Leseprobe. Raoul Schrott, Arthur Jacobs. Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren ISBN:

Leseprobe Raoul Schrott, Arthur Jacobs Gehirn und Gedicht Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren ISBN: 978-3-446-23656-1 Weitere Informationen od...
Author: Cathrin Fuchs
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Leseprobe Raoul Schrott, Arthur Jacobs Gehirn und Gedicht Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren ISBN: 978-3-446-23656-1

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© Carl Hanser Verlag, München

Inhalt VORWORT  7 ÜBER DAS LESEN

A – Relationen und Intuitionen  17 B – Intelligenz und Erinnerung  42 C – Identifikationen, Intentionen und Emotionen  55 DENKBEWEGUNGEN

D – Sensomotorische Konzepte  73 E – Kategorisierung und Wahrnehmung  99 F – Verkörpertes Denken  114 G – Gestalthaftes  130 H – Denkfiguren und optische Täuschungen  145 METAPHORIK

I – Wörtliche Bedeutungen – Homonymien und Tautologien  161 J – Wie das Gehirn arbeitet – Permutation und Hyperbaton  176 K – Metapher, Simile und Allegorie  191 L – Metapher und Sprachökonomie  212 M – Sprechen durch Masken – Prosopopoeie und Personifikation  221 LAUT UND MALEREI

N – Onomatopoeie und Synästhesie  229 O – Synästhesie und Sprachgenese  253 P – Eine Funktion von Kunst  259

MUSIK

Q – Poesie und Prosa  265 R – Vom Ursprung der Musik  270 S – Wie wir Musik verstehen  281 T – Tonhöhen und Prosodie  287 U – Rhythmik und Metrum  310 V – Die Erfindung der Poesie  324 W – Formeln und Phrasen  333 VERS UND REIM

X – Reim  347 Y – Stab- und Schüttelreim und Fehlleistungen  356 Z – Verslänge und Strophenkombinatorik  369 SCHRIFT UND SPRACHE

I – Das Denken der Sprache  377 II – Schrift und Sprache  385 BILDRÄUME

III – Ars Memoriae  401 IV – Imago  410 DENKFIGUREN

V – Geld und Schrift  423 VI – Negation oder die Entstehung der Logik  428 VII – Adynaton und Aposiopesis  442 VIII – Metalepse  449 IX – Synekdoche und Metonymie  456 X – Ironie, Meiosis und Hyperbel  467 XI – Bildlogik und Katachrese  482 XII – Das Gedicht  489 Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Farbtafeln  525 Inhalt der Boxen  528

VORWORT Weshalb vermag uns das Lesen gedruckter Schriftzeichen so sehr zu verein­ nahmen, dass wir alles um uns vergessen? Warum sind Verszeilen kurz? Aus welchem Grund wurde die Poesie erfunden? Dem Dichter unter den beiden Autoren dieses Buches lag immer schon an einer Standortbestimmung seines Tuns. War er wirklich nur ein Sprachorgan in der Dunkelkammer des Denkens? Ein Gedicht Ausdruck des Unsagbaren, jenseits der Schwelle unserer Erkenntnis? Und die Inspiration so unerklärlich wie das plötzliche Aufschrecken einer Taube vor seinem Fenster? Als Skeptiker sah er in solchen allzu üblichen Poetologien eher Obskurantismus; als Handwerker war ihm klar, dass jede gelungene Zeile ein hohes Maß an Sprachfertigkeit voraussetzt; und als Literaturwissenschaftler mühte er sich seinerseits ab, Strophe um Strophe ins Licht zu halten und das prismatische Spektrum unserer Wahrnehmung zu demonstrieren. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass die jahrtausendealte Tradition der Poesie kaum noch einen Stellenwert in der Gesellschaft besitzt – obwohl sich ihre Techniken in allen Bereichen menschlicher Äußerung wiederfinden. Das Bedürfnis nach einer Legitimation für diese Art der Tätigkeit drängte sich deshalb auf. Doch wie auf den Vorwurf reagieren, es handle sich bei der Poesie bloß um eine schöngeistige Marginalie? Indem man postuliert, dass in der Neurologie eine Poetik der Zukunft versteckt liege? Ein solches Programm scheint jedoch selbst dem Neuropsychologen unter den beiden Autoren dieses Buches eine allzu modische Form der Neuro-Romantik. Denn mit der Aussage, dass die Sehrinde das Lesezentrum berührt und das Hörareal an die Leitstellen für Motorik und Rhythmik grenzt, weshalb sich die Dichtung hin und wieder mit großem Tierblick präsentiere, kommt man nicht weit. Im schlimmsten Fall spricht sich die Poesie selbst jede Aussagekraft ab, indem sie ihr Denken nunmehr als Folge physiologischer Kurzschlüsse darstellt.



