Hintergrund Kultur. Das Feature WIE GEHT'S, KUBA?

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Author: Josef Blau
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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature WIE GEHT'S, KUBA ? Autoren: Anselm Weidner und Nils Aguilar Regie: Nikolai von Koslowski Regieassistenz: Katarina Schnell Redaktion: Birgit Morgenrath Produktion: MDR/DLF 2017 Erstsendung: Dienstag, 11.04.2017, 19.15 Uhr Erzähler: Übersetzerin Übersetzer 1 Übersetzer 2 Ansage:

Stefko Hanushevsky Isis Küger Luis Friedemann Thiele Ralf Drexler Axel Thiemann

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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Erzähler Havanna, Platz der Revolution. Im November 2016 versammeln sich hunderttausende Kubaner, um Abschied zu nehmen von Fidel Castro:

Übersetzerin Wir sind sehr traurig, weil ein großer Revolutionär gestorben ist. Ein großer Führer... – Der brillanteste Mensch des 21. Jahrhunderts! – ...und des 20. Jahrhunderts!

Übersetzer 1 Wir hatten hier gar nichts. Wir waren in bitterer Armut. Der einzige, der es geschafft hat, uns aus der Armut zu holen, war der Comandante Fidel Castro Ruz.

Übersetzerin Alles was wir hier haben, verdanken wir ihm. Wir können gratis in die Schule und an die Universität. Wir können gratis zum Arzt...

O-Ton Fidel Castro: spanisch Revolución es sentido del momento historico; es cambiar todo lo que tiene que ser cambiado...

Übersetzer 2 Revolution ist Gespür für den historischen Moment…

Erzähler Fidel Castro, am 1. Mai 2000 auf demselben Platz.

Übersetzer 2 …alles zu verändern, was verändert werden muss...

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Übersetzer 1 Alles verändern, was verändert werden muss! Die Ideale unseres Comandante können wir weiterentwickeln, vor allem die Jugend, und es kann sich alles zum Wohle des Landes verändern.

Übersetzerin Aber ohne die Ideen Fidels zu verändern!

Musik: Los Aldeanos - Viva Cuba Libre

Ansage 'Wie geht's, Kuba?' - Feature von Anselm Weidner und Nils Aguilar

Übersetzer 1 Dem ganzen kubanischen Volk gewidmet und der Erinnerung an die Menschen, die für ein wirklich freies Kuba kämpften. Es lebe das freie Kuba!

O-Ton Connectify Cambio... Cambio, cambio, cambio... Que puedes comprar en moneda nacional en las tiendas y en divisas? No veo a ningún cambio! (...) No hay cambio, no hay cambio.

Übersetzer 1 Veränderung, Veränderung, Veränderung... Vielleicht, dass man jetzt auch mit Nationalwährung in Devisenläden zahlen kann? Es wurde viel angekündigt, aber Ich sehe keinen echten Wandel!

Übersetzer 2: Hallo, gibt es hier Internet?

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Übersetzer 1: Für 1 CUC pro Stunde... Schalte auf Wlan-Empfang und gib mir kurz Dein Mobiltelefon... Ich verbinde Dich, dann kannst Du lossurfen. Warte noch ein Minütchen, bis sich drei Leute abgemeldet haben, dann kann ich Dich einloggen.

Musik: Los Aldeanos: Viva Cuba Libre

Ansage: Eins: Sie nennen ihn Connectify

Erzähler Da hocken sie, zehn, fünfzehn meist junge Leute, auf Bordsteinen, auf dem Trottoir, an Hauswände gelehnt, im fahlen Licht von Straßenlaternen unweit unserer gemieteten Wohnung. Sie tippen in Tastaturen, sprechen leise, murmeln im Halbdunkel, ihre Gesichter vom Schein ihrer Smartphone-Displays angeleuchtet. Hin und wieder tritt ein junger Mann zu ihnen, die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen.

Übersetzer 1 Wir verwenden zwei Geräte, eins zum Empfangen und eins zum Senden. Mit der Antenne wird das Wlan vom Anbieter ETECSA empfangen, mit dem Router wird es verstärkt und weiterverteilt, und so kann man mit nur einem Signal 15 Nutzer versorgen. Übersetzer 2: Ist das eigentlich legal? Übersetzer 1: Ich empfinde es als legal. Aber sie sagen, dass es illegal ist, als würde ich den Staat bestehlen.

Musik: Ibeyi - River

Erzähler Kuba ist ein Land mit miserabler Internet-Anbindung. Zwar gibt es landesweit an öffentlichen Plätzen Wlan-Hotspots. Aber die Datenrate ist niedrig und die Preise sind hoch: Eine Stunde im Netz kostet zwei Dollar, besser gesagt zwei Pesos Convertibles, abgekürzt CUC. Der junge Mann mit der Baseballmütze bietet Internet für einen CUC pro 4

Stunde an. Als wir genauer mit ihm ins Gespräch kommen wollen, bittet er uns von der Straße in seine Wohnung:

Übersetzer 1 Die Welt ist schon bei 4G, 5G angekommen und hier haben wir nicht einmal eine Geschwindigkeit von 2G! Es gibt auch kein Internet für Mobiltelefone.

Erzähler: Connectify, so nennen sie den 21-Jährigen. Seinen richtigen Namen will er uns nicht sagen.

Übersetzer 1 Auch beim Internet hat es einen echten Wandel gegeben. Jeder betet dafür, dass es endlich zuhause Internet geben kann! Alle träumen davon... Internet bedeutet für mich Information, Wissen, Freiheit… Alles in Erfahrung zu bringen, was Du wissen möchtest, alles suchen zu können, alles verstehen zu können, es ist ein sehr freies Netz… Etwas Unermessliches.

