Hier stehe ich: Ich kann auch anders!

„Hier stehe ich: Ich kann auch anders!“ Plan-B-Gottesdienst zum Thema „Toleranz“ mit Bezug auf die ARD-Themenwoche vom 15. bis 21. November am Sonntag...
Author: Benjamin Lenz
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„Hier stehe ich: Ich kann auch anders!“ Plan-B-Gottesdienst zum Thema „Toleranz“ mit Bezug auf die ARD-Themenwoche vom 15. bis 21. November am Sonntag, 29. November 2014 (1. Advent) Evangelische Kirche Spielberg, Pfarrer Theo Breisacher

darum, wie wir den Frieden mit Gott finden können, können wir uns auf keine Kompromisse einlassen. Da sollten wir standfest sein wie seinerzeit Martin Luther. Er war damals in Worms ja immerhin so selbstkritisch dass er sinngemäß gesagt hat: Ich lasse mich gerne eines besseren belehren, wenn ihr mir nachweist, dass in der Bibel etwas anderes steht. Aber wenn ich die Bibel richtig gelesen und verstanden habe, kann ich von meiner Meinung nicht abrücken: „Hier stehe ich: ich kann nicht anders. Gott helfe mir!“

* Begrüßung Einen wunderschönen guten Morgen! Ich möchte Sie alle ganz herzlich zum Gottesdienst am 1. Advent begrüßen! „Hier stehe ich – ich kann auch anders“: Wir möchten noch einmal das Thema „Toleranz“ aufgreifen, das uns bereits vor drei Wochen beschäftigt hat. Jeder kennt das bekannte Zitat von Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms – heute mit einer klitzekleinen Änderung.

Auf der anderen Seite sind wir manchmal auch als Christen stur und eigensinnig, wo es gar nicht nötig wäre: Wenn es um Stilfragen geht, um persönliche Ansichten, um musikalischen Geschmack, um alltägliche Dinge, die man so oder so sehen kann. Da kämpfen wir manchmal um unsere Meinung, als würde das Seelenheil daran hängen – obwohl wir eigentlich ganz locker sein könnten.

Ich behaupte einmal, dass Christen beim Thema Toleranz vor allem zwei Fehler machen: Auf der einen Seite sind sie oft wachsweich, wenn sie standfest sein sollten. Und sie sind auf der anderen Seite oft stur und eigensinnig, wo es gar nicht nötig wäre – wo auch der andere mit seiner Sicht recht hat.

Zur Einstimmung dazu eine kurze Filmszene, die wahrscheinlich jeder von Ihnen kennt: Zwei Männer streiten sich in der Badewanne. Ich fand es interessant, diese Szene einmal unter dem Blickwinkel der Toleranz anzuschauen. [Filmszene von Loriot] Darum soll es gehen heute morgen! Ich wünsche uns allen gute Anregungen und Impulse!

* Hinführung zum Thema

Auf der einen Seite sind viele Christen in unserer Zeit verunsichert, wenn es um die Grundlagen unseres Glaubens geht. Viele sagen ja, wir wären intolerant, weil wir uns an Jesus und an die Bibel halten. Aber das müssen wir aushalten – Toleranz hin oder her: Wenn es um die Botschaft von Jesus geht und

Im nächsten Teil möchten wir bekannte Persönlichkeiten zu Wort kommen lassen, was ihnen am Thema Toleranz wichtig ist.

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Heiner Geißler beschreibt sehr zutreffend, dass Toleranz auch mit Mühe verbunden ist: Es kostet Kraft, das auszuhalten, dass andere Menschen Dinge, die mir persönlich wichtig sind, völlig anders sehen.

1) Evelyn Beatrice Hall Beginnen wir mit Evelyn Beatrice Hall: Von ihr stammt der Satz: „Ich missbillige, was du sagst, aber ich würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen“. Man hat dieses berühmte Zitat oft irrtümlich Voltaire zugeschrieben. Sie prägte den Satz aber selber und verwendete ihn in einer Biografie über Voltaire, um seine Vorstellungen zu illustrieren.

