„… hier darf ich’s sein.“ von Irene Grüter Der Heimspiel-Fonds der Kulturstiftung des Bundes fördert Theaterprojekte, die neue Berührungspunkte zwischen Städten und ihren Bewohnern schaffen. „Theater, für wen eigentlich?“, fragte das Deutsche Nationaltheater in Weimar und öffnete die große Bühne für die Skater vom Theaterplatz. My God Rides a Skateboard, ein Projekt mit 17 Laiendarstellern und zwei Schauspielern, provozierte eine Diskussion über den fehlenden Raum für Subkultur in der Klassikerstadt. Tau auf den Tischen vor dem Eiscafé, eine Katze huscht hinter den „City Kebab“, zwei Damen mit Henkeltaschen steuern zum Kaufhaus schräg gegenüber. Die Welt dreht sich noch langsam an diesem stillen Vormittag auf dem Weimarer Theaterplatz. Ein Panflötenspieler breitet seine Decke aus, drei Bärtige mit Bierflaschen richten sich nach der ersten Morgensonne und Musikstudenten, die Instrumentenkästen gebuckelt, ziehen eine eilige Diagonale über den Platz, ohne einen Blick für das berühmte Denkmal vor dem Stadttheater. Goethe tätschelt Schiller gönnerhaft die Schulter, beide blicken unbeteiligt ins Weite, als wäre alles, was nach ihnen kam, nur ein zu lang geratener Epilog auf die Meisterwerke der Deutschen Klassik. In ihrem Rücken strebt die tempelartige Säulenfront des Deutschen Nationaltheaters nach Höherem: eine adrette Kulisse für unzählige Gruppenfotos, die vor dem Denkmal arrangiert werden. Gegen Mittag belebt sich der Platz, Jugendliche kurven mit Skateboards auf dem glatten Belag, fliegen über den welken Blumenkranz hinweg, den jemand den Dichterfürsten zu Füßen gelegt hat. Nicht immer verläuft das Nebeneinander so friedlich wie heute. Besonders die BMXFahrer und Skater sind ungern gesehen, weil sie nicht ins herausgeputzte Stadtbild passen, die Theaterbesucher stören und die Sandsteinstufen beschädigen, erzählt Lutz Keßler, der vor zwei Jahren als Dramaturg ans DNT kam. Seither fasziniert ihn das kleine Welttheater auf dem Vorplatz. Und doch bleibt es befremdlich, dass die vielen Akteure, die den Ort für sich als Bühne nutzen, mit dem Haus nicht in Berührung kommen. Ein Stadttheater, das zwar im Zentrum steht, aber mit einem Großteil der örtlichen Bevölkerung nichts zu tun hat? „Theater, für wen eigentlich?“ Die Grundsatzfrage wurde zum Untertitel eines Projekts mit dem Ziel, Menschen auf dem Vorplatz zu ihrer Sicht des Theaters zu befragen und sie einzuladen, einen Abend auf der großen Bühne zu gestalten.

* Die Recherchen führten schnell weg vom Theaterplatz, zu lokalen Vereinen, nach Weimar West und in die Sprayerszene. Das ursprüngliche Ziel, Teilnehmer aus möglichst verschiedenen Alters- und Bevölkerungsgruppen zu finden, ließ sich nicht so leicht umsetzen. Viele waren interessiert, doch kaum jemand hatte genug Zeit und Disziplin, fünf Wochen regelmäßig zu proben. Sicher trug auch das Thema dazu bei, dass sich vor allem junge Leute angesprochen fühlten, denn im Mittelpunkt des Projekts sollte der Konflikt mit den Skatern stehen. Skater und BMX-Fahrer auf der großen Bühne des Deutschen Nationaltheaters? Wo die Meisterwerke der Deutschen Klassik, wo Wagner und Liszt uraufgeführt, wo die Weimarer Republik gegründet wurde? Keine geringe Provokation in einer Stadt, die traditionell von ihrem Ruf als Hort der Hochkultur lebt. „Viele Jugendliche, auch Künstler beklagen sich darüber, dass es in der Kulturstadt Weimar keinen Raum für Subkulturen gibt“, sagt Jonathan Loosli, der an den Vorbereitungen für das Heimspiel-Projekt beteiligt war. Seit zwei Jahren ist er im Ensemble des DNT, und auch er verspürt ein Unbehagen mit dem Stadttheaterbetrieb, der ihm, bei aller Freude an der Arbeit, oft hermetisch erscheint. „Es gibt eine Identitätskrise, eine Leerstelle in dieser Form der Hochkultur“, sagt er. „Eigentlich ist es doch absurd, dass hoch subventionierte Betriebe zusätzlich gesponsert werden müssen, damit sie etwas mit der Stadt zu tun haben.