Lexikalische Unterspezifikation und semantische Anpassung Eventive Nomen im Deutschen 1

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Author: Victor Melsbach
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Lexikalische Unterspezifikation und semantische Anpassung Eventive Nomen im Deutschen 1 Veronika Ehrich 1. Vorbemerkungen Die Auffassung, dass Verben auf Eventualitäten (Zustände, Prozesse, Ereignisse) und Nomen auf Personen, Objekte (materieller, mentaler, ästhetischer Art) oder Substanzen Bezug nehmen, gehört zu den grundlegenden Topoi grammatischen Wissens. Eventive 2 Basisnomen wie Ball 3, Fest, Krieg, Sturm bilden Ausnahmen, die die Regel bestätigen. In kognitiven Grammatikmodellen wird die Korrespondenz zwischen der syntaktischen und der ontologischen Klassifizierung als Beleg dafür gesehen, dass die formalen Kategorien der Grammatik ein Fundament in grundlegenden Kategorien der menschlichen Erkenntnisfähigkeit haben und aus diesen ableitbar sind. Formal orientierte Grammatikmodelle heben demgegenüber die Autonomie grammatischer Kategorisierungen hervor und begründen dies vor allem mit dem Hinweis auf Nominalisierungen, die sich syntaktisch wie gewöhnliche Nomen verhalten, aber semantisch als Bezeichnungen für Eventualitäten zu deuten sind. In diesem Aufsatz beschäftige ich mich mit ±eventiven Deutungen für Basisnomen und -ung-Nominalisierungen. Ich verfolge dabei die Idee, dass Nomen grundsätzlich ontologisch unterspezifiziert sind. Damit wird nicht zwangsläufig die Annahme aufgegeben, dass Basisnomen in der Regel eine Objektdeutung und deverbale Nominalisierungen eine Ereignisdeutung haben. Ich sehe darin aber nur eine Default-Annahme, von der abgewichen werden kann, ohne dass es einer Umdeutung oder Verschiebung der Grundbedeutung bedarf. Vergleichbare Ansätze 1

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werden in anderen Bereichen der Grammatikforschung auch von Dölling (2005) und Egg (2003) verfolgt. In Abs. 2 zeige ich, dass eventive Deutungen für Basisnomen weit über die landläufigen Ausnahmen (s.o.) hinaus möglich sind. Ich argumentiere dafür, dass diese Deutungen durch kontextuelle Anreicherung eines ontologisch unterspezifizierten Denotats zustande kommen. In Abs. 3 gehe ich auf die deverbalen -ung- Nominalisierungen ein und zeige, dass man die jeweiligen Deutungen ohne lexikalische Festlegung einer Ereignisbedeutung ableiten kann. 2. Eventive Deutungen für Basisnomen Für Nominalisierungen sind Ereignis-Objekt-Polysemien vom Typ (1) charakteristisch. (1)

a Der Regisseur beginnt im November mit der Verfilmung des Romans. (+eventiv,) b Die Verfilmung des Romans läuft heute im Kino.. (-eventiv) c Wir warten auf die Verfilmung des Romans (± eventiv) Während in (1a) dem Nomen Verfilmung durch das Phasenverb beginnen eine Ereignisdeutung aufgezwungen wird, kommt für dasselbe Nomen in (2b) nur eine Deutung als ästhetisches Objekt in Betracht. (1c) schließlich lässt beide Interpretationen zu, in der Ereignisinterpretation warten wir darauf, dass der Roman verfilmt wird, in der Objektdeutung richtet sich die Erwartung darauf, dass das Ergebnis im Kino gezeigt wird. Die Beispiele zeigen, dass die in Frage kommende Deutung abhängig ist von den Typanforderungen des jeweiligen Matrixprädikats. Wenn dieses wie in (1a) ein EreignisArgument fordert, wird dieser Typ der Nominalisierung aufgezwungen (man spricht dann von type coercion, vgl. dazu Pustejovsky 1995)4, alle anderen im Prinzip denkbaren Deutungen scheiden aus. 2

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Systematische Bedeutungsalternationen betreffen auch andere ontologische Domänen (2): (2)

a Alternation von Individual- und Stoffnamen Das Lamm stakst über die Wiese. / Lamm ist magerer als Schwein. b Alternation von Behältnis und Inhalt Ich habe nur ein Glas zerbrochen. / Ich habe nur ein Glas getrunken. c Alternation von Pflanze und Frucht Die Kirschen blühen. / Die Kirschen werden geerntet. d Alternation von ästhetischem und materiellem Objekt Der Roman ist spannend. / Der Roman ist dick. e Alternation von Institution und Gegenstand Die Bahn soll privatisiert werden. / Hans sitzt in der Bahn.

Die Eventiv-Alternation ist nicht auf Nominalisierungen beschränkt (3). (3)

a Die Arie hat der Komponist eigens für die Diva komponiert. (Musikstück als ästhetisches Objekt) a’ Während der Arie begann der Dirigent zu husten. (Aufführung des Musikstücks) b Der Film ist eine künstlerische Sensation. (Ästhetisches Objekt) b’ Nach dem Film gehen wir noch in eine Bar. (Aufführung des Films) c Das Bier ist bitter. (Substanz) c’ Nach dem Bier gingen sie zufrieden nach Hause. (Konsumption von Bier)

Zur semantischen Rekonstruktion solcher Alternationen existieren in der Forschungsliteratur verschiedene Ansätze: 3