Er zeigt hier aber auch die Grenze der Toleranz auf: Man muss nicht alles gut heißen. Auch wenn man Respekt hat vor dem Menschen; seine Meinung und seine Ansichten kann man dennoch für extrem schädlich halten. Und das darf man dann auch sagen, ohne dass es dem Toleranzgebot widerspricht.

„Ich missbillige, was du sagst, aber ich würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen“: Wenn man hört, wie es Christen in anderen Ländern geht und wie sie dort unterdrückt werden, kann man gar nicht hoch genug schätzen, dass wir in unserem Land die Meinungsfreiheit haben.

3) Wolfgang Thierse Toleranz ist eine sehr anstrengende, herbe Tugend, denn sie meint – entgegen einer verbreiteten Stimmung – nicht Laisserfaire, Gleichgültigkeit, Beliebigkeit, auch nicht die Verständigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Bei der Toleranz geht es vielmehr um die schwierige Verbindung des eigenen Wahrheitsanspruchs mit der Anerkennung des Wahrheitsanspruchs des Anderen. Nicht gnädige Duldung, sondern Respekt ist die der Toleranz angemessene Haltung. Dieses Zitat hat mich selber ganz besonders angesprochen, weil Toleranz in unserer Zeit manchmal diesen gleichgültigen Touch hat: Alle haben Recht. Alles ist okay. Lass doch jeden das machen, was er will und gut findet.

2) Heiner Geißler Nein, man darf um die Wahrheit auch streiten. Man soll und man muss in einer Gesellschaft darum ringen, welche Werte für alle gelten. Und man muss es auch aushalten – gerade im Dialog mit anderen Religionen, dass man den andern von der Bibel her an wichtigen Punkten widersprechen muss.

Toleranz kommt vom lateinischen tolerare, was so viel wie „ertragen“ und „aushalten“ bedeutet. Tolerieren heißt, die Last zu ertragen, die eine andere Person, Meinung, Weltanschauung, Religion, Volkszugehörigkeit, Rasse für meine Überzeugung, meine Identität, mein Ehrgefühl oder meine Religion bedeutet. Intoleranz bedeutet dagegen die Unfähigkeit oder die Weigerung, eine solche Last zu tragen … Und weiter unten: Es gibt keine Freiheit für die Feinde der Freiheit und infolgedessen keine Toleranz für Islamisten, Salafisten und IS-Krieger, die als selbsternannte Ajatollahs ihre Wahrheit anderen Menschen mit Gewalt aufzwingen wollen. Intoleranz gilt für mich auch gegenüber allen Ehemännern, die in der Anonymität der Ehe Frauen und Kinder misshandeln und missbrauchen.

4) Johann Wolfgang von Goethe In eine etwas andere Richtung weist uns das folgende Zitat von Goethe: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.‘‘ Mit diesem Satz ist Goethe absolut modern, er zeigt damit aber auch ein Problem auf: Er fordert, dass man die Meinung des anderen nicht nur toleriert und respektiert, sondern auch für gut findet. Und da liegt der Knackpunkt!

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In der Öffentlichkeit wurden in den letzten Wochen zwei Begriffe heftig diskutiert: Toleranz und Akzeptanz. Auch in BadenWürttemberg, in der aktuellen Diskussion um die neuen Bildungspläne, geht es genau um diese beiden Begriffe. Die einen sagen – zum Beispiel unser Kultusminister Andreas Stoch: Man muss die sexuelle Vielfalt nicht nur tolerieren, sondern auch akzeptieren. Und das heißt: für gut befinden. Und in der Folge heißt das ganz praktisch, dies bereits den Schülern in allen Einzelheiten nahebringen. Ohne Wertung! Weil jede Orientierung angeblich gut sei!

finden soll: Keiner soll mich kritisieren. Ich lebe wie ich will – und das ist gut so.

Ich würde dagegenhalten: Wir müssen die sexuelle Vielfalt in unserem Land natürlich tolerieren – zumindest wenn es um Erwachsene geht. Aber es kann kein Mensch von mir verlangen, dass ich alles gut finden soll. Ich möchte auch weiterhin das Recht haben, gerade in diesem Bereich zu sagen: Es gibt Dinge, die ich von meiner Überzeugung her und von dem, was die Bibel sagt, nicht für gut halte und auch nicht für empfehlenswert. Deshalb will ich als Lehrer auch nicht dazu verpflichtet werden, das im Unterricht als völlig gleichwertig vermitteln zu müssen.

