kafka ist zu einem mythos geworden

Franz Kafkas Werk übt nach wie vor eine große Faszination aus. Seine Texte scheinen wesentlich um problematische, krisenbehaftete und scheiternde Sinn...
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Franz Kafkas Werk übt nach wie vor eine große Faszination aus. Seine Texte scheinen wesentlich um problematische, krisenbehaftete und scheiternde Sinnbildungsprozesse zu kreisen. Der Literaturwissenschaftler Professor Oliver Jahraus rückt dagegen in seinem neuen Buch über Kafka vor allem die Differenz von biographischer Forschung und Kafkas eigenem Lebensentwurf, der bewusst einer Inszenierungsstrategie folgt, ins Blickfeld. Alle Texte Kafkas, so seine Lesart, handeln vom Schreiben und von der Möglichkeit oder der Utopie, mit dem Schreiben Machtapparate zu unterlaufen.

DAS GESPRÄCH MODERIERTE MAXIMILIAN G. BURKHART

„kafka ist zu einem mythos geworden.“

Einsichten: Kafka ist vermutlich der bedeutendste deutschsprachige Autor. Anders als alle anderen großen Schriftsteller, hat er es geschafft, mit seinem Namen nicht nur für eine ganze Epoche zu stehen, sondern durch das Adjektiv „kafkaesk“ ein Lebensgefühl auszudrücken. Nun behaupten Sie, Herr Professor Jahraus, in ihrem neuesten Buch Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate, dass Kafkas Werke gar nicht kafkaesk seien. Wie ist das zu verstehen? Oliver Jahraus: Kafka ist zu einem Mythos geworden. Was wir von Kafka zu wissen glauben, löst sich von der Person und vom Werk. Wir beschreiben Situationen als kafkaesk, in denen uns in ganz besonderer Weise die Ausweglosigkeit vor Augen tritt. Aber die Situationen in Kafkas Werk sind nicht nur kafkaesk im Sinne der Erfahrung einer absurden Welt angesichts einer überbordenden Bürokratie. Hier geht es vielmehr konkret um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und was den Einzelnen ausmacht, wie er sich ausdrückt und welche Medien er dazu benützt, wie er schreiben kann und sich selbst behauptet. Daher habe ich vorgeschlagen, einen Unterschied zu machen zwischen dem Kafkaesken und dem, was wirklich Kafka entspricht. Und dieser Unterschied ist eine Einladung an den Kafka-Leser, alles hinten anzustellen, was er über Kafka zu wissen glaubt, und sich wieder auf sein Werk zu konzentrieren. Einsichten: K., der Protagonist aus dem Fragment gebliebenen Schloss-Roman, versucht unablässig, in das Schloss zu gelangen, findet aber keinen Zugang. Dem Leser geht es da ähnlich. Sie sagen, Kafkas Texte vollziehen sich in einem „Wechselspiel von Interpretationsprovokation und Interpretationsverweigerung“. Was macht denn Kafkas Texte so schwierig, welche Zugänge gibt es in dieses verschlossene Werk? Jahraus: Was macht denn Kafkas Texte angeblich so schwierig? Liegt das in den Texten, oder, wie ich vermute, nicht vielmehr in den Erwartungshaltungen, die wir an einen Text herantragen? In unserer schulischen oder universitären Sozialisation haben wir gelernt, dass Texte uns einen ganz bestimmten Sinn offenbaren und wir zum Schluss wissen müssen, was der Autor uns damit sagen wollte. Aber Kafka geht es nicht, wie übrigens auch keinem anderen Autor, in dieser naiven Form darum, eine Botschaft zu vermitteln. Sonst würde er die Botschaft einfach aufschreiben. Das ist nicht die Idee von Literatur. Der Schloss-Roman erzählt von den vergeblichen Versuchen von K., ins Schloss zu kommen. Die Straße nähert sich zunächst dem Schloss an. Doch wenn K. – und mit ihm wir – glauben, er hätte das Schloss erreicht, macht die Straße plötzlich einen Bogen und führt wieder vom Schloss weg. Gleichzeitig heißt es, es gäbe mehrere Zugänge zum Schloss. Der Roman macht hier ein Angebot, das der ungeschulte Leser nicht auf den ersten Blick erkennt. K.s Suche nach dem Schloss lässt sich übertragen auf die Suche des Lesers nach dem Sinn.