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( i ) Ambiguitätshypothese: Jede der möglichen Lesarten eines Ausdrucks bildet einen eigenen Eintrag im mentalen Lexikon, die Selektion des jeweils angemessenen Eintrags erfolgt durch Rekurs auf den Satz-/Text-Kontext. (ii) Polysemiehypothese: Systematische Bedeutungsalternationen beruhen auf einer allen semantischen Varianten gemeinsamen Grund-Bedeutung, die auf der Basis von Fakten- und Kontextwissen konzeptuell unterschiedlich ausgedeutet wird. (iii) Die Unterspezifikationshypothese: Die alternierenden Lexeme sind hinsichtlich ihres ontologischen Typs nicht festgelegt. Die Typ-Fixierung erfolgt durch kontextuelle Anreicherung. Jede dieser Annahmen ist mit Problemen verbunden. Die Ambiguitätshypothese hat den Nachteil, dass ein Lexem je nach Kontext sehr viele verschiedene Deutungen annehmen kann. Die Liste möglicher Lexikoneinträge für ein Lexem ist daher grundsätzlich offen und das mentale Lexikon muss, um die verschiedenen Deutungen zur Verfügung zu stellen, ständig erweitert werden. Das ist nicht plausibel, weshalb die Ambiguitätshypothese in der jüngeren Forschung nicht mehr vertreten wird. Mit der Polysemiehypothese wird durch die Annahme einer einzigen Grundbedeutung die Proliferation neuer Lexikoneinträge vermieden; allerdings gibt es keine klaren Prinzipien, nach denen die Grundbedeutung eines Wortes festgelegt wird (vgl. Taylor 1994). Die Unterspezifikationshypothese umgeht dieses Problem, doch bleiben Unterspezifikationsmodelle häufig bei der Diskussion interessanter Einzelbeispiele stehen und es gibt keine klare Vorhersage darüber, unter welchen Bedingungen die kontextuelle Anreicherung versagt. Ein besonders in der deutschen Linguistik einflussreicher Vorschlag zur Behandlung von Polysemien ist die seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Bierwisch und Lang (1987) entwickelte Zwei-Ebenen-Semantik. In diesem Modell wird zwischen der Ebene der Semantischen Form (SF) und der Ebene der Kon4

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textuellen Struktur (CS) unterschieden. Auf SF wird einem Lexem eine allgemeine Grundbedeutung zugewiesen, die so abstrakt ist, dass sie alle Bedeutungsvarianten erfasst. Auf der Ebene CS wird die im gegebenen Kontext angemessene Interpretation ausbuchstabiert. Diese Interpretation spezifiziert die auf SF nicht fixierten Bedeutungsparameter. Klassisches Beispiel für diesen Ansatz ist das Wort Schule (Bierwisch 1983). (4)

a Hurra, Hurra, die Schule brennt5 (Schule als Gebäude). b Die Schule fällt heute aus. (Schule als werktägliche Veranstaltung) c Die Schule macht einen Ausflug (Schule als Ensemble von Schulmitgliedern) d Die Schule bekommt einen neuen Direktor. (Schule als spezifische Institution) f Die deutsche Schule hängt der internationalen Entwicklung hinterher. (Schule als generische Institution).

Die Semantische Form für den Eintrag Schule (5) legt lediglich fest, dass Schule eine Entität x denotiert, die einem bestimmten Zweck W dient, nämlich der Durchführung von Lehr- und Lernprozessen. Der semantische Typ von x bleibt offen und wird erst auf der Ebene der konzeptuellen Struktur festgelegt (5b). (5)

a SF-Struktur von Schule λx [Zweck (x, W)]6 W = Durchführung von Lehr- und Lernprozessen b CS-Festlegung von Schule λx [Gebäude (x) & Zweck (x,W)] λx [ Werktägliche Veranstaltung (x) & Zweck (x,W)] λx [Ensemble von Personen (x) & Zweck (x,W)] λx [Spezifische Institution (x) & Zweck (x,W)] λx [Generische Institution (x) & Zweck (x,W)] 5

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Ein verwandter Ansatz ist der von Pustejovsky (1995), der nur eine Ebene der lexikalischen Bedeutung ansetzt, die jedoch durch verschiedene Qualia mehrfach gegliedert ist. Qualia kennzeichnen die semantische Rolle, die ein Ausdruck in einem gegebenen Kontext innehat. Pustejovsky unterscheidet vier Qualia-Rollen: die konstitutive Rolle, die sich auf die Beziehung zwischen einem Objekt und seinen Teilen richtet, die formaleRolle, die die Klasseneigenschaft des Objekts betrifft; die telische Rolle, die auf den Zweck des Objekts bezogen ist, und die agentive Rolle, die das Zustandekommen des Objekts betrifft. In Das Buch ist dick wird Buch unter Bezugnahme auf die formale Rolle gedeutet, in Das Buch ist unterhaltsam im Hinblick auf die telische Rolle, in Das Buch ist von Inoue steht die agentive Rolle im Vordergrund. Ein Lexikoneintrag für ein Nomen besteht in Pustejovskys Modell aus Angaben (i) zu den möglichen Argumenten des nominalen Prädikats und (ii) zu den Qualia, auf die die fraglichen Argumente gerichtet sind. Die Bedeutung von Schule lässt sich in diesem Modell durch den Lexikoneintrag (6) charakterisieren. (6)

Schule

Argstr

Arg 1 Arg 2 Arg 3 Arg 4 Arg 5

= = = = =

x: Institution y: Gebäude g: Person(en) 1 z: Personen 2 u: Lehr- und Lernprozess

Lehr/Lern-Prozess.Institution. Gebäude.Person Konstitutiv: Institution (x) Qualia Formal: Unterbringen (y, x) Telisch: Partizipieren an (z, u) Agentiv: Organisieren (g, u)

Die fett gedruckte Bedeutungsangabe besagt, dass in der Bedeutung von Schule die verschiedenen Aspekte (Lehr- u. Lernprozesse, Personen 6

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Gebäude etc.) mit einander kombiniert sind, keiner dieser Aspekte ist dem anderen übergeordnet. Darin unterscheidet sich Pustejovkys Ansatz von dem Modell der Zwei-Ebenen-Theorie. Die mehrgliedrige Qualiastruktur leistet aber dasselbe wie die konzeptuelle Deutung im System der Zwei-Ebenen-Semantik. Beide Ansätze vermögen gut zu erklären, wie eventive Deutungen für Institutionsbegriffe zustande kommen (7)7. (7)

a b c d e

Während der Schule Während der Kirche Während der Oper Während des Films Während des Seminars

Die temporalen Präposition während zwingt ihrem Argument eine eventive Deutung auf.8 Es bleibt aber in beiden Modellen ungeklärt, warum die Institutionsbegriffe in (7) eventive Deutungen zulassen, während dies in (8) nicht möglich ist. (8)

a b c d

#Während der Bank #Während der Post #Während des Museums #Während des Rathauses

Zwar zeichnen sich die Beispiele in (8) ebenfalls durch ein mehrfach gegliedertes Bedeutungs-spektrum aus (vgl. zur Illustration (9)), doch scheint die Prozessbedeutung ausgeschlossen. (9)

a Das Museum brennt. (Gebäude) b Das Museum hat heute geschlossen. (Spezifische Institution) c Das Museum macht einen Betriebsausflug. (Ensemble von Personen) d Das Museum ist aus der Kulturförderung nicht wegzudenken. 7

