Ganzheitliche Methoden in der Schulpastoral

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Ganzheitliche Methoden in der Schulpastoral Herausgegeben von

LUDWIG RENDLE

Kösel

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Verlagsgruppe Random House FSC® N001967 Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier Tauro Offset liefert Sappi, Ehingen. Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlag: fuchs_design, München Umschlagmotiv: gettyimages © Ekely Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Printed in Germany ISBN 978-3-466-36885-3 Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter www.koesel.de

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

Einführung: Miteinander auf dem Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.

In die Schule gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 27

2.1 Grundsätzliche Herausforderungen für Schule und Schulpastoral Brigitte Lob 2.2 In der Schule leben und überleben Helga Kohler-Spiegel 2.3 Schulpastoral als eine Dimension der Schulkultur Dietlind Fischer 2.4 Lehrerinnen und Lehrer begleiten und stärken Michael Wedding 2.5 Elternpastoral in der Schule Michael Sandkamp

3.

Diakonia – Mitgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1 Krisenseelsorge und schulische Krisenintervention Jürgen Langer 3.2 Mit Tod und Trauer in der Schule umgehen Jürgen Karasch 3.3 Damit wir uns besser verstehen lernen: Mediation in der Schulpastoral Manfred Forell 3.4 Es geht um mehr – Sozialexerzitien Harald Klein, Dorothea Gnau 3.5 Spirituelle Angebote für Lehrerinnen und Lehrer Lisa Oesterheld, Jan Woppowa

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Inhalt

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Martyria – Mitsuchen und Mitdeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

4.1 Leben wahrnehmen und Leben gestalten: Spirituelles Lernen in der Schule Jan Woppowa 4.2 Beten für Anfänger Siggi Aßmann 4.3 Tage der Besinnung und Orientierung Helmut Demmelhuber, Andreas Rieck 4.4 Religiöse Erfahrungen an der Schule? Ein Projekt in fünf Schulstunden Magdalena Starke, Carsten Roeger 4.5 Einen Raum der Stille einrichten Ilona Jahn 4.6 Adventswerkstatt für die Grundschule Angelika Paintner 4.7 Schülerwallfahrt: Traditionelle Formen neu beleben Hans Simmerl 4.8 Spirituelle Kirchenentdeckungen mit Jugendlichen Hartmut Rupp 4.9 Entdeckungen in der Stadt: Ein Sightseeing der etwas anderen Art Dorothea Gnau 4.10 Mit Spielfilmen in der Schulpastoral arbeiten Martin Ostermann

5.

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Koinonia – Mitleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

5.1 Schulpastoral und religiöse Pluralität – Religionen ganzheitlich entdecken Ulrich Kumher 5.2 Anfangen und Beenden: Struktur erfahren – Schulkultur gestalten Gabriele Hüdepohl 5.3 »Wir sind klasse!« – Klassentage gestalten Regina Röhrig 5.4 Project Adventure: Ein erlebnispädagogisches LebenskompetenzProgramm für die Schule Anita Glatz-Günther, Michael Kienast 5.5 Schülermentoren begleiten Joachim Storr 5.6 Gemeinschaftsprojekt Film: Mit geringem Aufwand Filme drehen Matthias Wörther

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Inhalt

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Leiturgia – Mitfeiern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

6.1 Kleine liturgische Elemente in der Schule Peter Orth, Peter Kohlgraf 6.2 Kleine Gebetszeiten kreativ gestalten Siggi Aßmann 6.3 Schulgottesdienste als Feier des Lebens Ludwig Rendle 6.4 »Unter freiem Himmel«: Outdoor-Gottesdienste Norbert M. Becker 6.5 »Sei gesegnet«: Wirkmächtige Zeichen der Liebe Gottes Norbert M. Becker

7.

7

309 319 332 340 355

Schulpastoral planen – reflektieren – präsentieren . . . . . . . . . . . 369

7.1 Schulpastoral planen und gestalten Ludwig Rendle 7.2 Gestaltungsprinzipien und Qualitätskriterien in der Schulpastoral Brigitte Lob 7.3 Schulpastoral in Schule und Öffentlichkeit gut darstellen Helmut Demmelhuber

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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398

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Vorwort

Schule ist in Bewegung gekommen – manchmal mehr, als uns lieb ist. Die Zeiten, die junge Menschen in der Schule verbringen, werden länger. Zunehmende Unterrichtszeiten auch am Nachmittag und die verschiedenen Formen von Ganztagsschule tragen dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler heute einen großen Teil ihrer Zeit in der Schule verbringen. Schule wandelt sich deshalb immer mehr vom reinen Lernort zum Lebensraum. Darin liegt eine große Herausforderung. Wir können dies als Chance begreifen, diesen Lebensraum zu gestalten – nicht mit zusätzlichem Unterricht, sondern mit neuen Formen der Begegnung und Erfahrung. Parallel zu dieser Entwicklung fordern Pädagoginnen und Pädagogen die »Öffnung der Schule«: Schule soll ihren Sonderraum oder »Elfenbeinturm« verlassen und sich der Welt öffnen, indem sie außerschulische Partner als Experten in das Schulleben holt oder Orte außerhalb der Schule in Projekten oder Exkursionen aufsucht. Betroffen sind von dieser Entwicklung grundsätzlich alle Fächer, in besonderer Weise aber das Fach Religion, weil es häufig auf Erfahrungen aufbaut, die nicht oder nur schwer im Unterricht gemacht werden können, und weil vieles, was im Religionsunterricht besprochen wird, Konsequenzen hat, die außerhalb des 45-Minuten-Unterrichts liegen. Auf diese Weise eröffnen sich für Religionslehrerinnen und -lehrer neue Handlungsmöglichkeiten für erfahrungsbezogene, ganzheitliche und freiwillige Angebote zur Gestaltung des Lebensraums Schule. Unter den Begriffen Schulpastoral bzw. Schulseelsorge wurden für dieses neue Handlungsfeld bereits erste Konzepte entwickelt. Im Unterschied zur früheren »Schülerseelsorge« versteht sich Schulpastoral (so der katholischerseits häufiger gebrauchte Begriff ) oder Schulseelsorge (so die evangelischerseits übliche Bezeichnung) aber breiter. Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern werden miteinbezogen, und zwar nicht mehr allein als Adressaten, sondern gleichzeitig als Subjekte schulpastoralen Handelns. Im Mittelpunkt stehen Menschen mit ihren Lebensgeschichten und Fragen, mit ihren Fähigkeiten und ihren Bedürfnissen. Schulpastoral ist darum