Vorwort

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Beide Autoren sind der Auffassung, dass es sich bei Dichtung weder um Fehlverbindungen zwischen Signalleitungen unserer Wahrnehmung noch um falsche Schlussfolgerungen oder anderweitige geistige Störungen handelt. Im Gegenteil – kaum eine Gattung ist besser in der Lage, derart verdichtet die Komplexitäten vorzuführen, mit denen das Gehirn die Welt um uns verarbeitet. Ob Denken oder Sprache, Melodiken oder Bilder: was sich sonst im Film und der Musik, in der Logik oder Mathematik akzentuiert findet, wird von einem Gedicht auf überschaubare Weise vereint. Dabei erschließen die Neurowissenschaften weniger der Literatur neue Möglichkeiten, als dass die Spielformen der Poesie die Erkenntnisse einzelner Experimente illustrieren. Es gibt deshalb kaum einen lohnenderen Gegenstand als die Literatur, um Betrachtungen über die Möglichkeiten unserer Kognition anstellen und zugleich ihre Begrenzungen aufzeigen zu können. Das gilt selbst dann noch, wenn der Dichter als aussterbende Spezies angesehen wird, denn seine Art, mit Sprache umzugehen, wurde längst von anderen Berufsgruppen aufgegriffen: von Werbetextern, Journalisten oder Politikern. Den Kontext, in dem das Spezielle der Poesie dabei im Generellen unserer Wahrnehmung aufgeht, hat Günter Eich in seinem Text Der Schriftsteller vor der Realität umrissen: Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren. Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen. Für diese trigonometrischen Zeichen sei das Wort ›Definition‹ gebraucht. Solche Definitionen sind nicht nur für den Schreibenden nutzbar. Daß sie aufgestellt werden, ist mir lebensnotwendig. In jeder gelungenen Zeile höre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: Ich bin auf festem Boden. Die folgenden Ausführungen wollen solche ›Definitionen‹ auf pragmatische Weise aufstellen. Auf den ersten Blick mag dies vielleicht als Kniefall vor einem positivistischen Zeitgeist erscheinen, der glaubt, mittels wissenschaftlicher Versuchsanordnungen noch die letzten Winkel unseres Geistes ausleuchten zu können, um sie in ein biologistisches und materialistisches Weltverständnis einzureihen. Dem sei entgegengehalten, dass es sich bei diesem Buch um einen Ausgriff handelt, einen Essay im wörtlichen Sinn. Es stellt den Versuch dar, mit dem für uns so selbstverständlichen – weil allzu gewohnten und dadurch letztlich unsichtbaren – Taststab der Sinne den Radius unserer Wahrnehmung zu 8 Vorwort