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(Generische Institution). Schule, Oper, Film etc. sind Gegenstand spezieller Veranstaltungen, und es ist der Veranstaltungscharakter, der ihnen eine zeitliche Verlaufsstruktur zuweist, die eine eventive Deutung für die entsprechenden Nomina möglich macht. Hinsichtlich eines Schultages oder der Aufführung einer Oper verfügen wir über Skriptwissen, das ist Wissen über den prototypischen Verlauf, also etwa über die Abfolge von Schulstunden und Pausen bzw. über die Abfolge einzelner Opernakte. Hinsichtlich anderer Institutionen ist das Skriptwissen eher diffus; die Vorgänge, die auf einer Bank oder in einem Rathaus ablaufen, sind nicht durch eine klare Ablaufstruktur gekennzeichnet, es verbindet sich mit ihnen kein bestimmbarer Veranstaltungstyp. Der Vergleich von (7) und (8) spricht demgemäß für die Skripthypothese (10). (10) Skript-Hypothese • Ereignisdeutungen für Institutionsbegriffe kommen auf der Grundlage von Skriptinformation über den prototypischen Ablauf der Aktivitäten innerhalb der Institution zustande. • Skript-Wissen ist nicht-sprachliches Alltagswissen. InstitutionsNomina brauchen daher im Lexikon nicht durch verschiedene Qualia gekennzeichnet zu werden. • Im Kontext temporaler Präpositionen ruft die Verwendung eines Nomens Skriptinformation auf, das die Basis für eine eventive Deutung liefert. Unterstützt wird die Skripthypothese durch eventive Verwendungen für nicht-institutionelle Begriffe: (10) a Während des Liedes b Während der Suppe c Während des Desserts

d #Während des Textes e #Während des Spinats f #Während des Quarks

8

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Im Falle von Lied ergibt sich die eventive Lesart aus dem Wissen, dass ein Lied eine lineare Strophen-/ Zeilenabfolge hat. Eventiv ist hier jedoch nicht das Lied als solches, sondern das Singen / Hören der Abfolge von Liedstrophen / -zeilen. Bei Suppe und Dessert ergibt sich die eventive Deutung aus der Tatsache, dass sie in einer Speisenfolge einen festen Platz (als Vor- bzw. Nachspeise) einnehmen. Auf den ersten Blick scheint Eventivität hier an die agentive oder telische Qualia-Spezifikation gekoppelt zu sein: Suppe und Dessert haben den Zweck gegessen zu werden. Dies gilt aber auch für Spinat oder Quark. Trotzdem lassen sich die entsprechenden Nomen in (10e,f) nicht so problemlos wie ihre Gegenstücke in (10 b, c) eventiv deuten. Die Erklärung dafür ist, dass Spinat oder Quark keinen festen Platz in der Speisenfolge haben und daher kein einschlägiges Skriptwissen aufrufen. Die Skript-Hypothese vermag freilich nicht alle Vorkommen von Ereignisdeutungen für Basisnomen zu erklären9: (11) a Vor ihrer Dissertation / ihrem Brief / ihrem Buch war sie im Fach weitgehend unbekannt. b Nach den Kindern, / nach den Patienten / nach den Anwälten war sie völlig erschöpft. c Nach dem Gefängnis / nach dem Krankenhaus / nach dem Kindergarten ging es ihr besser. (11a) lässt sich mit Verweis auf agentive oder telische QualiaSpezifierungen (‚bevor sie ihre Dissertation / ihren Brief / ihr Buch geschrieben hatte‘ (agentiv), ‚bevor man ihre Dissertation / ihren Brief / ihr Buch gelesen hatte‘ (telisch) deuten. Für (11b,c) gibt es jedoch nicht ohne weiteres eine agentive oder telische Qualia-Spezifikation als eventive Basis. Hier lassen sich je nach Kontext unterschiedliche Ereignis- oder Prozessprädikate heranziehen, die die eine eventive Deutung nahe legen: 9

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(11’) b1 Nachdem sie die Kinder bekommen / erzogen / fotografiert / operiert / beschenkt,... hatte b2 Nachdem sie die Patienten besucht / untersucht / registriert / fotografiert,... hatte b3 Nachdem sie den Anwälten zugehört / geschrieben / die Akten übergeben... hatte c Nach dem Aufenthalt im Gefängnis (Krankenhaus, Kindergarten) / nach der Reportage im Gefängnis (Krankenhaus, Kindergarten) / nach dem Praktikum im Gefängnis, nach der Renovierung des Gefängnisses,....(des Krankenhauses, Kindergartens) In diesen Fällen muss für die eventive Deutung ein zusätzliches Ereignisprädikat herangezogen werden (in 11’ ist eine Auswahl in Frage kommender Prädikate kursiv gedruckt). Das heißt, die eventive Deutung kommt hier allein durch kontextuelle Anreicherung zustande. Welches Prädikat für die Generierung einer angemessenen Interpretation einschlägig ist, ist von stereotypem Faktenwissen (Patienten werden behandelt, besucht, operiert,... etc.) oder von spezifischem Kontextwissen abhängig. Ich möchte dies an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. (12) a

Ich habe meine Nachbarin dadurch kennen gelernt, dass eines Tages eine Postkarte an sie in meinem Briefkasten lag, die ich ihr gebracht habe. b Vor dieser Postkarte kannten wir uns nicht.