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Vorwort

immer »ganzheitlich« konzipiert, sie verbindet im Sinne Pestalozzis »Hand, Kopf und Herz«. Was also ist zu erwarten von einem Sammelband mit dem Titel: »Ganzheitliche Methoden in der Schulpastoral«? Schulpastoral bzw. Schulseelsorge folgen keinem festgefügten Lehr- oder Bildungsplan, sie sind vielmehr angewiesen auf den wachen Blick derer, die sich verantwortlich fühlen, was in der jeweiligen Schule ansteht bei der humanen Gestaltung dieses Lebensraumes, und auf deren Bereitschaft, in der spezifischen Situation mit Fantasie und Kompetenz zu handeln. Wer gern eine Rezeptur hätte im Sinne von »So geht Schulpastoral«, wird also vielleicht enttäuscht sein. Fix und fertige Vorschläge etwa für Schulgottesdienste werden Sie nicht finden. So viele Schulen es gibt mit je unterschiedlichen Zielsetzungen und mit höchst verschiedenen Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern oder Eltern, so unterschiedlich wird die Schulpastoral zu gestalten sein. Aber Sie finden ein Raster, das Ihnen Geländer und Halt geben kann, um Ihre eigene Ausgestaltung schulpastoraler Aktivitäten sinnvoll zu unterstützen – mit konkreten Tipps ebenso wie mit Impulsen zur Reflexion. Ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zu den Bedingungen für Schulpastoral in einer modernen Schule werden zu den vier Grunddiensten der Seelsorge – Diakonia, Martyria, Koinonia und Leiturgia – exemplarisch »ganzheitliche Methoden« zu unterschiedlichen Aufgabenstellungen dargestellt: Sicher nicht immer direkt eins zu eins übertragbar, sondern als Anregung zu verstehen, wie ähnliche Wege entsprechend der jeweiligen Situation versucht werden können. Die vier Grunddienste wollen dabei mehr sein als ein notwendiges und nützliches Gliederungsprinzip. Wie in der Einleitung (S. 18f.) ausführlich dargelegt wird, leiten sie sich ab von der Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern in der Emmauserzählung. In ihnen entwickelt sich das Herz, d.h. die spirituelle Dimension dieses schulpastoralen Ansatzes. Eine so verstandene Schulpastoral tritt nicht einfach zum sonstigen Schulalltag hinzu, die ihn zwar bereichert, aber letzten Endes additiv auf einer Sonderbühne stattfindet, ohne eine nachhaltige Veränderung im Schulleben zu bewirken. Das vorliegende Konzept versteht Schulpastoral als Ferment im Sinne des biblischen Sauerteigs. Eine solche Schulpastoral begreift sich als hilfreiche, ganzheitliche Wegbegleitung. Sie zeichnet sich aus durch eine wache, offene und bewusste Aufmerksamkeit für das, was in der Schule geschieht, und durch ihr Ziel, in all ihren Angeboten das Leben in der Schule zu durchdringen hin zu einem »heilvollerem«Leben aller im Handlungsfeld Schule. Vielleicht werden Sie einige klassische Themen der Schulpastoral vermissen oder nicht sehr ausführlich dargestellt finden. Es war angesichts des weiten Feldes und des begrenzten Rahmens jedoch ein Anliegen, auch eine Reihe von Beiträgen zu Themen anzubieten, die noch nicht zur gängigen Praxis der Schulpastoral zählen und die deshalb besonders zu einem eigenen Versuch einladen. Alle vorgestellten Beispiele sind von den jeweiligen Autorinnen und Autoren erprobt und reflektiert worden. Entsprechend der Ausweitung der Zielgruppe der Schulpastoral auf Lehrerinnen und Lehrer

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sowie auf Eltern sind auch Gedanken zu einer Lehrerpastoral und Hinweise zu den Rahmenbedingungen für eine Elternpastoral aufgenommen. Die Ganztagsschule in ihren vielfältigen Formen stellt für die Schulpastoral eine wichtige Herausforderung dar und bietet zahlreiche Möglichkeiten der Gestaltung. Alle in diesem Band dargestellten Methoden können selbstredend in der Ganztagsschule eingesetzt werden. Zusätzlich lassen sich aber aus den angebotenen Methoden auch eigene Projekte in der Ganztagsschule konzipieren, z.B. zu Spielfilmen, zu Sozialexerzitien oder zu »Project Adventure« usw. Aus diesem Grund wurde darauf verzichtet, ein eigenes Kapitel zur Schulpastoral in der Ganztagsschule zu konzipieren. Schulpastoral oder Schulseelsorge sind heute ohne ökumenische Zusammenarbeit nicht mehr denkbar. Aus diesem Grund ist dieser Sammelband ökumenisch konzipiert, was sich in der Auswahl von Autorinnen und Autoren beider Konfessionen niederschlägt. Den Autorinnen und Autoren danke ich herzlich für die Mitarbeit an diesem Sammelband. Mit ihrer Hilfe ist es möglich geworden, unterschiedliche Ansätze und Erfahrungen aus den verschiedenen Regionen im deutschsprachigen Bereich anderen Kolleginnen und Kollegen zugänglich zu machen. Danken möchte ich auch dem Kösel-Verlag, vor allem dem früheren Verlagsleiter Winfried Nonhoff für den Anstoß zu diesem Sammelband, sowie Margarete Stenger für die stets anregende, kompetente und zugleich geduldige redaktionelle Betreuung dieses Projekts. So hoffe und wünsche ich, dass dieser Sammelband alle, die sich in Schulpastoral und Schulseelsorge engagieren, anregt und dass er Mut macht zu eigenen Versuchen mit »ganzheitlichen Methoden«. Ludwig Rendle

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1. Einführung: Miteinander auf dem Weg

Schulpastoral im Kontext von Bildungs- und Schulkonzeptionen Schulentwicklung als Rahmen für Schulpastoral Seit den 1980er-Jahren ist jenseits unterschiedlicher Reformmodelle die Schulentwicklung zu einem durchgehenden Programm geworden, das die einzelne Schule in den Blick nimmt, wie sie sich selbst verändern, modernisieren und ihr pädagogisches Konzept gestalten kann. Als umfassende Definition für Schulentwicklung halte ich die folgende von Wolfgang Schönig in unserem Kontext für hilfreich: »Schulentwicklung im Sinne der Entwicklung der einzelnen Schule ist das Bemühen der an der Schule Beteiligten, das Lernen, Arbeiten und Leben in der Schule systematisch, zielgerichtet und kontinuierlich zu verbessern. Dafür werden die wesentlichen Orientierungsgrößen des Handelns in der Schule gemeinsam geprüft« (Schönig 2002, 261). Diese Beschreibung geht davon aus, dass die einzelne Schule sich selbst »von innen« entwickelt und ein eigenes pädagogisches Programm erarbeitet. Gleichwohl stellen sich zahlreiche Fragen: Welche Interessen werden in der Schulentwicklung vertreten? Wie viel Gemeinsamkeit ist zwischen verschiedenen Interessengruppen herstellbar? Wer legt die Standards für die pädagogische Qualität der Schule fest? Fragt man nach den Bedingungen für erfolgreiche Schulentwicklung, so ist man schnell geneigt, die strukturellen Gegebenheiten wie Finanzausstattung, Zeitbudgets, Stundentafeln, Klassengrößen usw. als ausschlaggebend zu betrachten. Allerdings zeigen Studien, dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen besserer Mittelzuweisung und erhöhter Schulqualität gibt (vgl. Weiß 1997, 161–170). In einer Langzeituntersuchung kam der schwedische Pädagoge Ekholm zu dem ernüchternden Ergebnis: »Trotz der fast turbulenten Veränderung der Steuerung der schwedischen

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1. Einführung: Miteinander auf dem Weg

