Gottesdienst am 11. November 2007

Gottesdienst am 11. November 2007 in der Kreuzkirche in Reutlingen Predigttext Lukas 18,1-8 Predigt: Pfarrer Stephan Sigloch I. Text (Lutherübersetzun...
Author: Anke Hofmeister
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Gottesdienst am 11. November 2007 in der Kreuzkirche in Reutlingen Predigttext Lukas 18,1-8 Predigt: Pfarrer Stephan Sigloch I. Text (Lutherübersetzung) Er sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: “Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: ‘Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!’ Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: ‘Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage’.” Da sprach der Herr: “Hört, was der ungerechte Richtern sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du er werde Glauben finden auf Erden?”

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II. Worum es geht Jesus erzählt immer wieder Gleichnisse - liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde. Nicht immer ist klar, wozu er ein Gleichnis erzählt. Hier allerdings lässt Lukas von vorne herein keinen Zweifel, worum es geht: “Er sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten”. Es geht um das Beten! Darum, wie oft, wie ausdauernd, wie hartnäckig wir beten. Vielleicht steht dieser erklärende Satz gleich am Anfang, weil die Geschichte selber mit unseren Vorstellungen vom Beten so wenig übereinstimmt: die beiden Personen, Richter und Witwe, passen irgendwie nicht in unser Bild vom Beten. Betende Menschen - haben wir da nicht ganz automatisch in sich gekehrte, stille und alles duldende Menschen vor Augen. Einigen kommt vielleicht auch das Bild Dürers, das seine berühmten betenden Hände zeigt: andächtig zusammen gelegt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ich selber tue mich etwas schwer mit dem allzu demütigen, andächtigen und scheinbar der Welt entrückten beten. - Aber wenn ich mich in die Geschichte hinein versetze, dann erlebe ich ebenfalls manches, was ziemlich nervig ist.

III. Die Geschichte Der erste Blick gilt dem Richter. Ihm ist auf den ersten Blick nichts heilig - außer seinem eigenen Profit. Gott und die Welt sind ihm gleichgültig, moralisch ist ihm nicht beizukommen, denn Moral bedeutet ihm nichts. Er gibt dem Recht, der es sich leisten kann, ein günstiges Urteil bei ihm zu kaufen. Auf die Witwe reagiert er gar nicht groß. Wozu auch? Ihm selber bringt es nichts und sie ist ihm egal. Seien wir ehrlich: Wir alle kennen wohl Menschen, die sich wie der Richter nur um sich selber drehen; und wir kennen solche Züge auch bei uns selber, nicht wahr? Schon die Person des Richters ist für mich irgendwie anstrengend und nervig mit ihrer Arroganz, der nicht beizukommen ist. Müssten vor einem Richter nicht alle Menschen gleich sein? Er aber hat den Satz für sich ergänzt: “Alle Menschen sind gleich ... mir jedenfalls”. Dann kommt die Witwe in’s Bild. Sie ist offensichtlich allein, kinderlos geblieben. Wir denken vermutlich an eine ältere Frau, das muss aber keineswegs so sein. Wer damals zur allein stehenden Witwe wurde, hatte sozial und rechtlich einen schweren Stand. Dazu passt, dass sie einen “Widersacher”hat: da gibt es einen Gegner, mit dem sie im Streit liegt, weil er ihr Recht missbraucht. So fordert sie vor Gericht ihr Recht. Nicht nur einmal. Sondern wieder und immer wieder. Unermüdlich. Unerbittlich. Hartnäckig. Und irgendwann erfolgreich. Weil der Richter sie irgendwann nicht mehr ignorieren kann. Schließlich hat sie ihn sogar soweit gebracht, dass er einen öffentlichen Skandal fürchtet. Die Witwe und ihr Fall sind ihm immer noch gleichgültig. Aber vielleicht geht es ihm ähnlich, wie den Menschen, die zur Zeit in verschiedenen TV-Werbespots für einen Baumarkt zu sehen sind: da 2