Postkarten sind vermutlich nicht Teil eines Skripts, sie haben aber klar definierbare Qualia-Spezifikationen, insofern als sie geschrieben (agentive Qualia-Rolle) und gelesen (telische Qualia-Rolle) werden. In (12) geht es jedoch weder um das Lesen, noch um das Schreiben der Postkarte, sondern darum, dass diese im falschen Briefkasten liegt und der Nachbarin gebracht wird. Die Ableitung der eventiven Lesart 10

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kommt daher in (12) nicht durch den Bezug auf telische oder agentive Qualia-Information zustande, sondern durch die Heranziehung von Information aus dem Textkontext: (12’) a

Ich habe meine Nachbarin dadurch kennen gelernt, dass eines Tages eine Postkarte an sie in meinem Briefkasten lag, die ich ihr gebracht habe. b Bevor diese Postkarte in meinem Briefkasten lag, / bevor ich meiner Nachbarin diese Postkarte brachte, kannten wir uns nicht.

Hypothese der kontextuellen Anreicherung • Nomen sind hinsichtlich ihres ontologischen Typs nicht festgelegt (Unterspezifikationshypothese). Eine eventive Deutung ist der Hinzufügung eines Ereignisprädikats Prädev geschuldet, dessen Auswahl nach Maßgabe kontextueller In-formation erfolgt (kontextuelle Anreicherung). • Telische und agentive Qualia sind zwar Prototypen für die Anreicherung, sie sind aber weder notwendig, noch hinreichend. • Skript-Information ist hilfreich für die Anreicherung, hat aber einen zu begrenzten Anwendungsbereich; so umfasst das ‚Postkartenskript‘ (falls es ein solches gibt) den Kauf, das Schreiben Versenden, Empfangen und Lesen der Karte, aber nicht die fehlerhafte Zustellung (wie in 12) oder die Behebung dieses Fehlers. Ich gehe daher im Folgenden davon aus, dass einstellige Basisnomen wie Postkarte, Brief, Schule, Lied etc. ein ontologisch unterspezifiziertes referentielles Argument d haben (13a). Eine eventive Deutung (13b) für Basisnomen kommt durch Hinzufügung eines eventiven Prädikats zustande, das aus dem Kontext zu erschließen ist. Ich möchte dies hier am Beispiel von Postkarte verdeutlichen 11

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(13) a λ d [Postkarte (d)] b Eventive Deutung: λd [ Postkarte (d) &

präd

(x, d, v) ]

In (12b) ist präd eine dreistellige Prädikatsvariable, wobei die freie Variable x für den Träger des Geschehens (agens), d für das Objekt des Geschehens (patiens) und v für das von präd denotierte Ereignis steht, v ist also das referentielle Argument eines Ereignisprädikats. Die temporale Präposition vor setzt die Zeit der jeweils in Rede stehende Situation ‚Temp (u)‘ zu der Zeit eines Referenzereignisses ‚Temp (v)‘ in Beziehung (14a) (14) a Vor: λv λu [vor ((Temp (u), Temp (v))] Temp (u) die Zeit von der die Rede ist Temp (v) die Zeit zu der Temp (u) in Beziehung gesetzt wird Das Bezugsereignis v ist das referentielle Argument einer EreignisPrädikatsvariable präd (14b), die durch Rückbezug auf den gegebenen Kontext ausbuchstabiert wird (14c). (14) b vor der Postkarte:

c

präd:

λ d λv [vor ((Temp (u), Temp (v)) & Postkarte (d) & präd (x,d,v)] {schreiben, bekommen, lesen, in den Briefkasten werfen, im Briefkasten finden, jemandem bringen, ....etc.}

Im Kontext (12) kommt bringen als Belegung für präd in Betracht, so dass vor der Postkarte wie folgt repräsentierbar ist (14) c vor der Postkarte:

λ d λv [vor ((Temp (u), Temp (v)) & Postkarte (d) & Bring (x, y, d, v)]10

Vorläufiges Fazit: Eventive Deutungen für Basis-Appellative kommen nicht durch ontologische Umdeutung eines festgelegten semantischen Typs 12

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zustande, sondern durch kontextuelle Anreicherung, bei der aus dem Kontext ein geeignetes Ereignisprädikat erschlossen wird. 3. Ereignis- und Objekt-Derivative Es gibt im Deutschen verschiedene morphologische Verfahren zur Ableitung von Ereignisnominalisierungen. Die gebräuchlichsten sind die Infinitiv-Konversion (15a), die Null-Konversion (15b), die Ableitung von Nomina Acti auf -er (15c) und die Ableitung auf -ung (15d). (15) a Das Treffen fand am Rande er UN-Vollversammlung statt. b Er hat sich bei dem Zusammenstoß an der Stirn verletzt. c Das Publikum irritierte die Schauspieler mit einem unerwarteten Lacher. 11 d Die Abstimmung über das Gesetz musste unterbrochen werden. Im Folgenden beschränke ich mich auf die -ung-Nominalisierung, da dieser Ableitungstyp, anders als die Infinitiv- und die Nullkonversion, durch systematische Polysemien gekennzeichnet und sehr viel produktiver ist als die er-Bildung von Nomina Acti.12 Ung-Nominalisierungen von Kreationsverben lassen sich je nach Matrixverb als Ereignis- oder als Objektbezeichnungen deuten (16). (16) a Die Verfilmung des Romans nahm sehr viel Zeit in Anspruch. (Ereignis) b Die Verfilmung des Romans kann man als DVD kaufen. (Objekt) c Die Ablehnung des Angebots erfolgte für alle überraschend. (Ereignis) d Die Ablehnung des Angebots habe ich zerrissen. (Objekt) e Bei der Darstellung des Tathergangs musste sogar der Richter lachen. (Ereignis) 13

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f Die Darstellung des Tathergangs liegt bei den Akten. (Objekt)

Ich gehe hier davon aus, dass deverbale Nominalisierungen einstellige Prädikate sind. Die Kopf adjazenten Genitivattribute (z.B. des Romans / des Regisseurs) fasse ich als Modifikatoren auf, und zwar unabhängig davon, ob das Kopfnomen eventiv oder nicht-eventiv gedeutet wird. In (16) entspricht das Genitivattribut dem patiens-Argument des Verbs, in (17) dem agens-Argument. Auch (17) weist die Eventiv-ObjektPolysemie auf. (17) a Die Verfilmung des Regisseurs nahm viel Zeit in Anspruch. (Ereignis) b Die Verfilmung des Regisseurs kann man als DVD kaufen. (Objekt) c Die Ablehnung des Kunden erfolgte für alle überraschend. (Ereignis) d Die Ablehnung des Kunden habe ich zerrissen. (Objekt) e Bei der Darstellung des Zeugen musste sogar der Richter lachen. (Ereignis) f Die Darstellung des Zeugen liegt bei den Akten. (Objekt) Die semantische Repräsentation für ung-Nominalisierungen in (18a, b) ist unabhängig von der ontologischen Deutung und entspricht in ihrer Struktur der Repräsentation genitivisch attribuierter Gattungsnomen (19 a, b). (18) (19)

a b a b

λd [N-ung (d) & von (x,d)] λd [Verfilmung (d) & von (x,d)] λd [N (d) & von (x,d)] λd [Postkarte (d) & von (x,d)]