Davon handelt das nächste Lied, das uns zugleich zum nächsten Teil überleitet: Gott kennt auch unsere toten Winkel, er sieht unsern blinden Fleck, er berührt unsere wunden Punkte. Aber er tut es nicht, weil er intolerant oder arrogant wäre, sondern weil er uns helfen will, die Wahrheit zu erkennen. Wir singen dieses Lied gemeinsam mit dem Chor.

Das ist gerade für uns Christen beim Thema Toleranz natürlich der springende Punkt: Denn Gott selber nimmt sich die Freiheit, den Menschen immer wieder an dem einen oder anderen Punkt zu widersprechen. Gott liebt zwar jeden Menschen ohne Ausnahme. Er respektiert und akzeptiert ihn als Menschen ohne jede Einschränkung. Aber er findet nicht alles gut, was die Menschen machen. Und er sagt das dann auch ganz offen, wenn ihm etwas nicht passt.

* Lesung aus Lukas 19 Als Lesung hören wir heute zum 1. Advent die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem und was hinterher geschah. Dabei möchten wir diese Geschichte heute einmal unter der Perspektive der Toleranz hören: Wie versteht Jesus Toleranz? Und wie tolerant sind seine Gegner? 29 In der Nähe der Dörfer Betfage und Betanien, die beide am Ölberg liegen, schickte Jesus zwei seiner Jünger voraus mit dem Auftrag: 30 "Geht in das Dorf da vorne! Gleich am Eingang werdet ihr einen jungen Esel finden, der dort angebunden ist. Auf ihm ist noch nie jemand geritten. Bindet ihn los und bringt ihn her! 31 Sollte jemand fragen, was ihr da macht, dann sagt einfach: 'Der Herr braucht ihn.'"

5) Frank Zappa Noch ein letztes Zitat an dieser Stelle: Der Komponist und Musiker Frank Zappa hat einmal gesagt: „Das Wichtigste was du in deinem Leben tun solltest, ist, dich nicht in das Leben anderer einzumischen.“

32 Die Jünger fanden den Esel, wie Jesus es ihnen beschrieben hatte. 33 Als sie ihn losbanden, fragten die Besitzer: "Was macht ihr denn da?" 34 Sie antworteten: "Der Herr braucht ihn." 35 Dann brachten sie den Esel zu Jesus. Einige legten dem Tier ihre Mäntel auf den Rücken, bevor sich Jesus darauf setzte. 36 Auf dem Weg nach Jerusalem breiteten die Menschen ihre Kleider als Teppich vor Jesus aus.

Dem würde ich zunächst natürlich zustimmen: Mich würde es auch nerven, wenn mir ständig jemand reinredet und mir vorschreiben will, welchen Lebensstil ich wählen soll. Der Satz von Frank Zappa ist vermutlich aber auch in dem Sinne verstanden, dass man alles für gut

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37 Als sie auf der Höhe des Ölbergs angekommen waren, jubelten und sangen die Menschen. Sie dankten Gott für die vielen Wunder, die Jesus getan hatte. 38 Laut sangen sie: "Gelobt sei der König, der im Auftrag des Herrn kommt! Gott hat Frieden mit uns geschlossen. Lob und Ehre dem Allerhöchsten!"

es nicht, was sie aus dem Tempel gemacht haben: 45 Kaum hatte Jesus den Tempel betreten, da begann er, die Händler hinauszujagen, 46 und rief: "Ihr wisst doch, was Gott in der Heiligen Schrift sagt: 'Mein Haus soll ein Ort des Gebets sein', ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht!"

39 Empört riefen da einige Pharisäer aus der Menge: "Lehrer, verbiete das deinen Jüngern!" 40 Jesus antwortete ihnen nur: "Glaubt mir: Wenn sie schweigen, dann werden die Steine am Weg schreien."