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3 Der berühmte Brief an den Vater wurde von Kafka tatsächlich als Brief konzipiert, aber nie abgeschickt. Überliefert ist er nur, weil Kafkas Freund und Testamentsvollstrecker Max Brod dessen letzten Willen missachtet und sein Werk nicht vernichtet hat. Die Abbildung zeigt die erste und die letzte Seite des Manuskripts.

Doch so wie K. das Schloss nicht findet, so finden wir den Sinn nicht. Aber dabei bleibt ja der Text nicht stehen. Kafka lenkt unseren Blick vom Schloss hin zur Dorfgemeinschaft. Und wenn wir diesen Weg zurück ins Dorf mitgehen würden, dann könnten wir uns fragen, was wir im Schloss erwarten? Erwarten wir dort die Offenbarung, Kafka selbst, der dort sitzt und uns sagt, was der Roman zu bedeuten hat? Kafka hilft uns, unseren Umgang mit Literatur zu überdenken. Einsichten: Der berühmte Brief an den Vater wurde von Kafka tatsächlich als Brief konzipiert, aber nie abgeschickt. Überliefert ist er nur, weil Kafkas Freund und Testamentsvollstrecker Max Brod dessen letzten Willen missachtet und sein Werk nicht vernichtet hat. Angesichts des Erfolgs des Briefs an den Vater stellt sich die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen privaten und öffentlichen Texten, zwischen Briefen und Literatur. Oder, etwas allgemeiner gefragt: Was ist eigentlich Literatur? Jahraus: Hätte Max Brod nach dem Persönlichkeitsrecht gehandelt, wäre nur ein Bruchteil von Kafkas Werk überliefert und er selbst heute vergessen. Wir Literaturwissenschaftler sind froh, dass Brod diesen letzten Willen Kafkas nicht vollzogen hat. Ein kleiner Treppenwitz der Literaturgeschichte ist, dass wir aufgrund der Persönlichkeitsrechte von Max Brod Teile des Briefverkehrs zwischen Kafka und ihm noch nicht einsehen können. Auch Thomas Bernhards Testament wird beispielsweise ignoriert und doch gibt es eine strikte Grenze: Die Briefe des Autors Bernhard werden veröffentlicht, die privaten bleiben verschlossen. Bei Kafka ist diese Grenze absolut fließend aus mehreren Gründen. Betrachten wir zunächst die Schreibsituation: Kafka hat zum Schreiben weißes Briefpapier und Kladden benutzt. Auf beiden Unterlagen hat er unterschiedslos Tagebuch geführt, aber auch Briefe und Erzählungen entworfen, die er dann später ins Reine geschrieben hat. Aus der Schreibsituation ergibt sich also kein Unterschied zwischen privater und öffentlicher Schrift, sie wird vielmehr geradezu systematisch unterlaufen. Zweitens geht es um das Schreiben selbst. Kafka hatte natürlich eine gewisse Vorstellung, wie er als Schriftsteller wirken wollte. Doch kam es ihm weniger darauf an, Literatur zu produzieren. Er wollte vor allem schreiben, literarische Texte, Tagebuch, Briefe. Kafka hat keinen Unterschied zwischen diesen Textsorten gemacht, sie werden erst nachträglich differenziert. Drittens: Virulent wird der Unterschied in jenen hochproblematischen Situationen, in denen Kafka einen Text herausgeben musste. Im Grunde genommen ist ihm dies nur beim Urteil problemlos geglückt. Dass Kafkas Texte vielfach Fragment geblieben sind, ist auch auf diese Entscheidungssituation zurückzuführen. Kafka hat sie gescheut, weil sie seinem eigenen Verständnis von Schreiben und Literatur völlig zuwider lief. Es lässt sich also in der Tat kein Unterschied machen zwischen den Briefen und den literarischen Texten. Sie sind vielfach ineinander verwoben, das gilt selbst für Das Urteil. Zuerst hat Kafka den Text ins Tagebuch geschrieben, dann dort über die Schreibsituation reflektiert und eine Interpretation nachgeschoben, die auch noch in die Briefe an Felice einfließt. Das Urteil ist gleichermaßen Text und Kontext, Tagebuch und Briefe an Felice. Einsichten: Sie bezeichnen Das Urteil als Schlüsseltext für Kafkas Œuvre. Warum ist dieser Text so wichtig und wie ist er zu verstehen?