Schule bestehen die inneren Arbeitsroutinen unverändert fort« (Ekholm 1997, 605). Die Studie stellt heraus, dass nicht primär die »Hardware« der Schule die Schulentwicklung steuert, sondern vielmehr die »Software«, d. h. die weichen Faktoren. Man spricht dabei von Arbeitskultur. Damit rückt eine Dimension in das Blickfeld, die auch in anderen pädagogischen und schulorganisatorischen Projekten eine zentrale Rolle spielt. Für Helmut Fend sind Schulklima, Schulkultur und Lehrerethos die Schlüsselbegriffe. Er begreift Schulen als »gemeinschaftliche Problemlösungszusammenhänge«. Organisationskulturen einer Schule zeigen höchst unterschiedliche Formen, wie auf die Grundkonflikte des Daseins in einem gemeinschaftlichen Arbeits- und Lebenszusammenhang reagiert wird (Fend 1998, 187). Nach Fend hat Schulentwicklung dann eine Chance, wenn die »weichen« Stellen entdeckt werden und wenn in ihrem Kern Werte bereits verankert sind, die mit Schulentwicklung korrespondieren. Zu diesen Werten zählen: Neugier gegenüber Veränderung, Hilfsbereitschaft, kollegiale Kooperation, offene Kommunikation und Konfliktfähigkeit im Kollegium. Helmut Fend spricht auch von einem »aktiven Modus der Aufgabenbewältigung« (ebd., 180). Wenn diese Aufgaben nicht erfüllt sind, dann lässt sich, so das sprechende Bild, das mir aus einem Vortrag lebhaft in Erinnerung geblieben ist, Schulpastoral vergleichen mit einer geplanten Reise, die in unbekannte Gewässer führt, während das Boot undicht ist und die Besatzung zu meutern beginnt. Hier kann sich die Schulpastoral als hilfreiche Partnerin anbieten. Der Innsbrucker Religionspädagoge Matthias Scharer schlägt darum einen »theologischen Blick« auf die Schulentwicklung vor: »Es geht um ein theologisches Verständnis von Schule und Schulentwicklung, dem jegliche Besserwisserei fremd ist und dem es ausschließlich um das ›Mehr des Lebens‹ gehen kann, das in der Reich-Gottes-Hoffnung verborgen liegt« (Scharer 2008, 381). Mit diesem Verständnis bringen die Religionslehrerinnen und -lehrer eine neue Dimension in die Diskussion um Schulentwicklung ein. Sie ist gekennzeichnet durch eine wache, offene und bewusste Aufmerksamkeit für das, was in der einzelnen Schule geschieht. Wer in solcher Aufmerksamkeit mit der »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen« in der Schule lebt und dabei die »Armen und Bedrängten aller Art« (vgl. Gaudium et spes 1) im Blick hat, wird Schule nicht nur als einen Ort betrachten, an dem sich zufällig christliche Menschen aufhalten, sondern als einen theologischen Ort, an dem Systeme und Strukturen eines guten und »heilvollen« Lebens gegeben sind oder solche, die latent das Leben verweigern und unheilvoll sein können. Insofern ist die christliche Option für Schulentwicklung nicht primär an messbarer Qualitätssteigerung interessiert, sondern am »heilvollen« Leben aller im Handlungsfeld Schule. Bildungskonzeptionen in der gegenwärtigen Diskussion Schulpastoral ist noch mehr als der Religionsunterricht eingebunden in eine Konzeption von Bildung, die auch das gesamte schulische Leben bestimmt. Förderlich ist si-

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1. Einführung: Miteinander auf dem Weg

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cher ein Verständnis von Schule und Bildung, bei dem die Schulpastoral ein integraler Bestandteil des Schullebens ist. Es kann aber auch sein, dass in einer einseitig auf eine bestimmte Art von Leistung orientierten Schule die Schulpastoral zu einem Zufluchtsort und damit zu einem Anwalt für die Belange der jungen Menschen wird. Im Zusammenhang mit den internationalen Leistungsvergleichen PISA, TIMMS und IGLU ist dieser Prozess der Schulentwicklung in seiner Freiheit eingeschränkt worden durch staatliche Steuerungsinstrumente, die Daten liefern sollen, »durch die eine rationalere und raschere Steuerung der Entwicklung des Bildungswesens möglich werden soll« (Altrichter 2006, 6 f.). Der Pädagoge Wolfgang Schönig kritisiert vor allem den verengten Kompetenzbegriff, der z. B. mit PISA verbunden ist: »Es dürfte auch unstrittig sein, dass die drei Basiskompetenzen (Lesekompetenz, mathematische Kompetenz, naturwissenschaftliche Kompetenz) fundamental sind für eine gelingende Lebenspraxis. Aber sie sind für das gelingende Leben weder hinreichend noch sollten sie mit Bildung im vorgezeichneten Sinn verwechselt werden« (Schönig 2009, 67). Weiterführend scheint mir hier eine Unterscheidung von Hans Rauschenberger. Er nennt zwei Bereiche der Arbeit eines Lehrers/einer Lehrerin: Die Instruktion, die Fachinhalte vermittelt, die grundlegend sind für den Bildungsgang und zur Anerkennung von Abschlüssen. Im Blick auf weitergehende Bildungsprozesse ist für Rauschenberger aber der Dialog unverzichtbar. Die Lehrerinnen und Lehrer sollen den jungen Menschen helfen, jene Themen und Inhalte zu identifizieren und zur Sprache zu bringen, die für sie persönlich von Bedeutung sein können (Rauschenberger 2008, 30–55). In dieser Auseinandersetzung mit einem verengten Kompetenz- und Bildungsbegriff bieten sich Religionsunterricht und Schulpastoral an, den Dialog mit jungen Menschen über die Themen zu führen, die sie zum Leben brauchen. Religion in der Schule als Erweiterung des Bildungsspektrums Auf der Grundlage unseres Grundgesetzes (Art. 7 GG u. a.) ist die Schule gehalten, im Bereich der Daseins- und Wertorientierung die Grenzen staatlicher Kompetenz anzuerkennen und mit Religionsgemeinschaften zu kooperieren. Religion im Schulleben vermag deshalb Lehrerinnen wie Lehrern, Schülerinnen wie Schülern bewusst zu machen, dass menschliche Leistung und gesellschaftlich-schulische Wertsetzungen nicht verabsolutiert werden dürfen (vgl. Nipkow 1992, 436). Das Engagement von Religionsunterricht und Schulpastoral in Schulkultur und Schulentwicklung ist nicht als Überformung der Schule zu verstehen, sondern als Dienstleistung oder als diakonisches Tun. Kirche erweist sich in diesen Angeboten als »Kirche für andere« (Dietrich Bonhoeffer), der es nicht um Rekrutierung von Mitgliedern geht, sondern »um Hilfestellung im Bereich der Daseins-und Wertorientierung, auch um Hilfestellung bei der Bewältigung konkreter Übergangs-und Krisensituationen junger Menschen« (Schröder 2008, 95). Der christlichen Präsenz kommt über den Religionsunterricht hinaus in gewissem Grade eine korrektiv-kompensatorische Funktion zu, die gerade in der heutigen Schule

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1. Einführung: Miteinander auf dem Weg