Die Variable x lässt sich als Autor der Verfilmung (17a,b) oder als ihr Objekt (16a,b) deuten, je nachdem wie die Prädikatsvariable von 14

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gedeutet wird. Ähnlich ist es in (19), x kann Verkäufer, Schreiber, Versender Überbringer, Empfänger,...etc. der Postkarte sein. Die Auffassung, dass Genitivattribute unabhängig vom ontologischen Typ der Nominalisierung Modifikatoren (und nicht Argumente) des Kopfnomens sind, steht im Widerspruch zu Grimshaw (1990), die dafür argumentiert, dass im Englischen komplexe Ereignis nominalisierungen (CEN) Argumentstruktur haben, während ResultatNominalisierungen (RN) und einfache Ereignisnominalisierungen von Argument-Adjunkten13 begleitet sind. Mit dem Verweis auf Beispiele wie (16 b,d,f) haben Ehrich & Rapp (2000) Grimshaws Auffassung zurückgewiesen und dafür argumentiert, dass alle Nominalisierungen Argumentstruktur haben. Die oben vorgeschlagene Repräsentation (18), der zufolge die Genitivattribute zu nom durchweg Adjunkte sind, ist eine Revision dieser Auffassung. Allerdings sind mit dieser Revision Probleme verbunden. 1.) Nicht alle ung-Nominalisierungen lassen sowohl Ereignis- als auch Objekt-Lesarten zu, so sind zwar Verzierung und Bemalung eventiv oder gegenständlich deutbar (20), für Renovierung, Besteigung (21) und Beseitigung (22) gilt dies jedoch nicht (20) a Die Verzierung / Bemalung der Wand ist mühsam. (+eventiv) b Sie hat die Verzierung (der Wand) beschädigt. (-eventiv) (21) a Die Renovierung / Besteigung (der Wand) ist mühsam. (+eventiv) b *Sie hat die Renovierung /Besteigung (der Wand) beschädigt. (-eventiv) (22) a Die Beseitigung (des Schmutzes) ist mühsam. (+eventiv) b *Die Beseitigung (des Schmutzes) ist im Mülleimer. (-eventiv) Es ist offenkundig so, dass ung-Bildungen sich nur dann gegenständlich deuten lassen, wenn sie aus Kreationsverben abgeleitet sind. Eine Verzierung stellt man her, um sie irgendwo (z.B. an der Wand) 15

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anzubringen; anders ausgedrückt: verzieren ist ein Kreations- und zugleich ein Applikationsverb. Das Ergebnis einer Renovierung hat keine von der Applikationsdomäne unabhängige Existenz, renovieren ist ein Applikationsverb, das nicht zugleich als Kreationsverb verwendbar ist; besteigen hat ein Resultat, welches jedoch das patiens (in 21 die Wand) nicht dauerhaft verändert. Beseitigen ist ein Zerstörungsverb, die Verb-Handlung bewirkt, dass das patiens (in 22a der Schmutz) zu existieren aufhört, weshalb das Resultat keine gegenständliche Existenzweise mehr hat. Offenkundig unterliegt die Zugänglichkeit von Gegenstandsdeutungen für ung-Nominalisierungen einer konzeptuellen Beschränkung, die sich als Redundanzregel formulieren lässt: (23) Redundanzregel 1: Nur aus Kreationshandlungen kann ein (konkretes. ästhetisches, mentales oder virtuelles) Objekt resultieren. Daher sind gegenständliche Deutungen für-ungNominalisierungen nur dann möglich, wenn das unterliegende Verb als Kreationsverb deutbar ist. Allerdings lässt die Ablehnung des Angebots / des Kunden (16,17) eine gegenständliche Deutung zu, obwohl ablehnen kein Kreationsverb ist, sondern ein Verb der propositional attitude. In (24) ist ablehnen als Einstellungsverb verwendet, eine gegenständliche Deutung für die entsprechende Nominalisierung kommt daher nicht in Betracht. (24) a Die meisten Europäer lehnen die Todesstrafe ab. b Die Ablehnung der Todesstrafe ist in Europa weit verbreitet. c *Der Präsident zerreißt die Ablehnung der Todesstrafe. Die gegenständliche Deutung für (17,18) resultiert aus dem Wissen, dass ein Angebot schriftlich abgelehnt werden kann. Die Abfassung eines Ablehnungsschreibens ist ein Kreationsakt, dessen Ergebnis (das entstandene Schriftstück) ein Gegenstand ist. Ähnliches gilt für die Darstellung des Zeugen / die Beschreibung des Täters / die Einladung der Mitarbeiter. Aus einem Kreations- oder einem Sprechakt gehen die Verfilmung des Romans / die Aufführung der Oper / die Kommentierung 16

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des Skandals / die Erklärung der Ursache hervor, sie konstituieren ästhetische oder mentale Objekte, auf die man sich gemäß RR1 mit einer Nominalisierung beziehen kann. 2.) Nicht in jedem Fall lässt eine gegenständlich deutbare -ungNominalisierung einen Objektsgenitiv oder eine Objekts-PP als Attribut zu (25) a Die Entdeckung des Penicillins war ein Zufall. (+eventiv) b *Die Entdeckung des Penicillins wird in der Apotheke verkauft. (-eventiv) (26) a Die Herstellung von Sushi will gelernt sein. (+eventiv) b *Die Herstellung von Sushi schmeckt gut. (-eventiv) Worin unterscheiden sich Fälle wie (25, 26) von denen in (16)? Die der Nominalisierungsoperation unterliegenden Verben sind in beiden Fällen als Kreationsverben deutbar. Der Unterschied liegt darin, dass in (25,26) das Denotat der Nominalisierung referenzidentisch ist mit dem Denotat des Attributs: Die Entdeckung ist das Penicillin. Das ist in (16) nicht der Fall, die Ablehnung ist nicht das Angebot, sie richtet sich auf das Angebot. (27) Redundanzregel RR2: Das Patiens einer Handlung kann nur dann als Genitivattribut einer -ung-Nominalisierung erscheinen, wenn es vom Denotat der Nominalisierung referenz-verschieden ist. Eventive Nominalisierungen erfüllen RR2 uneingeschränkt, da das referentielle Ereignisargument vom agens- oder patiens-Argument der jeweiligen Handlung per se verschieden ist. 3.) Nicht jede eventive Nominalisierung lässt ein genitivisches AgensAttribut zu14 17

