Inklusion in der Berufsbildung

Inklusion in der Berufsbildung Perspektivenwechsel und neue Gestaltungsaufgaben Münster, 19. Februar 2016 Prof. Dr. Ursula Bylinski Berufliche Bildun...
Author: Hajo Baumann
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Inklusion in der Berufsbildung Perspektivenwechsel und neue Gestaltungsaufgaben Münster, 19. Februar 2016

Prof. Dr. Ursula Bylinski Berufliche Bildung mit dem Schwerpunkt Didaktik inklusiven Unterrichts Leonardo-Campus 7 D-48149 Münster

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Übersicht 1. UN-Behindertenrechtskonvention und Inklusion in der Berufsbildung 2. Inklusion als erweiterte Integration 3. Auf dem Weg zur inklusiven Berufsbildung • Der rechtliche Rahmen (BBiG / SGB) • Leitziele inklusiver Berufsbildung • Exklusionsrisiken und Inklusionsstrategien • Ausbau einer differenzierten Berufsbildung 4. Resümee 22 von 00

Fotos: BIBB/ES

Im Fokus: Inklusion

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention – die 2009 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet wurde – ist das Thema Inklusion sowohl bildungspolitisch als auch fachwissenschaftlich in den Fokus gerückt.

http://www.bildungsbericht.de/img/bb14cover.pdf

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UN-Konvention UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2009) Artikel 24 Bildung (1)

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen.

(...) (4)

Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben (…).

(Bundesgesetzblatt Teil 2, Nr.35 veröff. 31.12.2008)

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Leitgedanken Ø Aufhebung der negativen Bewertung von Behinderung und individueller Defizitzuschreibung Ø Abkehr vom „medizinischen Modell“ von Behinderung und Blick auf Kontextfaktoren gerichtet

Behinderung und Benachteiligung soziale Kategorie Eine „Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung“ geht von gesellschaftlich relevanten (Handlungs-)Situationen aus und stellt die soziale Dimension in den Vordergrund. Daraus ergibt sich, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Barrieren in den Blick zu nehmen, die Personen in Behinderungs- und Benachteiligungssituationen an der gesellschaftlichen Partizipation hindern. (LINDMEIER und LINDMEIER 2012)

https://www.kmk.org/themen/allgemeinbildende-schulen/inklusion.html 55 von 00

Inklusion im Bildungsbereich Deutsche UNESCO-Kommission: „Bildung für alle“

Inklusion im Bildungsbereich bedeutet, dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale entwickeln zu können, unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen. (DEUTSCHE UNESCO-KOMMISSION E.V. 2009) http://www.unesco.de/bildung/inklusive-bildung.html 66 von 00

Inklusion in der Berufsbildung (K)ein neues Thema Ø

Seit Ende der 1960er Jahre besteht eine differenzierte – allerdings auch separierende – Förderlandschaft, um von Ausgrenzung betroffene Jugendliche in berufliche Bildungsprozesse zu integrieren.

Ø

Vor allem im Kontext von beruflicher Rehabilitation sowie Benachteiligtenförderung entstanden zielgruppenadäquate Ausbildungskonzepte und Instrumente, die einen Kompetenz- statt Defizitansatz verfolgten.

Ø

Durch die Ausweitung des so genannten Übergangssystems und einer bestehenden Heterogenität in den Lerngruppen, ist mit Inklusion keine gänzlich neue Thematik angesprochen.

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... ein Perspektivenwechsel „Die pädagogische Leitidee von Normalität im Hinblick auf Entwicklung, Begabung und Leistungsfähigkeit wird durch jene ersetzt, die Ungleichheit erkennt, akzeptiert und als Potenzial nutzbar macht. Der bzw. die Einzelne soll sich entwickeln können, wird individuell gefördert und bleibt in einer Lerngruppe, die Jugendliche mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Schwächen und Interessen umfasst.“ (EL-MAFAALANI 2011, S. 41)

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Inklusion durch Ungleichbehandlung statt Exklusion bestimmter Gruppen durch Gleichbehandlung!

