Hintergrund Kultur. Das Feature. Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz. Von Ed Stuhler. Produktion: DLF 2016

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Author: Imke Kästner
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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz Von Ed Stuhler

Produktion: DLF 2016 Redaktion: Ulrike Bajohr

Erstsendung: Freitag, 05.August 2016 , 20:10-21:00 Uhr

Regie: Anna Panknin

Sprecherin 1 (Marie, alte Stimme): Susanne Flury Sprecherin 2 (Marie, junge Stimme): Simone Pfennig Sprecher für Zwischentexte: Daniel Berger Männerstimme (Spielszenen): Tom Jacobs Frauenstimme (Spielszenen): Isis Krüger Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ©

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01 O-Ton 1 Marie Jalowicz Ich habe meine Geschichte mir immer wieder erzählt und geschrieben, ohne Papier und ohne Schreibwerkzeug. Es ging um die Wahrheit und nur um die Wahrheit. Lügen kam nicht in Frage. Ansage: Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz Ein Feature von Ed Stuhler Alte Marie Einmal ging ich in die Konditorei Dobrin. Eine Filiale am Hackeschen Markt existierte noch, wobei die Gäste jetzt ausschließlich Juden waren. Ich hatte gehört, dass man dort ein wenig Abwechslung hat und für wenige Pfennige eine Tasse Kaffee-Ersatz bekommt. Junge Marie Als ich die Tür öffne, blicke ich in einem Raum voller Männer mit Skimützen. Gegen diese Art der Kopfbedeckung habe ich eine furchtbare Abneigung: Sie ähnelt den SA-Mützen und ist zugleich zur Uniform der degradierten Juden geworden. Am liebsten hätte ich geschrien: Macht doch endlich was! Uniformiert euch nicht auch noch! Trottet nicht alle im selben Schafpelz herum! Alte Marie Ich setzte mich hin und trank meinen Kaffee-Ersatz. Und plötzlich wurde ich von einer würgenden Angst gepackt. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment könne die Gestapo in diesen Saustall einmarschieren. Ich dachte wirklich das Wort "Saustall" und guckte, peinlich berührt, auf den Fußboden: Er war anständig gefegt und gebohnert. Was ich wahrnahm, war kein äußerer Dreck, sondern der innere Schmutz dieser Kaffee-Ersatz-Gesellschaft. Szene1: Mann: Kennste den? In so ner Wohnung, wo in jedem Zimmer `ne andere jüdische Familie wohnt, liest ein zwölfjähriges Mädchen ´n Buch, das da rumliegt und fragt den Vater: "Papa, was ist denn ein Komet?" Und da sagt der Papa: "Ein Komet ist ein Stern mit einem langen Schwanz." "Ach so!", sagt sie, "dann ist der Onkel Rosenthal ein Komet".

Alte Marie Mich überwältigte der Ekel. In diesem Moment stand meine Entscheidung fest: Junge Marie Was auch immer mit diesen Leuten geschehen wird, es wird nicht mit mir geschehen. Ich werde nicht mitgehen! 2

Junge Marie Mein Vater ist Rechtsanwalt. Er darf nicht mehr tätig sein. Wir haben unser SommerHäuschen an Hannchen und Emil Koch verkauft. Auch unsere große Wohnung in der Prenzlauer Straße mussten wir aufgeben. Sprecher Die Prenzlauer Straße in Berlin gibt es nicht mehr. Die Gründerzeithäuser zwischen Alexanderplatz und Hackeschem Markt sind zerbombt und abgeräumt worden. Hier, wo ein zwölfstöckiger DDR-Neubau mit McDonald's, Nordsee-Restaurant und dem "Unmöglichen Kartoffelhaus" die Karl-Liebknecht--Straße von ihrem Hinterland abriegelt, hier irgendwo ist Marie Jalowicz, Jahrgang 1922, aufgewachsen. Hermann Simon Man bleibt in der Gegend. Das spielt alles in der Gegend am Alexanderplatz, die Straßen gibt`s ja heut nicht mehr. Man zieht zur Untermiete, das ist dann problematisch auch. Mutter sicher hatte wenig Verständnis, dass ihr Vater, dann irgendwelche Beziehungen mit der Wirtin hat. Es ist alles wie im richtigen Leben, das meine Mutter sehr, sehr früh kennen lernt.

Junge Marie Ich bin erst 16, aber mir ist klar, was hier gespielt wird. Mein Vater hat eine Affäre, und der Ehemann weiß das. Ich muss etwas tun, damit wir nicht auf die Straße gesetzt werden: Ich muss dem Ehemann dieser Frau zu Willen sein. Was soll`s, bringen wir`s hinter uns.

Hermann Simon Es war so, dass Juden Zwangsarbeit leisten mussten. Und da gabs das berühmte, berüchtigte Arbeitsamt nur für Juden in der Fontanepromenade, eine Adresse mit Schreckensnimbus, von den Berliner Juden auch Schikane-Promenade bezeichnet. Also die Menschen, die da anstehen mussten, wurden ganz widerlich behandelt, insbesondere von dem Leiter dieser Behörde. Sprecher Fontanepromenade 15, Berlin-Kreuzberg. Das langgestreckte neobarocke Gebäude, 1906 errichtet, in der Nazizeit die „Dienststelle für Juden“, ist seit langem leer, verwahrlost und voller Graffiti. „Das Objekt steht vor allem auf Grund seiner geschichtlichen Bedeutung vollständig unter Denkmalschutz“ – so wirbt ein Immobilienbüro um Käufer für das Haus. Von hier aus wurden 26 000 Berliner Juden zur Zwangsarbeit verteilt. Marie Jalowicz wird zu Siemens vermittelt.