“ * Etwas mit der Stadt zu tun haben. Im Vergleich zu Schillers Hoffnung, die Bühne solle zur „vierten Macht im Staate“ werden, klingt der Wunsch fast bescheiden. Wer die Forderung der Aufklärer, die Bühne als Forum bürgerlicher Öffentlichkeit zu begreifen, heute ernsthaft realisieren will, steht vor einer großen Aufgabe. Denn die Auseinandersetzung im Theater bleibt auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt; immer wieder kommt der Vorwurf des Elitären auf. Nicht Aufklärung kann also die Aufgabe sein, sondern Partizipation. Ein Gang durch das gepflegte Idyll der Innenstadt macht deutlich, warum Subkultur hier kaum Fuß fassen kann. Im Disneyland für Kulturfreunde schläft man im Johann-SebastianBach-Zimmer, frühstückt vor Lottes Schattenriss, promeniert an Hitlers Lieblingshotel vorbei zu den grünen Gärten an der Ilm. Vor Goethes Gartenhaus wandeln ältere Herren mit StudiosusRucksack und rezitieren laut aus dem Gedächtnis. In Weimar einen Ort zu finden, wo eine Sprungrampe für Skater nicht das Stadtbild stören würde, fällt tatsächlich schwer. * Mit dem Bus in Richtung Buchenwald. Die Probebühne des Deutschen Nationaltheaters Weimar (DNT) liegt an der Peripherie der Stadt, irgendwo zwischen Brachland und Neubauten. Auf einer bräunlichen Hauswand steht in roten Lettern: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass 2

etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“ Auf der Wand eines Obdachlosenheims wirken Václav Havels vielversprechende Worte beinahe zynisch. Auf der anderen Straßenseite, in einer ehemaligen Offizierszentrale, liegt der Proberaum. Ein übermannshoher Pandabär schaut aus dem Fenster, neben Skateboards ein Rollstuhl, bunte Kittelschürzen liegen herum. Die Teilnehmer haben sich die Requisiten aus dem Fundus zusammengesucht, nun sitzen sie in einer Sofaecke und diskutieren, was sie mit dem gemeinsamen Theaterabend eigentlich wollen. Erstaunlich vertraut wirkt die Gruppe, obwohl sie erst eine Probewoche hinter sich hat. Tom, mit 19 Jahren einer der Jüngsten, macht eine Lehre als Sportfachverkäufer und gehört zu den BMX-Fahrern, die auf dem Theaterplatz üben. Er habe gleich Lust gehabt, auf der großen Bühne aufzutreten, „um einmal zeigen zu können, was das für eine Körperbeherrschung braucht, was wir machen“. Zusammen mit seinen Kollegen baut er während der fünfwöchigen Probezeit in den Werkstätten des Theaters eine Rampe, die während der Vorstellung auf der großen Bühne stehen wird. Auch Lucian, ein Experte aus der Sprayerszene, möchte öffentlich demonstrieren, welche Kunstfertigkeit sich hinter der Graffiti-Technik verbirgt. Mario, mit 34 Jahren der Älteste, ist als Sozialarbeiter in mehreren Projekten engagiert, findet aber keine feste Anstellung und lebt von Hartz IV. * Auf den ersten Blick wirken die siebzehn Teilnehmer wie vergnügte Pfadfinder, doch in den Pausen tauchen Fetzen am Gesprächsrand auf, die andeuten, dass nicht alle Biographien so bruchlos verlaufen sind, wie es den Anschein hat. Beim Kochen auf zwei lauwarmen Herdplatten ist vom Jugendgericht die Rede, von Drogenerfahrungen, Gewalt in der Beziehung, Begegnungen mit der rechten Szene, Teenager-Schwangerschaften. Das Wasser für die Spaghetti kocht, Sven Miller streckt hungrig den Kopf durch den Türrahmen, es ist drei Uhr nachmittags. „Wir machen übelst viel“, versichert Frizzi mit ihrem blausten Augenaufschlag, und der Regisseur befindet, das sei genau die richtige Menge. Später wird er sagen, dass er Theater als Lebensform begreift; die politische Dimension der Kunst sehe er in der Arbeit im Kollektiv. Der ausgebildete Schauspieler stammt aus dem Ruhrpott, lebt seit rund 20 Jahren in den USA und unterrichtet heute an einer Universität in Bloomington. Es ist nicht sein erstes Projekt mit Laiendarstellern, unter anderem arbeitete er mit den Insassen eines New Yorker Gefängnisses, in Psychiatrien und Schulen. Sein Konzept für den Abend hört sich zu diesem Zeitpunkt noch vage an. Die Teilnehmer sollen selbst bestimmen, was sie auf der Bühne zeigen wollen. Er hat sie beauftragt, kurze Texte zu schreiben, die etwas mit ihrer Biographie zu tun haben. Nach dem Essen 3