nottut, weil die Zeit, die Kinder und Jugendliche in der Schule verbringen, immer länger und prägender wird und weil trotz der Vorhaben der Schulentwicklung eine Dominanz des Messbaren und des Evaluierbaren die Vision einer guten Schule als Lebensraum zu verdrängen droht. Zwischen Deutungs- und Partizipationskompetenz Der Religionsunterricht nach der Würzburger Synode bedeutete einen wichtigen Schritt zu einer gesellschaftsoffenen Konzeption, da er für eine disparate Schülerschaft, die aus gläubigen, ungläubigen wie auch suchenden oder zweifelnden Schülern bestehen kann, offen ist. Religionsunterricht wurde konzipiert nach dem Reflexionsmodell schulischen Lernens: »Unterricht und damit auch Religionsunterricht ist damit kein Ort unmittelbarer religiöser Erfahrung. Vielmehr baut unterrichtliches Lernen darauf auf, dass Erfahrungen mit Religion mitgebracht werden; der Religionsunterricht ist dann der Ort des Reflektierens und Deutens. Dieses Modell funktionierte bei einer halbwegs vorhandenen Einbettung der SchülerInnen ins konfessionelle Milieu, mutierte insgesamt aber zu einer ›als ob‹-Didaktik (als ob alle irgendwie geartete religiöse Erfahrungen mitbrächten)« (Mendl 2006,15). Wenn aber der Religionsunterricht mehr sein soll als nur eine Religionskunde, dann hat dies Konsequenzen für die inhaltliche Gestaltung. Die deutschen Bischöfe ziehen in ihrem Schreiben »Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen« aus dieser Situation die Konsequenz (2005, 24): »Ein Religionsunterricht, der Schülerinnen und Schülern einen verstehenden Zugang zum Glauben eröffnen will, kann sich nicht mit der Vermittlung von Glaubenswissen begnügen. Er wird vielmehr die Schülerinnen und Schüler auch mit Formen gelebten Glaubens bekannt machen und ihnen eigene Erfahrungen mit Glaube und Kirche ermöglichen. Ohne ein zumindest ansatzweises Vertrautmachen mit Vollzugsformen des Glaubens wird die unterrichtliche Einführung in die Wissensformen des Glaubens ohne nachhaltige Wirkung bleiben.« Diese Beobachtung ist zugleich Ausgangspunkt einer Diskussion, die in der Religionspädagogik beider Konfessionen unter dem Stichwort »performativer Religionsunterricht« geführt wird. (vgl. Klie/Leonhardt 2003; Mendl 2008). Dieses Konzept zieht die Konsequenzen aus der Tatsache, dass sich in der postchristlichen Gesellschaft angesichts der Diskrepanz zwischen einem fehlenden religiösen Erfahrungswissen und der Glaubenstradition ein ausschließliches Reflexionsmodell religiösen Lernens nicht mehr als tragfähig erweist, wenn die Schülerinnen und Schüler religiös kompetent werden sollen. Was der Pädagoge Dietrich Benner für alle Fächer beschreibt, trifft hier in besonderer Weise auch auf den Religionsunterricht zu: »Damit Welterfahrung und Menschenumgang unterrichtlich und schulisch erweitert werden können, bedarf es zunächst einmal grundlegender Welt- und Umgangserfahrungen. Wo diese Voraussetzung nicht durch vorschulische Erziehung und Sozialisation gesichert ist, muss sie zum Zwecke einer nachfolgenden unterrichtlichen Unterweisung zunächst einmal künstlich mithilfe schulischer Erkundungen, Hospitationen, Exkursionen und Übungen ge-

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1. Einführung: Miteinander auf dem Weg

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IN KÜRZE: WAS MEINT SCHULPASTORAL? Der traditionelle, zumeist synonym verwendete Begriff für dieses kirchliche Handlungsfeld in Schulen lautet »Schulseelsorge«. Möglicherweise beschreibt er auf plastischere Weise, worum es geht: Schulseelsorge/Schulpastoral ist ein durch den christlichen Glauben veranlasstes und motiviertes Engagement im Lebensraum Schule für alle Menschen, die mit der Schule verbunden sind und in ihr arbeiten: Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und alle weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schule. Christinnen und Christen setzen sich dafür ein, dass das christliche Menschenbild in der Schule zum Tragen kommt. Diese in den meisten Selbstdefinitionen schulpastoraler Institutionen und Träger benutzte Formel aber gilt es zu präzisieren: Schulseelsorge soll ansichtig und spürbar machen, dass in den vielfältigen schulischen Interaktionen Gott vorkommt, genauer: seine Sicht auf die Menschen und Dinge in der Schule. Schulseelsorge wird sich darum sorgen und dazu beitragen, dass die Seelen der Menschen in der Schule, aber auch die Seele der Schule »als Schule«, der ihnen inne wohnende Geist gepflegt werden. Schulpastoral/Schulseelsorge will zu einer lebendigen und menschenfreundlichen Schule beitragen und christliches Handeln in Schulleben, Schulkultur und Schulentwicklung erfahrbar machen. Sie will religiös-spirituelle Erlebnis- und Erfahrungsräume erschließen und vertiefen, Menschen helfen die eigene Spiritualität – hier besonders im Kontext der Schule mit den ihr eigenen Aufgabenstellungen – zu entdecken und sie unterstützen, an diesem Ort ihr Leben und Arbeiten im Geist des christlichen Glaubens zu gestalten. Sie soll schulbezogen Begleitung, Orientierung und Hilfen bei der Suche der Menschen nach Antworten auf ihre Lebens- und Sinnfragen anbieten, Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit aller am Schulalltag beteiligten Personen schaffen, soziales Lernen an der Schule fördern und Verständnis für andere Religionen und Kulturen wecken. Damit ist deutlich, dass entgegen einem verkürzten Verständnis Schulpastoral nicht die religiöse Szenerie für den Schulalltag zur Verfügung stellt und gestaltet, sondern in impliziten und expliziten Formen das Wirken und die Wirkungen von Schule zu prägen trachtet. Sie ist kein Additum zu dem, was in Schulen »eigentlich« geschieht, sondern im Idealfall eine von innen her wirkende Konstituente schulischen Geschehens. Freilich wird man diesen Anspruch je nach Trägerschaft der jeweiligen Schule differenzieren. Mindestens in freien Schulen evangelischer oder katholischer Trägerschaft jedenfalls darf man den eben skizzierten weitreichenden Anspruch schulpastoralen Handelns zur Geltung bringen – nicht mit erhobenem Zeigefinger, wohl aber als Hinweis darauf, in welchem Horizont sich freie kirchliche Schulen verstehen und realisieren können. Michael Wedding

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1. Einführung: Miteinander auf dem Weg

stiftet und gesichert werden« (Benner 2004, 30). Auf der Ebene der Kompetenzen bedeutet dies, dass die Deutungskompetenz durch eine Partizipationskompetenz ergänzt werden muss, »denn wenn originäre religiöse Erfahrungen fehlen, dann müssen diese im Unterricht erst zugänglich gemacht werden, um Wissen mit Erfahrung zu erweitern« (Mendl 2006, 22 f.). An vielen dieser Beispiele wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Religionsunterricht und außerunterrichtlichen Angeboten der Schulpastoral hier nicht eindeutig zu ziehen sind und fließend werden. Da die Angebote im schulpastoralen Bereich freiwillig sind, könnte man sie auch als weiterführende Erfahrungen betrachten von Anstößen aus einem performativ ausgerichteten Religionsunterricht. Schulpastoral und ein Religionsunterricht in diesem performativen Sinn sind als komplementär zu begreifen: Die »inszenierte Erfahrung« im Religionsunterricht kann auf freiwilliger Ebene im Bereich der Schulpastoral vertieft und erprobt werden.

Theologische und pastorale Grundlegung von Schulpastoral Die Emmauserzählung als Paradigma für schulpastorales Handeln Die Emmauserzählung in Lk 24,13–35 spiegelt einen Erkenntnis-und Wegprozess der enttäuschten Jünger bis zur Erfahrung des Auferstandenen. Von den einzelnen Schritten der Emmaus-Geschichte als christliche Grunderfahrung eines Miteinanderauf-dem-Weg-Seins können zugleich Grunddimensionen der Schulpastoral abgeleitet werden (inspiriert durch Baumgartner 1990, 125; breiter ausgefaltet in: Bischöfliches Ordinariat Augsburg 1999). Folgende Schritte auf dem Weg bis zur Erkenntnis des Auferstandenen können in der Geschichte der beiden Jünger von Emmaus unterschieden werden: Hinzukommen, hinhören und mitgehen:

»Während die Jünger redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen« (V. 15). Schulpastoral als Wegbegleitung heißt, die Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer oder die Eltern ohne Voreingenommenheit kennenzulernen und zu verstehen suchen, sich dafür zu interessieren, was die anderen bewegt, hinzuhören und sich Zeit zu nehmen. Stehenbleiben und Fragen stellen zu dem, was den anderen Menschen bewegt:

»Da blieben sie traurig stehen … Er fragte sie: Was denn?« (V. 17–19). Schulpastoral als Innehalten braucht eine Sensibilität, welche dem anderen Wege eröffnet und Mut macht, selbst weiterzufragen und Lösungen zu finden.