sondieren. Dem Enigma der Poesie wird dadurch nichts genommen. Indem man jedoch vorführt, auf welchem festen Boden oder besser: welcher Bühne sich das Schattenspiel ihrer Zauberkunststücke darbietet, werden manch überraschende Silhouetten erhellt. Bevor man sich auf das Unsagbare und Unerklärliche beruft, gilt es auszuloten, inwiefern es sich hinterfragen lässt und wohin man mit einem analytischen Rüstzeug gelangt. Das ist meist weiter, als man zunächst glauben möchte: Wer sich auf diese Weise mit den Trigonometrien der Wahrnehmung befasst, erhält zumindest einige euklidsche Lehrsätze unseres Denkens. Und selbst wenn man sich dazu mit dem Blindenstock auf das Neuland der Kogni­tions­ forschung begeben muss, bewahrt einen dies doch vor den offensichtlichsten Blendungen. Denn hinter aller dichterischen Suggestivität verbirgt sich etwas, das zwar schwer fassbar, aber umso bezeichnender ist. Unsere Wahrnehmung ist eben, evolutionär gesehen, das Produkt der Welt, die wir wahrnehmen – den dadurch angelegten Zirkelschlüssen kann man deshalb nur bedingt entgehen. Das gilt für die Poesie ebenso wie für die Wissenschaft. »Das menschliche Vorstellungsgebilde der Welt ist ein ungeheures Gewebe von Fiktionen voller logischer Widersprüche, das heißt von wissenschaftlichen Erdichtungen zu praktischen Zwecken« – dieser Satz Hans Vaihingers trifft auch auf unseren Ansatz zu. Seine Philosophie des Als ob erleichtert es jedoch, den Konstruktionen unseres Wissens auf die Spur zu kommen, gerade weil sie sich als solche entlarven lassen. Es sind nützliche Fiktionen. Sie können zwar keinen Anspruch auf die Wahrheit erheben: auch Vaihinger schloss bereits aus, dass unsere bildlichen Vor­ stellungsweisen jemals mit der Wirklichkeit zusammentreffen und sich ein ­absolutes Kriterium für unser Wissen entdecken lässt. Dennoch erlauben sie ­zumindest die Verifikation menschlichen Verhaltens. Die Erkenntnis richtet sich somit nicht auf irgendein Ur-Prinzip, sondern auf die Art und Weise unserer Modellbildungen, mit denen wir – wie bei einem Simile – Unbekanntes stets nur durch den Vergleich mit Bekanntem erschließen. Ob die Idee der Unendlichkeit oder der irrationalen Zahlen, Marktwirtschaft oder eben Poesie – sie alle sind Produkte einer geistigen Bricolage, denen man am besten mit kritischem Pragmatismus begegnet. Ein letzter Grund ist dabei nicht zu erfassen; was sich jedoch herausarbeiten lässt, sind Bedingtheiten, die auf unserer Sensomotorik und den Parametern unserer Wahrnehmung beruhen. Vielleicht können sie wenigstens ein Stück weit transzendiert werden, indem man die evolutionäre Logik ihrer Biologie in den Vordergrund rückt.