assoziiert die Runde weiter. Es ist kaum vorstellbar, dass in vier Wochen aus den losen Ideen ein zusammenhängender Theaterabend werden soll. Frizzi malt Herzchen in ein rosa Notizbuch, schaukelt mit dem Stuhl und guckt ihren demonstrativen „Ich-denk-an-was-ganz-anderesBlick“. Steini trommelt energetisch auf dem Bühnenrand, bringt mit zwei Holzschlägern alles ins Klingen, was ihn umgibt. Noch steht die Gruppenbildung im Vordergrund, von einer Dramaturgie ist wenig zu erkennen. Es gehe nicht in erster Linie um das künstlerische Resultat, sagt Sven Miller. „Wichtig ist der Prozess.“ Später kommen drei ältere Frauen vom Obdachlosenheim vorbei, die Interesse am Projekt bekundet hatten. Vor Verlegenheit albern sie rum wie kleine Mädchen, spüren, dass sie nicht recht zur jungen Gruppe passen. Eine hat vor vielen Jahren als Putzfrau im DNT gearbeitet. Wann sie zum letzten Mal im Theater war? „Och Mensch!“ Sie kichert, winkt ab. „War noch zu DDR-Zeiten.“ Auf die Frage, ob sie nun mitmachen wollen, antworten die drei verlegen: „Das is nüscht so eenfach.“ Dann zotteln sie ab. Die Gruppe wirkt halbwegs erleichtert, doch es bleibt ein Unbehagen zurück. Wieder wird diskutiert, ein gereizter Unterton macht sich breit. Frizzi erzählt, wie sie sich ihren Auftritt vorstellt. Wie eine Diva möchte sie erscheinen, sich über den Flügel legen und singen. Dann möchte sie das puppenhafte Bild in irgendeiner Form brechen: „Damit die Leute sehen, wie ich wirklich bin“, sagt sie. Als Eve Kolb, eine Schauspielerin aus dem Ensemble, genau nachfragt, was sie damit beabsichtigt, bekommt Frizzi glänzende Augen und geht raus. Es ist noch nicht so lange her, dass sie sich bei „Deutschland sucht den Superstar“ beworben hat, in den Endrunden der Vorauswahl gescheitert ist, kommentiert von Dieter Bohlen und der Boulevardpresse. Sackgasse in der Diskussion. Wie umgehen mit den Bedürfnissen von nicht professionellen Darstellern, die auf der Bühne aus ihrer Biographie erzählen sollen? Irgendwann platzt Eve die Hutschnur: „Soll das so ne Art Selbsttherapie werden, oder was?!“ Selbsttherapie – weder der Regisseur noch der Dramaturg finden den Ausdruck angebracht, doch zeigt der kurze Moment der Irritation, wie heikel die Arbeit mit Laiendarstellern sein kann. „Man muss wahnsinnig acht geben, dass man die Leute nicht vorführt“, sagt Jonathan. Und Eve erklärt, sie werde eine grundsätzliche Ambivalenz in Bezug auf solche Projekte nicht los: „Was will das Theater, wenn es sich dem „kleinen Mann“ von der Straße zuwendet? Da bin ich unsicher. Wenn ich es ernst meine, dass ich etwas verändern will im Leben der Leute, muss ich mich doch fragen, warum ich dann nicht Sozialarbeiter werde wie Mario.“ *

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Wo hört die Wirkungsmacht des Theaters auf, wo beginnt die Sozialarbeit? Projekte mit Laien bewegen sich in einer schwer definierbaren Schnittmenge, auch was den künstlerischen Anspruch betrifft. Ohne zusätzliche Mittel sind Stadttheater dieser Aufgabe nicht gewachsen, sagt Stephan Märki, Generalintendant am DNT, und spricht vom Grundauftrag des Theaters: „Ein Stadttheater macht nur Sinn, wenn es eine Kommunikation mit der Stadt herstellt.