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(28) (29)

a Die Beschreibung des Unfalls PAT b Die Beschreibung des Zeugen AG a Die Erschießung des Jägers PAT b *Die Erschießung des Jägers AG

Faktisch ist ein Jäger gewöhnlich agens einer Erschießungshandlung, linguistisch scheint diese Deutung dennoch ausgeschlossen (29b), die Erschießung des Jägers bezieht sich auf eine Situation, in der der Jäger der Erschossene ist. Wie in (28) so lassen auch die Nominalisierungen in (30) agensoder patiens-Attribute zu. Wie in (29) verhalten sich die Nominalisierungen in (31), sie erlauben in der postnominalen Position allein ein patiens-Attribut. (30) a Die Vernehmung ev des Richters AGENS des Zeugen PATIENT b Die Durchsuchung ev der Zollbeamten AGENS der Reisenden PATIENT c Die Beratung ev des Therapeuten AGENS des Kranken PATIENT (31) a Die Auflösung ev b Die Entkernung ev c Die Beseitigung ev

*des Arbeitgebers AGENS des VertragsTHEME *des Forschers AGENS der ZelleTHEME *des Mörders AGENS der LeicheTHEME

Die Nominalisierungen in (30) unterscheiden sich von denen in (31) hinsichtlich der Aktionsart, in (30) beziehen sie sich auf Aktivitäten, in (31) auf Zustandsveränderungen (accomplishments). Dem entspricht die folgende Redundanzregel: (32) Redundanzregel RR3: Das Genitivattribut zu einer -ungNominalisierung kann nur dann als agens verstanden werden, wenn sich die Nominalisierung auf eine Aktivität bezieht. Zustandsveränderungen können (müssen aber nicht) von einem agens herbeigeführt werden. Dass das agens in der Regel dennoch 18

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nicht als Attribut zu Nominalisierungen von ZustandsveränderungsVerben taugt, lässt sich nur konzeptuell erklären: Bei Aktivitäten, die nicht durch ein Resultat definiert sind, richtet sich das Interesse gleichermaßen auf den Täter wie auf das Objekt der Tätigkeit. Bei Zustandsveränderungen gilt das Hauptinteresse dagegen demjenigen Partizipanten des Geschehens, der der Veränderung unterliegt. Ehrich & Rapp (2000) machen diesen Umstand zum Gegenstand einer grammatischen Argumentvererbungsregel.15 Die obige Redundanzregel RR3 ist demgegenüber als bloß konzeptuelle Präferenzregel aufgefasst, die Abweichungen eher zulässt als eine grammatische Regel. (33) a Der KanzlerAG hat den MinisterPAT sofort nach Bekanntwerden der Affäre entlassen. b Die Entlassung des KanzlersAG hat den MinisterPAT total überrascht. c Die Entlassung des MinistersPAT hat die Öffentlichkeit total überrascht. (33b) steht im Widerspruch zu RR3, kann in dem gegebenen Kontext aber als akzeptabel gelten, weil der Kanzler im vorausgehenden Satz (33a) bereits Thema ist. Die Deutung einer deverbalen DP-Nominalisierung ist damit in mehrfacher Weise kontextdeterminiert: Zum einen ist die Typzuweisung (Ereignis, Objekt) von den Typanforderung eines c-kommandierenden Ausdrucks (z.B. eines Matrixverbs, einer Präposition oder eines attributiven Adjektivs) abhängig, zum anderen unterliegt die Typselektion aber auch Beschränkungen, die sich aus dem Alltagswissen herleiten lassen; dazu gehört z.B. das Wissen, dass eine Ablehnung schriftlich verfasst und das Ergebnis folglich als materieller Gegenstand aufgefasst werden kann. Wissenstatbestände dieser Art sind nicht-sprachlicher Natur, die nach meiner Auffassung nicht Bestandteil der semantischen Repräsentation eines Lexems sind. 19

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Multiple Sortenanforderungen Das bisher Gesagte ist auch mit dem Ansatz der Zwei-Ebenen-Theorie verträglich. Bierwisch (1989) schlägt vor, -ung-Nominalisierungen lexikalisch als eventiv zu repräsentieren, und führt zusätzlich Interpretationsschablonen (Templates) ein, mittels derer einzelnen Bildungen zusätzlich eine gegenständliche Interpretation zugewiesen werden kann. Ein Unterspezifikationsansatz hat gegenüber diesem Ansatz aber den Vorzug, dass Prädikate mit ontologisch unterschiedlichen Typanforderungen mit derselben Nominalisierung kombiniert werden können (34) a Sie hat die höfliche Ablehnung des Angebots / des Personalchefs zerrissen. b Die sorgfältige Bearbeitung der Textes / des Redakteurs ist verschwunden. c Die gestrige Bearbeitung Textes / des Redakteurs war geistlos. Höflich und sorgfältig kennzeichnen die Art und Weise, in der eine Person bei einer Handlung vorgeht. Zerreißen und verschwinden sind aber nicht auf Handlungen, sondern nur auf materielle Objekte anwendbar. Gestrig legt die Zeit fest, zu der ein Ereignis geschieht, geistlos charakterisiert ein nicht-materielles (mentales) Objekt. Trotzdem kommt es in (34) nicht zu Kategorienfehlern (Zeugmata) wie sie etwa in (35) gegeben sind. (35) a *Sie nahm an dem Ball teil und schoss ihn ins Tor. b *Der Ball fand im Rathaus statt und war schwarz-weiß und rund. Für die Adjektive in (34) lassen sich die ff. Angaben in Form von Bedeutungspostulaten lexikalisch festlegen: 20