Erzähler Connectify arbeitet als Bautechniker bei der Stadt. Sein Monatslohn von 450 Pesos Cubanos reicht nicht aus für das tägliche Leben. Umgerechnet in die offizielle Zweitwährung sind das 18 Pesos Convertibles, abgekürzt CUC. Das entspricht 18 Dollar. Um mehr Geld zu verdienen, handelt Connectify mit W-LAN-Internet. Und er verkauft Internet offline, sogenannte „paquetes semanales“, ein kubanisches Internet-Kuriosum. Im Schnitt verdient er mit beiden Geschäften am Tag 60 CUC, das sind fast 60 Euro.

Übersetzer 1 Das Paket enthält alles Mögliche: Serien, Kinofilme, Shows, Interviews, Musicals, Dokumentarfilme, Mangas, Bücher in Digitalform, Zeitschriften, christliche Musik… Man muss nicht das ganze Paket kaufen. Du kannst Dir auch einzelne Inhalte zu einem geringeren Preis aussuchen. Die Serien kosten 2 Pesos pro Kapitel, die Videoclips 1 Peso, die Shows unterschiedlich… Den Ordner mit Humor gibt es gratis dazu.

Erzähler Ein illegales Geschäft. Der Staat toleriert das Treiben, so lange nichts Politisches in 5

Umlauf kommt.

Erzähler Zurück auf der Straße:

Übersetzerin Die meiste Zeit nutzen wir Wlan, um mit unseren Angehörigen zu sprechen und mit Freunden. Manuels Eltern zum Beispiel leben in Angola und Ecuador, ziemlich weit weg. Daher nutzen wir es vor allem zur Kommunikation. Vor allem mit den USA. Ich weiß nicht wieso, aber alle hauen sie ab. Kaum zu glauben, aber es ist so. Hier geht’s nicht voran weil die Jugend auswandert und nur die Alten bleiben, die die Revolution erlebt haben. Es gibt viele, die die Dinge anders sehen, die einfach keine Lust mehr haben, denen die Luft zum Atmen fehlt und die sagen „Das kann’s doch nicht sein!“, „Das ist doch nicht normal“, und dann gehen sie und schmeißen das Handtuch!

Übersetzer 2 Die Jugend weiß Bescheid, wir sprechen doch alle mit unseren Freunden im Ausland. Die kommentieren alles und sagen uns, wie es ihnen drüben geht... Die Jugend will ein besseres Leben!

Übersetzerin ...und ein besseres Leben für unsere Eltern, die nichts wissen, die doch verarscht werden. Und ja, wir lachen viel, um damit klarzukommen: Wir haben gelernt, mit Humor auf unsere Probleme zu reagieren. Und wenden uns an die Religion... Übersetzer 2 Das hier ist ein Familien-Business geworden Übersetzerin: Eine Dynastie! Übersetzer 2: Es geht schon... wie lange nochmal? Übersetzerin: 57! Übersetzer 2: 57 Jahre.... und nichts hat sich verändert... Wir möchten lieber ein bisschen Geld zur Seite legen und auswandern. 6

Musik: Ibeyi - River

Erzähler: Seit im Oktober 2012 die kubanische Regierung volle Reisefreiheit gewährte, ist die Auswanderung in die USA sprunghaft angestiegen. Fast 60.000 Kubaner sind 2016 in die USA gegangen, mehr als doppelt so viele wie 2014. Bisher wurde kubanischen Flüchtlingen, die US-amerikanisches Festland betreten hatten, nach einem Jahr in den Vereinigten Staaten die volle Staatsbürgerschaft gewährt, ein privilegierter Status. Seit Obamas Politik der Aussöhnung ging unter Ausreisewilligen die Furcht um, sie könnten dieses Privileg verlieren. Zu Recht, wie sich Anfang 2017 zeigte: Mit einer seiner letzten Amtshandlungen hob Obama die Sonderregelung für kubanische Migranten auf. Sie werden nun genauso behandelt wie andere Einwanderer.

Ansage: Zwei, Luigi, Restaurantbetreiber

Erzähler Die Fassade weiß gekalkt, in Sandstein gefasst, eine offene Terrasse über dem Eingang, die Fenster und Türen leuchtend blau. Das Paladar Mediterráneo hebt sich deutlich von den vielen baufälligen Villen im einst bürgerlichen Viertel Vedado ab. Gerade ist eine amerikanische Reisegruppe im Restaurant angekommen.

Übersetzer 2 Im Schnitt verdient man hier 20,25 Dollar am Tag. An guten Tagen können es auch 60 sein. Und das sind nur die normalen Beschäftigten! Qualifiziertere wie ein Koch verdienen an die 100 am Tag.

Musik: Nuevo Trovador - Tiene que haber de tó

Erzähler Luigi trägt Schnauzbart, stammt aus Sardinien, hat gerade eine Kubanerin geheiratet. Zusammen mit einem Einheimischen hat er das Mediterráneo gegründet und ist zugleich dessen Chefkoch. Das Restaurant ist eines von 2.800 privaten Gastronomiebetrieben auf 7

Kuba. Deren Zahl ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Luigi hat ein System der Gewinnbeteiligung eingeführt. So kann eine ungelernte Küchenhilfe an einem Tag so viel verdienen wie ein für den Staat arbeitender Arzt in einem Monat.