Vorwort

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Der Neuropsychologe von uns sieht sich in seinem Labor täglich mit einer solchen Art von kritischem Pragmatismus konfrontiert. Er will zwar die Formen des Denkens, Sprechens und Fühlens erkunden, kann aber nur den Fluss von Blut und Strom im Gehirn, Blickbewegungen und Reaktionszeiten messen. So lassen sich zwar mentalen Prozessen Hirnareale zuordnen, doch diese Kartographierung neuronaler Potentiale reicht nicht aus, um auch die Funktionsweise eines biologischen Systems zu bestimmen: ein Wo und Wann erläutert noch nicht das Wie. Dazu sind erneut Als-ob-Konstruktionen vonnöten, erstellte Hypothesen und Modelle, die sodann mittels Versuchsanordnungen zu überprüfen sind. Deren Befunde anhand von statistischen Auswertungen stellen jedoch keine endgültigen Konklusionen dar, sondern bestenfalls induktive Schlussfolgerungen. Womit der Neuropsychologe sich erneut Modellbildungen im Vaihingerschen Sinn gegenübersieht. Eine besondere Schwierigkeit der Kognitionsforschung liegt etwa darin, dass sie versucht, soziale Konstrukte durch Vorgänge im Gehirn zu erklären. Ein Musterbeispiel hierfür ist die Erforschung der Empathie. Ihre Pioniere – Chris Frith und Tania Singer – definierten sie als »Fähigkeit, Emotionen und Empfindungen wie Schmerz mit anderen zu teilen«; sie wiesen jedoch zugleich darauf hin, dass es sich um ein mehrschichtiges Phänomen handelt, das einfache Formen emotioneller Ansteckung ebenso umfasst wie Perspektivübernahmen. Insgesamt gesehen, ist Empathie somit ein Produkt historisch-kultureller Prozesse: Popularisiert in den 1960er Jahren durch Psychologen, Psychotherapeuten, Soziologen, Ärzte, Linguisten und Seelsorger, geht sie auf den Freudschen Begriff des ›Einfühlungsvermögens‹ zurück. Wie lässt sich ein solches soziales Konstrukt dann abgleichen mit dem, was wissenschaftliche Experimente allein in der Lage sind zu messen: nämlich hirnelektrische Potentiale, die Feuerrate von Neuronen oder die Zu- und Abfuhr von mit Sauerstoff angereichertem Blut? So mancher Artikel in den einschlägigen neurowissenschaftlichen Journalen erweckt den Eindruck, als gäbe es eine direkte Abbildung zwischen sozialen Konstrukten einerseits und spezifischen Hirnarealen andererseits. Die Rede von ›Sprachzentren‹ oder einem in jüngster Zeit identifizierten ›Glaubenszentrum‹ trägt zu dieser Illusion bei – und sie gilt auch für die mentalen Phänomene aus den Bereichen der Poesie, Ästhetik und Rhetorik. All dies Netzwerken von Nervenzellen zuschreiben zu wollen, ist zumindest problematisch: komplexe Prozesse lassen sich eben nicht ohne weiteres auf einfache Reizsituationen reduzieren. Wer versucht, Empathie in einer kontrollierten Laborsituation an Probanden zu messen, die in einer geräuschvollen engen 10 Vorwort

Röhre liegen und mit Elektroden zur Messung der Herzrate, des Hautleitwiderstands oder der hirnelektrischen Aktivität beklebt sind, läuft Gefahr, dass kritische Geister sich nicht nur über die dadurch offenbar werdende Unterkomplexität solcher Versuchsanordnungen wundern, sondern auch Fragen nach deren Verallgemeinerbarkeit auf die Alltagswirklichkeit und nach dem allgemeinen Erkenntnisgewinn aufwerfen. Die bereits ein Jahrhundert alte Birkhoffsche Formel für das Maß des Wohlgefallens, das ein Objekt im Beobachter hervorruft – M = f(O,C), wobei das Maß M ein Produkt der Ordnung O und der Komplexität C ist –, macht dies ebenfalls deutlich. Sie stellt zwar eine durchaus brauchbare Relation her, doch wie und wodurch wären Ordnung und Komplexität zu quantifizieren und dann zu qualifizieren? Dennoch machen die Neurowissenschaften auf diesem Gebiet beharrlich Fortschritte. Neue Techniken erlauben es, Hirnaktivitäten in immer realistischeren Umweltsituationen aufzuzeichnen – sei es beim Musizieren am Instrument, bei echten sozialen Interaktionen wie Börsenspekulation in Realzeit am Computer, ja sogar bei der Rezeption von Gedichtzeilen in Echtzeit. Was sich hier auswerten lässt, sind weit direktere Reaktionen auf die Wirklichkeit, als sie von Literaturtheorien und Philosophien bislang berücksichtigt werden konnten. Dadurch erlauben die unterschiedlichsten Experimente eine Prüfung verschiedener Thesen und Theorien in aufeinander aufbauenden Schritten mit dem Ziel, objektive Befunde zu erhalten und auf dieser Basis logische Verzweigungen zu erstellen und sie wieder und wieder auf ihre empirischen Grundlagen zu überprüfen. Die neurowissenschaftlichen Befunde, die in diesem Buch aufgearbeitet sind, wurden hochrangigen wissenschaftlichen Quellen entnommen und sind – abgesehen von interessanten historischen Fällen – so aktuell wie möglich. Dass der stetige Methodenfortschritt es nicht unwahrscheinlich macht, dass einiges davon bereits in ein oder zwei Jahren durch neue Studien relativiert wird, soll nicht abschrecken: solche Korrekturen gehören zum Prozess der Forschung. Unsere Darlegungen bieten jedoch ein Grundgerüst an, das so solide ist, wie es die Zeit erlaubt. Wer trotzdem daran zweifelt, dass die schöngeistigen Suggestionen der Poesie mit den Mitteln der modernen Neurowissenschaft erforschbar sind, weil er die Reduktion von Mentalem auf Neurophysiologisches für einen unzulässigen Kategoriensprung oder -fehler hält und ein Gedicht nicht mit Hirnströmen und Blutdurchflussraten in Verbindung gebracht sehen möchte, dem sei Franz-Josef Czernins Aufsatz Über die Übertragbarkeit der Welten angetragen (Text und Kri