wird einer von seiner klappernden Tür, ein anderer von seiner tropfenden Dusche verfolgt. Im nächsten Bild reparieren sie - und ein Stimme sagt am Ende: “Mach es fertig, bevor es dich fertig macht”. Vielleicht war es ja das, was den Richter schließlich in Bewegung gebracht hat. Trotzdem: Auch diese Frau hat Züge, die mich anstrengen und nerven. Kennen Sie das? Da stellt ihnen jemand eine Frage - und wenn die Antwort nicht die gewünschte ist, stellt er die Frage einfach wieder. Und wieder. Und wieder ... Das sind ja nicht nur die endlos quengelnden Kinder am Süssigkeiten-Regal. Das erleben wir in Diskussionen darum, wann Jugendliche daheim sein müssen und überhaupt wenn’s um Regeln oder um Fragen des Zusammenlebens geht, im Konfis, in der Schule, in der Familie. Ich kenne es von Elternabenden in der Schule, aus Sitzungen (zB im Gesamtkirchengemeinderat) - und wir erleben es sicherlich noch in vielen anderen Situationen, die Sie aus eigener Erfahrung kennen: in den Firmen, in Vereinen usw. ... Ich persönlich finde es furchtbar anstrengend, kann ganz schlecht damit umgehen und schaffe es nie lange, ruhig zu bleiben, wenn jemand immer wieder mit demselben anfängt, wenn es scheinbar längst geklärt ist. Deswegen merke ich, dass auch diese Witwe bei mir ein gewisses Unbehagen auslöst. Fast habe ich Verständnis für den Richter. Am Ende gibt der Richter nach. Nicht aus Einsicht in den juristischen Fall. Er fürchtet den Skandal. Und spricht Recht. Und Sie: Sie hat erreicht, was sie wollte. Sie hat am Ende doch Recht bekommen. Es ist eine laute Geschichte. Keine andächtige. Weit weg von unseren Vorstellungen vom Beten. Und es soll dennoch eine Ermutigung zum Beten sein. - Aber da stehe ich vor einem Hindernis:

IV. Recht - nicht Egoismus Ich hab’s angedeutet, liebe Gemeinde: in beiden Figuren, sowohl in der Gestalt des Richters, als auch in der der Witwe erkenne ich Verhaltensweisen (wieder), die mir in anderen Menschen und auch bei mir selber begegnen und die ich ziemlich anstrengend und nervig finde. Das erschwert mir den Zugang zu diesem Gleichnis. Soll ich meine Kinder, die Konfis, die Schüler dafür loben oder sie dabei anfeuern, dass sie unter allen Umständen ihre eigenen Interessen durchsetzen? Soll ich ungerührt anderen Menschen dabei zusehen, wie sie ohne Rücksicht auf andere ihre eigenen Interessen durchsetzen? - Da ist mir der Zugang zum Gleichnis versperrt. Ich finde ihn wieder, wenn ich genau lese: ‘Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!’ fordert die Witwe vom Richter. Es geht um ihr Recht! Sie lebt - im Unterschied zum Richter - nicht ihren Egoismus aus. Sie kämpft um ihr Recht. V. Wer das Reich Gottes nicht annimmt, wie ein Kind... Mit dieser Unterscheidung - geht es um ein Recht oder um egoistische Interessen? - habe ich 3

einen Punkt, an den ich anknüpfen kann: Sie befreit die Hartnäckigkeit der Witwe von allen Missverständnissen, indem sie unsere Erfahrungen mit Anderen und mit uns selber einordnet, nicht wahr? Und dann gewinnen wir nämlich - so richtig verstanden - auch der Hartnäckigkeit unserer Kinder und Jugendlichen unter den entsprechenden Umständen etwas Positives ab. So wie das Gleichnis heute die Witwe in unser Blickfeld rückt, so weist uns Jesus bei jeder Taufe auf die positive Hartnäckigkeit unserer Kinder hin. In der Lesung zur Taufe zitieren wir jeweils den Satz: “Wer das Reich Gottes nicht annimmt, wie ein Kind ....”. Kinder finden sich nicht einfach ab. Kinder klagen ein, was wir ihnen versprochen haben. Sie lassen nicht eingehaltene oder noch unerfüllte Versprechen - genau wie die Witwe das Recht, das ihr zusteht - eben nicht auf sich beruhen! “Aber du hast gesagt ....!” Daran sehen wir, ob Kinder unsere Versprechen ernst nehmen.