Übersetzer 2 Man merkt es den Menschen noch an, dass sie bisher für den Staat gearbeitet haben. Sie identifizieren sich nicht mit ihrer Arbeit. Sie haben nicht die kapitalistische Mentalität im Sinne von „Ich muss meinen Lebensstandard verbessern, mein Gehalt steigern, morgen Mitgesellschafter werden oder selber etwas gründen.“

Erzähler Allmählich ändere sich diese Haltung, sagt Luigi. Die Angestellten würden sich mehr und mehr in das Unternehmen einbringen. Alle von ihnen seien als 'Cuentapropistas' registriert, also als Selbständige, die ihre Sozialversicherung selbst bezahlen. Nach deutschen Maßstäben wären sie Scheinselbstständige.

Übersetzer 2 Es war schwierig, über die herkömmlichen kubanischen Märkte an die Art von Essen zu kommen, die uns vorschwebte, und so haben wir einen Viehzüchter mit ins Team geholt, der uns die Milch für unseren selbstgemachten Käse liefert. Und das Fleisch: Kaninchen, Ziege, Schwein, Truthahn...

Erzähler Nur 25 Autominuten entfernt, im Osten Havannas sorgt dazu noch ein Gemüsebauer für die Belieferung des Restaurants. Das Motto „de la granja a la mesa“, 'vom Bauernhof auf den Teller'. Auf den Speisekarten steht zu lesen, dass das 'Mediteráneo' 2015 mit dem Londoner „International Quality Crown Award“ ausgezeichnet wurde. Aber was nützt die internationale Anerkennung, fragt Luigi, wenn er und sein kubanischer Teilhaber fast 50 Prozent Steuern auf ihren Gewinn an den Staat abführen müssen, der dann auch noch vorschreibt, wie viele Sitzplätze erlaubt sind?

Musik: Los Aldeanos - Viva Cuba libre

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Übersetzer 2 Ich bin ein Land, das eine Tradition des Kampfes hat des Kampfes für Souveränität und gegen Ungleichheit Das ist unsere Wirklichkeit Wir leben eingesperrt in der Phrase Alles gehört dem Volk, aber alles kontrolliert der Staat

Atmo Bus Reggaeton

Ansage: Drei: Widerstand und Anpassung

Erzähler Am nächsten Tag sind wir mit Raúl Escobar Delgado verabredet, ein Maler. Mit 40 Centavos Cubanos, umgerechnet etwas mehr als ein Eurocent, kommt man durch die ganze Stadt. Im Preis inbegriffen: Laute Musik.

Übersetzer 1 Hier hört man 99% der Zeit Reggaeton. Ich habe den Eindruck, je mehr die Jugend Reggaeton hört, umso dekadenter wird sie. Es gibt mehr Machismus, die obszönen Liedtexte fördern Gewalt, vor allem häusliche Gewalt.

Erzähler Raúl ist 50 Jahre alt. Seine dunklen Locken und sein Humor lassen ihn jugendlich wirken.

Erzähler Raúl hat uns zu sich ins Armenviertel Guanabacoa eingeladen, wo er mit seiner Freundin Yanet, einer Anwältin, wohnt. Wir trinken Tee, als es klingelt: Durch’s Fenster sehen wir Leo, einen Bekannten von Raúl. Warum Leo wohlausgerechnet jetzt kommt, wenn zwei deutsche Radiojournalisten zu Besuch sind? Raúl hält ihn schon länger für einen Agenten des kubanischen Geheimdienstes G2. Yanet sagt leise zu uns, Raúl habe einen diagnostizierten Verfolgungswahn. Raùl geht zur Tür, kontert, wir sollten doch einfach mal Leo selbst nach dem Geheimdienst fragen. Ein gedrungener, etwas nervös wirkender junger Mann tritt ein… 9

Erzähler: Raul hat mir gesagt, dass er Dich im Verdacht habe, dem G2 anzugehören… Übersetzer 1 Leo : Das sagt er, weil er meine Gedichte und Chroniken noch nicht gelesen hat… Übersetzer 2 Raul: Aber so was kann der G2 auch schreiben… (im Hintergrund kichert Yanet nervös) Übersetzer 1 Leo: So schreiben? Nein… Übersetzer 2 Raul: Bist Du sicher? Übersetzer 1 Leo: Es sind meine Gedichte. Und außerdem, wer vom G2 würde sich so ein Tattoo machen lassen. Übersetzer 2 Raul: Aber es kann ja einfach sein, dass sie Dich nach Deiner Tätowierung bezirzt haben... Erzähler: Was ist das denn für ein Tattoo? Übersetzer 1 Leo: Der kleine Prinz! Erzähler: Von St Exupéry… Übersetzer 2: Genau.

Musik Varela – Los que se van

Erzähler Leo ist um die 25 Jahre alt, dichtet, schreibt politische Analysen, und veröffentlicht seine Texte gelegentlich auf dem Blog einer bekannten Dissidentin. Seinen Unterhalt verdient er durch den Straßenverkauf chinesischer Sportschuhe. Heute, so sagt er, sei er gekommen, um Raúl um dessen Meinung zu seiner Lyrik zu bitten. Doch das Gespräch kreist weiter um das Thema Überwachung.