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Junge Marie Ungefähr 200 jüdische Mädchen. Harte Arbeit an der Drehbank, im Akkord. Stumpfsinn und ewige Wiederholung. Judenlohn. Dazu das Gefühl , etwas Falsches zu tun, die deutsche Rüstungsindustrie zu unterstützen. Marie „Ich habe die vielleicht naive Vorstellung gehabt, meine Aufgabe, um dieser unermesslichen Widerwärtigkeit der Zwangsarbeit Sinn zu geben, besteht darin, Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln, nicht Erlebnisse, das ist was anderes, sondern Erfahrungen, und ich will so viel wie möglich von allen wissen und so viel Bekanntschaften wie möglich machen. Ich hatte sogar den Ehrgeiz, sämtliche Namen im Kopf zu haben - das ist natürlich heute nicht mehr der Fall, aber es war für mich doch eine Bereicherung, so viel und so seltsame menschliche Beziehungen zu haben.“ Alte Marie Ruth Hirsch war die allerbeste Arbeiterin unserer Kolonne. Oft sagte sie: Wie schön wäre es doch, wenn man richtig lernen, die Gesellenprüfung machen und Dreherin werden könnte. Bei ihr waren Nora und ich einmal zum Geburtstag eingeladen. Es wurde ein Trichtergrammophon herausgeholt und dann wurden uralte Gassenhauer aufgelegt. Ich erinnere mich einer Schallplatte, die ich nicht kannte typisches Tingeltangel der Zwanziger Jahre: `Schallplaaatten, die schwarze Mazze, die große Mode…` und so weiter. Das alles prägte sich wie eine Filmszene in mein Gedächtnis ein. Junge Marie Das krähende Grammophon, die peinlichen Schlager, Ruths hässliche schamlose Cousine, die beim Tanzen den Rock hebt und ihre dicken Beine zeigt. Eine Groteske.

Szene 2: Junge Marie: Man müsste später einen Film machen, darüber, wie sich die Geburtstagsfeier eines jüdischen Mädchens von Jahr zu Jahr verändert. Erst kommen die christlichen Kinder nicht mehr und dann am Ende zeigt man Familie Hirsch in ihrem Notquartier. Nora: Bist du noch normal? Wer soll denn über Ruths Geburtstag einen Film machen? Junge Marie: Wir. Alte Marie Wenige Monate später starb mein Vater. Ich hatte einen sehr intensiven, entsetzlichen Angsttraum: Wir beide rannten eine asphaltierte Straße entlang. Verfolger waren hinter uns her. Ich kam sehr schnell voran, aber mein Vater hatte

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Filzpantoffeln an. Alle zwei oder drei Schritte blieb ein Pantoffel kleben, so dass er stehenbleiben musste. Als ich aufwachte, hatte ich die Gewissheit, dass mein Vater gestorben war, um mir den Weg freizugeben. Dass ich leben durfte, leben sollte und leben würde, weil er es so gewollt hatte. Marie Ich wollte ausbrechen von Siemens, ich war oft am Rande der Raserei vor innerem Aufbegehren. Und habe stumm, stumm geschrien: Freiheit, dass die Wände gewackelt haben! Mir war alles egal. Und Alice Büchler hat oft gesagt, hör mal, wir haben alle das Gefühl, du strebst hier weg, was soll denn das? Und sieh mal, so sind wir den ganzen Tag zusammen. Wenn wir zusammen deportiert werden, dann haben wir auch unsere Strohsäcke nebeneinander. Und ich habe ganz klar gesagt: Ich will das nicht! Ich will mich retten und ich will ausbrechen.

Hermann Simon Meine Mutter hat sich da rausschmeißen lassen, sie konnte ja nicht selber kündigen, andere haben sich da eben insoweit untergeordnet, dass sie dann plötzlich froh waren, wenn sie die Norm erfüllt, übererfüllt, mehr Schrauben gedreht, also sozusagen Gefallen an dem Irrsinn und Gefallen an der Sinnlosigkeit gefunden haben. Alte Marie Mit unserem Werkmeister, SS-Mann Schönfeld, hatte ich eine lange Unterhaltung. Szene 4: Junge Marie: Mein Vater ist gestorben. - Ich möchte entlassen werden. Schönfeld: Warum wollen sie denn von uns weg? Marie: Ich will mich retten. Schönfeld: Da draußen sind sie ja allein in der Eiswüste. Marie: Ich will in die Eiswüste und ich will allein sein. Denn ich sehe, worauf das hier alles hinausläuft. Sie werden uns deportieren und das ist für alle das Ende. Schönfeld: Gut, ich werde das veranlassen. Wir kündigen Ihnen wegen Krankheit. Ich wünsche Ihnen Glück und Segen auf ihrem Weg durch die Eiswüste. Hermann Simon: Und das ist schon stark. Lässt sich rausschmeißen und taucht ab. Hermann Simon Nach dem Tod der Eltern, dann insbesondere des Vaters, begannen in Berlin die Deportationen und eine der ersten, die nach Lodz deportiert wurden, war Tante Grete. Und diese Tante Grete, zu der meine Mutter ´ne besondere Beziehung, enge Beziehung hatte seit der frühen Kindheit, sagt zu meiner Mutter: 5

Komm mit! Ich habe hier den Befehl, mich einzufinden. Komm mit! Junge Marie Komm mit! Ich habe hier den Befehl, mich einzufinden. Wir Jungen müssten den Alten im Konzentrationslager beistehen. Hermann Simon Und meine Mutter lehnt ab, weil sie für sich sagt, und wahrscheinlich auch der Tante, und das kann nicht ohne Debatte da abgegangen sein: Ich werde mich wehren, ich weiß nicht, ob ich überlebe, aber ich will und ich werde mich nicht freiwillig da irgendwo einfinden. Und die Tante ist ermordet worden. Junge Marie Ich habe ein Zimmer gefunden, obwohl Juden jetzt überall auf die Straße gesetzt werden. In Kreuzberg. Bei Jacobsohn. Das Zimmer ist düster und schmal wie ein Handtuch. Trostlos! Sprecher Die Schmidstraße, ein kurzes Stück zwischen Heinrich-Heine-Straße und Michaelkirchplatz. Neubauten, zwei Kindergärten, die „Trauminsel“ und „Alegría“ heißen. Die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte GmbH plant dort weitere Wohngebäude. Eine Nummer 26 gibt es in der Schmidstraße nicht mehr, hier war Maries erstes Versteck.

