Menschen sind generell

34_40_1.Wissenschaft_4 11.8.2009 12:07 Uhr Seite 34 Erkenntnisse aus der Aus sag ■ Marco Ferrari, Gerichtspräsident, Bern Im Gerichtssaal wird n...
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Erkenntnisse aus der Aus sag ■ Marco Ferrari,

Gerichtspräsident, Bern

Im Gerichtssaal wird nicht immer nur die Wahrheit gesagt. Bedeutet aber «Aussage gegen Aussage» auch «Wahrheit versus Lüge»? Welchen Einfluss haben emotionale Schilderungen auf die Richter? Kann man aus der Mimik und Gestik der Aussagenden auf eine Lüge schliessen? Beim Entscheiden kommen Richter ohne die Erkenntnisse der Aussagepsychologie nicht aus. Umso dringender, dass sie sich in dieser Disziplin weiterbilden.

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enschen sind generell schlecht darin, Lügen zu erkennen. Gerade das aber gehört zum Kerngeschehen richterlicher Tätigkeit. Trotzdem lernen Juristen, wenigstens was obligatorische Vorlesungen betrifft, während ihrer Ausbildung nichts über Aussagepsychologie. An den Universitäten lernen sie vielmehr, fertig bewiesene Sachverhalte rechtlich korrekt zu würdigen. In der Praxis ist die Tendenz spürbar, dass Verdächtigte zunehmend seltener bereit sind, umfassende Geständnisse abzulegen, sofern das Gericht ihnen die Schuld nicht ohnehin objektiv beweisen kann. Gerichte haben grosse Schwierigkeiten zu überwinden, um überhaupt erst zu einem rechtlich subsumierbaren Beweisergebnis zu kommen. Dabei müssen sie gewisse rechtsstaatliche Rahmenbedingungen, wie den Grundsatz «im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten», beachten. Abgesehen davon hat die Würdigung divergierender Aussagen aber wenig mit Recht zu tun, sondern mit Psychologie. Trotzdem dürfen Gerichte divergierende Aussagen nur in Ausnahmefällen, insbesondere bei kleinen Kindern und bei Vorliegen von psychischen Störungen, in aussagepsychologischen Gutachten durch Psychologen untersuchen lassen. Auch der Einsatz von Lügendetektoren, die in naher Zukunft eine hohe Treffsicherheit erlangen dürften1, wird weiterhin verboten sein. Die Analyse divergierender Aussagen ist und bleibt damit grundsätzlich richterliche Aufgabe und die Weiterbildung der Gerichte in Aussagepsychologie tut not. Es gibt heute durchaus gute Weiterbildungsveranstaltungen für Praktiker.2 Auch ist von Experten auf dem Gebiet der Aussageanalyse verfasste Literatur umfangreich vorhanden.3 Der vorliegende Aufsatz aus der Feder eines Strafgerichtspräsidenten4 bezweckt, aus der Sicht des Prakti-

kers für Praktiker auf aussagenpsychologische «Stolpersteine» und auf mögliche psychologische Abläufe bei der richterlichen Meinungsbildung hinzuweisen. Wenn Aussage gegen Aussage steht, heisst das noch nicht, dass alleine deswegen in Anwendung des Grundsatzes im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten freizusprechen ist. Die richterlichen Zweifel bleiben ebenso sehr eine subjektive Angelegenheit, wie die richterliche Überzeugung. Richter sind Menschen mit individuellen Charakteren: Es darf davon ausgegangen werden, dass die einen bereits überzeugt sind, wenn andere noch erhebliche Zweifel hegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss es sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, das heisst um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen.5 Nach den heutigen Erkenntnissen gehört die Aussagenanalyse mit zu dieser objektiven Sachlage. Selbst wenn also weitere Beweismittel fehlen, ist es (auch) in solchen Fällen unter Umständen möglich, mit Hilfe der Aussageanalyse zur für die Verurteilung notwendigen «Überzeugung des Richters» von der Schuld zu gelangen. Auf welche Faktoren dürfen Gerichte dabei abstellen und wo ist Vorsicht geboten?