Übersetzer 1 Leo: Auch wenn es mir völlig gleich ist, fühle ich mich doch ziemlich überwacht. Genauer gesagt seit fünf Jahren, als ich an einer Konferenz in Miramar teilgenommen habe, wo 10

kritisch über Kunst, Geschichte, Literatur und Politik debattiert wurde. Seit dem Moment im Jahr 2011 will mir der Staat keine Arbeit mehr geben. Einfach nur weil ich an einen Ort gehe und mir dort die Beiträge anhöre! Erzähler: Und hast Du Dir überlegt, das Land zu verlassen? Übersetzer 1 Leo: Erst vor kurzem habe ich beim Asylbüro der amerikanischen Botschaft einen Antrag gestellt; jetzt warte ich ab, wie sie entscheiden: ob ich gehe oder bleibe... Erzähler: Werden die Asylsuchenden überwacht? Übersetzer 1 Leo: Gut möglich, dass da Kameras einen überwachen, aber es ist mir schnurz. Noch vor fünf Jahren war mir das gar nicht egal: Gott, was hatte ich für eine Paranoia, ich fühlte mich die ganze Zeit verfolgt. Ich bin dann eine Woche in die Geschlossene und schlief sauschlecht… das alles ab dem Moment, wo sie mir das Arbeiten unmöglich gemacht haben. Mir geht’s schon längst wieder besser und ich schlafe wieder gut! Zwölf, dreizehn, fünfzehn Stunden am Tag, ich schlafe sehr viel! Ich nehme mir nichts mehr zu Herzen, und so läuft alles... Erzähler: Was hat Dir die Kraft gegeben, Deine Ängste zu überwinden? Übersetzer 1 Leo: Wenn Du Dir ein bisschen Wissen aneignest über Dein Land – die ganze Wahrheit kann man ja nie erfahren – etwa durch Schauen von Filmen und Reportagen: das wirkt sehr befreiend, Du fühlst Dich glücklicher, einfach weil Du Bescheid weißt. Wir Kubaner sind in einer Seifenblase, wie Varela sagt. Wir sehen die Welt durch ein Nadelöhr und leben in einer Blase. Wir waren lange einsam und haben isoliert von der Welt gelebt. Jetzt müssen wir uns der Welt öffnen!

Musik: aus: Before night falls - Whistling

Erzähler Später sehen wir uns gemeinsam einen amerikanischen Spielfilm an „Before night falls“ – es ist die Oscar-gekrönte Verfilmung des Romans „Eiszeit unter Palmen“ – ein autobiografisches Buch des kubanischen Schriftstellers Reinaldo Arenas. Leo hat den Film 11

auf einem USB-Stick mitgebracht. Er handelt vom harten Umgang Fidel Castros mit kritischen Künstlern in den 70er-Jahren. Der Abend endet mit Liedern von Carlos Varela, heute einer der populärsten kubanischen Liedermacher. Musik: Carlos Varela – Los que se van

Übersetzer 2 Eine Stadt, von Salz umzingelt. Wie eine Liebe hinter Glas. Die die gingen, weinen. Und auch die, die bleiben. Die die gehen, sehnen sich nach ihr, die die bleiben, noch mehr.

Musik: Ibeyi - River

Erzähler Bei 35 Grad im Schatten tut der Fahrtwind im Thunderbird Oldtimer Sammeltaxi gut. Vom Meer her weht eine Brise. Die Fahrt geht nach Mariel, 50 Kilometer westlich der Hauptstadt, durch wucherndes tropisches Grün; da und dort ragen schlanke Königspalmen auf. Zur Küste hin wird das flache Land hügelig. Plötzlich tauchen grüne stählerne Kolosse am Horizont auf, die Kräne des Tiefseehafens Mariel, 40 Meter hoch.

Atmo: fiepende Kräne

Ansage: Vier: Charles Baker, Hafenmanager

Atmo: scheppernde Wagen

Übersetzer 2 Wir stehen jetzt am 700 Meter langen Kai des Containerterminals. Mit diesen Kränen aus China können hier gleichzeitig zwei Containerschiffe gelöscht werden, und zwar solche der Neopanamaxklasse. Die sind ausgelegt für die neuen Schleusen des kürzlich verbreiterten Panamakanals. 12

Erzähler Charles Baker, eine stattliche Erscheinung, ist beim Hafenbetreiber PSA International mit Sitz in Singapur angestellt. Seit 2014 ist Baker Chefmanager des neu gebauten Hafens und Containerterminals Mariel.

Übersetzer 2 Hier sieht man die gesamte Ein- und Ausfuhr von Kuba. Wir haben hier in diesen Kühlcontainern kubanischen Export: Gefrorene Meeresfrüchte, Fisch und auch Rohtabak. Der Export ist nicht gerade umfangreich. Aber das Land importiert aus aller Welt, aus Asien, der Mittelmeerregion, aus Nordeuropa und Lateinamerika und einen sehr, sehr kleinen Teil aus den USA.

Erzähler: Das von den USA 1963 verhängte Embargo verbietet Kuba weiterhin den Import amerikanischer Güter und Technologie. Ausgenommen sind Lebensmittel und Pharmazeutika. Doch weil Kuba an US-amerikanische Unternehmen sofort bezahlen muss und nicht per Kredit zahlen darf, führt das Land auch diese Güter vor allem aus Drittländern ein. Nur jeder fünfte Container enthalte Exportgut, erläutert der aus England stammende Hafenmanager. 80 Prozent seien Importwaren. Kubas chronisch negative Handelsbilanz wird hier anschaulich.

Übersetzer 2 Sobald die Container von den Schiffen geladen und verzollt worden sind, kommen sie auf Schienen bis in die östliche Mitte Kubas. Das Transportministerium kauft gerade neue Loks und Waggons, damit unsere Container besser durchs Land kommen. Dazu haben wir diese modernen Kräne gekauft, was unsere Kapazitäten wiederum stark vergrößert hat.

Erzähler Knappe 600 km bis nach Camaguey in der Mitte der Insel reichen die für den Containertransport erneuerten Schienen inzwischen. Und das Umfeld des Hafens entwickelt sich zu einem Industriegebiet:

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Übersetzer 2 Anfang dieses Jahres hat Unilever einen Vertrag unterzeichnet, in der Sonderwirtschaftszone eine Fabrik zu bauen, wohl für die Produktion von Kosmetika und sowas. Und ich bin sicher, es werden viele weitere Unternehmen kommen.