Marie Es hatte also zu so früher Stunde geklingelt. Jemand mit einem Haftbefehl hatte verlangt, mich zu sprechen. Ich schlief noch in meinem Bett, wachte dann mit furchtbarem Schreck auf und der sagt ruhig und freundlich: Ziehen sie sich an, machen sie sich fertig, wir wollen sie verhören, es dauert nicht sehr lange, in ein paar Stunden sind sie wieder zurück. ... Ich war natürlich schlau genug, so zu tun, als ob ich das glaube. ... Und sofort setzte ich ein total schwachsinniges Grinsen auf und sagte: Also wissen se, aber so ne Vernehmung, die kann doch ne ganze Stunde dauern, wa? Ich machte auf schwachsinnig und ordinär. ... Ja, sagt der, ein Weilchen kann… Ick hab nischt zu essen hier. Meine Nachbarin, die hier unten wohnt, im Tiefparterre, die hat immer Kaffee uffn Herd stehen und die könnte mir oochn Stücke Brot borgen, dürf ick mir det holen, so iin Unterrock kann ick, naja, mir sieht ja keener früh um sechse, und na wegloofen kann ick ihnen ja so bestimmt nich. Hermann Simon Nachdem meine Mutter also geflüchtet ist, erst den einen überzeugt sozusagen mit `nem Trick, dass sie aus der Wohnung kann, dann wissend, dass unten der zweite steht, unten steht immer der zweite, sagt sie, und ich hatte eine Flasche bei mir und 6

ohne mich zu wehren, gehe ich nicht mit. Entweder geht die Flasche kaputt oder dessen Schädel, aber soweit kam`s nicht, sie konnte den, der wusste ja nicht, wer sie ist, konnte mit `m Witzchen und dann war sie eben raus. Junge Marie Ich zwinge mich, bis zur nächsten Straßenecke langsam zu gehen. Dann bin ich losgerannt. Ein älterer Arbeiter hat mir seine Windjacke geborgt. Ich besitze nichts mehr, außer ein paar Pfennige, meine Judenkennkarte und die leere Flasche. Hermann Simon Frau Jacobsohn, die die Situation ganz genau begriffen hatte, hat dann die Gestapo da noch ewig aufgehalten, indem sie irgendwelche Familienfotos gezeigt hat und den Tisch quer vor die Küchentür und das noch und das muss ich ihnen noch erzählen, bis dann der andere von unten hochkam und sagte, was macht ihr denn so da jetzt so ewig? Und dann platzte das Ding und die beiden beschimpften sich da furchtbar. Und Frau Jacobson wurde dann auch noch zur Gestapo da vorgeladen. Und da gibt`s diese ganz beeindruckende (lacht) Formulierung, dass diese beiden Beamten da wohl reingeführt wurden, und die waren von den eigenen Leuten grün und blau geschlagen, und da wurde Frau Jacobsohn gefragt, erkennen sie die Herren? Und dann sagte sie, ja, aber sie sehen etwas verändert aus. Diese Frau Jacobsohn hat bei meiner Verhaftung ihr Leben und das Leben ihrer Familie riskiert, und zwar bewusst und in Freuden, das ist das Wichtigste, riskiert, um mich zu decken. Das ist also grandios! Diese Frau ist völlig über sich hinausgewachsen. Man kann nie wissen im Menschlichen, wer sich bewährt und wer versagt. Alte Marie Mir war inzwischen eingefallen, wo man mich am wenigsten vermuten würde: in der Höhle des Löwen und zwar bei Emil Koch. Der arbeitete als hauptamtlicher Feuerwehrmann bei der Polizei. Sprecher Kaulsdorf, Nitzwalder Straße 13. Das Sommerhäuschen kannte Marie gut: Ihre Eltern hatten es an das Ehepaar Koch verkaufen müssen. Es ist längst abgerissen worden. Das Viertel am östlichen Stadtrand gehört heute zum Bezirk MarzahnHellersdorf, es ist bebaut mit bescheidenen Einfamilien- und Reihenhäusern. Hermann Simon Johanna und Emil Koch, schwieriger Fall, auch für meine Mutter schwierig. Weil, ich denke mal, Johanna Koch wird man nicht unbedingt als normal bezeichnen können. Objektiv, das hat meine Mutter auch immer wieder betont, hat Johanna Koch ihr geholfen, hat ihr das Leben gerettet, hat meiner Mutter ihre Identität zur Verfügung

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gestellt. Meine Mutter hatte Papiere, die waren nicht besonders gut, aber immerhin, sie hatte Papiere auf den Namen Johanna Koch. Alte Marie Mir war klar, dass ich nicht lange in Kaulsdorf bleiben konnte. Dort gab es Nachbarn, die fanatische Nazis und so niederträchtig waren, dass die gesamte Umgebung vor ihnen zitterte. Ich musste mit meiner Ankunft warten, bis es draußen stockdunkel war, und das war am beinahe längsten Tag des Jahres ziemlich spät. Als ich spätabends endlich schlafen wollte, fragte ich Hannchen Koch: Junge Marie: Kannst du so nett sein und mir ein Nachthemd borgen? Hannchen (spitz): Ach, das gnädige Fräulein braucht Nachtwäsche? Alte Marie Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich musste vorsichtig sein und mich den Lebensgewohnheiten der Leute, die mich aufnahmen, blitzschnell anpassen. Ich war auf Hilfe angewiesen und durfte niemanden verärgern. Sprecher Hiddenseestraße 4A. Das Mietshaus ist eines der wenigen nicht sanierten Gebäude in Berlin-Pankow. Die Rauhputzfassade weist noch heute Einschusslöcher von den Straßenkämpfen der letzten Kriegstage auf. Hermann Simon Eine sehr frühe Station, unmittelbar danach, nachdem sie da aus ihrem ehemaligen Wochenendhaus ihrer Eltern raus muss, ist dann ein Mann namens Kupke, den ich übrigens kannte aus meiner Kindheit, Arbeiter, Kommunist, richtig so ein netter Typ in meiner Erinnerung, und ja, der vergewaltigt sie auch gleich. Alte Marie Schon in meiner ersten Nacht dort stand Willi bei mir am Bett. Der schmächtige Mann mit dem zerknitterten Gesicht und einem viel zu kurzen Nachthemd brabbelte ein paar widerliche Zoten vor sich hin. Den Rest kann man sich denken. Ich konnte weder Krach schlagen noch ihn zurückschicken, also ließ ich es über mich ergehen. Sprecher Neukölln, Braunauer Straße 36. Seit 1947 wieder: Sonnenallee. Nummer 36: schmutzig-gelb, im Erdgeschoss ein türkischer An- und Verkauf. Vor dem Haus eine Bushaltestelle. „Schenk“ stand an der Wohnungstür, hinter die Marie sich diesmal retten konnte. Karola Schenk wollte Marie eigentlich nicht aufnehmen.