1 Mimik, Gestik und Emotionen versus Inhaltsanalyse Viele Richter messen der Mimik und der Gestik ein zu hohes Gewicht bei. Auch wenn heute erwiesen ist, dass siebzig bis achtzig Prozent einer Botschaft aus Nonverbalem bestehen, kann dieses nicht mit verlässlichen Kriterien in Bezug auf die Glaubwürdigkeit hin untersucht werden. Bei der Deutung von Mimik und Gestik ist Vorsicht am Platz: Manche Menschen wirken ehrlich, wenn sie plädoyer 4/09

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Aus sagepsychologie lügen, und manche wirken unehrlich, wenn sie die Wahrheit sagen. Trotzdem kann die Mimik und Gestik durchaus ein Lügensignal sein. Nämlich dann, wenn sie in deutlichem Widerspruch zum verbal gesendeten Inhalt der Botschaft steht.6 Dies zeigt sich insbesondere im paraverbal (Bedeutung, Betonung) gesendeten Teil der Botschaft, beispielsweise, wenn der Satz «Ich habe ja so Mitleid mit dem Opfer» in ironischem Ton ausgesprochen wird. Wenn Emotionen gezeigt werden, glauben Menschen eher an die Erzählung. Lügner setzen Emotionen zuweilen als strategische Signale ein, wenn sie ihrer unwahren Erzählung eine glaubhafte Emotion anhaften wollen. Das Weinen des vermeintlichen Opfers kann durchaus auch gespielt sein. Umgekehrt dürfen keine vorschnellen Schlüsse gezogen werden, wenn keine Emotionen gezeigt werden, wo wir solche erwarten würden. Denn wer ein Trauma erlebt hat, kann eine Schutzhülle haben, so dass seine Schilderung scheinbar distanziert daherkommt. Es liegen keine Forschungsergebnisse vor, die eine eindeutige Bewertung des menschlichen Ausdrucksverhaltens erlauben oder eine sichere Unterscheidung zwischen Täuschungsabsicht und echtem Gefühlsausdruck ermöglichen würden. Aus diesen Gründen müssen sich die Gerichte bei der Aussageanalyse weitestgehend auf die Würdigung der inhaltlichen Aspekte der Aussage konzentrieren.

2 Die Schwierigkeit des Lügens als Ausgangspunkt Nach der Undeutsch-Hypothese7 unterscheiden sich Aussagen über selbst erlebte Ereignisse in ihrer Qualität von frei erfundenen Aussagen. Dieser Unterschied zeigt sich anhand der Betrachtung von sogeplädoyer 4/09

nannten Glaubwürdigkeitskriterien (Realkennzeichen).

1 Ausführlich beschrieben in: Marko-

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Die Realkennzeichen8

Allgemeine Merkmale: 1. Logische Konsistenz: Die Aussage ist in sich stimmig, es lassen sich verschiedene Ausgangspunkte in Einklang bringen. 2. Ungeordnet sprunghafte Darstellung: Die Handlung wird im freien Bericht sprunghaft und nicht chronologisch geschildert, ohne dass dabei gegen die «logische Konsistenz» verstossen wird. 3. Quantitativer Detailreichtum: Es werden Personen, Dinge, Orte, Ereignisse und Handlungen detailliert beschrieben. Spezielle Inhalte: 4. Raumzeitliche Verknüpfungen: Die Kernhandlung ist mit bestimmten örtlichen Verhältnissen, zeitlichen Gegebenheiten, bestimmten eigenen Gewohnheiten oder Gewohnheiten von Personen aus dem sozialen Umfeld verwoben. 5. Interaktionsschilderungen: Es werden Handlungen (Aktionen und Reaktionen) beschrieben, die sich gegenseitig bedingen oder aufeinander beziehen. 6. Wiedergabe von Gesprächen: Inhalte von Gesprächen oder einzelne Äusserungen beteiligter Personen werden wiedergegeben. 7. Schilderungen von Komplikationen im Handlungsablauf: Es wird von unvorhergesehenen Schwierigkeiten berichtet oder ein spontaner Abbruch der Handlungen geschildert.

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witsch/Siefer, Tatort Gehirn, Frankfurt a. M. 2007. So bietet etwa die Universität St. Gallen einen zweitägigen Kurs mit dem Titel «Zwischen Wahrheit und Lüge» an, der sehr empfehlenswert ist. Siehe etwa Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, München 2004, enthaltend Beiträge namhafter Spezialisten auf dem Gebiet der Aussagepsychologie wie Volker Dittmann, weiter auch Bender/Nack/ Treuer, Tatsachenfeststellungen vor Gericht, Band I, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 5. Auflage, München 2008. Er erarbeitete sich die Grundlagen der Psychologie und hat danach am psychologischen Institut der Universität Zürich eine Zusatzausbildung in Paarpsychologie absolviert, die in der Regel ein abgeschlossenes Psychologiestudium voraussetzt. BGE 127 I 38 E. 2a mit Hinweisen Siehe dazu auch Bender/Nack 2008, S. 93f. Diese Hypothese der inhaltsorientierten Glaubhaftigkeitsbeurteilung wurde von Undeutsch (1967, S. 126) herausgearbeitet und daher von Steller (1989) als Undeutsch-Hypothese bezeichnet. Nach Steller, zitiert unter anderem in plädoyer 2/97 durch Prof. Dr. med. Volker Dittmann.