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Jahraus: Kafka hat Das Urteil in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 geschrieben. Es erzählt von der gescheiterten Emanzipation eines Sohnes, der heiraten und so die soziale und ökonomische Position des Vaters einnehmen möchte. Zunächst möchte er mit dem Vater beratschlagen, wie er denn am besten einem Freund in Russland von der anstehenden Verlobung berichten könne. Der Vater leugnet zuerst diesen Freund, bezeichnet ihn später aber als seinen besten Freund. Diesen Freund kann man nicht recht fassen. Er dient nur dazu, das Verhältnis zwischen Vater und Sohn richtig zu beleuchten. Am Ende wird der zuerst so schwach wirkende Vater so mächtig, dass er sogar den Sohn zum Tode verurteilen kann und ihn dazu bringt, das Todesurteil durch Ertrinken an sich selbst zu vollstrecken. Die Familie ist ein Machtapparat, ihre sozialen Beziehungen werden bei Kafka entlarvt als Beziehungen auf der Basis von Macht. Die entscheidende Frage lautet: Wer hat die Macht? Virulent wird diese Frage immer dann, wenn die Söhne die ökonomische und sexuelle Position der Väter übernehmen wollen – und daran scheitern. Schreibsituation und Machtapparat Familie sind zwei Seiten einer Medaille. Das Schreiben dient dem Sohn Kafka dazu, sich vom Vater zu emanzipieren, der das Feld der Ökonomie und der Sexualität besetzt. Im Grunde genommen handeln alle Texte Kafkas vom Schreiben und von der Möglichkeit bzw. der Utopie, mit dem Schreiben Machtapparate zu unterlaufen. Einsichten: Die meisten Texte, Briefe wie Erzählungen, sind nachts zwischen Wachen und Schlafen entstanden und handeln zumeist von Übergängen. Warum sind diese Übergänge so wichtig und wo führen sie hin? Jahraus: Für Kafka selbst waren Übergänge, zum Beispiel vom Gymnasiasten zum Studenten oder vom Jugendlichen zum Mann, äußerst schmerzlich. So hat er ein unglaubliches Sensorium für große und kleine Übergänge entwickelt. Das liegt auch an seiner Herkunft als assimilierter Jude in einer tschechischsprachigen Umgebung in der

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7 Franz Kafka mit seiner Freundin und mehrmaligen Verlobten Felice Bauer Anfang Juli 1917 in Budapest.