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Alte Marie Sie war keine fanatische Nazianhängerin, aber sie war obrigkeitstreu, empfand Widerstand als unanständig und war politisch vollkommen desinteressiert. Sie verwöhnte mich zwei Wochen lang nach allen Regeln der Kunst. Jeden Abend kam sie an mein wundervoll weiß bezogenes Bett, um mir einen Gutenachtkuss zu geben. Einmal heizte sie für uns beide auch den Badeofen ein. Als ich im Wasser saß, kam sie, um mich zu waschen. Sie hatte extra ein Stück feinster, wohlriechender Vorkriegsseife herausgesucht. Szene 6: Karola: Auf dich habe ich lange gewartet, du bist meine Freundin, meine kleine Schwester! Du bist das, was ich immer ersehnt habe, du bist meine Tochter! Junge Marie Sie küsst mich am ganzen Körper. Ich denke die ganze Zeit "Oh Gott, das ist doch eine Sünde, das ist ja eine Perversion." Im Bett spreche ich das Sündenbekenntnis

Marie Und war es schon absurd genug, dass ich nirgends so gut aufgehoben war, wie bei der Nichtantifaschistin, Nichtnazigegnerin Karoline Schenk, so ist es doch andererseits peinlich zu erzählen, dass nicht alle, aber die meisten, ich sag `s jetzt sehr vorsichtig und euphemistisch, derer, die mir als dezidierte Antifaschisten geholfen haben, ein wenig auffällig waren.

Hermann Simon Leute, die ihr geholfen haben, das war nicht der normale Bürger. Die haben ihr auch mitunter geholfen, vielleicht mal ein paar Marken oder ein Brot oder irgendwas. Aber die, die wirklich geholfen haben, waren häufig Randfiguren der Gesellschaft. Zum Beispiel die Fiochi aus dem Artistenmilieu in Zeuthen. Sprecher Das Einfamilienhaus ist frisch renoviert. Es steht in einer stillen Nebenstraße, umgeben von viel Grün. Ein Grundstück in dieser wald- und wasserreichen Gegend südlich von Berlin ist heute kaum bezahlbar. Hier, in Zeuthen, Waldstraße 5, landete Marie bei einer Artistin: Camilla Fiochi. Alte Marie Karola Schenk hatte mich vorgewarnt: "Camilla Fiochi ist verrückt, du wirst es schwer mit ihr haben. Sie rast und tobt, sie bekommt Anfälle, wenn keine Zigaretten, kein Kognak und kein Bohnenkaffee im Haus sind.“All diese Dinge gab es nur noch zu Schwarzmarktpreisen, und Camilla war inzwischen völlig verarmt. Mal wurde das 9

Gas gesperrt, weil sie nicht bezahlen konnte, dann wieder das Licht und das Telefon. "Es ist rührend, dass sie dich trotzdem bei sich aufnimmt. Sie ist bei allem ein herzensguter Mensch."

20 Hermann Simon Fiochi hat meiner Mutter schon das Leben gerettet, zweimal. Zweimal sechs Wochen, das war schon ne lange Zeit, nur wusste meine Mutter immer nicht, wenn´s dann zum Konflikt kam, wenn die irgendwie tobte, es konnte ja jedes Mal das Ende sein, es konnte ja jedes Mal sozusagen der Satz fallen, du ziehst jetzt hier aus und haust jetzt hier ab. Ich habe noch nicht gesagt, dass sie die merkwürdige Gewohnheit hatte, plötzlich, sei es, dass sie wütend war oder dass sie fröhlich war oder aus gar keinem ersichtlichen Anlass, in die Grätsche zu springen und die Beine dann bis zum Spagat gleiten zu lassen. Sie trug immer Hosen, die als Trainingskostüm geeignet waren, weil sie der Meinung war, man müsste jede Minute ausnutzen, um ein guter Artist zu sein. In diesem Sinne war also die Fiochi auffällig. Sie war dabei eine so dezidierte Nazigegnerin, dass jeder anständige Mensch sich vor ihr zu verneigen hat. Hermann Simon Es sind diverse Quartiere, fünfzehn vielleicht, in den verschiedensten Gegenden, die meine Mutter vorher nie betreten hatte, weil sie sich dort einfach am sichersten fühlte. Meine Mutter war sich über die Greifer, die es gegeben hat, also jüdische Gestapo-Spitzel im Klaren und hat eben einfach gewisse Gegenden gemieden. Sprecher Das Geschäft im Erdgeschoss des fünfstöckigen Mietshauses hat Marie gekannt, aber vermutlich nie betreten: Die Konditorei und Bäckerei Krautzig, gegründet 1932, noch immer “ein alter Familienbetrieb.“ Und noch immer läuft die Hochbahntrasse an den Häusern vorbei. Marie hat die UBahn rattern hören in ihrem Versteck: Schönhauser Allee 126.

Alte Marie Bei Ida Kahnke. Musik Die zahnlose alte Frau sah aus wie eine Hexe. Als Klofrau in einer Behörde konnte sie jeden zusätzlichen Pfennig gebrauchen. Aber sie machte deutlich, dass sie es auch ohne Geld getan hätte: Szene:

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Ida Kahnke:"Wie ick jung war, war ick kommunistisch jewesen, aber wenn man in die Jahre kommt, wird man reljees." Alte Marie Die alte Frau schlief in einer Art Alkoven in einem hinteren Winkel der Diele und dieses große alte Holzbett musste ich zwangsläufig mit ihr teilen. Ich hatte den ganzen Tag über nichts anderes zu tun, als auf einem wackligen Korbstuhl zu sitzen. Herumlaufen durfte ich nicht. Eine Etage tiefer wohnte ein Invalide, der mich sofort gehört hätte. Entweder ich habe die Wohnung nicht verlassen und musste mich mucksmäuschenstill verhalten und saß auf dem Korbstuhl, eine Erinnerung an einen Anblick, der eine Art Albtraum ist. Oder aber ich bin schon früh um Sieben mit losgegangen und bin den ganzen Tag rumgelaufen, so dass ich dann wirklich mit wundgelaufenen Füßen spätabends, als Besuch eben dort geklingelt habe. Und ich habe damals den Satz gedacht, wenn Heimat eine ertretbare Größe wäre, dann hätte ich mir nach derartigen Wandertagen Berlin als Heimat ertreten. Junge Marie Ich bin schwanger. Der einzige, der mir helfen kann, ist Benno Heller. Er hat vielen Frauen geholfen. Hermann Simon Ein Arzt aus Neukölln, der einerseits viele Juden gerettet hat, andererseits aber also meine Mutter kam irgendwie mit ihm menschlich überhaupt nicht klar und dass es da zu einem Konflikt kam, liegt auch ein bisschen in der Persönlichkeit meiner Mutter, die sich da unter keinen Umständen unterordnen wollte und nun besonders den akzeptieren wollte als großen Retter. Alte Marie Heller hatte etwas von einem Halbgott in Weiß, das mochte ich nicht. Er gerierte sich als der Jude, der die Juden rettet. Offenbar erpresste er frühere „arische“ Patientinnen. Dafür, dass er sein Wissen über sie für sich behielt, mussten sie Juden verstecken. Das konnte nicht gut gehen. Ein Jude, der sich unverwundbar fühlt.

Szene 7: In der Arztpraxis Heller: Kennst Du das jüdische Glaubensbekenntnis? Junge Marie: Sch´ma Jisroel Adaunoj elauhenu Adaunoj echod - Höre Israel: Der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig. Heller: Das kennt nun wirklich kein Fremder. Ich werde dir ein Mittel geben, um eine Fehlgeburt einzuleiten. Die musst du dann allein durchstehen. Eine Ausschabung ist danach nicht nötig. Du bekommst Wehen und dann geht das ganze Zeug ab. Das schmeißt du weg und die Sache ist erledigt. 11

Alte Marie Angesichts all dessen, was schon hinter mir lag, geschah nun also auch noch das. 25 Hermann Simon Der Schwangerschaftsabbruch, der ohne Heller nicht möglich gewesen wäre, das wird nicht der Einzige gewesen sein, den er in dieser Zeit gemacht hat, war lebensrettend, klar. Junge Marie Ich habe den Schlüssel zu einer Laube in Nordend. Ganz allein fahre ich dort hin. Nach ein paar Stunden beginnen die Wehen. Im Garten finde ich einen alten Eimer und setze mich darauf. Es geht ziemlich schnell. Ich bin traurig, es war ein Junge. Aber ich habe keine moralische Bedenken: Ich will leben. Ich will leben! Anders ging es nicht. Sprecher Im Nordend von Pankow gibt es noch immer Schrebergärten mit Lauben. Den genauen Ort, an dem sie sich einsam abquälte, hat Marie nicht überliefert. Vielleicht wollte sie die Adresse schnell vergessen. Junge Marie Ich habe einen Bulgaren kennen gelernt. Er heißt Dimitr Tschakalow. Ich bin verliebt in seine dunklen Augen. Er hat schneeweiße Zähne und ganz dunkle Haare. Er will mich mit nach Bulgarien nehmen. Hermann Simon Und mit ihm geht sie nach Bulgarien, weil sie die Idee hat, über die Türkei nach Palästina zu flüchten von Bulgarien aus. Und das ist ein schönes Kapitel eigentlich in ihrem Leben. Sie genießt das sehr, kommt zu Kräften, war ja ziemlich ausgehungert vorher. Und isst sich da an Obst satt. Musik: Rudi Schuricke: Schenk mir dein Lächeln, Maria Szene 8 Junge Marie: Das heißt nicht Löcheln, Mitko, sondern Lächeln! Du hast den Text falsch verstanden. Es ist nicht von Marias Löchlein die Rede. Hermann Simon Das war für meine Mutter `ne glückliche Zeit - bis sie in Bulgarien verhaftet wird. Meine Mutter hatte, um nach Bulgarien zu kommen, sich selbst Papiere irgendwie herstellen lassen, entworfen, die sie als Kantinenpächterin der Wehrmacht ausweisen. Diese Papiere sind aber richtig schlecht. Sie wird denunziert, weil sie da jemanden nicht zu Diensten sein wollte. Ist da wie so `ne Zivilgefangene in `nem Hotel untergebracht. Aber mit Hilfe ihres Freundes und 12

der bulgarischen Widerstandsbewegung flüchtet sie aus diesem Quartier und ihr hilft der Leiter des deutschen Arbeitseinsatzes für Bulgarien, Hans Goll. Er beschafft ihr Papiere, einen Pass von der Deutschen Gesandtschaft auf den Namen Johanna Koch - also so war ja ihre Kennkarte - aber dieser Pass war echt, mit falschem Namen. Nur der Pass hat n kleinen Schönheitsfehler. In dem Pass steht: Die Passinhaberin hat ihre Staatsangehörigkeit nicht nachgewiesen. ... Das ist quasi ` ne Ausweisung. Meine Mutter war ohnehin der Meinung, wenn es eine Chance gibt zum Überleben, dann wirklich nur in Berlin.Und sie fährt nach Berlin zurück.

Junge Marie Die erste Nacht nach meiner Rückkehr bei Hannchen Koch in Kaulsdorf verbracht. Vierundzwanzig Stunden tief und fest geschlafen. Aber ich kann hier nicht bleiben. Hannchen redet wirr von Okkultismus und Mystik. Sie will Hitlers Astralleib schädigen, um die politischen Verhältnisse zu verändern.

Hermann Simon Sie wollte die Retterin sein. Und irgendwie geht´s da bei ihr im Kopf auch durcheinander. Dadurch, dass sie die Papiere zur Verfügung gestellt hat, ist sie dann plötzlich Marie Jalowicz selbst oder ein zweites Ich. Also ich glaub mal, wir liegen hier nicht falsch, wenn wir sagen, Frau Koch war verrückt. Sprecher Berlin-Kreuzberg, Bergfriedstraße 6. Ein 70er-Jahre Bau mit vier Stock Balkonwaben, wechselweise bestückt mit Satellitenschüsseln, Geranien und Sonnenschirmen. Als Marie bei Karl Galecki, genannt „der Gummidirektor“ unterkam, hieß die Straße noch Fürstenstraße.