Inhaltliche Besonderheiten: 8. Schilderung ausgefallener Einzelheiten: Es treten in der Aussage ungewöhnliche Details auf, die nicht unrealistisch sind. 9. Schilderung nebensächlicher Einzelheiten: Einzelheiten werden geschildert, die für das Kerngeschehen in der Aussage unnötig sind. 35

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10. Phänomengemässe Schilderung unverstandener Handlungselemente: Es werden Handlungen von der aussagenden Person nicht durchschaut oder falsch interpretiert, aber sachgerecht beschrieben. 11. Indirekt handlungsbezogene Schilderungen: Es werden Handlungen geschildert, die ähnlich sind, aber zu anderer Zeit und mit anderen Personen stattgefunden haben. 12. Schilderung eigener psychischer Vorgänge: Gedanken oder eigene gefühlsbezogene motorische oder physiologische Abläufe werden beschrieben, die mit dem Kerngeschehen zusammenhängen. 13. Schilderung psychischer Vorgänge des Angeschuldigten: Es werden vermutete Gedanken oder Gefühle oder gefühlsbezogene motorische oder physiologische Abläufe des Beschuldigten beschrieben. Motivationsbezogene Inhalte: 14. Spontane Verbesserung der eigenen Aussage: Die Aussage wird spontan präzisiert oder berichtigt. 15. Eingeständnis von Erinnerungslücken: Der Aussagende gibt Erinnerungslücken zu oder gesteht Wissenslücken ein. 16. Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage: Die Glaubhaftigkeit der eigenen Aussage oder die Glaubwürdigkeit der eigenen Person wird in Frage gestellt. 17. Selbstbelastungen: Es wird vermeintliches Fehlverhalten gegenüber dem Beschuldigten geschildert oder die aussagende Person zeigt sich selbstkritisch. 18. Entlastung des Angeschuldigten: Die aussagende Person verzichtet auf eine Belastung oder Mehrbelastung des Beschuldigten. Dies, obwohl es naheliegend wäre. Oder sie entlastet den Angeschuldigten gar. Deliktsspezifische Inhalte: 19. Deliktsspezifische Aussageelemente: Die Aussage weist Elemente auf, die mit empirisch-krimi36

nalistischen Erkenntnissen über solche Delikte in Einklang stehen. Besonders gewichtig sind Schilderungen, die dem Alltagswissen der aussagenden Person widersprechen, aber dennoch delikttypisch sind. Der inhaltsanalytische Ansatz beruht darauf, dass jede Aussage eine geistige Leistung sei. Während es sich bei der Wiedergabe eines tatsächlichen Ereignisses um eine kognitiv relativ leicht zu bewältigende Aufgabe handelt, stellt es eine schwierige Aufgabe mit hoher Anforderung an die Leistungsfähigkeit eines Zeugen dar, eine Aussage über ein komplexes Handlungsgeschehen ohne eigene Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden und gegebenenfalls über verschiedene Befragungen, das heisst auch über längere Zeiträume, relativ konstant zu reproduzieren. Ein lügender Zeuge muss ein erhebliches Ausmass seiner kognitiven Energie darauf verwenden, eine Falschdarstellung plausibel darzulegen, sich die selbst produzierte Information zu merken und keine Informationen zu produzieren, die den Zuhörer skeptisch werden lassen könnten. Zudem muss er seine persönliche Wirkung kontrollieren sowie seine Nervosität verbergen. Es wird deshalb angenommen, dass die Aussage inhaltlich relativ wenig elaboriert ausfällt, da für eine komplexere Darstellung nicht mehr ausreichend kognitive Ressourcen vorhanden sind.9 Lügen ist also ein kognitiv anstrengender Prozess. Aus diesem Grund wird der Lügner auch versuchen, wenn irgendwie möglich, um die Sache herum zu sprechen, also gar keine Aussage zur vorgeworfenen Handlung machen zu müssen. Wer die Wahrheit sagt und falsch angeschuldigt ist, neigt demgegenüber dazu, reden zu wollen. Ein zweiter Unterschied zwischen einem aufrichtigen und einem lü-