Inklusion als erweiterte Integration

Die Lernenden werden als unterschiedlich betrachtet. Es werden Modifikationen vorgenommen, um ihren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ø Unterschiedlichkeit als Herausforderung, der man sich stellen muss. Nach: SLIWKA 2010

Leitbild der „Normalisierung“ (FRÜHAUF 2012, S. 16) 99 von 00

Inklusion

Diversität

Heterogenität

Integration

Die Lernenden werden als unterschiedlich wahrgenommen. Unterschiedlichkeit dient als Ressource für individuelles und wechselseitiges Lernen und Entwicklung. Ø Unterschiede werden als Gewinn und Lernressource gesehen. Nach: SLIWKA 2010

Wertschätzen des Ungleichen

„Man kann verschieden normal sein“ (WOCKEN 2009, S. 3)

Entgegen der dichotomen Vorstellung einer „Zwei-Gruppen-Theorie“ (HINZ 2012), bspw. von Behinderten und Nichtbehinderten nimmt Inklusion nicht die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zum Ausgangspunkt pädagogischer Intervention, sondern das Individuum selbst.

Grafik entnommen von:

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Leitziel inklusiver Berufsbildung „(Aus-)Bildung für Alle“ Ziel einer inklusiven Berufsbildung ist es, allen jungen Menschen den Zugang zu einer anerkannten Berufsausbildung zu ermöglichen und alle Optionen für einen erfolgreichen Weg in das Erwerbsleben zu eröffnen, um darüber gesellschaftliche Teilhabe herzustellen.

Inklusive Bildung

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… kann nicht in Isolation weiterentwickelt werden, sondern muss Teil einer allgemeinen pädagogischen und bildungspolitischen Strategie sein (DT. UNESCO-KOMMISSION E.V. 2009).

Auf dem Weg zur inklusiven Berufsbildung Inklusion intendiert auf eine Verankerung und Absicherung in Regelstrukturen! Erforderlich ist, Ø

in allen Handlungsfeldern der Berufsbildung (Berufsvorbereitung, Berufsausbildung, Fort- und Weiterbildung) gesetzliche Grundlagen (Berufsbildungsgesetz und Sozialgesetzbücher) entsprechend auszuschöpfen, anzupassen und weiterzuentwickeln,

Ø

sowie inklusive Bildung auf allen Ebenen des Berufsbildungssystems (Bund, Länder, Regionen, Institutionen, Ausbildungskonzepte, Lernarrangements) auszugestalten. (nach: BYLINSKI und RÜTZEL 2016)

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Regelungen zur dualen Berufsausbildung Lt. Berufsbildungsgesetz (BBiG) bzw. Handwerksordnung (HwO) Gemäß §2 SGB IX wird von behinderten Menschen gesprochen, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“

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Berufsausbildung behinderter Menschen

§ 64 BBiG/§ 42k HwO: Behinderte Menschen sollen in anerkannten Ausbildungsberufen ausgebildet werden.

§ 65 BBiG/§ 42l HwO: Besondere Verhältnisse behinderter Menschen sollen berücksichtigt werden.

§ 66 BBiG/§ 42m HwO: Zuständige Stellen können besondere Ausbildungsregelungen treffen.

„Nachteilsausgleich“ „Kammerregelung“

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SGB II SGB III

§ 49 Berufseinstiegsbegleitung §§ 73, 112, 113 ff. Ausbildung behinderter und schwerbehinderter Menschen Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben §§ 74, 76, 78 Unterstützung und Förderung der Berufsausbildung außerbetriebliche Berufsausbildung (BaE) § 75 ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) § 13 Jugendsozialarbeit (1) zum Ausgleich sozialer Benachteiligung oder individueller Beeinträchtigung – Förderung der beruflichen Integration durch sozialpädagogische Hilfen (2) Angebot sozialpädagogischer Berufsausbildung

SGB IX

Regelungen zur Berufsausbildung „förderungsbedürftiger junger Menschen“ (§ 78 SGB III) – Lernbeeinträchtigte und sozial Benachteiligte – finden sich ausschließlich in den Sozialgesetzbüchern, insbesondere im • SGB III (Förderung der Berufsausbildung), • aber auch im SGB II (berufliche Eingliederung) • und im SGB VIII (Jugendsozialarbeit).