Erzähler: Tiefseehafen und Terminal sind das Zentrum der neugeschaffenen Sonderwirtschaftszone, 475 km2, halb so groß wie die Fläche Berlins.

Übersetzer 2 Im Jahr gehen aktuell 330.000 Container durch den Terminal, unsere Technologie hat aber das Potenzial für 800.000. Wir haben also genug Raum, um mit der Wirtschaft des Landes zu wachsen. Die würde schneller wachsen, wenn das Embargo aufgehoben würde: Dann würden wohl wegen der geografischen Nähe und wegen der aggressiv auf den kubanischen Markt drängenden US-Firmen, die Importe aus Asien durch solche aus den USA verdrängt werden.

Erzähler Mariel als künftiges Drehkreuz des Handels in der Karibik? Für Chefmanager Baker ist Mariel das Fanal für ein neues, wirtschaftlich prosperierendes Kuba, egal ob in einer Planoder einer Marktwirtschaft.

Übersetzer 2: Hier spricht man weniger von Veränderung als von Regeneration. Es ist ein erfolgreicher erster Versuch, die Wirtschaft zu erneuern. Irgendwo musste es losgehen und es begann hier. Ausländische Investoren brauchen die Sicherheit, dass Güter effizient und kostengünstig rein und raus können. Ohne den Mariel-Hafenkomplex wären sie nicht zu überzeugen.

Musik: Ibeyi - River

Erzähler Das milliardenschwere Joint-venture zwischen Kuba und dem brasilianischen Baukonzern Odebrecht, wurde von Raul Castro eingefädelt, zusammen mit dem damaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva. Der ist inzwischen wegen Vorteilsnahme und 14

Korruption angeklagt. Der Chef des Odebrecht-Konzerns sitzt sogar in Haft, verurteilt zu 19 ½ Jahren Gefängnis wegen Korruption

Erzähler: Autopista Nacional, Kilometer349 östlich von Havanna. Wir steigen aus dem Bus und bald taucht aus dem Gebüsch ein Pferdekarren auf. Das muss der Sohn von Casimiro sein. Er soll uns zur Finca seines Vaters bringen:

Ansage Fünf: José Antonio Casimiro, Bauer

Erzähler: Neun Hektar Land bewirtschaftet der Bauer. Gerade noch hat es heftig geredet, jetzt klart es auf. Unter Bananenstauden geht's mal über grüne Pfade, mal über dunkle, fast schwarze Erde. Vorbei an Reisfeldern zu den Obstbäumen:

Übersetzer 2 Wollt Ihr Guaven essen? Die Finca ist voll davon. Die Königin aller Früchte! Da sind Mangostauden. In diesem Jahr haben wir die Ernte ganz ohne Zucker zu Marmelade eingekocht. Hier gibt es Maulbeeren, die die Vögel mögen und aus denen wir Wein machen. Da wachsen Acerolakirschen und das ist Pfirsich. Da drüben, das sind Kaffeestauden. Die Stauden direkt an den Bienenstöcken tragen die meisten Bohnen! Willst Du noch eine sehr, sehr leckere Guave essen?

Erzähler Auf Casimiros Land gehen wildwuchernder Dschungel und planvolle Agrikultur fließend ineinander über. Der Öko-Bauer stammt wie die meisten Leute in dieser Gegend von einer alten kanarischen Familie ab. Er trägt Bermudahemd, Shorts und Gummistiefel, hat viel Sendungsbewusstsein und Leibesfülle. Durchs hügelige Land führt er uns zu einer Senke.

Atmo :Casimiro Teich 15

Übersetzer 2 Diesen Teich hab ich mit dem Bulldozer ausgehoben. Früher war ich Bauarbeiter und Kranfahrer. O-Ton Wow...

Erzähler Ein paar schwungvolle Würfe von Casimiros Sohn und ein Dutzend Buntbarsche zappelt im Netz. Diese immense Fruchtbarkeit wo man steht und geht! - Casimiro hält Schweine, Kühe, Truthähne und Hühner - um so auf dem Hof eine Kreislaufwirtschaft zu betreiben.

Übersetzer 2 Die Reste der Yucca, die wir heute Abend essen, bekommen die Hühner. Danach kriegen die Schweine Auslauf und fressen, was übrig blieb... Das sind sehr viele Tiere, für die wir kein Futter importieren müssen! Der Abfall des einen ist der Nährstoff des anderen.

Erzähler Eine Windmühle pumpt Wasser in ein Speicherbecken für die Bewässerung der Reisfelder; die Fäkalien der Kühe blubbern in einer Fermentierungsanlage, produzieren Gas und Strom. Das Land wurde der Familie gratis zum Nießbrauch überlassen. Milch und Rindfleisch nimmt der Staat zu garantierten Preisen ab. Obst, Gemüse und Honig gehen in die Direktvermarktung an private Abnehmer. José Antonio Casimiro ist in Kuba bekannt durch seine Auftritte im Staatsfernsehen als Vorkämpfer für eine vielfältige, kleinbäuerliche und ökologische Landwirtschaft. Ihm bereitet Sorgen, dass das Land gegenwärtig mehr Lebensmittel importiert als es exportiert. Und das, obwohl die Agrarfläche theoretisch zur Selbstversorgung Kubas ausreichen würde. Nach offiziellen kubanischen Angaben wird die Hälfte der potenziellen Agrarflächen Kubas nur mangelhaft genutzt oder liegt brach.