genden Kommunikator betrifft die Selbstpräsentation. Ein Lügner verfolgt das Ziel, beim Empfänger den Eindruck der Glaubwürdigkeit, also einen falschen Eindruck, zu erwecken. Seine Aussage wird demnach keine Elemente aufweisen, die der Laienvorstellung nach Lügendindikatoren darstellen oder auf Inkompetenz hinweisen. Von daher wird davon ausgegangen, dass falsche Aussagen in der Regel nur in geringem Ausmass Selbstkorrekturen, Zugeben von Erinnerungslücken, Selbstbelastungen oder Ähnliches enthalten. Aus Simulationsstudien folgt, dass kein einziges Realkennzeichen für sich allein eine quantitative Verlässlichkeit hat. Mindestens vorhanden sein mussten fast immer: «logische Konsistenz» und «Detailreichtum». Diese beiden Merkmale stellen demnach zwar notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingungen für ein positiv ausfallendes Glaubhaftigkeitsurteil dar. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass bestimmte Realkennzeichen auch von guten Lügnern schlechter zu simulieren sind als andere und ihnen von daher grössere Bedeutung zukommen dürfte als den anderen Merkmalen. Dies scheint vor allem auf «phänomengemässe Darstellung unverstandener Handlungselemente», aber auch auf «Komplikationen im Handlungsablauf» oder «indirekt herangezogene Schilderungen» zuzutreffen.10 Widersprüche sind vor allem bei kurzen Befragungsintervallen geeignet, wahre von erfundenen Aussagen zu trennen. Eine in zentralen Aspekten (im Kerngeschehen) nicht widersprüchliche Aussage kann man auch von einem Lügner erwarten. Deshalb erfüllt sie für sich allein noch kein Glaubwürdigkeitsmerkmal; Konstanz in diesem Sinne erfüllt demnach lediglich eine Minimalanforderung an die Qualität einer Aussage.11 plädoyer 4/09

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Unverdächtige Widersprüche: ■



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Zuordnung von Nebenhandlungen bei mehreren ähnlichen Vorfällen Reihenfolge von Phasen eines Vorgangs und Reihenfolge verschiedener, in sich geschlossener Handlungen genaues Datum (falls dieses nicht besonders beachtet wurde) Schätzungen Häufigkeitsangaben bei ähnlichen Vorfällen Seitenverhältnisse und Position einzelner Körperteile Kleidung nicht unmittelbar beteiligte Begleitpersonen Zahlen Wortlaut von Gesprächen

Verdächtige Widersprüche: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■

Kerngeschehen unmittelbar beteiligte Handlungspartner Örtlichkeiten des Geschehens Fortbewegungsart handlungsrelevante Gegenstände Lichtverhältnisse Körperpositionen bei der Haupthandlung, sofern es sich um körpernahe Handlungen handelt12

Wichtig ist auch, darauf hinzuweisen, dass jede schematische Verwendung von Realkennzeichen verfehlt ist: Vielmehr führt die Analyse des Aussageinhaltes in einem ersten Schritt der Beweiswürdigung lediglich zu einer Beurteilung der Qualität der Aussage. Weiter zu berücksichtigen sind der Bezug auf die spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen des Aussagenden, seine Motivation und seine emotionalen Umstände im Zeitpunkt der Wahrnehmung. Je nach Alter, geistiger Leistungsfähigkeit und Erfahrung des Aussagenden ist die Qualitätseinschätzung der Aussage unterschiedlich zu bewerten. Schliesslich ist zu betonen, dass es sich bei den Realkennzeichen um plädoyer 4/09

Merkmale handelt, deren Vorhandensein auf den Erlebnisgehalt einer Schilderung hinweist, diesen aber nicht belegt. Beim Fehlen der Merkmale ist der Umkehrschluss auf eine Lüge nicht per se gerechtfertigt. Das Fehlen von Realkennzeichen kann zwar durch eine Lüge bedingt sein, muss aber nicht. Mögliche Ursachen können auch andere Faktoren sein wie Hemmungen, Angst, Nervosität oder Gedächtnismangel.

9 Steller/Volbert, Die Begutachtung der

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Glaubhaftigkeit, in: Foerster/Venzlaff 2004, S. 697. Steller/Volbert, a.a.O., S. 701. Zur Thematik der Wertung von Widersprüchen siehe auch: Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 4. Auflage, München 2007. Tabelle nach Arntzen 2007. Infointerne, Heft 21, Sommer 2003.