Hermann Simon Der Gummidirektor, das ist eine Episode, dass sie an einen wirklich fanatischen Nazi gerät, der sie beherbergt, kurz, der deshalb wohl von ihr so genannt wird, weil er auf Grund seiner Erkrankung so einen watschelnden Gang hat. Der war so fanatisch, der hatte ein Bild im Zimmer und erläuterte dann meiner Mutter, was er da hatte. Und da war also ein Haar des Führers Schäferhund, und das habe ihn doch viel Mühe und wahrscheinlich auch Geld gekostet, das zu beschaffen. Alte Marie Das Domizil des Gummidirektors, eine langgestreckte Baracke. Er lebte ganz allein und frönte der Leidenschaft, die ihm half, seine Einsamkeit zu ertragen: seinen Fischen. Die Wände waren rechts und links mit Aquarien zugepflastert.

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Szene 7 Gummidirektor: Die Juden muss man alle umbringen! Junge Marie (erschrocken): Schau mal, die Fischchen haben sich gerade anders getummelt als sonst! Gummidirektor: Bravo, wie gut du doch meine Lieblinge beobachtest! Junge Marie Gelobt seist du König der Welt, baure ha dogim, der die Fische geschaffen hat. Ich bin in Lebensgefahr und von allen verlassen. Ihr seid unschuldige Kreaturen genau wie ich. Seid bitte, ihr stummen Fische, meine Fürsprecher, wenn die Menschen mich im Stich lassen. Alte Marie Ich war mir nicht sicher, ob Gott überhaupt existierte. Aber andererseits war er mein verlässlicher Kumpan: Auch als mir der Gummidirektor mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen verkündete, er müsse mich enttäuschen, er sei zu keiner sexuellen Beziehung mehr imstande. Mich überwältigten ein solcher Jubel und eine solche Erleichterung, dass ich nicht mehr sitzen bleiben konnte. Ich floh auf die Toilette. Es wurde der erhabenste und erhebendste Klobesuch meines Lebens. Marie Nach Jahrzehnten jetzt, alt und nach schweren Operationen, im Gedanken auch, dass spätere Generationen das, was ich berichte, zur Kenntnis nehmen werden, spreche ich oft sehr erregt, mir kommen auch manchmal die Tränen - das war damals nicht der Fall. Nicht nur, um nach außen hin nicht aufzufallen, sondern weil übertriebene Gefühlsreaktionen nicht in meiner Art liegen. Sprecher Schönleinstraße 13. Ein lindgrün gestrichenes Eckhaus am Hohenstaufenplatz in Berlin-Kreuzberg. Auf dem Platz spielen Kinder, dienstags und samstags ist Markt: Im Februar 1943, als Paulus` Armee in Stalingrad untergegangen war, nahm Trude Neuke Marie unter ihre Fittiche.

Hermann Simon Rote Fahnen, rote Haare, rotes Herz und rotes Blut, so bezwangst du diese Jahre, glühe weiter, mach es gut. - Das war die rote Trude, die von ihrer Befreiung noch `ne rote Fahne hatte, stand irgendwas drauf "Zur Erinnerung an ..." und sagte, mit der Fahne will ich beerdigt werden! (lacht) Also ich erinnere mich deutlich an Szenen aus meiner Kindheit, dass sich die beiden auf der Straße trafen, sich miteinander unterhielten, lang, laut, und immer sehr intensiv. Und sie war die Einzige, die meine Mutter mit Hannchen begrüßte, niemals hat sie Marie gesagt. Sie hat sie als Hannchen kennen gelernt und sie blieb für sie Hannchen. 14

Also ich habe schon gehört, du bist Hannchen. Und ich werde die rote Trude genannt. Dass mein Haar knallrot ist, siehst du ja, aber meine Gesinnung ist genauso rot und wenn möglich noch röter. Und nun geschah etwas, was ich bezeichnen muss als einen der großen Höhepunkte meines Lebens; nicht erst jetzt, sondern schon damals. Trude sagte ohne Überspanntheit, ohne Übertreibung, etwas lauter, als man gewöhnlich am Kaffeetisch spricht, aber ohne Erregung und ohne zu schreien: "Ab sofort bis zum Sieg der Roten Armee übernehme ich die Verantwortung für dein Leben und für deine Rettung vor unseren gemeinsamen Feinden." Und darauf streckte sie mir die Hand hin, und ich schlug ein. Über diese Hand muss ich auch ein Wort sagen: Sie führte laute kämpferische Reden, ballte sehr oft eine Faust und ließ dann diese Faust durch die Luft sausen. Und da war dieser merkwürdige Widerspruch. Es war eine kleine fette, besonders zierliche Damenfaust, die ganz intensiv an die Hand meiner Mutter erinnerte.

Hermann Simon Die beiden Frauen, Johanna Koch und Trude Neuke, ja, wie Feuer und Wasser... Die eine, die Kommunistin, die andere die Kleinbürgerin. Beide haben meine Mutter gerettet, aber sie mochten sich nicht, nee überhaupt nicht. Und da gab`s halt ne absurde Konkurrenz. Johanna Koch war wahrscheinlich wirklich verrückt, das kann man von Trude Neuke nicht behaupten. Bei Frau Koch, die wirklich Unermessliches, das ist keine Übertreibung, Unermessliches für mich riskiert und getan hat, bestand immer die Tendenz, dies auch zu betonen. Und das hat etwas Peinliches an sich, wenn man an seine Dankbarkeitspflichten erinnert wird. Es ist auf die Dauer demütigend, und Trude arbeitete dieser Demütigung entgegen. Mit übertriebenem Juhu, möchte ich mal sagen, erklärte sie und schwenkte wie so oft ihre Faust durch die Luft, nicht das geringste macht es mir aus. ... Ich konnte es nicht lassen, meine beiden etwa gleichaltrigen Helferinnen Koch und Neuke zu vergleichen.