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Lexikalische Unterspezifikation und semantische Anpassung Eventive Nomen im Deutschen

(36) a höflich b sorgfältig c gestrig

λd [höflich (P,)] (d) →∃ x ∃ v [agens (x, v) & höflich (x,v)] λd [sorgfältig (P,)] (d) →∃ x ∃ v [agens (x, v) & sorgfältig (x,v)] λd [gestrig (P)] (d) →∃v [Temp (v) < tag (t0)]16

Hier gibt die Typ-Kennzeichnung an, dass es sich um einen Funktor handelt, der ein Prädikat des Typs als Argument nimmt und dieses auf ein Prädikat desselben Typs abbildet. Weniger technisch ausgedrückt heißt dies: Attributive Adjektive machen aus einem einfachen Nomen wiederum ein Nomen. Für das in der Bedeutungsangabe genannte Prädikat P ist die jeweilige Nominalisierung einsetzbar. Die Variable v repräsentiert eine beliebige Eventualität. Die Bedeutungspostulate für die die Matrixprädikate aus (34) sind in (37) angegeben: (37) a zerreißen λy λx [Zerreißen (x,y)] →∃v [(agens (x,v) & Patiens (y,v)) & Konkretes Objekt (y)] b verschwinden λx [Verschwinden (x)] →∃ v [Patiens (x,v) & (& Person (x) & konkretes Objekt (y))] c lesen λy λx [lesen (x,y)] →∃v [agens (x,v) & Patiens (y,v) & mentales Artefakt (y)] Für jedes konkrete oder mentale Artefakt gilt, dass es aus einer kreativen Handlung als Resultat hervorgeht. Dies kann in einer MetaRegel der Art (38) zum Ausdruck gebracht werden: (38)

artefakt

(d) →

∃ x ∃ v [agens (x,v) & resultat (d,v)]

Die Typanforderungen aus (36,37) sind nun mit der Nominalisierung so zu kombinieren, dass kein Kategorienfehler entsteht. Dies soll hier am Beispiel die höfliche Ablehnung des Angebots zerreißen illustriert 21

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werden. (39) a Ablehnung λd [ Ablehnung (d)] b Ablehnung des Angebots λd [Ablehnung (d) & von (das Angebot, d)] c Höfliche Ablehnung des Angebots λd [ (Höflich (Ablehnung)) (d) & von (das Angebot, d)] (d’) → ∃ v [agens (x, v)] d Die höfliche Ablehnung des Angebots zerreißen Zerreißen [(ιd)∃v [((höflich (Ablehnung)) (d) & von (das Angebot, d)) & Artefakt (d)] →∃v [agens (x,v) & Höflich (x,v) & Resultat (d,v)]] 17 In (39a) ist der ontologische Typ von d nicht festgelegt, die Prädikatsvariable von in (39b) lässt offen, in welcher Rolle y auf d bezogen ist. Der Modifikator höflich in (39c) trägt die Information bei, dass es eine Eventualität v gibt, an der ein agens beteiligt ist, das die Aktualisierung von v in höflicher Weise vollzieht ; (39d) fügt hinzu, dass d ein Artefakt ist, das aus der Handlung v als Resultat hervorgeht. Zusammenfassung Adjektive, Präpositionen und Verben zwingen den Ausdrücken in ihrem Argumentbereich ihre jeweilige Typ-Anforderung auf. Dies setzt voraus, dass nominalen Argumentausdrücke entweder ihren ontologischen Typ wechseln können (type shifting) oder dass sie semantisch nicht auf einen bestimmten ontologischen Typ festgelegt sind (Unterspezifikation). Der Unterspezifikationshypothese wird hier der Vorzug vor der type-shifting-Analyse gegeben. Grund dafür ist die Typ-Variabilität vor allem von ung-Nominalisierungen, die dazu führt, dass ein gegebenes Nominal mit mehreren Prädikaten kombiniert werden kann, die unterschiedliche Typanforderungen an ihr Argument stellen, ohne dass mit einer solchen Kombination ein 22

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Kategorienfehler einhergeht. Die hier vorgeschlagene Analyse stimmt zwar mit der Tradition darin überein, dass Basisnomen mehrheitlich gegenständliche und -ung-Nominalisierungen in der Regel eventive Denotate haben. Doch wird dies lediglich als default-Regel angesehen, von der abgewichen werden darf, wenn es das Alltagswissen oder der Textzusammenhang erfordern. Abweichungen solcher Art sind nicht als Ergebnis von Re-Interpretationn zu deuten, sondern lediglich als Aufhebung des defaults. Nomen wie Nominalisierungen werden in der semantischen Repräsentation mit einem ontologisch unterspezifizierten referentiellen Argument d versehen. Die eventive Deutung wird bei Nomen wie bei Nominalisierung durch kontextruelle Anreicherung gewährleistet, also durch die Einfügung eines kontext-adäquaten Ereignisprädikats. Man mag sich fragen, warum präpositionale, adjektivische, verbale Prädikate ihrem Argument ihre Typanforderungen aufzwingen und nicht umgekehrt; bei Adjektiven geht in der Tat die Interpretation häufig von dem durch das Adjektiv attribuierten (oder von ihm prädizierten) Nomen aus, vgl. eine bittere Mandel / eine bittere Enttäuschung. Dies ist ein Fall von metaphorischer Umdeutung. Der Chor fällt heute aus oder Sie hat die Ablehnung zerrissen sind aber keine metaphorisch zu analysierenden Fälle, sondern gehören zum ganz normalen Sprachgebrauch. Literatur Ballweg, J. (1998): Eine einheitliche Interpretation des attributiven Genitivs. In: M. Vuillaume (ed.) Die Kasus im Deutschen. Form und Inhalt. Tübingen: Stauffenburg, 153-166. Bierwisch, M. (1983): Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In R. Ruz˘ic˘ka & W. Motsch (eds.) Untersuchungen zur Semantik. Berlin: Akademie-Verlag. Bierwisch, M. (1989): Event Nominalizations. Proposals and Problems. In: Motsch, W. (ed.) Wortstruktur und Satzstruktur. Linguistische Studien, Reihe A 194, 1-73. Berlin: Akademie-Verlag. Bierwisch, M. & E. Lang (1987). Grammatische und konzeptuelle Aspekte von Dimensionsadjektiven. Berlin: Akademie-Verlag (= Studia Grammatic XVIII). 23