3 Von Emotionen gesteuerte Gerichtsentscheide? Sehr viele Richter geben an, dass sie aus dem Bauch heraus (also: intuitiv) entscheiden, ob eine Aussage glaubhaft ist oder nicht. Es muss zudem davon ausgegangen werden, dass Emotionen bei den Urteilenden bei deren Entscheidfindung eine wesentliche Rolle spielen. Dass dem so ist, lässt auch der Aufsatz der Berner Laienrichterin Susi Staub zum Thema richterliche Entscheidfindung erahnen13: «Mit wachsender Empörung las ich die Aussagen des Opfers, betrachtete Fotos von Örtlichkeiten und Verletzungen am ganzen Körper. Unfassbar, was dieser Frau angetan worden war. Recht aggressiv machte ich mich an die Lektüre der Aussagen des Angeschuldigten. Sympathie und Asymphatie beginnen eine Rolle zu spielen. Gedanken wie ‹der meint wohl, dass ich diesen Mist glaube› kommen auf. Ich habe im Verlauf einer Einvernahme einen Angeschuldigten gefragt, was er unter dem Begriff Vergewaltigung verstehe. Nach wiederholter Beteuerung, so etwas habe er noch nie gemacht, erklärte er, das sei so eine neue Idee, mit der sich die Frauen interessant machen wollten.» Aus der Forschung ist heute bekannt, dass die emotionalen Zentren unseres Gehirns bei jedem Entscheid aktiviert sind. Unsere Gefühle sind 37

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also zumindest mitentscheidend. Jahrhundertelang schworen demgegenüber Philosophen14 auf die Kraft der menschlichen Vernunft und verschrien Gefühle als dumm. Anhand von Beispielen von Personen, die nach einem Unfall oder einer Operation einen Schaden im Frontalhirn hatten und keine Gefühle mehr empfanden, wissen wir heute, wie wichtig Gefühle für unser Denken und unsere Entscheidfindung sind.15 Der Neurologe Oliver Sacks berichtete 1995 über die Fallgeschichte eines Richters, der unter einer Stirnlappenläsion litt, die dazu führte, dass ihn emotional nichts mehr berührte. Man könnte meinen, das Fehlen von Emotionen hätte ihn unparteiischer gemacht – ja auf geradezu einzigartige Weise zum Richter prädestiniert. Das Gegenteil war der Fall: Der Richter war nicht mehr in der Lage, ausgewogene gute Entscheide zu fällen und trat schliesslich freiwillig von seinem Amt zurück. Er erkannte zu Recht, dass ihn das Fehlen von Empathie für seine Aufgabe völlig ungeeignet gemacht hatte. Gefühle sind also integrativer Bestandteil des Denkens. Eine aktuelle Schätzung besagt, dass wir vom täglichen Infostrom 95 Prozent unterbewusst aufnehmen und verarbeiten. Die Ratio ist also begrenzter als wir glauben. In zahlreichen Tests haben Forscher nachgewiesen, dass wir mit rein rational gefällten Entscheiden in der Regel weniger glücklich sind als mit aus dem Bauch heraus gefällten Entscheiden – in vielen Fällen waren die rationalen Entscheide auch nachweislich dümmer. Von allen schnitten nicht die rein rational entscheidenden Denker, sondern jene am besten ab, welche nach dem Schildern der Entscheidgrundlagen eine Weile abgelenkt wurden und dann spontan entschieden.16 Eine Nacht darüber schlafen kann also sehr sinnvoll sein: Denn es kommt darauf an, dem Unbewussten Zeit zu lassen – 38

insbesondere vor einer schwierigen Entscheidung. Doch aufgepasst: Die Intuition ist auch ziemlich unkritisch. Eine Gefahr sind fehlgeleitete Gefühle, die bei uns durch die vorgetäuschten Emotionen von Zeugen oder Angeschuldigten oder vom Zusammenspiel Sympathie/Asympathie ausgelöst werden! Ein Versuch aus den USA aus dem Jahre 1999 weist darauf hin, dass Personen, die viel Erfahrung bei der Aufdeckung von Lügen haben, dann auch über bessere Fähigkeiten verfügen, Lügen aufzudecken als Vergleichsgruppen ohne spezifische Erfahrung. So lagen Angestellte der CIA gar in 73 Prozent der Fälle richtig.17 Und erfahrene Zollbeamte finden Drogenkuriere öfters aus einer Menge von mehreren hundert Menschen heraus. Und zwar intuitiv, ohne erklären zu können, wie ihr Entscheid zustande gekommen war.18 Die besten Entscheide fällen also Richter, die auf dem Gebiet der Aussageanalyse bereits Experten sind, jedoch dann nicht nur rein rational entscheiden, sondern vor ihrem Entscheid auch auf ihren Bauch hören. Es versteht sich von selbst, dass ein Urteil nicht mit der Intuition des Gerichts begründet werden kann, sondern mit objektiven, nachvollziehbaren Argumenten im Sinne der Inhaltsanalyse der Aussagen. Die Intuition soll lediglich, aber immerhin Kontrollfunktion haben.