VI. ... allezeit beten und nicht nachlassen ...!? Das Gleichnis zielt darauf, uns zu ermutigen, dass wir “allezeit beten und nicht nachlassen” sollen. - Die allermeisten von uns haben Erfahrungen mit dem Beten: die einen mehr, die anderen weniger. Immer wieder sind wohl auch solche Erfahrungen dabei, in denen wir Gott ähnlich erleben wie die Witwe den Richter: Er reagiert nicht. Jesus setzt zwar Gott nicht einfach mit dem korrupten Richter gleich, aber er geht nahe an diese Grenze heran. “Traut ihr, Zuhörerinnen und Zuhörer des Gleichnisses, traut ihr Gott zu, was ihr noch nicht einmal diesem korrupten Richter zutraut: dass er schweigt und dass er weghört, wenn ihr ihn unermüdlich bittet? Traut ihr Gott das zu?” Manche Menschen werden da - äußerlich oder innen drin - nicken: ‘Ja, das traue ich ihm zu - ich habe es so erlebt!’ So merkwürdig und vielleicht sogar anstößig dieser Richter im Gleichnis auf uns wirkt, an der Stelle, an der scheinbar nichts mehr weitergeht, hilft sie uns weiter. Sagt uns Jesus denn nicht auch das: “Selbst wenn ihr Gott so erlebt, wie die Witwe den Richter erlebt, selbst wenn ihr Gott für einen Schurken haltet, wie der Richter einer ist, wenn ihr Gott für einen haltet, der eure Gebete in’s Leere laufen lässt - warum seid ihr dann nicht so hartnäckig, so beständig, so laut wie die Witwe?” Nur keine falsche Bescheidenheit - “... allezeit beten und nicht nachlassen ...” heißt für Martin Luther nichts anderes, als “Gott seine Versprechen um die Ohren schlagen”. Und Luther hat das bei den Psalmbetern gelernt. Die Klage ist eine feste Form unseres Betens - immer wieder sogar die einzige, die es uns möglich macht, im Gespräch mit Gott zu bleiben.

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VII. “Verlassene Kirche” als “bittende Witwe” Von der Witwe schließen wir zunächst auf uns als einzelne Christinnen und Christen - hören das Gleichnis als Herausforderung und als Ermutigung für unser persönliches Beten. Das greift wohl zu kurz. Wie oft brauchen wir das gemeinsame Gebet, weil uns eigene Worte fehlen! Wie oft brauchen wir die vertrauten Worte unseres Glaubens: Vaterunser, Psalm 23, Klagepsalmen, Gesangbuchlieder, die unser Gebet vor dem Verstummen bewahren. Manchmal fühlen wir uns als Christen und in der Kirche ja fast ein bisschen verlassen und allein. Viel ist von Austritten die Rede, von Gleichgültigkeit - da kann sich der eine oder die andere schon mal wie ein “letzter Mohikaner” fühlen oder wie das Zentralkomitee der DDR im Sommer 1989 beim Anschauen der Westnachrichten, als immer mehr DDR-Bürger über Ungarn in den Westen gereist sind. Ich hoffe, dass die Wahlen heute auch ein Zeichen sind dafür, dass viele Menschen sich in unserer Kirche beteiligen. Die Ermutigung zum Beten gilt auch uns als Gemeinde und als Kirche. Auch wir miteinander sollen uns die hartnäckige, unermüdliche Frau im Gleichnis zum Vorbild nehmen: wir sollen dran bleiben, sollen bitten und auch sonst alles tun, was in unseren Kräften liegt - um irgendwann und immer wieder etwas zu spüren und zu erleben von der Gegenwart Gottes und vom Kommen seiner Herrschaft, in der Neues werden wird.