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tik, 176). Er räumt ein, dass die Naturwissenschaften dazu neigen, ihr begriff­ liches Modell und damit das Metaphorische ihrer Wahrheiten aus dem Blick zu verlieren, während die Poesie ihre Gleichsetzungen umgekehrt allzu oft als unverbindliches Spiel begreift und ihre Erkenntnisse nicht ernst genug nimmt. Dennoch betont er die Fruchtbarkeit solcher Angleichungen und das gegen­ seitige korrektive Potential, bei der Naturwissenschaft wie Poesie – trotz der Verschiedenartigkeit ihrer jeweiligen Experimentbegriffe – im Sinne eines Als ob behaupten können, dass A in mancher Hinsicht B sein kann. Es lassen sich aber auch drastischere Beispiele anführen. Wer bezweifelt, dass die Empfindungen und Gedanken, die man etwa bei der Lektüre von Hölderlins Hälfte des Lebens haben kann, mit den Nervenzellen zusammenhängen, die in bestimmten Bereichen des Gehirns zu bestimmten Zeiten Sauerstoff aufnehmen und feuern, wird mit Schrecken zur Kenntnis nehmen müssen, was die Zerstörung eines winzigen Hirnareals im linken Schläfenlappen auslösen kann. So zeigt der Fall einer Patientin, die als Literaturprofessorin alle Voraussetzungen besaß, um einem Gedicht sämtliche Nuancen poetischer Kunst zu entlocken, dass sie nach einer solchen Hirnläsion nicht einmal mehr in der Lage war, einzelne Buchstaben zu Wörtern zu gruppieren. Auch die Teilnahme an einem einfachen Experiment kann lehrreich sein. Sie mögen noch so gut rechnen können – manipuliert der Versuchsleiter bei Ihnen mit einem Magneten den Hirnstrom eines bestimmten Areals im Scheitellappen, werden Sie selbst bei einfacher Arithmetrik Schwierigkeiten bekommen. Der Dichter von uns zeigte sich erfreut über solche Befunde. Sie fügen seiner Profession ein weiteres Standbein hinzu und erlauben es, seine bisher gewissermaßen nur das Spielbein belastende Selbsteinschätzung ins Gleichgewicht zu bringen. War es bislang üblich – von Platon und Aristoteles bis zu den Semiotikern und Strukturalisten –, ästhetische Phänomene allein aufgrund mehr oder weniger intuitiver oder deskriptiver Kriterien zu erfassen, kann man hierfür nun erstmals auf eine experimentell gestützte Basis verweisen. Poetische Praxis und kognitive Erkenntnis einander gegenüberzustellen, befördert eine Dialektik, die der Literatur neue Spannung verleiht – indem sich darin Extreme berühren können. Und im selben Maß, wie damit Begrenzungen des Dichtens wie des Denkens demonstriert werden, ohne dass je ein linearer Fortschritt aus­zumachen ist, umkreisen sie einander nun, um an Drehimpuls zu gewinnen. Solche Dialektik ist der Literatur durchaus eigen. Über die direkte Umsetzung von Lebenserfahrung hinaus beinhaltet sie stets auch die Reflexion über 12 Vorwort