4 Irrende Augenzeugen Soll ein Augenzeuge einen Täter in einer Reihe von nebeneinander stehenden Personen identifizieren, so tut er dies in 36 Prozent der Fälle auch, wenn der wahre Täter gar nicht unter den Anwesenden ist. Die Gerichte schenken trotzdem vier von fünf derartigen Falschidentifikationen Glauben. In einer von «Science»

im Jahre 2005 veröffentlichten Studie hatten sich in 86 erwiesenen Fehlurteilen 50-mal die Augenzeugen geirrt.19 Zeugenaussagen weisen vor Gericht zwei wesentliche Fehlerquellen auf: Zum einen nimmt ein Zeuge einen Sachverhalt meistens unter suboptimalen Bedingungen wahr. Zum anderen erhält der Zeuge später suggestive Informationen, wodurch sich der Inhalt der gespeicherten Informationen verändert. Das Problem liegt darin, dass unser Gedächtnis nicht wie eine Fotooder Videokamera arbeitet. Wir speichern zwar Bilder ab, aber bei der «Diashow» kann unser Hirn durcheinandergeraten. Die Erinnerung ist also keineswegs ein für allemal unveränderlich gespeichert. Sie lebt von der Erzählung. Das Erinnerte wird mit jedem Erzählen neu ins Gedächtnis geschrieben.20 Es liegt auf der Hand, dass bei jeder neuen Abrufung des Ereignisses Fehlerquellen auftauchen können. Die aussagende Person kann die Unwahrheit sagen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein weiteres Problem bei der Wahrheitssuche ist unsere individuelle Brille, durch die wir die Umwelt wahrnehmen. Jede Wahrnehmung ist subjektiv eingefärbt. Zum Beispiel erinnern wir uns an unvertraute Dinge schlechter als an vertraute; so können wir europäische Gesichter weit besser voneinander unterscheiden als asiatische. Unser Wahrnehmungsfilter wird durch Motivation und Emotionen beeinflusst. Ausserdem besteht eine starke Tendenz, das Erlebte in Richtung des Erwarteten zu ergänzen.

5 Befragungstechnik für eine analysierbare Aussage Das Verhalten des Aussagenden wird entscheidend auch durch das Verhalten des Befragenden beeinflusst. Mit jedem Gespräch treten Befrager und plädoyer 4/09

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Befragter in Beziehung, und wie Ersterer das tut, kann entscheidenden Einfluss auf die Aussagen des Zweiten haben. Neben der Sachebene hat die Beziehungsebene grossen Einfluss auf eine Einvernahme. Für den Erfolg der Befragung ist in hohem Masse entscheidend, inwiefern es gelingt, eine Einvernahmeatmosphäre zu schaffen, die es der befragten Person erleichtert oder ermöglicht, Aussagen zu machen. Zu den Grundsätzen der Befragungstechnik gehört eine freundliche und unterstützende Haltung, das Ausstrahlen von Ruhe, Geduld und aufmerksames Zuhören. Letztes zeigt sich auch im nonverbalen Verhalten. So verraten fehlender Blickkontakt, Zeichnen auf dem Notizblock oder aufräumende Bewegungen auf dem Bürotisch den inneren Rückzug des Befragers. In der ersten Phase des Gesprächs sollte der Befragte dort abgeholt werden, wo er ist. Es empfiehlt sich deshalb, Angeschuldigte zuerst zur Person zu befragen. Dabei können auch Fragen zu nebensächlichen Themen gestellt werden (zum Beispiel zu Hobbys). Die Aussagen verraten einiges über die Struktur von wahren Antworten des Befragten und können später mit den Ausführungen zu den tatrelevanten Vorwürfen verglichen werden. Ziel der Befragung zur Sache sollte beim Angeschuldigten wie auch bei den Zeugen sein, einen freien Bericht zu erhalten. So sieht man, wie detailliert der Befragte von sich aus den Sachverhalt schildert oder in welcher Reihenfolge. Was die befragte Person von sich aus erzählt, ist wertvoller, als was erfragt wird. Frühestens nach der ersten Phase des freien Berichts sollten die strukturierten Ergänzungsfragen durch den Befrager erfolgen. Wann immer möglich sollte auch hier wieder zurück zum freien Bericht gewechselt werden. Zur Vermeidung von Suggestionseffekten sollten möglichst lange Zeit plädoyer 4/09