§ 3 (2) berufliche Eingliederung erwerbsfähiger Hilfebedürftiger (U 25) unterstreicht die Bedeutung einer anerkannten Berufsausbildung

SGB VIII

Sozialgesetzbücher (SGB)

§ 33 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für behinderte Menschen

Exklusionsrisiken am Übergang Schule-Beruf allgemeinbildende Schule

Übergangsbereich

Soziale Selektionsprozesse sind für den Übergang aus der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung in Deutschland besonders stark ausgeprägt:

Ø sowohl nach schulischer Vorbildung, als auch nach Geschlecht, nach Migrationshintergrund und Region (AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2012) 76,3 % aller Förderschüler/-innen erhalten keinen Hauptschulabschluss (KLEMM 2010)

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Immer noch ca. 256.000 Jugendliche beginnen 2014 eine Maßnahme im Übergangsbereich, obwohl sie damit keinen berufsqualifizierenden Abschluss erwerben (BIBBDATENREPORT 2015)

Duale Berufsausbildung Nur ein relativ kleiner Teil der Förderschüler/-innen beginnt eine reguläre Berufsausbildung (NIEHAUS UND KAUl 2012) 2013 wurden 25 % (2009: 22,1%) der Ausbildungsverträge vorzeitig gelöst (BIBB-DATENREPORT 2015)

Strukturelemente ausbauen! Individualisierung

Pädagogische Intervention vom Individuum und den jeweils spezifischen (Lern-)Bedürfnissen sowie Erfordernissen ausgehend konzipieren (z.B. individuelle Bildungs- und Übergangsbegleitung).

Flexibilisierung

Unterschiedliche Wege zu Ausbildungsabschlüssen ermöglichen; zeitliche Flexibilisierung der Berufsausbildung (Verkürzung bzw. Verlängerung der Ausbildungsdauer; Teilzeitberufsausbildung).

Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit

u.a. Bildungsangebote inhaltlich miteinander verknüpfen (bspw. Ausbildungsvorbereitung und Berufsausbildung), Ausbildungszeiten anrechnen; Übergänge gestalten und verwertbare berufliche Qualifikationen anbieten.

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Handlungsfelder ausgestalten! Inklusives Bildungssystem

Inklusive Grundhaltung: Wertschätzung individueller Unterschiede

Regionale Bildungsstrukturen

Vernetzung von Bildung, Erziehung und Betreuung; Kommunale Koordinierung Differenzierte, betriebsnahe, durchlässige Ausbildungsmodelle Inklusive Kulturen, inklusive Strukturen und inklusive Praktiken (Index für Inklusion)

Inklusive Ausbildungskonzepte (betriebliche und schulische) Organisationsformen

„Pädagogik der Vielfalt“, Didaktik der inneren Differenzierung, inklusive Diagnostik Potenzial- und Ressourcenorientierung 17 17 von 00

Inklusive Lernsettings

Individuum

Pädagogische Professionalität „Inklusion fängt im Kopf an ...“

Inklusion

unauflösliches Spannungsverhältnis

Exklusion

„Reflexive Inklusion“ (BUDDE und HUMMRICH 2014)

Entwicklung einer kritischen Handlungsperspektive, um bspw. Ø Exklusionsrisiken zu erkennen, Ø Rahmenbedingungen zu überprüfen und Ø eigene Handlungsoptionen auszuloten. 18 18 von 00

Resümee

Eine große Herausforderung besteht darin, Bildungsstrukturen und -angebote zu entwickeln, die allen Menschen die gleichen Chancen eröffnen und gleichzeitig auch eine notwendige spezifische, individuelle Unterstützung und Förderung sicherstellen.