Freie Meinungsäußerung war in der damaligen Zeit noch ein Fremdwort. Deshalb beschließen seine Gegner, massiv gegen Jesus vorzugehen: Sie haben schnell erkannt, welcher Zündstoff in der Predigt von Jesus steckt. Aber statt darauf zu hören, ob Jesus mit seiner Kritik nicht vielleicht recht haben könnte, versuchen sie ihn mundtot zu machen.

Eine typische Reaktion der Pharisäer: Wenn man die Wahrheit nicht hören will, schränkt man die freie Meinungsäußerung ein. Man verbietet es einfach, unangenehme Dinge beim Namen zu nennen: So haben sich Diktaturen und totalitäre Systeme schon immer verhalten. Jesus dagegen besteht darauf, dass die Wahrheit beim Namen genannt werden muss – ob man sie gerne hört oder nicht.

47 Jeden Tag sprach er im Tempel zu den Menschen, obwohl die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und führenden Männer des Volkes nach einer passenden Gelegenheit suchten, ihn umzubringen. 48 Noch konnten sie nichts gegen ihn unternehmen, denn die Menschen folgten Jesus überall hin und achteten auf jedes seiner Worte. Amen.

In der folgenden Geschichte zeigt Jesus, in welch tiefer Weise er selber Toleranz versteht: Er findet nicht gut, wie die Menschen leben. Und das spricht er auch aus in aller Deutlichkeit. Aber er lässt die Menschen auf dem falschen Weg nicht einfach laufen. Sie sind ihm nicht gleichgültig: Vielmehr wirbt er um sie und versucht sie von ihrem falschen Weg abzubringen:

* Predigt (Teil 1) Liebe Gemeinde, war Jesus gewalttätig? Sein Verhalten, als er die Händler aus dem Tempel hinausjagte, scheint ja nicht so ganz in das Bild zu passen, das wir sonst von Jesus haben. Im Johannesevangelium heißt es zu dieser Geschichte, dass sich Jesus sogar eine Geißel aus Stricken gemacht hätte, um die Geldwechsler und Verkäufer aus dem Tempel zu treiben. Da ging es also ganz schön zur Sache. Das ist nicht der sanfte und verständnisvolle Rabbi, der jeden versteht und für jede Sorge ein offenes Ohr hat.

41 Als Jesus die Stadt Jerusalem vor sich liegen sah, weinte er über sie. 42 "Wenn du doch nur erkannt hättest, was dir Frieden bringt!", rief er. "Aber jetzt bist du mit Blindheit geschlagen. 43 Der Tag wird kommen, an dem deine Feinde einen Wall um deine Mauern aufschütten und dich von allen Seiten belagern. 44 Deine Mauern werden fallen und alle Bewohner getötet werden. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Warum hast du die Gelegenheit nicht genutzt, die Gott dir geboten hat?"

Also: War Jesus gewalttätig und vielleicht doch nicht so vorbildlich und tolerant? Kam es selbst bei ihm vor, dass er mal ausgerastet ist und für einen Moment die Beherrschung verloren hat? Wenn wir einmal jähzornig sind, tun wir manchmal ja auch Dinge, die uns hinterher leid tun.

Und nun kommt eine Szene, die für Jesus im ersten Moment untypisch erscheint: Er jagt die Händler aus dem Tempel hinaus und wirft ihre Tische um. Wenn es um das Haus Gottes geht und um das, was dort geschieht, hat er Null Toleranz: Er toleriert es nicht und er akzeptiert

Manche werden das möglicherweise so sehen. Ich glaube aber, dass sein Verhalten an dieser Stelle genauso auch ein Ausdruck

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seiner Liebe zu den Menschen ist. Es ist lediglich die andere Seite der Medaille.

vor sich liegen sah, weinte er über sie: Wenn du doch nur erkannt hättest, was dir Frieden bringt.“

Toleranz heißt in unserer Gesellschaft ja oft: Man lässt den anderen in Ruhe, weil er sich so ganz anders verhält. Man kümmert sich gar nicht um ihn. Man lässt ihn laufen. Er ist einem letztlich egal: „Soll er doch mit seinen eigenen Idealen glücklich werden, so merkwürdig die auch sein mögen. Ich misch mich da nicht ein!“ Sie erinnern sich noch an das Zitat von Wolfgang Thierse, dass Toleranz oft genau in diesem Sinne verstanden wird als Laisserfaire, als Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit.