offene Fragen gestellt werden. Geschlossene Fragen haben hohes Suggestionspotenzial. Strafverteidiger haben häufig die Tendenz ihre Fragen mit der Wendung «Ist es richtig, dass …» zu formulieren. In diesem Fall nützt es nichts, wenn das Gericht dazu auffordert, die Frage doch bitte offen zu formulieren: Die Suggestion ist schon passiert und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Frage ist deshalb genau zu protokollieren, und die Antwort wird kaum Beweiswert haben. Gerade weil Gedächtnisinhalte keineswegs stabil und unbeeinflussbar sind, verändern Suggestivfragen sogar dann die Erinnerung, wenn man sich ihrer bewusst ist.21

14 Immanuel Kant, Die Kritik der reinen

Vernunft, Leipzig 1877. 15 Ausführlich hierzu etwa Prof. Spitzer,

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6 Kinder sind anfällig zur Konstruktion von Pseudoerinnerungen Auch völlig unvoreingenommene Personen zeigen in Tests die Neigung, objektiv harmloses Material als Belastungsmaterial für sexuellen Missbrauch zu verwenden. In einer Studie wurde Studenten ein 15-minütiger Filmzusammenschnitt einer Turnstunde von Kindergärtlern mit einem Turnlehrer vorgeführt.22 Mehreren Studentengruppen wurde mitgeteilt, das Material stamme aus einem Ermittlungsverfahren, das gegen den Turnlehrer wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch geführt werde. Diese Information wurde der einen Gruppe nach der Präsentation gegeben, in einer Kontrollgruppe wurde kein Verdacht induziert. Während in der Kontrollbedingung nur wenige Personen annahmen, es liege sexueller Missbrauch vor (7 Prozent), nahmen dies in der Verdacht-nachher-Bedingung 53 Prozent an. Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch werden in den Befragungen der Kinder oft suggestive Techniken benutzt, in der Annahme, man wür-

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Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin 2007. Zum Ganzen: Bas Kast, Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft, Frankfurt a.M. 2007. Erfahrene Vernehmungsbeamte waren besser als unerfahrene Vernehmungsbeamte oder akademische Psychologen. Nach Ekman/O’Sullivan/Frank, «A few can catch a Liar», in: Psychological Science, 10, 1999, S. 263–266. Umfassend beschrieben und erklärt in Prof. Dr. Gerd Gigerenzer – Bauchentscheidungen, 2. Auflage, München 2008. Markowitsch/Siefer 2007. Prof. Welzer, zitiert in Oeler/Bernius/Wellmann, Was kann Psychologie, Weinheim 2009. Förstl, zitiert in Oeler/Bernius/Wellmann 2009. Schult-Hardt et al. 2000, zitiert in Steller/Volbert 2004. Induktion von Pseudoerinnerungen bei Kindern, Möglichkeiten und Grenzen aussagepsychologischer Diagnostik bei suggerierten Aussagen, Dissertation von Katja Erdmann bei Professor Dr. Max Steller, Berlin 2001. Zum Ganzen auch Steller/Volbert, 2004.

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de den Kindern die Berichte über den als sicher erachteten Missbrauch erleichtern. So kommt es in der Befragung oft zu direkten Vorgaben, zu bedingungslosem Akzeptieren und Verstärken von Beschreibungen sexueller Handlungen, auch wenn diese nur vage, widersprüchlich oder sogar unrealistisch sind. Oft wird dabei Schweigen oder Verneinung der Vorwürfe als «Noch nicht bereit sein zum darüber Sprechen» interpretiert. Der suggestive Charakter der Befragung ist den Befragenden in aller Regel nicht bewusst. Suggestiver Einfluss erfolgt dabei nicht nur über suggestive Fragen (Wie: «Und dann hat er dich ausgezogen, nicht wahr?»), sondern unbewusst durch die Voreinstellung des Befragers. Diese Voreinstellung ist geprägt durch dessen Annahme, dass die Anschuldigungen richtig sind, sowie durch eine Befragung, die zielgerichtet auf die Bestätigung des Verdachts aufgebaut ist: Verdacht geschöpft werden muss vor allem dann, wenn die Erinnerungen erst im Laufe wiederholter Befragungen «auftauchen» und wenn die Aussagen dazu zuerst vage bleiben und erst im Verlauf mehrerer Befragungen zunehmende Konstanz aufweisen. In zahlreichen empirischen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass es möglich ist, Aussagen von Kindern und Erwachsenen über reale Ereignisse durch suggestive Einflussnahmen so zu verändern, dass sie nicht mehr als zuverlässiger Bericht über den Befragungsgegenstand angesehen werden können.23 Als empirisch belegt gilt ferner, dass es auch möglich ist, Gedächtnisinhalte über gesamte Ereignisse, die tatsächlich nicht stattgefunden haben, zu evozieren. Von Bedeutung für die aussagepsychologische Praxis – so insbesondere bei der Beurteilung kindlicher Zeugenaussagen über sexuellen Missbrauch – ist aber auch, wie sich 40