Fotos: BIBB/ES 19 19 von 00

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Prof. Dr. Ursula Bylinski Berufliche Bildung mit dem Schwerpunkt inklusivem Unterrichts Leonardo-Campus 7 D-48149 Münster

fon +49 (0)251.83 65-167 fax +49 (0)251.83 65-148

[email protected] https://www.fh-muenster.de/ibl/i ndex.php

Literatur AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG: Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf. Bielefeld 2012 – URL: http://www.bildungsbericht.de/daten2012/bb_2012.pdf (Stand: 07.08.2015) AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG: Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld 2014 – URL: http://www.bildungsbericht.de/daten2014/wichtige_ergebnisse_presse2014.pdf (Stand: 24.02.2015) BUDDE, Jürgen; HUMMRICH, Merle: Reflexive Inklusion. Zeitschrift für Inklusion. 2013 – URL: http://www.inklusiononline.net/index.php/inklusion-online/article/view/193/199 (Stand: 29.01.2015) BUNDESINSTITUT FÜR BERUFSBILDUNG: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2015. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn: 2015 http://www.bibb.de/dokumente/pdf/bibb_datenreport_2015.pdf (Abruf: 23.09.2015) BYLINSKI, Ursula: Inklusive Berufsbildung: Vielfalt aufgreifen - alle Potenziale nutzen! In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Inklusion in der Schule - und dann? Berlin 2015, S. 47-58 – URL: http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/11266.pdf (Stand: 07.08.2015) BYLINSKI, Ursula; RÜTZEL, Josef: Zur Einführung. Inklusion in der Berufsbildung: Perspektivwechsel und neue Gestaltungsaufgabe. In: BYLINSKI, Ursula; RÜTZEL, Josef (Hrsg.): Inklusion als Chance und Gewinn für eine differenzierte Berufsbildung. Bielefeld 2016 DEUTSCHE UNESCO-KOMMISSION E.V.: Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. Paris 2009 – URL: http://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bildung/InklusionLeitlinienBildungspolitik.pdf (Stand: 07.11.2012) 21 19 von 00

Literatur EL-MAFAALANI, Aladin: Ungleiches ungleich behandeln! Inklusion bedeutet Umdenken. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis. BWP, 40 (2011) 2, S. 39-42 FRÜHAUF, Theo: Von der Integration zur Inklusion - ein Überblick. In: HINZ, Andreas; KÖRNER, Ingrid; NIEHOFF, Ulrich (Hrsg.): Von der Integration zur Inklusion. Grundlagen - Perspektiven - Praxis. Marburg 2012 HINZ, Andreas: Inklusion - historische Entwicklungslinien und internationale Kontexte. In: HINZ, Andreas; KÖRNER, Ingrid; NIEHOFF, Ulrich (Hrsg.): Von der Integration zur Inklusion. Grundlagen - Perspektiven - Praxis. Marburg 2012, S. 33-52 KLEMM, Klaus: Gemeinsam lernen. Inklusion leben. Status Quo und Herausforderungen inklusiver Bildung in Deutschland. Gütersloh 2010 – URL: https://www.bertelsmannstiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_Gemeinsam_lernen_Inklusion_leben.pdf (Abruf: 24.02.2016) LINDMEIER, Bettina; LINDMEIER, Christian: Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Band 1: Grundlagen. Stuttgart 2012 NIEHAUS, Mathilde; KAUL, Thomas: Zugangswege junger Menschen mit Behinderung in Ausbildung und Beruf. Band 14 der Reihe Berufsbildungsforschung. Bielefeld 2014 – URL: https://www.bmbf.de/pub/band_vierzehn_berufsbildungsforschung.pdf (Abruf: 24.02.2016) SLIWKA, Anne: Soziale Ungleichheit – Diversity – Inklusion. In: BOCKHORST, Hildegard; REINWAND, Vanessa-Isabelle; ZACHARIAS, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch kulturelle Bildung. München 2012, S. 269-273

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