliche Gymnasiallehrerstelle auf. Am 2. Juli 1883 heiratete der junge Gymnasialprofessor Clara Marie Bach, Tochter eines Hanauer Tabakfabrikanten. 1885 ließ Schmitz, der offenbar über ein größeres Erbe verfügte, ein stattliches Mehrfamilienhaus an der Peri­ pherie der alten Stadt außerhalb der Ringmauern bauen, dort, wo sich –  22  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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in diesen Jahren die begüterten bürgerlichen Existenzen in standesgemäßen Villen ansiedelten. Durch Erbschaft und andere günstige Vermögensumstände war der Hanauer Neubürger bald schuldenfreier Hausbesitzer in der vornehmen Bogenstraße (in den 1920er Jahren umbenannt in Corniceliusstraße) und erzielte als verbeamteter Gymnasiallehrer ein ansehnliches, sicheres Einkommen auf Lebenszeit. 8 Fotos aus der Zeit vor 1914 vermitteln von August Schmitz das Bild eines wilhelminischen Bildungsbürgers par excellence: eine große, respektable Gestalt, stets im standesgemäßen Anzug mit Weste, dazu ein imposanter Vollbart. Schmitz, der geborene Preuße aus dem Rheinland, war durch sein Elternhaus protestantisch-kirchlich geprägt, aber nicht übermäßig pietistisch-eng oder gar frömmelnd. Sein zielstrebig ab­ solviertes Studium an drei Universitäten war breit angelegt, neben der Theologie spielten die Alten Sprachen, Geschichte und Philosophie eine gleichwertige Rolle. In seiner riesigen häuslichen Bibliothek nahm die griechische und römische Antike einen sehr bedeutenden Platz ein. Die antiken Klassiker las er in den ursprünglichen Sprachen. Neben seiner Studienratstätigkeit war er ehrenamtlich im kirchlich-karitativen Bereich tätig: Er gehörte von 1889 bis 1929 dem Vorstand der Hanauer Diakonissenanstalt (»Diakonissenheim«) an. Als angesehene Hanauer Honoratiorenexistenz hätte er durchaus Anspruch auf politische Mitsprache in der Stadt erheben können. Aber von politischen Dingen hielt er sich auffallend zurück. Als gebürtiger protestantischer Rheinländer und Preuße teilte er den scharf ausgeprägten Widerwillen der Hessen gegen die preußische Einverleibung, gegen die seit 1866 aufgenötigte sukzessive Verpreußung Hessens, vermutlich weniger. Im Vergleich mit dem sehr dominanten wilhelminischen Familienoberhaupt bleibt das Bild seiner Ehefrau ausgesprochen blass, unscharf, unscheinbar. Sie entstammte einer eingesessenen Hanauer Kaufmannsfamilie, brachte wohl auch eigenes Vermögen und vor allem Hanauer Familienbindungen und Ortsverbundenheit in die neue Familie ein. Auf den wenigen Fotos, die sie zeigen, erscheint sie als sehr schlichte, ein­fache Hausfrau und Mutter. Sie wirkt stets etwas abgearbeitet und leicht verhärmt. Sie trug, sofern Dienstboten oder andere Hilfen nicht vor­handen waren, die gesamte Last der häuslichen Arbeit, der Haus- und Gartenbewirtschaftung und der Kinderaufzucht. Die Fotos sprechen von einer sehr dominanten Erscheinung des »wohlgeborenen« Herrn Professors und einer deutlich nachgeordneten, eher stillen, fleißigen, gehorsamen Ehefrau und häuslichen Gehilfin.9 Eines der frühesten Bildzeugnisse zeigt die junge Elisabeth Schmitz anlässlich des Sommerausflugs einer Damengesellschaft nach dem nahe­ –  23  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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gelegenen Schloss- und Kurpark Wilhelmsbad – eben dort, wo im Anschluss an die patriotischen Reden des Sedanfestes die alljährlichen Volksfeste für die Bürgerfamilien stattzufinden pflegten. Die Aufnahme dürfte etwa aus dem Jahr 1908 stammen. Die Kleidung ist bürgerlich, wilhelminisch, die Damen sind zeitgemäß gekleidet, teilweise aufge­ takelt, matronenhaft. Es handelt sich offenkundig um einen Schmitzschen Familienausflug aus festlichem Anlass. Man sieht Großmütter und Mütter, Tanten, Töchter, Schwestern. Unter ihnen befindet sich, wohl als die Jüngste dieser Ausflugsgesellschaft, die etwa vierzehnjährige Elisabeth Schmitz. Zu ihrer Rechten, in der Bildmitte, befinden sich vermutlich ihre beiden älteren Schwestern Bertha und Maria. In der ersten Reihe (zweite von links) sitzt ihre Mutter, wie stets vergleichsweise schlicht im Äußeren, mit strengen Gesichtszügen, ernst schauend. Ihre jüngste Tochter blickt intensiv zur Seite und scheint sich nicht recht zu interessieren für alles das, was um sie herum gerade vorgeht. So recht will sie nicht in die sonntagnachmittägliche wilhelminische Ausflugsidylle passen. Seit 1736 gehörte die Grafschaft Hanau zur Landgrafschaft Hessen, dem hessischen Kurfürstentum, und wurde von Kassel aus regiert. Die heute noch sehenswerte Park- und Kuranlage Wilhelmsbad war seit 1777 vom kurhessischen Erbprinzen Wilhelm angelegt worden und sollte – ganz à la mode im späten 18. Jahrhundert – einem internationalen Adels- und Bürgerpublikum zeitgemäße »Heilübungen« und modernes Amüsement während der Sommermonate bieten. Der im eng­lischen Stil errichtete Landschaftsgarten sowie eisenhaltige Quellen zogen anfangs zahlungskräftige Kurgäste an, aber schon nach wenigen Jahren verfiel das ehrgeizige Projekt in einen Dornröschenschlaf. Faktisch entstand aus dieser unternehmerischen Adelsinitiative eine zweite Sommerresidenz in der ursprünglichen Grafschaft Hanau, neben der größeren, prächtigeren Schlossanlage Philippsruhe im Südwesten der Stadt, direkt am Main, und dem eigentlichen Hauptschloss im alten Zentrum der Stadt. Die beiden vor den Toren der Stadt gelegenen Schlossanlagen, sommerliche Nebenresidenzen der hohen Herrschaften in Kassel, entwickelten sich im bürgerlichen 19. Jahrhundert zu beliebten Ausflugs­zielen der vornehmeren Hanauer Gesellschaft, ideal für den sommerlichen Sonntagnachmittagsausflug. Die Familie des angesehenen Gymnasialprofessors August Schmitz hatte sich an diesem Sonntagnachmittag im Jahre 1908 für Wilhelmsbad entschieden, nicht für Philippsruhe  – schließlich war es dort im Kurpark zwischen künstlich aufgeschütteten, baum­ bestandenen Hügeln und neu angelegten Schluchten, zwischen einem aufgestauten Kunstsee, der mittelalterlich nachempfundenen Burgruine und den blumenüberfüllten Wiesen immer so schön und romantisch. –  24  – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550083

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Die Mutter Clara Marie Schmitz (geb. Bach, 1854–1929) und der Vater August Schmitz (1849–1943)

Familienausflug nach Wilhelmsbad, ca. 1908 (Elisabeth Schmitz 2. Reihe, ganz rechts)

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