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Davidson, D. (1967): The Logical Form of Action Sentences. In: N. Resher (ed.). The Logic of Decision and Action. Pittsburgh: University Press. Dölling, J. (2005), Semantische Form und pragmatische Anreicherung: Situationsausdrücke in der Äußerungsinterpretation. Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 159-225 . Egg, M.(2000). Flexible semantic reconstruction: The case of reinterpretation. Habilitationsschrift: Universität des Saarlandes. Ehrich, V. (1991): Nominalisierungen. In: A. v. Stechow & D. Wunderlich (eds.) Semantik: Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Berlin: de Gruyter, 441-458. Ehrich, V. & R. Rapp (2000): Sortale Bedeutung und Argumentstruktur: -ungNominalisierungen im Deutschen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 19, 245-303. Grimshaw, J. (1990): Argument Structure. Cambridge Mass: MIT Press. Hartmann, K. & M. Zimmermann (2002): Syntactic and Semantic Adnominal Genitive. In: C. Maienborn (ed.). (A)Symmetrien- (A)symmetries. Beiträge zu Ehren von Ewald Lang – Papers in Honor of Ewald Lang. Tübingen: Stauffenburg, 171-202. Knobloch, C. (2003): Zwischen Satz-Nominalisierung und Nennderivation: -ungNomina im Deutschen. Sprachwissenschaft 27.3, 333-362. Lindauer, T. (1995): Genitivattribute. Eine morphosyntaktische Untersuchung zum deutschen DP/NP-System. Tübingen: Niemeyer. Nunberg, G. (1979). The non-uniqueness of semantic solutions. Linguistics and Philosophy 3: 143 – 184. Pustejovsky, J. (1995): The Generative Lexicon. Cambridge, Mass.: MIT Press. Taylor, J.R. (1994): The Two-Level Approach to Meaning. Linguistische Berichte 149, 3-26. Schäublin, P. (1972): Probleme des adnominalen Attributs in der deutschen Sprache der Gegenwart. Morphosyntaktische und semantische Untersuchungen. Berlin, New York: de Gruyter. Anmerkungen 1

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Der vorliegende Artikel beruht auf einem Vortrag, den ich am 13. September 2006 an der Sophia-Universität Tokyo gehalten habe. Ich danke Frau Prof. Takahashi vom Germanistischen Institut für die ehrenvolle Einladung und den Zuhörern für ihre hilfreichen Kommentare. Ich verwende den (adjektivisch oder nominal verwendeten) Terminus eventiv als Bezeichnung für Ereignisbedeutungen im weitesten Sinne (also unter Einschluss der Referenz auf Zustände, Zustandsveränderungen und Prozesse). Hier ist natürlich nicht der Spielball, sondern der Tanzball gemeint. Bei den beiden Bedeutungen von Ball handelt es sich um einen klaren Fall von Homonymie. „Type coercion: Semantic operation that converts an argument to the type which is 24

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expected by a function, where it would otherwise result in a type error“. (Pustejovsky (1995), p. 111) 5 Dies ist der Titel eines Films von 1969. 6 Der Lambda-Operator λ bildet hier einen elementaren Satz ‘Zweck (x, W)’ auf ein Prädikat ab. 7 Ich gehe hier davon aus, dass während ein Prozess-Argument oder ein Zeitphasenargument (während der Nacht) verlangt und damit seinem Komplement eine eventive Deutung aufzwingt. 8 In (7c) kommt auch eine nicht-eventive Deutung (im Sinne von vor dem Theatergebäude) in Betracht, das liegt daran, dass vor eine temporale und eine lokale Bedeutung hat, während nach in (7b) allein temporal deutbar ist, die entsprechende lokale Präposition ist hinter. 9 Einschränkend ist hier festzustellen, dass keines der unter (12) angeführten Nomen als Argument zu während verwendbar ist: #Während der Dissertation, #während der Kinder / #während des Krankenhauses. 10 Die freien Variablen x, y stehen hier für das Agens- und das Rezipient-Argument von bringen. 11 Lacher hat neben der Deutung als Nomen Acti in (15b) auch eine Deutung als Nomen Agentis, in dieser Deutung bezieht es sich auf eine lachende Person. 12 Die -er-Ableitung von Nomina Acti beschränkt sich auf wenige Fälle, produktiv ist die -er-Ableitung nur für die Bildung von Nomina Agentis (Lehrer) und Nomina Instrumenti (Öffner). 13 Argument-Adjunkte sind Hybrid-Kategorien, syntaktisch fungieren sie als Adjunkte (=Modifikatoren), semantisch sind sie jedoch systematisch auf die Argumente des Verbs bezogen, aus dem die Nominalisierung abgeleitet ist. Die in (18,19) vorgeschlagene Analyse lässt sich in Übereinstimmung zu dem Ansatz von Grimshaw bringen, wenn man annimmt, dass die eventiv deutbaren -ungNominalisierungen des Deutschen grundsätzlich als simple event nominals zu analysieren sind. 14 Eine hervorragende Übersicht zu den Problemen des adnominalen Genitivs bietet Schäublin (1972). Lindauer (1995) fasst Entsprechungen zu den Argumenten des Verbs grundsätzlich als Argumente auf. Für diese Annahme spricht die Tatsache, dass ein rechtsadjungiertes Attribut als patiens verstanden werden muss, wenn daneben auch ein possessiver Genitiv vorhanden ist, vgl. CaesarsAG Zerstörung des FeindesPAT / * CaesarsPAT Zerstörung des FeindesAG. Lindauer vermag jedoch nicht zu erklären, warum die „Argumentstruktur“ des Nomens von der Aktionsart des unterliegenden Verbs abhängt. 15 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Ansatz Knobloch (2003) und Hartmann & Zimmermann (2002) 16 t0 ist die Äußerungszeit. 17 Ich verwende hier zur Darstellung der definiten Deskription die Ablehnung Russells 25

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Iota-Operator. (筆者はテュービンゲン大学教授)

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