Vielvölkermonarchie Österreich-Ungarn. Er hat sehr genau wahrgenommen, wie brüchig dieses große soziale Gefüge um die Jahrhundertwende schon geworden ist. Eine ganz eigentümliche Situation ist aber auch der Übergang vom Junggesellen zum Ehemann, auf den Kafka geradezu neurotisch reagiert hat. Er versucht, seine Verlobte Felice an sich zu binden und stößt sie gleichzeitig von sich, um genau diesen Übergang hinauszuzögern. Kafka nennt diese Situation „stehender Sturmlauf“ und hat sie immer wieder literarisch geschildert. Aber die Übergänge werden nicht vollzogen. Zum großen Schaden des männlichen Protagonisten sind sie zum Scheitern verurteilt. Kafkas Literatur ist ein Seismograph für problematische Übergänge. Einsichten: Viele empfinden Kafkas Texte als abstoßend, denn gerade die Ekel erregenden Situationen werden von ihm mit einem minutiösem Realismus geschildert. Er selbst hingegen hat sich angeblich beim Vorlesen seiner Texte köstlich amüsiert. Was ist so lustig an Kafka? Jahraus: Warum sind wir denn so abgestoßen? Kafka hat eine ganz eigentümliche Technik entwickelt, uns in seine Texte hineinzuziehen und zu fesseln. Eines Morgens erwacht ein Mann als Käfer – ein absolut phantastisches Element. Aber die Figuren handeln nicht so, als ob sie mit etwas Phantastischem konfrontiert wären. Die Familie entdeckt den Käfer, ist aber nur irritiert, dass er seine Sohnespflichten nicht mehr erfüllt. Wenn wir uns derart von Kafkas Texten fesseln lassen, begreifen wir nicht, dass es sich um phantastische Elemente handelt. Dabei beinhalten sie in ganz deutlicher Weise ein Moment der Verzerrung gegenüber einem naiven Realismus. Lassen sie uns also einen Schritt zurückgehen und nicht gleich fragen, was es denn wohl bedeutet, dass sich hier ein Mensch in einen Käfer verwandelt. Wenn wir uns die Geschichte genau anschauen, begreifen wir diese Verzerrung als Instrument der Komik. Und dann werden diese Texte auch lustig, wenn auch natürlich nicht alle gleichermaßen. Die Folterszene aus der Strafkolonie zum Beispiel ist äußerst realistisch und eben nicht komisch. Aber das macht ja gerade Kafka aus. Abgestoßen sind wir vielleicht weniger von den brutalen Szenen, sondern von der Sinn-Verweigerung von Kafkas Texten. Wenn wir nicht mehr nach dem Sinn suchen, dann sind wir frei, auch dieses Wechselspiel zwischen dem Brutalen und dem Komischen zu beobachten. Wirkliche Komik erschöpft sich nicht in Slapstick, sondern entfaltet sich erst in der Konfrontation mit ihrem Gegenteil. Einsichten: „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber“,

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heißt es in der gedruckten und durch die Herausgeber edierten Ausgabe von Der Process. Im Manuskript des Autors ist ausgerechnet dieser zentrale Satz ursprünglich anders formuliert. Dort lautet er: „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“ Was machen wir mit diesem Unterschied, diesem hermeneutischen Albtraum für Literaturwissenschaftler? Jahraus: Nun, wir können ganz beruhigt sein. Es ist ein hermeneutischer Albtraum, aber wir träumen ihn ja nur – ein Traum in einem Traum. Dieser Satz fällt in einem Gespräch zwischen einem Geistlichen und Josef K., der kurz vor seiner Verurteilung zum Tode steht. Die beiden unterhalten sich über ein Gleichnis, das der Geistliche kurz zuvor Josef K. erzählt hat. Dieses Gleichnis hat sich unter dem Titel Vor dem Gesetz vom Kontext des Romans emanzipiert. Der Satz, der über die Schrift spricht, ist keine Schrift im gewöhnlichen Sinne, sondern selbst Auslegung, also genau das, was die Verzweiflung der Interpreten hervorruft. Es ist ein Satz, der sich selbst dementiert. Die Schrift mag unveränderlich sein, aber Kafkas Texte stellen sich manchmal – augenzwinkernd – so dar, als ob sie „heilige Schrift“ wären. In Wirklichkeit markieren sie sich selbst immer als Auslegung anderer, ebenfalls permanent veränderlicher Texte. Wenn Kafka gerade einen solchen Satz noch einmal verändert, dann zeigt das im Grunde genommen nichts anderes als ein Prinzip aller seiner Texte, die sich immer wieder fortschreiben und immer wieder selbst interpretieren und natürlich auch immer wieder selbst verändern. Dem sollten wir folgen und eben nicht den heiligen Text suchen, der uns als epiphanisches Ereignis seinen Sinn offenbart. Texte erfüllen für uns Menschen ihre Funktion in diesem Durchgangsstadium, als Interpretation einer anderen Interpretation und Vorlage für weitere Interpretationen. Vielleicht ist genau das die Idee von Literatur und so etwas wie die Botschaft von Kafka: Literatur als Durchgangsmoment der Interpretation, durch das der Leser durch muss, und des immer wieder erneuten Schreibens, das der Autor durchmachen muss.

Prof. Dr. Oliver Jahraus ist seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medien. 2006 erschien sein Buch Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate im Reclam Verlag. [email protected] http://www.oliverjahraus.de/

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