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wiederholte und fortdauernde suggestive Beeinflussungen im Zeitverlauf in den Aussagen abbilden. Interessant ist, dass sich nur wenige qualitative Unterschiede zwischen erlebnisbegründeten und suggerierten Aussagen nachweisen lassen und Experten auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbegutachtung nur schwerlich dazu in der Lage sind, zwischen erlebnisbegründeten und suggerierten Schilderungen zu differenzieren. Die Psychologin Katja Erdmann hat im Rahmen ihrer Dissertation zur Entstehung von Pseudoerinnerungen bei Kindern nachgewiesen, wie einfach es ist, mit leichter Suggestion bei Kindern falsche Erinnerungen zu produzieren. In die Untersuchung einbezogen wurden 67 Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren. Diese wurden insgesamt sechsmal zu jeweils einem tatsächlich erlebten und einem fiktiven Ereignis (zum Beispiel einem Sturz vom Pferd) befragt. Die Ereignisse waren körpernah und gingen mit Eigenbeteiligung und Kontrollverlust einher. Die Befragungen erfolgten im Abstand von jeweils zwei Wochen, wobei zum fiktiven Ereignis mit suggestiven Techniken befragt wurde. Die fünfte Befragung erfolgte suggestionsfrei durch einen nicht informierten Experten. In einer Nachbefragung einige Wochen später wurden die Kinder darauf hingewiesen, dass sie möglicherweise zu Ereignissen befragt wurden, die sie gar nicht erlebt hatten. Die Ergebnisse der Studie sind frappierend: Bei der Expertenbefragung bejahten rund drei Viertel der Kinder das fiktive Erlebnis. Die Experten zeigten zudem Schwierigkeiten, zwischen erlebnisbegründeten und suggerierten Schilderungen zu differenzieren, insbesondere dann, wenn sie sich nur auf die Transkripte der Aussagen stützen konnten. Auch nach Hinweis auf mögliche Fehler in der sechsten Befragung be-

harrten viele Kinder auf dem tatsächlichen Erleben des fiktiven Ereignisses. In einer Nachbefragung bejahten auch nach vier Jahren noch vierzig Prozent der Kinder das fiktive Ereignis, wobei einige hiervon es zuvor verneint hatten! Bereits eine leicht suggestive Art von Befragung kann somit zu detaillierten Pseudoerinnerungen führen, von deren Existenz die Kinder subjektiv überzeugt sind. Als Folge davon wird schliesslich in einer späteren Befragung, die selbst vollständig neutral und suggestionsfrei gestaltet sein kann, die induzierte Aussage sogar im freien Bericht vorgetragen. Die Ergebnisse zeigen, dass es grundsätzlich möglich ist, mittels suggestiver Einflussnahmen der Eltern oder der Untersuchungsbehörden bei Kindern Schilderungen über Ereignisse zu erhalten, die sie tatsächlich nicht erlebt haben. Es besteht aller Anlass anzunehmen, dass auch Pseudoerinnerungen eine hohe inhaltliche Qualität annehmen und sehr komplex, detailliert, voller ungewöhnlicher Details und verschachtelt sein können.24 Daraus folgt, dass in solchen Fällen im Zentrum der Analyse die Aussageentstehung und -entwicklung stehen muss. Zu prüfen ist, ob vor der ersten Äusserung des Kindes bereits ein Verdacht bestand, und wenn ja, welche Massnahmen zur Abklärung des Verdachts vor der ersten Äusserung des Kindes vorgenommen wurden. Untersucht werden muss auch, welches die genauen Umstände und Inhalte der ersten Äusserungen des Kindes waren, ob das Kind dabei eigene Angaben über den Vorfall machte oder nur entsprechende Fragen bejahte. Wichtig ist auch zu wissen, wie auf die Erstbekundung reagiert wurde sowie Anzahl und Erwartungshaltungen der Personen, welche mit dem Kind über den Vorfall gesprochen haben. plädoyer 4/09

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