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Heilswege und den Sinn der Schrift erschließen:

»Begreift ihr denn nicht? … Musste nicht der Messias all das erleiden …« (V. 25–26) Schulpastoral kann auch im einfühlsamen Erschließen und behutsamen Deuten des eigenen Lebens auf Gott hin geschehen. Gemeinschaft erfahren und mitgestalten:

»Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben … « (V. 29). Schulpastoral soll das Erleben von Gemeinschaft ermöglichen, in der Geborgenheit und Anerkennung erfahren werden kann. Gottesdienst feiern

»Er nahm das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen …« (V. 30). Schulpastoral kann in liturgischen Feiern die Zuwendung Gottes zu den Menschen bedenken und feiern. Gottesdienstliche Feiern v. a. in der Schule müssen Ausdruck gemeinsamen Lebens und Betens sein. Die Botschaft anderen mitteilen:

»Noch in derselben Stunde brachen sie auf …« (V. 33). Schulpastoral kann zur Erfahrung werden, dass Gott »bei uns« ist. Dies wird entsprechend ausstrahlen, d. h. die Betroffenen werden ihre Erfahrung weitergeben und damit andere ansprechen. Die Grunddienste der Kirche in der Schulpastoral In diesen Schritten lassen sich die vier Grunddienste der Kirche erkennen, die als Handlungsbereiche für alle pastoralen Felder der Kirche relevant sind und die auch für die Schulpastoral Orientierung bieten können (vgl. Die deutschen Bischöfe 1996, 19 f.). Diakonia – Mitgehen als Dienst am Menschen Dieser Grunddienst verlangt ein sensibles Wahrnehmen der aktuellen Nöte oder Bedürfnisse der Menschen in der Schule, verbunden mit dem Angebot personaler oder institutioneller Hilfe. Überall dort, wo Begleitung, Beratung und das Mitgehen in den Sorgen und Nöten des Alltags geschehen, wo persönliche Hilfen für Schulschwierigkeiten angeboten werden, wird Diakonie erfahrbar. Auch ein Religionsunterricht kann offen sein für Sorgen und Nöte der Schülerinnen und Schüler ebenso wie für persönliche oder gemeinschaftliche Hilfsangebote. Ein besonderes Feld der Schulpastoral stellt die Krisenintervention dar, die einzelnen wie Klassen bzw. der Schule helfen will, mit Erfahrungen von Tod und Trauer umgehen zu lernen. Ein weiterer Bereich ist die Sensibilisierung von Schülerinnen und Schülern für die soziale Lage anderer Menschen. Angestoßen durch Compassion-Projekte kirchlicher Schulen sind heute Sozialpraktika eine feste Einrichtung vieler Schulen geworden.

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1. Einführung: Miteinander auf dem Weg

Martyria – Glauben erfahren und bezeugen durch Mitsuchen und Mitdeuten In der wechselseitigen Erschließung von Leben und Glauben kann die Frohbotschaft als befreiend erfahren werden. Die Schulpastoral kann unaufdringlich im persönlich überzeugenden Glaubenszeugnis oder bei bestimmten Veranstaltungen wie z. B. Tagen der Orientierung oder Bibeltagen den Fragen der jungen oder älteren Menschen mögliche Antwortversuche anbieten. Natürlich geschieht »Martyria« auch im Religionsunterricht, aber noch mehr in Angeboten, bei denen innerhalb oder außerhalb der Schule ausdrücklich Fragen des Lebens und Glaubens thematisiert werden und mit eigenen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden, z. B. Filmnächte, Wallfahrten oder Straßenexerzitien. Koinonia – Mitleben und Gemeinschaft erfahren und stiften Schulpastoral will dazu beitragen, dass alle in der Schule Tätigen diese nicht nur als Lern- und Arbeitsort, sondern als Lebensraum erfahren. Ziel muss es deshalb sein, dass sich alle wohlfühlen und sich wertgeschätzt, akzeptiert und angenommen fühlen können. Auf diese Weise können sie sich selbst annehmen und ein positives Selbstbild entwickeln. Dies kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen: »Die Gestaltung von Gemeinschaft kann in der Mitarbeit im Schülercafé oder bei der Ganztagsbetreuung bestehen, aber auch bei der logistischen, personellen oder institutionellen (auch räumlichen) Unterstützung von Projekten, Faschingsfeten, Klassenfeiern, Abschlussfeiern oder sonstigen Schulfesten. Hierzu zählt auch die Pausenhof- und Klassenzimmergestaltung durch Schüler, Eltern und Lehrer« (Mendl 2011, 234). Bei all diesem gemeinschaftsunterstützenden oder -stiftenden Handeln zählt das absichtslose Tun, das nicht eigens einer religiösen Begründung bedarf. Es könnte sogar abstoßend wirken, wenn die Schulpastoral das Einbringen in die Gemeinschaft instrumentalisieren würde. Leiturgia – Mitfeiern im Glauben In der Emmauserzählung steht das Brotbrechen am Ende eines gemeinsamen Weges, es ist der End-und Höhepunkt eines gemeinsamen Suchens und Findens und damit eines Glaubensprozesses. Gottesdienste sind von ihrem Verständnis her Feiern, sie drücken eine konkrete Erfahrungswirklichkeit aus in unterschiedlichen Formen wie singen, musizieren, tanzen, loben und bitten. Die Knotenpunkte des Schuljahrs bieten sich dabei besonders an, z. B. am Schuljahresbeginn oder -ende. Dabei können Gottesdienste quasi als Übergangsriten ein Angebot an Lehrer und Schüler darstellen, die neue, kommende Situation »vor Gottes Angesicht« zu sehen. Wesentlich ist dabei, dass alle gottesdienstlichen Formen mit und von den Anliegen der Beteiligten aus gestaltet werden. Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler heute hat allerdings wenig oder keinen Bezug zu liturgischen Formen. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, liturgische Formen in niederschwelliger Form erfahrbar zu machen, z. B. durch liturgische oder

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meditative Elemente im Religionsunterricht, in Andachten vor Prüfungen, in Frühschichten in der Advents- oder Fastenzeit. Die Vorbereitung der liturgischen Feiern sollte aus dem Schulalltag herauswachsen und bei der Planung besonders den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich aktiv einzubringen.