ihre Formen und Bedingtheiten. Viele theoretische Fragen – wie Reinhard Priessnitz es in Literatur als Entfremdung formulierte – finden so konkreten Ausdruck im Gedicht: Schreiben selbst wird zum Thema der Dichtung. Dichtung geschieht an dem Punkt, wo Sprache sich umdreht, um über sich selbst zu reflektieren. Zum reflektiven Moment von Sprache kommt dann noch der konstitutive Aspekt. ›Realität‹ ist selbst ein Konstrukt, zum Teil aus Sprache gebildet. Obwohl Sprache ein Teil von Realität ist, ist sie nicht zureichendes Mittel, diese Realität voll ausdrücken. Die letzten beiden Einschränkungen sind es, die den Neurowissenschaften ­einen Ansatzpunkt bieten, um die Sprachkonstrukte der Poesie auszuhebeln, während die ersten beiden Maximen es erlauben, mittels Dichtung über unsere Wahrnehmung zu reflektieren. Gemeinsamer Angelpunkt ist, dass ein Gedicht wie kaum ein menschliches Zeugnis sonst Realität konstituieren kann. Oder wie Günter Kunert es in seinem Bewusstsein des Gedichts knapp definiert, um die Kernaussage jedweder Poetik zu formulieren: Mit dem Bewusstsein des Gedichts meine ich den relativ autonomen Prozess intuitiver Erkenntnis auf Grundlage subjektiver Empirie, der in einer bestimmten Form – eben dem Gedicht – reflektiert wird und so seine unverwechselbare Spezifik erhält. Die einfachsten Fragen sind die am schwierigsten zu beantwortenden; je grund­ legender sie sind, desto weiter muss man ausholen. Auf welche Weise hat die Schrift unser Denken verändert? Wie wirkt sich die Melodik eines Gedichts auf uns aus? Was sagen die Stilfiguren der Dichtung über die menschliche Wahrnehmung aus, und inwieweit entsprechen sie optischen Täuschungen? Um darauf – wie auf vieles andere – ansatzweise Erklärungen zu finden, haben beide Autoren auf ein breites Spektrum von Fachliteratur über Kognitions- und Kreativitätsforschung, Linguistik und Neurologie zugegriffen (auf sie wird jeweils am Ende eines Kapitels verwiesen). Obwohl Gedicht und Gehirn so naheliegen, tauchen in den Registern der betreffenden Werke jedoch nie Stichworte wie ›Reim‹ oder ›Metapher‹ auf – als klaffe zwischen beiden Bereichen wirklich ein kategorialer Abgrund, ja als schließe sich ihr vielfach erprobter Sprach- und Weltgebrauch gegenseitig aus. Anliegen dieses Buches ist deshalb auch, zwischen den ›Zwei Kulturen‹, deren