“ Gerade in Weimar sei das keine einfache Aufgabe. Zwar gibt es eine starke Bürgerbewegung, die sich vehement für ihr Theater einsetzt, wenn die Landesregierung wieder einmal das Thema der Fusion mit dem benachbarten Theater Erfurt aufs Tablett bringt. Doch zwei Drittel der Theaterbesucher sind Touristen, die mit einer klaren Erwartungshaltung an den Klassiktempel herantreten. Dagegen richtet sich My God Rides a Skateboard dezidiert an die Einwohner: „In einer kleinen Stadt wie Weimar funktioniert ein solches Projekt wie ein Brennglas“, sagt Märki. „Ich hoffe, dass hier eine Toleranz gegenüber anderen Lebensformen geweckt wird. Beide Seiten brauchen diese Reibung, das Publikum wie die Skater.“ Und auch das Haus selbst, denn viele Mitarbeiter sind nicht einverstanden, dass die große Bühne des Deutschen Nationaltheaters den Skatern zur Verfügung gestellt werden soll. * Vier Wochen später. Nach der holprigen Generalprobe auf der großen Bühne feiert die Gruppe noch einmal ungestört am Kebab-Stand. Was am nächsten Tag geschehen wird, wenn die Spieler mit ihren persönlichen Geschichten vor 600 Zuschauern stehen werden, kann sich in diesem Moment keiner vorstellen. Eine Dreiviertelstunde vor der Premiere füllt sich der Theaterplatz. Izak, der Rapper, und Steini ziehen wie die Marktschreier durch die Gassen, treiben das Publikum mit Megaphon und Schlagzeug herbei. Das prunkvolle Portal bleibt zu; kein Foyer in Samtrot, kein Goldrand an diesem Abend. Die Darsteller führen die Zuschauer zu einem schäbigen Hintereingang, durch die Kantine und verzweigte Gänge, vorbei an Requisiten und Kostümständern, mitten auf die große Bühne. Von dort steigen die Zuschauer herab in den Saal. Die erste unsichtbare Grenze ist überschritten, hier sind alle als Akteure gefragt. Während des Einlasses werden Antworten aus den Umfragen abgespielt. „Subkultur ist, wenn man meint, man kann seinen Müll überall hinschmeißen“, sagt eine Frauenstimme. Greifbare Spannung im Raum. Martin, mit Goethe-Perücke, dreht weite Kreise mit dem Skateboard, springt ab, stellt sich frontal zum Publikum. Abwechselnd kommen die Schauspieler an die Rampe, stellen sich vor. „Für mich ist Adrenalin“, sagt Mario, „wenn ich Post vom Arbeitsamt bekomme.“ Izak antwortet: „Für mich ist Adrenalin, wenn ich keine Post vom Arbeitsamt bekomme.“ Mit enormer Bühnenpräsenz performen sie ihre Anliegen, immer mit einer Spur ironischer Distanz. 5

Als hätten sie naturgemäß erfasst, was Brecht mit dem Verfremdungseffekt gemeint hatte. „Ich spiele mich selbst in der Form von Goethe“, sagt Martin auf die Frage, was er eigentlich darstellt. Mario stöckelt als Queen of Night an die Rampe, berichtet in Lackleder und Platinblond von seiner Erfahrung als Homosexueller in Weimar und lässt sich nicht von Kommentaren aus dem Publikum beirren. Als er seine Perücke abnimmt und mit spiegelnder Glatze von seinem Alltag als Sozialarbeiter in den Vororten erzählt, wird es still im Saal. Frizzi, im weißen Glitzerkleid und goldblonder Lockenpracht, lümmelt sich auf dem Flügel wie ein Mädchentraum und singt, von einer Kamera gefilmt und medial vergrößert. Später kommt sie in ihren Alltagskleidern zurück. „Ich weiß, dass ich schön bin“, sagt sie und doppelt nach, als die Zuschauer lachen: „Das ist eine Tatsache.“ Dann spricht sie über ihr Selbstbild, tritt von ihrer Funktion als Projektionsfläche zurück. Auf der Leinwand erscheint die Schrift: „Graffiti, für wen eigentlich?“ Lucian fragt das Publikum, ob Kunst sich dadurch auszeichne, dass Bilder im Museum hängen. Ein Video zeigt, wie er die Säulen des Theaterportals besprüht; geschützt von zwei Stellwänden, die nun mit seinem Werk vom Bühnenhimmel heruntergelassen werden. Schritt für Schritt bricht der Außenraum ins Theater ein, bis das geschützte Innere endgültig implodiert. * Die große Stunde der BMXer. Was sie auf der selbstgebauten Rampe zeigen, gleicht einer Akrobatiknummer auf Zirkusniveau. Das Publikum zuckt bei jedem Sprung, antwortet mit überwältigendem Applaus auf das Spektakel unter dem Goldportal. Ein Fahrer nimmt das Mikrophon: „Wir haben jetzt zwar eine Rampe, aber noch keinen Ort, wo sie stehen kann. Wer hat einen Vorschlag?