Schulpastoral als Schulreligion Für einen Großteil unserer Schülerinnen und Schüler spielen Religion oder Kirche in ihrem Alltag und Lebenskontext keine oder fast keine Rolle. Aus diesem Grund erfüllen für viele Schülerinnen und Schüler der Religionsunterricht und die Schulpastoral die Funktion einer verbindenden und begehbaren Brücke. Im Religionsunterricht in der Schule werden junge Menschen von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenalter kontinuierlich begleitet, sie werden dabei wahrscheinlich nicht zur Praxis in der Gemeinde hingeführt, aber sie erleben Religion als lebensbedeutsam oder zumindest nicht als unsinnig. Religionsunterricht wie auch die Schulpastoral werden gestaltet von Lehrerinnen und Lehrern, von Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorgern, die sich nicht nur durch theologische und pädagogische Fachkenntnisse auszeichnen, sondern auch durch die Fähigkeit zur Wahrnehmung unterschiedlichster Lebenswelten ihrer Schülerinnen und Schüler und zur wechselseitigen Erschließung von Glaube und Leben. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich Schülerinnen und Schüler von dieser Begegnung mit Religion mitunter mehr angesprochen fühlen als von gelegentlichen Erfahrungen mit »Gemeindereligion«. Daher wird von kirchenamtlicher und gemeindepastoraler Seite manchmal die kritische Frage gestellt, wie weit sich »Schulreligion« verselbstständigen darf gegenüber einer »Gemeindereligion«, ohne dass die Anschlussfähigkeit verloren geht. Im Rückgriff auf den diakonischen Grundzug des Religionsunterrichts im Synodenbeschluss von 1974 kann die »Schulreligion« überzeugend begründet werden: »Muss die diakonische Kurzformel ›Im Mittelpunkt steht der Schüler‹ heute vor dem Hintergrund des quantitativen Übergewichts von ›Schulreligion‹ in der Biografie junger Menschen einerseits und angesichts der zunehmenden religiösen Orientierungslosigkeit und Sinnsuche junger Menschen andererseits nicht neue Aktualität gewinnen? Fordert die religionspädagogische Zielsetzung der Orientierung und Befähigung zur verantworteten Entscheidung in Sachen Religion heute nicht mehr denn je eine diakonische Konsequenz, die eine autarke und autonome sowie radikal subjektorientierte ›Schulreligion‹ unverzichtbar erscheinen lässt? Möglicherweise erweist sich auch das pastorale Grundsatzprogramm eines missionarischen Kircheseins in der Schule gerade darin, eine ›diakonische Schulreligion‹ noch weiter zu profilieren« (Woppowa 2011, 147).

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Während im Religionsunterricht in der Aus- und Fortbildung die Religionslehrerinnen und -lehrer in hohem Maße befähigt werden, Religion pluralitätsfähig und methodisch-didaktisch so ansprechend zu vermitteln, dass sie annehmbar und lebensbedeutsam erscheint, befindet sich die relativ junge Disziplin der Schulpastoral oder der Schulseelsorge mit höchst heterogenen Angeboten sowohl in der Aus- wie auch in der Fortbildung erst in den Anfängen und teilweise an der Schnittstelle zu Methoden der Jugend- oder der Gemeindepastoral. Der folgende Sammelband möchte darum einen Beitrag leisten zur Professionalisierung v. a. von Religionslehrerinnen und -lehrern in den Methoden und Wegen der Schulpastoral oder Schulseelsorge.

Literatur Altrichter, Herbert, Schulentwicklung: Widersprüche unter neuen Bedingungen, in: Pädagogik 58 (2006), H. 3, 6–10. Baumgartner, Isidor, Pastoralpsychologie, Düsseldorf 1990. Benner, Dietrich, Bildungsstandards und Qualitätssicherung im Religionsunterricht, in: Theo-web. Zeitschrift für Religionspädagogik 3 (2004), H. 2, 22–36. Bischöfliches Ordinariat Augsburg (Hrsg.), Christ sein in der Schule. Schulpastoral in der Diözese Augsburg, Augsburg 1999. Die deutschen Bischöfe – Kommission für Erziehung und Schule, Schulpastoral – der Dienst der Kirche an der Schule im Handlungsfeld Schule, 1996. Die deutschen Bischöfe, Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Bonn 2005. Ekholm, Mats, Steuerungsmodelle für die Schulen in Europa. Schwedische Erfahrungen mit alternativen Ordnungsmodellen, in: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997), H. 4, 597–608. Fend, Helmut, Qualität im Bildungswesen. Schulforschung zu Systembedingungen, Schulprofilen und Lehrerleistung, Weinheim/München 1998. Mendl, Hans, Religionsunterricht inszenieren und reflektieren. Plädoyer für einen Religionsunterricht, der mehr ist als »reden über Religion«, in: Ludwig Rendle (Hrsg.), Mehr als reden über Religion …, Donauwörth 2006, 10–41. Mendl, Hans, Religion erleben. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht, München 2008. Klie, Thomas/Leonhard, Silke (Hrsg.), Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003. Mendl, Hans, Religionsdidaktik kompakt. Für Prüfung, Studium und Beruf, München 2011. Nipkow, Karl Ernst, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 21992. Rauschenberger, Hans, Kompetenzerwerb als individuelle Bildung, in: Charlotte Röhner/Hans Rauschenberger (Hrsg.), Kompetentes Lehren und Lernen, Baltmannsweiler 2008, 30–55. Scharer, Matthias, Die Schule und das Leben (in Fülle). Religionspädagogische Optionen in der Schulentwicklung, in: Martin Jäggle, u. a. (Hrsg.), Lebens.werte.Schule, Wien/Berlin/Münster 2009, 379–386. Schönig, Wolfgang, Schulentwicklung. Über eine »terminologische Nebelbombe« und das »Religiöse« im Schulkonzept, in: Achim Battke u. a., Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht, Freiburg i.Br. 2002, 259–273.

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Schönig, Wolfgang, Die moderne Schule im Spannungsfeld von Diversität und Standardisierung, in: Martin Jäggle u. a. (Hrsg.), Lebens.werte.Schule, Wien/Berlin/Münster 2009, 61–82. Schröder, Bernd, Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, in: Martin Jäggle u. a., (Hrsg.), Lebens.werte.Schule, Wien/Berlin/Münster 2009, 83–110. Weiß, Manfred, Mehr Ressourcen = mehr Qualität?, in: Wolfgang Böttcher/Horst Weishaupt/Manfred Weiß (Hrsg.), Wege zu einer neuen Bildungsökonomie, Weinheim/München 1997, 161–170. Woppowa, Jan, Schulreligion als Alternative? Hintergründe und Anfragen zu einer eigenen Gestalt religiösen Lernens, in: Ludwig Rendle (Hrsg.), »Nur wer sich ändert, bleibt sich treu«. Religionsunterricht in einer Kirche im Lernprozess, München 2011, 131–149.

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Nach den konzeptionellen Überlegungen über die Grundlegung und die Aufgabenfelder einer Schulpastoral ist ein Blick auf die gegenwärtige Schule, auf ihre Schülerinnen und Schüler, auf ihre Lehrerinnen und Lehrer und schließlich auch auf die Eltern geboten. Es ist dabei jedoch vor allem auch auf die Gefahr zu achten, dass Schulpastoral für die schon oft genug gestressten Lehrerinnen und Lehrer nicht zu einer weiteren Belastung wird. Deshalb soll dieses Kapitel auch ein Innehalten sein, eine Art Selbstvergewisserung über die eigenen Möglichkeiten und Kapazitäten sowie eine Verortung von Schulpastoral innerhalb der Schulkultur einer sich entwickelnden Schule: ■ Wie erleben Personen, die in der Schulpastoral arbeiten, heute die Situation in ihrem Arbeitsfeld? Die gestiegene Aufmerksamkeit für schulische Leistung betrifft Schülerinnen und Schüler nicht minder als ihre Lehrerinnen und Lehrer. Zudem haben sich die Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer in den erzieherischen Bereich hinein ausgeweitet, viele erfahren diese gestiegenen Erwartungen als belastend. Und da ist eine Gesellschaft, die sich sichtlich schwertut, mit Versagen und Schuld umzugehen und eine Kultur des Verzeihens zu pflegen. Brigitte Lob beschreibt diese geänderten Bedingungen, die schulpastorales Arbeiten vor neue Herausforderungen stellt. ■ Es gilt, Schule als Lebensraum auch für Lehrerinnen und Lehrer zu betrachten und füreinander Verantwortung zu übernehmen, um sich selbst nicht zu verlieren, nicht zu ermüden und auszubrennen. Unter personalen und systemischen Aspekten beschreibt Helga Kohler-Spiegel die Situation und schlägt Maßnahmen vor, um dem zu begegnen. Aus der Kernbotschaft jüdisch-christlichen Glaubens – der Zusage Gottes: »Ich bin JHWH. Ich bin bei dir« – bietet sie exemplarische spirituelle Impulse an. ■ Ein weiterer Aspekt der Schulpastoral ist deren Verortung in der gegenwärtigen Schule. Dietlind Fischer geht der Frage nach, welche Aufgabe der Schulpastoral in-