Übersetzer 2 Kuba hat sich seit der spanischen Kolonisierung vor 525 Jahren noch nie selbst versorgen können. Dann war lange Zeit der Gebrauch von Agrarchemie nicht aus den Köpfen wegzudenken. Und dann hat sich die Biolandwirtschaft meiner Meinung nach nur 16

deswegen durchsetzen können, weil es hier keine Chemie mehr gab. Aber die Menschen mussten ja trotzdem essen!

Erzähler Das war in der sogenannten 'Período especial' in den 90er-Jahren. Kuba machte aus der Not fehlender Chemie und Maschinen eine Tugend. Unter Präsident Raul wurden viele der großen, ineffizient wirtschaftenden staatlichen Agrarunternehmen umgewandelt in kleinere, teils private Kooperativen und Betriebe. Seitdem wird wieder mehr produziert.

Übersetzer 2 Kuba genießt ideale klimatische, geographische und soziale Rahmenbedingungen. Es könnte zum ersten Land der Welt werden, das sich mit Ökolandbau zumindest selbst versorgt... Die Agrarökologie ist vom kubanischen Staat politisch durchaus gewünscht, an der Umsetzung hapert es. Musik Los Aldeanos – Viva Cubra Libre!

Erzähler Seit 2008 sind Hunderttausende Hektar Land gratis an Kubaner zur Bewirtschaftung verteilt worden. Die mehrheitlich städtische Bevölkerung Kubas sollte so zu mehr landwirtschaftlicher Tätigkeit ermuntert werden – mit Ochsenkraft und „Bio“ aus weniger mehr machen, so der Plan. Ein Plan, der offenbar an den Realitäten zu scheitern droht: Die Jugend zieht es auch auf Kuba nicht aufs Land, und die ländliche Bevölkerung altert zusehends.

Atmo Markt

Erzähler Guaven, Papayas, Mangos, Bananen, riesige Avocados, Maniok und Kartoffeln, die Stände des staatlichen Wochenmarkts von Sancti Spiritus quellen über von saisonalem Obst und Gemüse. Auch Casimiro’s Guaven werden hier verkauft. Für Jose Neira, Soziologe an der örtlichen Universität, ist dieser Markt die günstigste Einkaufsmöglichkeit. Hier werden die Preise staatlich gedeckelt. 17

Jose lädt uns zu sich nach Hause ein und breitet den Einkauf auf dem Küchentisch aus.

Übersetzer 1 Wir haben jetzt hier ein Pfund gemahlenen Mais, sieben Pfund reife Guave,, und 4 Pfund grüne Kochbananen, zwei Avocados und zwei Knoblauchknollen. Und das alles für 100 Pesos Cubanos.

Musik: Los Aldeanos - Viva Cuba libre

Erzähler Umgerechnet vier Euro hat der Einkauf gekostet, Zu Josés Bedauern fehlen Zwiebeln auf dem Tisch. Die Bauern halten sie seit ein paar Wochen zurück, weil sie die staatlich fixierten Preise als ungerecht empfinden: Statt sie unter Wert auf den staatlichen Märkten zu verkaufen, bieten die Bauern sie privat und unter der Hand an. Die Schwarzmarktpreise kann sich Neira nicht leisten.

Zitat Fidel Castro: Socialismo o muerte.

Übersetzer 2 Ich bin müde, seinem Plan zu folgen Sozialismus oder Tod ist doch keine Lösung, das sind die Optionen, die sie Dir geben. Wenn Du an Sie glaubst, bist Du gut, wenn Du davon abweichst, bist Du schlecht. Woanders wärst Du Oppositioneller, hier bist Du ein Wurm

Ansage Sechs: Bleiben oder Gehen

Übersetzer 1 Dieser Einkauf reicht ungefähr für eine Woche; aber das sind ja nicht die Grundnahrungsmittel, sondern nur was man zusätzlich braucht. Für ein mittleres Einkommen ist das teuer, aber es ist eben auch ein fairer Preis für die Produzenten.

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Erzähler Vier Fünftel ihres Einkommens verbrauchen die Neiras für Lebensmittel. José und Doralkis Neira, beide Universitätsdozenten, beide Mitglieder der Kommunistischen Partei, verdienen umgerechnet 64 € im Monat. Davon kann die dreiköpfige Familie nicht leben. José verkauft manchmal eine Zeichnung, Doralkis mal ein Gedicht. Doch das bessert die Lage kaum... Wie es Kubaner ohne irgendwelche Deviseneinkünfte schaffen, zu überleben, das könnten Ausländer nicht verstehen: Die Kulturwissenschaftlerin Doralkis Neira sagt uns diesen Satz mehrfach. Beim Abendbrot ist auch der elfjährige Sohn Habib dabei:

Übersetzerin Kürzlich haben wir mit befreundeten Professoren darüber geredet, was Privatbesitz und private Geschäfte hier mit dem Land machen und warum wir Akademiker uns deklassiert fühlen. Leute, die auf eigene Rechnung wirtschaften, verdienen oft mehr, obwohl sie weniger Bildung haben.

Übersetzer 1 Wenn ich über die Zukunft meines Sohnes nachdenke, komme ich in ein ideologisches Dilemma: Was ist das Beste für ihn? Wir meinen, dass dieses Land für ihn das Beste ist, aber nicht unter den jetzigen wirtschaftlichen Bedingungen. Die sind nicht geeignet für die Entfaltung eines jungen Menschen. Aber ich kann ihm keine Alternative bieten, denn ich möchte mein Land nicht verlassen.