“ Gäste aus dem Publikum werden auf die Bühne gebeten. Die Streetworkerin Kathrin Schuchardt, die das Projekt begleitet hat, moderiert die Diskussion über die Problematik der Skater auf dem Theaterplatz. Zwei Wochen später wird das Gespräch mit dem Oberbürgermeister fortgesetzt. Der Höhepunkt des Abends gehört Izak. „Schwarz oder weiß / rechts oder links ich weiß nicht / wenn ich meinen augen trau / dann ist grau geradeaus / sag mir was beeinflusst / ob du freund oder feind bist / musst du dich entscheiden.“ Rhythmische Wellen laufen durch seinen Körper, er verflicht eigene Texte mit Passagen aus dem Prolog zu Goethes Faust. „Hier bin ich Mensch“ ruft er, und aus dem ehrwürdigen Saal des DNT kommt es rhythmisch zurück: „Hier darf ich sein.“ Als er nach der Vorstellung auf dem Balkon steht und über den Theaterplatz hinweg rappt, wirkt er wie ein Eroberer am Ende seines Triumphzugs. In der Menge stehen Goethe und Schiller auf stämmigen Waden und blicken ins Nachtdunkel. 6

* Er werde die Skater in Zukunft mit anderen Augen sehen, sagt ein älterer Abonnent nach der Vorstellung, auch wenn ihm die Behandlung der Themen in der dynamischen Nummernrevue insgesamt zu oberflächlich schien. „Ich verstehe das als Aufschrei, als Protestveranstaltung, und daher sollte man den Abend nicht nach den Kriterien bewerten, die für die normale Theaterkultur gilt. Es ist eine Herausforderung, Stellung zu nehmen.“ Wenn Kunst wahrnehmungsverändernd wirken soll, so hat dieses Projekt das Ziel in mehrerer Hinsicht erreicht. Der Austausch hat funktioniert; schließlich haben die sympathischen jungen Wilden auch dem Theater seine Dialyse verschafft, wie es Eve grinsend formuliert. Viele der Spieler sind zum ersten Mal im Theater gewesen, brennen darauf, weiterhin zusammenzuarbeiten. Und auch für die Rampe der Skater hat sich, zumindest vorübergehend, ein Platz gefunden. Die örtliche Leiterin der Deutschen Bank sicherte nach der zweiten Vorstellung spontan einen Beitrag für den Unterhalt zu. * Zwei Monate später trauert Lutz Keßler, dass die Arbeit endgültig vorbei ist. „Es waren so starke Talente dabei. Da ist ein großes Bedauern, weil man weiß, dass viele wieder verschüttet werden.“ Und nach einer Pause fügt er hinzu: „Jetzt bräuchte es Nachhaltigkeit. Die Zeit hat bei allen Mitwirkenden unglaublich viel bewegt, aber nun müsste man kontinuierlich weiterarbeiten, damit sich bei ihnen wirklich etwas verändert.“ Hier stößt das Theater an Grenzen. Mehr, als hier erreicht wurde, kann ein einzelnes Projekt nicht leisten. Doch um das Potential ernsthaft zu nutzen, das in der Verbindung von sozialer Arbeit und Theater steckt, müssten noch ganz andere Mittel mobilisiert werden. Die Diskussion, mit welcher langfristigen Wirkung, mit welchem gesellschaftspolitischen Ziel sich die Stadttheater für „theaterferne“ Gruppen öffnen sollen, bleibt noch zu führen. Am nächsten Morgen wirkt der Theaterplatz ganz unberührt. Auf Schillers Kopf sitzt eine Taube, der Blumenkranz auf den Stufen des Denkmals ist verschwunden. Irene Grüter, geboren 1979 in Zug (CH), studierte Germanistik und Geschichte in Bern. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Journalistin. Irene Grüter gehörte zu den Nachwuchsjournalistinnen, die für die tt-festivalzeitung des Berliner Theatertreffens 2006 schrieben. Dieser Artikel erschien im Magazin Nr. 10 der Kulturstiftung des Bundes. Sie können das Magazin kostenlos beziehen über: www.kulturstiftung-bund.de

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