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Hermann Simon Trude Neuke hatte ja erklärt, ich, ich rette dich und ich, ich übernehme jetzt die Verantwortung, bisschen theatralisch. Und diese Trude Neuke macht meine Mutter bekannt mit dem Holländer. Der war Fremdarbeiter, das ist nicht zu verwechseln mit Zwangsarbeiter, also selber nach Deutschland gekommen, Schweißer. Und er sagt dann zu meiner Mutter, naja, da du nicht wirklich Johanna heißt, nenne ich dich Frauke, Frauke ist so Frauchen. Er hatte bis dato wohl keine Frau und sagte ganz entzückt, naja, dann geh `n wir mal nach Hause. Und zu Hause war Am Oberbaum 2, bei der Wirtin Luise Blase. Und nach meiner Recherche muss das in der zweiten Hälfte April 1943 gewesen sein. Sprecher Die Adresse Am Oberbaum gibt es nicht mehr. Im März 1945 zerstörte eine Sprengbombe die Häuserzeile. An der Stelle heute: ein schattiger Rasenplatz an der Spree, bewachsen mit hohen Linden und Ahornbäumen. In Blickweite die Oberbaumbrücke und der U-Bahnhof Schlesisches Tor. Gerrit Burgers hieß „der Holländer“, der Marie mit zu seiner alten, halbblinden Wirtin nahm.

Alte Marie Der Holländer kam sofort zur Sache. Er erklärte ihr, er habe eine Frau gefunden, die ab sofort bei ihm wohnen werde. Ich würde ihm den Haushalt führen und sei auch bereit, Frau Blase jederzeit zur Hand zu gehen. Weil bei mir rassisch eine Kleinigkeit nicht stimme, sei es besser, mich nicht polizeilich anzumelden. Letzteres schien der alten Frau ganz egal zu sein. Damit war ich eingezogen. Hermann Simon Und meine Mutter lebt mit ihm zusammen und dieser Frau Blase, die meine Mutter auch als fanatische Nazisse bezeichnet. Andererseits, sie ist da ein bisschen so Tochterersatz und hat, ja, so komisch das klingt, und hat ein gutes Leben. Ate Marie Der erste heftige Streit zwischen Burgers und Frau Blase kam für mich völlig überraschend. Der Anlass war lächerlich. Der Holländer hatte sich - wie immer und wie ich es auch tat - in der Küche gründlich gewaschen. Es gab zwar ein Badezimmer, aber das wurde nie als solches benutzt, denn die Badewanne war mit Kohlen gefüllt. Die alte Frau drohte damit, ihren holländischen Untermieter fristlos auf die Straße zu setzen! Und seine "jüdische Dulcinea" werde sie bei der Gestapo anzeigen, damit die endlich umgebracht würde. Sie stieß fürchterliche sexualperverse Morddrohungen aus, während er sie wild beschimpfte, infantil mit den Füßen aufstampfte, sich die Haare raufte und plärrend „Mutter“ zu ihr sagte. Ich hatte Todesangst, mein Herz raste wie ein Hammerwerk. Ich wusste ja noch nicht, dass wenige Stunden später und ohne jedes klärende Wort eine Versöhnung 16

zustande kommen würde. Denn Burgers und Frau Blase hassten sich gegenseitig so sehr, wie sie sich liebten. Hermann Simon Burgers will einfach, dass sie für ihn da ist und erträgt' s nicht, wenn sie irgendwas schreibt, etwas liest. Das ist ein vollkommen fremdes Milieu und dann verprügelt er sie mal und so. Meine Mutter sieht das, auch damals schon, völlig unverklärt. Also geliebt hat sie ihn nicht. Marie Ich habe sie nie madig machen wollen, und das ist einer der Gründe, ich sage es jetzt sehr zugespitzt, oder vielleicht sogar überspitzt, weshalb ich mich nie entschließen konnte, die ganze Geschichte, meine ganze Geschichte dieser drei Jahre des Untergetauchtseins aufzuschreiben. Aber gegen das Sagen der Wahrheit hatte ich dies Bedenken, dass es doch nicht meine Absicht war, Widerstandskämpfer madig zu machen.

Alte Marie Ich habe ohne Papier und Schreibgerät Tagebuch geführt, ich habe eigentlich geschrieben - in Gedanken natürlich nur - wo ich ging und stand und fand das zu lang, zu weitschweifig, zu ungeschickt, habe, so nannte ich das auch, immer wieder die Texte redigiert, um kürzer und präziser in mein Gedächtnis einzuschreiben, was ich erlebt habe. Hermann Simon Ich wundere mich immer, wie normal es dann sozusagen bis zum Schluss war, wie das alles funktionierte, ... dass niemand meine Mutter denunziert hat. Und der Kreis war ja wirklich groß. Meine Mutter erinnert sich an jedes Detail, wer wo wohnte, wer welche Schwiegermutter hatte usw. Es waren ja noch viel mehr, die das wussten, ich mein, die haben `s irgendwelchen Verkäuferinnen erzählt und so - also es muss, hatte ne relativ große Zahl von Mitwissern gegeben. War`s ein Wunder, ist es der Tatsache geschuldet, dass ein Ende absehbar ist? Es ist immer von allem ein bisschen, glaube ich. Aber es ist auch ganz wesentlich eine Frage des Milieus. Und diese Leute haben einfach Nee gesagt. Musik

Alte Marie Lotte war Prostituierte. In dieser vehementen Nazigegnerin hatte ich eine zuverlässige Beschützerin: Szene 8 Junge Marie: Du hast eigentlich einen prima Beruf, Lotte. 17

Lotte: Aba nüscht für dir. Wenn du überlebst, und ick jehe davon aus, denn studierste und wirst Dokter. Det is dein Weg, und det andere is mein Weg. Musik: Marika Röck: Im Leben geht alles vorüber 40 Hermann Simon Das Haus wird zerbombt da, Am Oberbaum, und meine Mutter flüchtet in ihr letztes Quartier, das auch das erste war, nämlich nach Kaulsdorf. Und sie sagt, es brach eine Art Niemandszeit an. Alte Marie Frau Koch klammerte sich an mich in einer Weise, die mich sehr quälte. Einmal krallte sie sich mit den Nägeln ihrer fünf Finger in meinem dürftigen Sommerkleid fest. Szene 9 Junge Marie: Lass los, reiß mir die Sachen nicht vom Leib, ich hab nichts zum Wechseln! Hannchen: Du bist mein Kind! Versprich mir, dass du mich nie verlässt, dass du immer bei mir bleibst! Marie: Ja, natürlich.