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2. In die Schule gehen





nerhalb einer Schulkultur zukommen kann, welchen Beitrag sie zu deren Gestaltung zu leisten vermag. Michael Wedding geht der Frage der Berufszufriedenheit von Lehrerinnen und Lehrern nach und zeigt, wie schulpastorales Engagement hier stärkend und begleitend wirken kann. Michael Sandkamp schließlich widmet sich grundsätzlich der Reflexion, wie pädagogisch und theologisch die Rolle der Eltern an der Schule zu verstehen ist, und entwirft so die Rahmenbedingungen für eine gelingende Elternmitarbeit und Elternpastoral.

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2.1 Grundsätzliche Herausforderungen für Schule und Schulpastoral

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2.1 Grundsätzliche Herausforderungen für Schule und Schulpastoral BRIGITTE LOB

»Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten.« Dieses Wort des Thomas von Aquin gilt auch für die Schulpastoral, wenn sie angesichts des Wandels von Schule ihrem kirchlichen Auftrag gerecht werden will. Ihr Ziel ist die Humanisierung von Schule mit allen und für alle Menschen, die dort sind. Sie will die Menschen ganzheitlich in ihrer Entwicklung fördern und stärken: durch das Erleben und Aussprechen der Gegenwart Gottes im Schulalltag: »Die Kirchen wollen im ökumenischen Schulterschluss mit der Schulpastoral Menschen in der Schule ethisch und religiös begleiten und mit ihren spezifischen spirituellen Ressourcen dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche lernen, an sich und ihre Fähigkeiten zu glauben, weil Gott an sie glaubt und mit ihnen rechnet, gerade dann, wenn sie an Ohnmachts- und Grenzerfahrungen zu zerbrechen drohen« (Schmälzle 2010, 171). Die täglichen Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen, mit Angestellten, Eltern, Schülerinnen und Schülern stellen Herausforderungen dar, die Veränderungen fordern. Dazu gehört die Freude mit den Schülerinnen und Schülern über eine erfolgreiche Anhörung vor dem Jugendamt genauso wie das Zittern mit ihnen vor dem Richterspruch des Jugendgerichts. Das betrifft Gespräche mit vielen Beteiligten rings um einen schweren Vandalismusfall, aber da gibt es auch den Austausch über eine gelungene Mediation nach einer langen Durststrecke. Zu den Herausforderungen gehören die verbalen Attacken auf Einzelne und die Sprachlosigkeit von Kindern angesichts ihrer schwierigen familiären Situation. Und wenn Veränderungen von Schülerinnen und Schülern positiv erlebt werden, weil das Schicksal eines einzelnen Mitschülers sich zum Besseren wendet, dann ist die geteilte Freude aller darüber wahrhaft ein göttlicher Moment im Schulalltag. Dies sind nur einige Momentaufnahmen, die täglich im Bereich von Schulpastoral in den Blick genommen werden. Aber hier verdichten sich vielleicht auch am deutlichsten die Herausforderungen, vor denen wir in der Schule stehen. Dazu gehören die ehrliche Auseinandersetzung mit Schuld, der ehrliche Blick auf die unerfüllten Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen sowie die Ressource von Resilienzen zu nutzen und aufzubauen.

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2. In die Schule gehen

Schule im Wandel: Aktuelle Rahmenbedingungen der Schulpastoral Die Bedingungen, unter denen Schulpastoral in der Gegenwart erfahrbar wird, sind sowohl im Schulalltag als auch in der Gesellschaft in Deutschland großen Umwälzungen unterworfen. Damit verändern sich auch die Aufgaben und Möglichkeiten der Schulpastoral. Die Schulen in Deutschland stehen in jedem Bundesland im Fokus der politischen Aufmerksamkeit, auf sie richtet sich der Veränderungswille jeder neuen Landesregierung. Es geht um die Verbesserung der Lernbedingungen bei gleichzeitig verlängerten Betreuungszeiten. Die Chancengleichheit aller Kinder im Blick auf Europa wird betont. Dazu werden Schulzeiten mal um ein Jahr verkürzt (G8), dann in einigen Schulen doch wieder verlängert. Gleichzeitig erreichen die Schulen aus den Universitäten und den handwerklichen Ausbildungsstätten die Klagen über Schülerinnen und Schüler, die weder richtig lesen noch ausreichend rechnen können, vom Schreiben ganz zu schweigen. Der Druck auf die Schülerinnen und Schüler wächst  – bei gleichzeitig anscheinend nachlassenden Fähigkeiten und Leistungen und schlechten Zukunftsperspektiven. Die psychische Belastung führt immer mehr Kinder und Jugendliche in therapeutische Behandlung: »Nicht zuletzt wegen der weiten Verbreitung psychischer Auffälligkeiten wird seit einiger Zeit von einem veränderten Krankheitsgeschehen, einer ›neuen Morbidität‹, gesprochen. Kennzeichen dieser Entwicklung, die in den letzten Jahrzehnten auch bei Kindern und Jugendlichen beobachtet wurde, ist eine Verschiebung des Krankheitsspektrums von den akuten zu den chronischen Erkrankungen sowie von den somatischen zu den psychischen Störungen« (Bundesministerium für Gesundheit 2008). Schule insgesamt stellt zudem einen Ort dar, an dem die Pluralität unserer Gesellschaft in nationaler, ethischer, kultureller und religiöser Vielfalt durch das enge, verpflichtende Zusammensein von vielen Menschen besonders spürbar wird. Die Missverständnisse, Spannungen und Konflikte, die daraus entstehen, sind vielfach beschrieben. Die Anforderungen an die Lehrkräfte haben sich durch die oben angedeuteten Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Das Unterrichten ihrer Fächer ist gleichrangig mit der Beratung, Erziehung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen zu sehen. Das gemeinsame Mittagessen wird zur Erziehungszeit mit allen Konflikten, wie sie viele Familien aus eigenem Erleben kennen. Am Nachmittag werden auch vom Lehrpersonal Arbeitsgemeinschaften angeboten, die für persönliche Gespräche Raum geben. Die Probleme, die sie hier erfahren, werden zu »Aufträgen« für Elterngespräche, Kontakte zum Jugendamt, Erziehungsberatung, Drogenberatung, Jugendgericht u.v. a. Neben der hohen Anzahl von Verwaltungsakten, die inzwischen zusätzlich bewältigt werden müssen, stehen noch regelmäßige Entwicklungsgespräche mit Schülerinnen und Schülern (z. B. an Berufsschulen), Mitarbeit am Konzept für das Krisenteam