Musik: Ibeyi - River

Übersetzer 2: Ein bisschen Rum zur Caldosa

Ansage Sieben: Verteidigung der Revolution

Erzähler: Einmal im Jahr flackern auf den Straßen Kubas tausende Feuer, über denen in großen eisernen Pötten der berühmte Fleischeintopf 'Caldosa' brutzelt. Man feiert den Gründungsgeburtstag der Komitees zur Verteidigung der Revolution. 19

Übersetzer 2 Es war Fidels geniale Idee, diese Komitees zu schaffen. Alle waren dafür, denn der nordamerikanische Imperialismus versuchte, die Revolution in den Städten und auf dem Land zu sabotieren, aber vor allem in den Stadtvierteln, von innen zu vernichten.

Erzähler Garcia Gonzales stellt sich als Präsident des Komitees in der Innenstadt von Sancti Spiritus vor. 52 Mitglieder hat sein Komitee.

Übersetzer 2 Heute muss man die Revolution politisch verteidigen, nicht mehr mit Waffen wie früher, um Fabriken z.B. vor Sabotage zu schützen, Jetzt geht es mehr um Ideologie und Politik, damit die Jungen dabei bleiben und – obwohl sie damals nicht dabei waren - in dieser neuen Etappe verteidigen, was wir erkämpft haben.

Erzähler Vor allem ältere Menschen, sind zum diesem Fest gekommen. Aus Lautsprechern dröhnt Reggaeton – was die Feiernden nicht davon abhält, Salsa zu tanzen.

Atmo Cafe

Erzähler In einem Café in der Fußgängerzone von Sancti Spiritus treffen wir die jungen Leute, die bei den Feiern ihrer Nachbarschaften auf den Straßen fehlen.

Übersetzer 1 Ich meine, dass die Komitees eine überholte Organisation sind. Es gab eine Zeit, wo sie noch darüber gewacht haben, dass niemand den Reis aus den Lagerräumen klaute. Oder als sie Ausländer beschattet haben, ob die sich mit jemandem treffen würden. Heute sollen die Komitees die Gesellschaft zusammenhalten. Und auch das schaffen sie nicht mehr wirklich.

Übersetzer 2 Es gibt viel zu verteidigen... Ich möchte zum Beispiel diese Ruhe bewahren, die uns umgibt, denn davon haben wir hier sehr viel! Ich schlafe gut, kann mich zuhause sicher 20

fühlen, kann noch um vier über die Straße gehen, ohne dass was passiert. Hier gibt es keine Schießereien, keine Drogen. Und ich habe viel Gewalt in Lateinamerika erlebt! Viele Erwachsene haben große Angst vor dem Cambio, weil sie denken, dass das alles dann auch nach Kuba kommt.

Übersetzer 1 Wie wichtig es für die Mehrheit ist, die Revolution zu verteidigen, weiß ich nicht. Aber mir persönlich scheint es wichtig, dass wir uns vor dem Kapitalismus schützen. Ohne Frage musste es Veränderungen geben, aber sie bergen das Risiko, der Anfang vom Ende zu sein.

Musik: Los Aldeanos - Viva Cuba libre

Atmo: Zunageln der Fenster

Ansage: Acht, ein Sturm zieht auf

Erzähler Wir sind in Santiago de Cuba, im Osten der Insel. Von hier soll unser Rückflug nach Havanna starten, doch der Flug fällt aus.

Übersetzer 1 "Radio Reloj, neun Uhr fünf. Der Hurrikan Matthew mit der Stärke 4 auf der Saffir-Simpson Skala bedroht die östlichen Regionen Kubas. Er verlangt unsere größte Wachsamkeit, denn er entspricht der Stärke der Hurrikane, die Havanna in den Jahren 1926 und 1944 heimgesucht haben.

Erzähler Ein Wirbelsturm steuert zwischen Haiti und Jamaika auf den Osten Kubas zu. Die Leute in Santiago sichern ihre Häuser, nageln Fenster mit Brettern zu, schrauben Bleche auf die Dächer, bereiten sich auf die Evakuierung vor. 21

Übersetzer 2 Ich appelliere an die Macht des heiligen Geistes! Damit gefeiert werde und keine Panik aufkommt! Habt keine Angst! Habt Mut! Gott ist bei uns und er wird uns helfen und er wird für uns sorgen und wird uns heil da herausholen.

Erzähler In einer mit Wellblech überdachten Baulücke inmitten der Altstadt haben sich an die 60 Methodisten zu einem Gottesdienst versammelt. Aufgeregt gestikuliert der Pastor, läuft auf einer improvisierten Bühne hin und her. Noch ist der Wirbelsturm 400 Kilometer von der Südostküste Kubas entfernt.

Übersetzer 2 Und er segnet unseren geliebten Raúl... - Amen! Und er segne die Bischöfe! - Amen! Und er segne hier alle Komitees zur Verteidigung der Revolution! - Oh, Vater! Seid voller Glauben an den Heiligen Geist! Halleluja, verteidige die Häuser! Verteidige die Fenster und Türen! Wir beten für die Behörden, dafür dass alle Transportmöglichkeiten gegeben sind und der Treibstoff und dass Herbergen gefunden werden für die Evakuierten.

Erzähler: Seit den 90er-Jahren ist auf Kuba ein Trend zu mehr Religiosität zu beobachten. Vor allem die protestantischen Gemeinden verzeichnen - trotz staatlicher Gängelung - Zuwächse, neben den Methodisten vor allem die Evangelikalen und die Pfingstler. Deren oftmals lebensfrohe, gesungene Predigten scheinen bei Vielen besser anzukommen als die traditionellen katholischen Messen. Zwar soll etwa jeder zweite Kubaner katholisch getauft sein, aber nur die wenigsten besuchen regelmäßig den Gottesdienst.