Auch in Lukas 13 wird berichtet, dass Jesus über Jerusalem geweint habe. Dort heißt es dazu: „Wie oft schon wollte ich deine Bewohner, Jerusalem, um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt! Aber ihr habt es nicht gewollt!“ (Lukas 13, 34) Das ist Toleranz im biblischen Sinne – auch wenn das Wort so nicht vorkommt: Niemals die Menschen verachten. Niemals auf sie herunterschauen. Ihnen immer wieder nachgehen, um sie doch noch zu gewinnen. Aber zugleich den Mut haben, die Wahrheit beim Namen zu nennen. –

Bei Jesus ist genau das Gegenteil der Fall: Es lässt ihn überhaupt nicht kalt, wenn die Menschen sehenden Auges in Verderben laufen. Es tut ihm in der Seele weh, wenn Menschen Tausend Dinge ausprobieren, aber das Glück des Lebens dennoch nicht finden. Er findet sich nicht damit ab, wenn der Kommerz im Haus Gottes – im Tempel – eine größere Rolle spielt als das Beten. Und er ist bereit, für seine spontane Aktion den Zorn seiner Feinde auf sich zu ziehen.

* Predigt (Teil 2) Von Margaret Thatcher stammt der Satz: „Toleranz lernt man am besten in der Ehe. Unverheiratete Politiker haben davon keine Ahnung“.

Aber eines tut er nicht: Er versucht nicht, die Menschen mit Zwang zum Glauben zu bewegen. Es heißt ausdrücklich, dass er an den folgenden Tagen ständig im Tempel war, um dort zu predigen und mit den Menschen zu sprechen. Jesus wollte also keine Zwangsbekehrungen mit der Peitsche in der Hand: Er zeigte zwar Null Toleranz dafür, dass das Haus Gottes missbraucht wurde. Aber die Menschen lagen ihm am Herzen: Bis zuletzt warb er um sie, damit vielleicht doch noch der eine oder andere zur Besinnung kommt. –

Lasst uns zum Schluss noch einen Moment über diesen Aspekt von Toleranz nachdenken. Ich hatte ja ganz am Anfang behauptet, dass Christen oft zu wachsweich sind, wenn sie standhaft sein sollten. Aber dass sie in solchen Bereichen oft stur und eigensinnig sind, wo es gar nicht nötig wäre.

Das Wort „Toleranz“ kommt in der Bibel im heutigen Sinne nicht vor. Aber von der Sache her werden in dieser Geschichte gerade die beiden zentralen Seiten von Toleranz eindrucksvoll beschrieben: Jesus sagt nicht zu allem Ja und Amen. Er akzeptiert nicht alles und jedes. Das ist die eine Seite. Aber er lehnt deshalb die Menschen nicht ab, obwohl sie dumme Sachen machen. Er kämpft um die Menschen, gerade weil sie nicht so leben, wie es gut ist. Er ringt um ihre Herzen, damit sie irgendwann vielleicht doch noch zur Einsicht kommen.

So scharf würde ich das nicht sagen. Auch Unverheiratete müssen und können das lernen, wenn sie mit anderen zusammenleben und zusammenarbeiten. Aber die Ehe ist ohne Zweifel eine gute Schule in Sachen Toleranz.

Der für mich wichtigste Satz steht nur wenige Verse vor der Geschichte mit der Tempelreinigung: „Als Jesus die Stadt Jerusalem

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Von Johann Friedrich Oberlin ist folgende Geschichte überliefert: Er arbeitete vor rund 250 Jahren als Pfarrer im Steintal, einer ärmlichen Gegend in den Vogesen. Für seine Traugespräche hatte er sich ein spezielles Bild gebastelt: Er hatte zwei unterschiedliche Bilder in Streifen geschnitten und sie abwechselnd im Zickzack wieder zusammengeklebt. Wenn man von der einen Seite auf das Bild geschaut hat, sah man das eine Motiv; von der anderen Seite her sah man ein ganz anderes Motiv.