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mangelnde Kommunikation bereits C. P. Snow problematisiert hat, wieder ein Gleichheitszeichen zu setzen. Als kleinstes gemeinsames Vielfaches steht dabei das Gedicht: es ermöglicht, neurologische Empirie einerseits und poetologische Phänomenologie andererseits mittels der Wahrnehmungspsychologie zu verbinden, um allgemeine Aussagen über unsere Kognition treffen zu können. Denn beide Kulturen finden einen gemeinsamen Nenner im Konsens, dass unser Hirn – ob in den Naturwissenschaften oder in der Poesie – auf analoge Art und Weise operiert. Um die Gedankenexperimente und Einsichten der einen wie der anderen Seite mitteilbar und gedanklich fassbar zu machen, bedürfen beide jedoch einer Sprache, die sich im mindesten Fall als Vaihingersches Als ob präsentiert. Das gilt auch für die Neurowissenschaft und ihre Begriffe. Die Oberfläche des Mittelhirns nennt sie etwa Tectum, ›Dach‹, und den Thalamus ›Schlafgemach‹; griechisch Amygdala steht für ›Mandelkern‹ und die Hypophyse bezeichnet ein ›unten anhängendes Gewächs‹; die Colliculi sind ›Hü­ gelchen‹, und der Hippokampus ist eigentlich ein ›Ross-Monster‹, das einem Seepferdchen gleicht – welch seltsame Fiktionen, die sich da unter unserer Schädeldecke entfalten. In dem hier verborgenen System von Nervenzellen finden Wissenschaft wie Poesie aber ihren Ursprung. Was beide antreibt, sind zunächst ihre Intuitionen der Welt, deren induktive Erkenntnisse oft genug aus der heuristischen Kraft einer bestimmten Metaphorik resultieren: ob aus der Vorstellung einer Wendeltreppe bei der molekularbiologischen Helix, beim quantenphysikalischen Vexierbild von Schrödingers Katze oder dem meteorologischen Modell des Flügelschlags eines Schmetterlings über Kalifornien, der das Wetter in China verändert. Beide etablieren damit ihre jeweils eigenen Ikonographien und entwerfen dadurch Weltsysteme, die sich letztlich – trotz aller empirischen Nachprüfbarkeit und Falsifizierungsmöglichkeiten – auch als Allegorien begreifen lassen. Was läge deshalb näher, als Neurowissenschaft und poetische Tradition einander gegenüberzustellen und abzugleichen? Allegorik ist das eine, plausible Hypothesen und begründete Schlussfolgerungen sind das andere. Die jeweiligen Gebiete zu durchforsten und trotzdem vor lauter Bäumen noch den Wald zu erkennen war für den Dichter von uns ein schönes Stück Arbeit. Dabei ging es nicht nur darum – um weiterhin im Bild zu bleiben –, die Wurzelstöcke aus der Erde zu ziehen, sie von den Kronen und den Verzweigungen des Astwerks zu trennen, die gefällten Stämme zusammenzutragen und sie zu Festmetern aufzuschichten, sondern durchaus auch um flächige Rodungen. Oft mussten erst Schneisen in diese Buch(stab)enwälder ge14 Vorwort

schlagen werden, um die alten Verbindungspfade zwischen dem Dichten und dem Denken wiederherzustellen: dadurch ergab sich viel Neues. Vor Holzwegen bewahrt wurde eine solche Forstarbeit durch den Neuropsychologen von uns, der das zusammengetragene Material begutachtete und mit seinem Gütesiegel versah. In den eingeschobenen ›Boxen‹ stellte er zudem Plattformen auf, um einen detaillierten Überblick auf sein sich in stetigem Umbruch befindliches Terrain zu b ­ ieten und Lichtungen dort aufzuzeigen, wo sich sonst alles im Dickicht zu verlieren droht. Beide hoffen, nachhaltig gewirtschaftet zu haben. Sie danken dem Linguisten Philip Herdina (Universität Innsbruck), dem Neuropsychologen Manfred Herrmann, dem Rhetorikprofessor Oliver Lubrich und dem Musikpsychologen Stefan Koelsch (Excellenzcluster ›Languages of Emotion‹, FU Berlin), den Neurowissenschaftlern Ernst Pöppel und Wolf Singer für die konstruktive Kritik am Manuskript sowie Martha Bunk für das Lektorat.



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