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Erzähler: Etwa eine Million Menschen aus den östlichsten Provinzen sind in diesen Tagen evakuiert worden. Später erfahren wir, dass dem bei Hurrikan Matthew – auch dank des gut organisierten Zivilschutzes - auf Kuba keine Toten zu beklagen waren. In den USA wurden 46 Tote gezählt, im Nachbarland Haiti waren es nach offiziellen Angaben mehr als 1.000 Opfer. Musik: Ibeyi - River

Erzähler: Am späten Abend bringt uns ein zum Bus umgebauter Laster aus den 50er-Jahren aus der Stadt heraus, wieder nach Havanna. Atmo Bus Havanna

Ansage: Neun – Sehnsuchtsbilder

Erzähler: Am nächsten Tag führt uns Raul Escobar Delgado zu Kubas größtem Einkaufs- und Bürokomplex im Botschaftsviertel Miramar.

Übersetzer 1: Wir sind hier im „Miramar Trade Center“, das mir ziemlich suspekt ist... Vermutlich werden hier die wichtigsten Geschäfte im Land abgeschlossen. Wenn man das jetzt gebaut hat, dann wohl, weil es dringend nötig geworden ist!

Erzähler Auf diesem Immobilienareal ist alles vom Feinsten, großzügige marmorgeflieste Lobbies, hohe Glasfassaden. Raul hat hier gerade eine Ausstellung.

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Übersetzer 1: Dieses Bild spielt auf die Einstellung der kubanischen Jugend an. Man sieht eine nackte Minnie Mouse in der Hocke. Ihre Haarschleife ist aus einer kubanischen Flagge gebunden. Sie wartet nackt darauf, dass etwas passiert. Das andere Bild nennt sich „Unangenehme Haltung“ und nimmt Bezug auf den Machismo. Die Frau sitzt auf dem Stuhl... als ein Ort, an dem man Dich zur Unbeweglichkeit zwingt, nach dem Motto „Bleib mal da schön sitzen“. De facto ist sie reduziert zur Puppe, ein schierer Fetisch...

Erzähler: Der Malgrund grobmaschige Jute, teils mit Blattgold belegt. Darauf hockende, nackte Frauen, filigran gezeichnet. Im Kontrast dazu mit schwarzer Tusche grob aufgetragene Formen. Sie haben etwas bedrohliches, reptilienhaftes. Dinosaurier?

Übersetzer: Das Motiv der Dinosaurier kam mir ursprünglich als eine politische Intuition: Ich hatte die Vorstellung, dass das Land sich erst verändern würde, wenn die Dinosaurier aussterben würden. Die Dinosaurier von hier kämpfen gegen die Dinosaurier von Miami. Die Kinder der Dinosaurier beider Seiten interessiert das aber nicht mehr! Später habe ich über häusliche Gewalt gelesen und gemerkt, dass meine Dinosaurier auch noch den Machismus verkörpern...

Erzähler Durch eine Drehtür gelangen wir wieder ins Freie. Vor uns die gläserne Fassade eines Parfümgeschäfts. Ein riesiges Werbeplakat reiht sich an das nächste, Models in den üblichen Posen, ein ganzes Stockwerk hoch:

Übersetzer Hier sehen wir die Werbebanner von Paco Rabane, Givenchy, Dior, Opium von Yves St Laurent... Jimmy Choo, hört sich sehr chinesisch an... La vie est belle, Agua de Parfum... Und das hier gibt es erst seit ganz kurzer Zeit, ich glaube erst seit einem Jahr. Das ist der Beginn von etwas neuem... 24

Musik: X-Alfonso - Civilizacion

Erzähler Plötzlich dieses Spektakel: Ein Mädchen von 15 Jahren in High Heels, mit silbernem Mini, purpurnem Top und einer schwarz-glänzenden Kappe auf den gesträhnten langen Haaren geht in Pose. Foto-Shooting, angeleitet durch einen Fotografen und seinen Assistenten. Hinter denen stehen drei Familienangehörige mit weiteren Kleidergarnituren, von Leopardenfell bis Lederstiefel. Das Mädchen umklammert den langen Griff der Tür eines Parfümladens - es räkelt sich in Hohlkreuzposen, blickt schmachtend Richtung Kamera.

Übersetzer Du siehst hier einen Fotografen, der wohl ein bisschen Photoshop kann und alle möglichen Teenager in den immer gleichen vier, fünf Positionen abfotografiert. Das müssen gar nicht reiche Familien sein; alle Mütter betreiben einen enormen Aufwand, damit ihre Mädchen im Alter von 15 ihr Foto-Album in den Händen halten können. Immer gibt es auch ein bisschen nackte Haut zu sehen, aber interessanter finde ich, dass jetzt auch die Jungen ihre Foto-Alben erstellen lassen zu ihrem 15ten Geburtstag. Dort erscheinen sie dann auch mal im Bademantel, halbnackt, sich trocknend mit einem Handtuch... Das sind Szenen aus Hochglanzmagazinen, die man aus Konsumgesellschaften kennt! Jedenfalls ist das gerade ziemlich „in“...

Musik: Ibeyi – River

ABSAGE 'Wie geht's, Kuba?' Feature von Anselm Weidner und Nils Aguilar

Es sprachen: Stefko Hanushevsky, Isis Krüger, Louis Friedemann Thiele, Ralf Drexler und Axel Thielmann Redaktion: Tobias Barth 25

Schnitt: Sebastian Nohl Ton: Werner Jäger

Regieassistenz: Katarina Schnell Regie: Nikolai von Koslowski

Produktion: Mitteldeutscher Rundfunk mit dem Deutschlandfunk 2017.

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