Bild man wohin hängt. Welche Farbe der neue Boden bekommt. Für welche Kücheneinrichtung man sich entscheidet. Wie groß das neue Auto wird. Und und und. Das soll jetzt für die Unverheirateten kein Grund sein, erst gar nicht zu heiraten. Aber es ist gar nicht so einfach mit der Toleranz, wenn man zehn Jahre lang unter einem Dach wohnt. Oder zwanzig oder fünfzig Jahre lang. Da ist es manchmal eine Hilfe, wenn man einfach beide Möglichkeiten ausprobiert. Wenn man nicht nur diskutiert, sondern ausprobiert und schaut, wie es wird. Schon mancher musste dann hinterher zugeben: „Ist gar nicht so schlecht. Hätte ich mir gar nicht vorstellen können. War gut, dass ich das mal ausprobiert habe!“

Man erzählt, dass er sich einen Spaß daraus gemacht hätte, den Brautpaaren dieses Bild zu präsentieren. Er stellte den Bräutigam links des Bildes und die Braut rechts des Bildes und bat sie hintereinander, das Motiv zu beschreiben. Nicht selten – so wird erzählt – sei es zu einem handfesten Streit gekommen: peinlich genug für die Paare, sich schon beim Traugespräch und zudem vor den Augen des Pfarrers in die Haare zu kriegen: „Wie kannst du so etwas behaupten, das ist doch eine Blume!“ – „Ich bin doch nicht blöd: Dass das ein Vogel ist, sieht doch ein Blinder!“ Amüsiert habe Pfarrer Oberlin dem Treiben der beiden eine Weile zugeschaut und die Brautleute dann gebeten, einmal die Plätze zu tauschen, worauf sich der Konflikt dann schnell gelöst habe. –

Sicher muss das nicht immer so sein: Manchmal fühlt man sich hinterher nur bestätigt, dass man von Anfang an wusste, dass es einem nicht gefällt oder dass das nicht schmecken kann. Dann muss man eben losen, wer recht bekommt. Oder in den sauren Apfel beißen und den Geschmack des anderen ertragen. Aber manchmal kann man auch Neues entdecken! – Bei meiner Hochzeit vor über 25 Jahren wurde uns prophezeit, dass das nicht lange gut gehen würde mit unserer Ehe. Der Grund: Schon morgens beim Frühstück müssten wir zwei unterschiedliche warme Getränke brauen. Ich selber komme ohne Kaffee nicht so richtig in die Gänge. Meine Frau trinkt morgens schon seit Menschengedenken irgendwelche Kräutertees.

Von zwei Seiten aus betrachtet, kann ein und dieselbe Sache bekanntlich völlig unterschiedlich aussehen: Jeder hat Recht – zumindest aus seiner Perspektive. Aus seinem Blickwinkel. Wahrscheinlich könnte man in der Familie manche Konflikte dadurch entschärfen, dass man es macht wie bei Pfarrer Oberlin: Die Positionen wechseln. Sich einmal in den Blickwinkel des anderen hineindenken. Versuchen, die Sache mit seinen Augen zu sehen und zu verstehen.

Um ehrlich zu sein, hat die Bereicherung durch den andern an dieser Stelle noch wenig bewirkt: Meine Frau trinkt immer noch keinen Kaffee und ich selber habe meine Liebe zu Kräutertee immer noch nicht entdeckt und werde es in der verbleibenden Jahren wohl auch nicht mehr tun. Und dennoch sind wir glücklich verheiratet: Wir tolerieren den Geschmack des andern, ohne dass wir den Kaffee bzw. den Kräutertee des anderen als Bereicherung erfahren haben. Es gab aber manche andere Bereiche, wo wir uns angenähert haben. Wo wir durch den andern Dinge kennen gelernt haben, die uns vorher fremd waren. Die wir uns vorher vielleicht gar nicht richtig vorstellen konnten, dass das gut sein soll.