VIII. Das Beispiel der Montagsgebete Nicht nur der Reformationstag erinnert uns an eine solche Erneuerung von Glauben und Kirche, die auch unsere Welt verändert haben. Vor zwei Tagen - am 9.11. - haben wir (neben der Brände in den Synagogen und der Verfolgung vieler jüdischer Menschen in unserem Land im Jahr 1938) auch der Öffnung der Mauer in Berlin im Jahr 1989 gedacht. Es soll zur Erinnerung an die Ereignisse vor 18 Jahren ein Denkmal geben. Die Diskussion, ob das Denkmal in Berlin oder in Leipzig stehen soll, hat uns wieder in’s Gedächtnis gerufen, dass es nicht nur die Montagsdemonstrationen waren, die zur Öffnung der Mauer und der Grenzen geführt haben. Jahrelang - 10 Jahre lang - gab es die Friedensgebete. Jede Woche. Immer wieder. Und dann gingen die Grenzen auf. Und drei Tage später war dieser Text von der bittenden Witwe der Predigttext in den Gottesdiensten - und alle haben wohl die Aktualität gespürt, alle haben wohl selbstverständlich an die Stelle des Richters die Staatsführung der DDR und an die Stelle der Witwe die machtlosen Bürger gesetzt - und wenn sich schon bei einer Staatsführung so viel verändert, die ganz in ihrer Ideologie gefangen und die blind für die Wirklichkeit ist, wenn sich da schon so viel bewegt durch furchtlose Hartnäckigkeit, um wie viel mehr sollte dann Gott nicht die erhören, die Tag und Nacht voller Vertrauen zu ihm rufen? Wir spüren die Aktualität nicht mehr so unmittelbar - aber sie ist deutlich, nicht wahr? “In den 5

Kirchen” - so hat es Konrad Raiser (später Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen) damals am 12.11.1989 in Bochum gepredigt - “in den Kirchen hat alles angefangen. Die wöchentlichen Friedensgebete wurden zu den entscheidenden Quellen der Ermutigung. Da wurden Menschen in Gebetsgottesdienste für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hinein gezogen, die noch nie gebetet oder es seit langem verlernt hatten. Öffentliche Gebete waren und sind es, die Gott mitten in das Leben hinein ziehen. Sie wurden behindert, die Teilnehmer schikaniert, geschlagen und verhaftet. Aber sie setzten die Gebete fort, sie gewannen unvermutete Kraft, Mut vor allem zur radikalen Gewaltlosigkeit. Ihr Handeln bestand im Gebet - aber die Arbeit des Gebets, begonnen vor 10 Jahren und fortgesetzt ohne erkennbare Antwort als Ausdruck der Hoffnung, auch wo keine Hoffnung auf Veränderung bestand - diese Arbeit hat Früchte getragen” (Raiser, Hoffnung auf Gerechtigkeit; zitiert nach “a+b” 19/2007). Das Gebet der Ohnmächtigen durchbricht den “Würgegriff der Hoffnungslosigkeit” - der Glaube gewinnt den Blick durch den Horizont und unser Beten und Handeln verändert: Christus ermutigt uns, in seinem Namen darin nicht nachzulassen. Ich verstehe es weniger als Ermahnung: Es ist eine Ermutigung. Sie gilt nicht nur denen, die heute gewählt werden. Sie gilt uns allen, die wir gemeinsam Christinnen und Christen, die wir gemeinsam Kirche, Gemeinde, Leib Jesu Christi sind. Amen.

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Liturgie EG 165,1.6.8 Gott ist gegenwärtig Psalm 27 (EG 714)* Gesang „Oculi nostri ...“ / „Unsere Augen ..“ (EG 787,6)* Schriftlesung Text: Matthäus 7,7-11 EG 346,1-3 Such, wer da will, ein ander Ziel Predigt EG 618,1-3 Wenn die Last der Welt dir zu schaffen macht* EG 627,1-4 Ich werfe meine Fragen hinüber* (*Evangelisches Gesangbuch Regionalteil für Württemberg)

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