Junge Marie Mein Vater hatte eine Beziehung zu Hannchen. Emil wusste das und ich habe dafür bezahlt. Emil war der erste. Da ging ich noch zur Schule. Es war widerlich. Ich hasse ihn dafür. Hermann Simon Und dann erzählt ihr Emil Koch, er habe auf einer Waldlichtung eine Panzerspur gesehen. Emil beschrieb diese Stelle, sagt meine Mutter, die neben einer kleinen Birke lag genau. Junge Marie: Hier an dieser Birke ist ein Umschlagplatz. Es ist der Platz an dem Hoffnung in Zuversicht umschlägt. Sprecher In der Binzstraße 7, Berlin-Pankow, gelingt es Marie Jalowicz, nach drei Jahren Flucht und Untergrund ihre erste eigene Wohnung als freier Mensch zu finden. 42 Hermann Simon Quasi ein Wunder! Sie bricht aus Kaulsdorf auf, ihre Habseligkeiten hat sie in einem Leiterwagen, und wandert barfuß nach Pankow. 18

Und auf dem Weg formuliert sie sozusagen in wenigen Punkten, was sie will (O-Ton geht weiter, parallel zu Text unten):

Junge Marie Ich will nicht mehr ausspucken, denn das war unzivilisiert. Ich will nie mehr auf Korbstühlen sitzen. Ich will niemals undifferenziert auf "die Deutschen" schimpfen. Ich will nie ungerecht und undankbar sein gegen Leute wie Kochs, die mir geholfen haben. Meine Liste ist lang. Befreiung heißt für mich Befreiung von Furcht und Angst als Dauerzustand, Befreiung von der großen Verfolgung. Aber nicht nur Freiheit von, sondern auch Freiheit zu etwas, zu einem sinnvollen Leben, zu einer Universitätsausbildung und, wenn ich Glück habe, zu einer Ehe. Ich möchte nie unwürdig heiraten, ich werde niemals einen Nichtjuden heiraten, denn ich habe hier meine innere Verbundenheit, aber auch meine Verpflichtung in die Zukunft. Aber ich sehne mich nach einer neuen eigenen Familie, nach einem Mann und Kindern. Und so ist es dann auch gekommen. Musik Sprecher: Ruth Hirsch , Maries Kollegin bei Siemens, wird am 3. Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Franziska Jacobsohn, die ihr das erste Obdach bot, stirbt 1944 in Auschwitz. Der Frauenarzt Benno Heller wird im Februar 1943 verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Zuletzt gesehen wird er im Januar 1945 in einem Außenlager des KZ Sachsenhausen. Karola Schenk stirbt 1989 in Mannheim. Camilla Fiochi stirbt 1970 in Deutsch-Wusterhausen. Gerrit Burgers stirbt 1983 in den Niederlanden. Karl Galecki , der Gummidirektor, stirbt 1965 in Berlin-Tegel. Die „rote Trude“, Trude Neuke, wird 1944 verhaftet. Zu einem Prozess wegen Vorbereitung zum Hochverrat kommt es nicht mehr. Im Zuchthaus Bayreuth wird sie im April 1945 von der US-Armee befreit. Sie stirbt 1981 in Berlin-Pankow. Emil Koch stirbt 1983, seine Frau überlebt ihn um elf Jahre. Nach ihren Tod taucht ein Testament von 1940 auf, in dem sie Fräulein Marie Jalowicz das Haus in Kaulsdorf vererbt. 19

Marie heiratet 1948 in Berlin ihren Schulfreund Heinrich Simon, der ihretwegen aus Palästina zurückgekehrt ist. Sie will in Deutschland bleiben. Bereits 1946 hatte sie in einem Brief geschrieben: Junge Marie "Bitte fall nicht aus allen Wolken, wenn ich Dir mitteile, dass ich meine Auswanderung als vollzogen betrachte. Ich bin aus dem Deutschland Hitlers in das Goethes und Johann Sebastian Bachs ausgewandert und fühle mich in ihm sehr wohl." Sprecher: Sie schreibt sich an der Berliner Universität für die Fächer Philosophie und Soziologie ein und promoviert 1951. Der Autor dieses Features lernt sie 1973 als Student kennen. Frau Professor Simon spricht ketterauchend zur Geschichte der Philosophie - ohne Manuskript, druckreif. Ihre Vorlesungen atmen den freien Geist der antiken Philosophen, jeder Dogmatismus ist ihr fremd. Über ihre Odyssee redet sie nie. Aber kurz vor ihrem Tod hält sie ihr inneres Tagebuch auf 77 Tonbandkassetten fest. Sie stirbt im September 1998. Hermann Simon, ihr Sohn, lebt in Berlin. Unter dem Titel "Untergetaucht" gibt er 2014 im S. Fischer Verlag die Lebenserinnerungen seiner Mutter heraus. 44 O-Ton 13 Man könnte jetzt an mich die Frage richten, warum ich mich nicht gleich nach dem Krieg, als man noch vieles hätte eruieren können, um diese Dinge gekümmert habe. Sie waren mir gleichgültig! Von Augenblick zu Augenblick habe ich darum gekämpft zu überleben. Alles was ich erlebt habe, war sehr kompliziert, zum Teil qualvoll, zum Teil zum Verzweifeln - und, das muss ich zugeben, es war auch herrlich als das ganz große Abenteuer meiner Jugend, und mir taten irgendwelche idiotischen Spießbürger leid, die eigentlich im Grunde überhaupt gar nichts erlebt haben.

Absage: Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz Sie hörten ein Feature von Ed Stuhler Es sprachen: Susanne Flury, Simone Pfennig, Daniel Berger. Tom Jacobs und Isis Krüger. Ton und Technik: Gunther Rose und Angelika Brochhaus

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Regie: Anna Panknin Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016

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