Toleranz heißt dann: Ich habe zwar Recht. Meine eigene Einschätzung der Sache war völlig richtig. Aber nur aus meiner Perspektive. Der andere hat genauso recht – aus seinem Blickwinkel und mit seinem Hintergrund. Toleranz kann aber auch heißen, dass man sich durch den anderen bereichern lässt. Als Ehepaar muss man ja ständig irgendwelche Dinge aufeinander abstimmen: Wie man das Wohnzimmer einrichtet. Wohin man in Urlaub fährt. Wie man den Salat anmacht. Welches

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Und das wünsche ich Ihnen genauso: In Ihren Ehen und Familien. In Ihren Wohngemeinschaften. Das wünsche ich uns für unsere Kirchengemeinde, für unser Dorf, für unsere ganze Gesellschaft: Dass wir die Unterschiede als Bereicherung erfahren. Und durch das Anderssein des anderen neue Dinge entdecken.

Herr Jesus Christus, aus Liebe hast du dich für uns alle geopfert, um uns zu retten und uns ewiges Leben zu schenken. Du hast die Herrlichkeit bei deinem Vater im Himmel verlassen, um ganz nahe bei uns zu sein. Herr, wir können nur ansatzweise verstehen, was du für uns getan hast. Aber wir möchten dir danken und dich preisen für deine unbeschreibliche Liebe zu uns.

Mit Menschen zusammenzuleben, die anders sind, kann manchmal sehr sehr mühsam sein. Es kann aber auch bereichernd sein, wenn man – im richtigen Sinne – tolerant ist und bereit, sich vom andern überraschen zu lassen. Amen.

Hilf doch, dass wir diese wunderbare Botschaft weitersagen. Schenke uns die richtigen Worte, damit wir verständlich von dir reden können. Hilf doch, dass man es uns abspürt, dass wir von dir ergriffen sind und alles von dir erwarten.

Zu diesem Thema passt ein Lied, das die meisten kennen und das man in diesem Zusammenhang einfach singen muss: „Gut dass wir einander haben …“

Herr Jesus Christus, wir bitten dich für unsere Begegnung mit solchen Menschen, die etwas anderes glauben oder sich für einen ganz anderen Lebensstil entschieden haben: Hilf uns, dass wir ihnen in der gleichen Liebe begegnen, wie du den Menschen begegnet bist. Schenke uns Mut, damit wir uns nicht verstecken mit unserer Meinung, sondern voller Freude von dem erzählen, was du für uns bedeutest. Gib uns auch den Mut, auf Dinge hinzuweisen, die in deinen Augen nicht gut sind. Hilf uns aber auch, dass wir dabei nicht überheblich wirken. Schenke uns ein Gespür dafür, wo der andere gerade steht, damit er nicht vor den Kopf gestoßen wird, sondern ins Nachdenken kommt.

* Fürbittengebet

Herr Jesus Christus, wir bitten dich für das Zusammenleben in unseren Ehen und Familien, in unserer Kirchengemeinde, in unserem Dorf, in unserer ganzen Gesellschaft: Gib uns die Kraft und auch den Willen dazu, trotz Unterschiede in Frieden zusammenzuleben. Hilf, dass wir nicht stur auf unserer Meinung beharren, sondern die eigene Position immer wieder hinterfragen lassen.

Herr Jesus Christus, wie du damals den Menschen begegnet bist, das berührt uns immer wieder neu: Du hast niemand verachtet. Du hast niemand überheblich behandelt. Du hast niemand abgewiesen, der mit seiner Not zu dir kam. Du hast dich auch um diejenigen gekümmert, die keine so vorbildliche Lebensbilanz vorweisen konnten. Du hast dich sogar um diejenigen bemüht, die dich abgelehnt haben.

Schenke uns die Kraft, uns in den anderen hineinzuversetzen und zu verstehen, weshalb er eine Sache völlig anders sieht. Und wenn es möglich ist, lass uns die Unterschiede zwischen den Menschen immer wieder auch als Bereicherung erfahren.

Wir bitten dich: Hilf doch, dass wir das auch heute noch genauso so erleben und erfahren! Hilf, dass keiner enttäuscht wird, der sich im Gebet an dich wendet.

Vater Unser im Himmel …

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