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oder das Schulprofil an. Burnout bei Lehrkräften hat zugenommen. Sie gehören zu einer Risikogruppe für psychosomatische Erkrankungen und frühe Berufsunfähigkeit. Die Ausfallzahlen im Unterricht durch Krankheit sind hoch. Im Schulalltag erleben Schülerinnen und Schüler wie auch Lehrkräfte eine Zunahme an verbaler und körperlicher Gewalt, an Hemmungslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallversicherung konstatiert: »Statistisch gesehen ist jeder zehnte Unfall an allgemeinbildenden Schulen (Grund-, Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien) auf Gewalteinwirkung zurückzuführen.« Die ausgeübte Brutalität wird oftmals mit Handys gefilmt (»Happy Slapping«) und ins Internet gestellt, um die Opfer in ihrer Demütigung zur Schau zu stellen. Bullying und Mobbing von Lehrkräften oder Mitschülerinnen und Mitschülern gehört zum Alltag. Viele werden durch solche Missstände daran gehindert, am Lernen und am Unterrichten tatsächlich Freude zu finden. Stattdessen wird Schule oft auch als Leidensort beschrieben, der die Menschen nachhaltig negativ prägt. Eine Schule, die eine große Konfliktsituation mit vielen Betroffenen oder eine Mobbinggeschichte größeren Ausmaßes erlebt hat, steht nicht nur vor der Frage, wie sie die unterschiedlichen Personen und Anteile in den Blick nimmt, sondern die Bewältigung von Schuld ist darin ein zentrales Thema. Die Zuweisung von Schuld wird gesellschaftlich häufig geübt. Aber die Übernahme von Verantwortung für etwas Verschuldetes und die Erfahrung, unzulänglich zu sein und zu bleiben, ist für viele Menschen nur schwer anzunehmen oder gar auszuhalten. Damit wird auch gedanklich ein lebenslanger Makel verbunden, der das Leben »behindert«. Ein Täter-Opfer-Ausgleich kann zwar Gerechtigkeit üben, aber den inneren Reifungsprozess nicht ersetzen.

Gegenwart und Verborgenheit Gottes im Schulalltag Der christliche Glaube bietet die Chance an, einen wirklichen Neuanfang erleben zu dürfen, die eigene Person mit ihrer Schuld einzubeziehen in die Gemeinschaft. Dies geht nur mit der reflektierten Übernahme von Verantwortung für das Verschuldete, durch persönliche Reue – und durch die Zusage der Vergebung durch Gott. Das wird aber nur eine Gemeinschaft akzeptieren, bei der alle um das eigene Schuldig-werden-Können wissen und bereit sind, auch immer wieder bei sich Verantwortung und Unzulänglichkeiten wahrzunehmen. Eine Gesellschaft, die alle Schuld beim Täter sucht oder einen stellvertretenden Sündenbock aussucht, kann schuldige Menschen in ihrer Mitte nicht aushalten, grenzt sie aus und negiert dabei die eigene Verantwortung und Unzulänglichkeit. Neben dem Ausgleich zwischen Täter und Opfer, neben dem psychischen Stärken des Opfers braucht es das Bewusstsein von Schuld, von Vergebung, von Bekenntnis, von Neuanfang und von Gottes Anteil in diesem Prozess der Heilung.

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2. In die Schule gehen

Diese Dimension geht verloren ohne Schulpastoral, ohne Zuwendung von Kirche in Schule zu den Menschen. Schule braucht Menschen der Kirche in ihrem System, die die Dimension Gottes, die das Mit-Sein Gottes einbringen. Hier ist der prophetische Zug im Amt von Schulseelsorgerinnen und -seelsorgern gefordert, diese Entwicklung deutlich zu machen. Wenn Gott bereit ist, Menschen zu verzeihen, sind wir gefordert, das bis in das Schulleben hineinzutragen. Und das kann viele Facetten bekommen: mit der Religionsklasse für den Gottesdienst ein Schuldbekenntnis zu schreiben, in den Fürbitten auch für Täter zu beten; mit einer Projektgruppe eine »Ich bekenne«-Wand zu gestalten mit Szenen und Zitaten aus dem Schulalltag; eine Stunde zum Thema »Ich bin nicht perfekt und brauche es auch nicht zu sein!« oder die Durchführung eines jährlichen »Versöhnungstages«. Der versöhnliche Umgang mit der eigenen Unzulänglichkeit beinhaltet nicht nur, sich selbst zu verzeihen, sondern auch den Mut, von eigenen Fehlern, Versäumnissen und Versagen irgendwann zu erzählen. Jede Gemeinschaft wird untereinander und vor Gott immer wieder schuldig – ob bewusst oder unbewusst. Nicht umsonst gehört Jom Kippur, das Versöhnungsfest, zu den zentralen Feiertagen des Judentums. Die Gestaltung eines solchen Versöhnungstages – z. B. im Umfeld von Aschermittwoch oder Buß- und Bettag – kann in verschiedenen Stufen und jährlich mit neuen Akzenten durchgeführt werden. Die Klassen können miteinander die Geschichte der letzten Wochen und Monate aufarbeiten. Es sind Briefe und symbolische Handlungen zur Entschuldigung denkbar. Oder ein Besuch im nächsten Jugendgefängnis, Gespräche mit Straftätern, Gefängnisseelsorgern und Sozialarbeitern. Auch die zu Stein gewordenen Denkmäler menschlicher Schuld und ihrer Folgen, Erinnerungsstätten und Mahnmale, gehören in das Bewusstsein und in die Auseinandersetzung Jugendlicher mit ihren eigenen Anteilen an Scheitern und Schuld. Die intensive Beschäftigung mit solchen Themen, das bewusste Hineingehen in Konflikte und Prozesse, die zu eskalieren drohen, lösen auch in den Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorgern Fragen und Empfindungen aus, die zu reflektieren sind. Ohne die Zusage des Engels am Grab Jesu an die Frauen »Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen« (Mk 16,7b) – in unsere Situation übersetzt: »Er geht euch voraus an eure Schule …« – wären diese Anforderungen nur schwer auszuhalten. Doch die Verheißung, dass der verborgene Gott der sehr präsente Gott ist, verändert den Blick auf jede Situation und auf die Menschen dort (vgl. Fritzen 2008, 393). Diese Haltung gilt es auch bei dem immer wieder zu vernehmenden Ruf nach einer religiös pluralen Schulpastoral (vgl. Kumher 2008) zu bewahren. Der Spagat für Schulseelsorger/innen besteht zwischen dem Wunsch, »schulpastorale Angebote für alle« anbieten zu wollen, aber auch christlich-konfessionelle und ökumenische profilierte Arbeit zu leisten, die nicht ihre Herkunft versteckt und den Gott Jesu Christi beim Namen nennt und ihre Hilfe hier sucht. Die Forderung nach der religiös pluralen Schulpastoral kommt meines Erachtens hier an ihre Grenzen. Sie nimmt zwar die gesamte Schülerschaft und das Kollegium in seiner vielfältigen religiösen, kulturellen, ethni-

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schen und nationalen Realität wahr, aber sie beschneidet sich um ihren christlichen Kern und ihren kirchlichen Auftrag, wenn sie mehr Angst davor hat, Andersgläubige durch christliche Seelsorge zu vereinnahmen (vgl. Kumher 2008, 211), als die Verheißung nach Erlösung und »Leben in Fülle« (Joh 10,10) im Blick zu behalten.

Herausforderungen, die Veränderungen fordern Es wird vieles unternommen, Schule als Lern- und Lebensraum positiv mitzugestalten. Zahlreiche Projekte des sozialen Lernens, der Kommunikationstrainings und der Stärkung der Menschen werden in den Schulen durchgeführt. Angebote für das Kollegium zum Ausspannen und Krafttanken gehören ebenso dazu wie Einladungen an Eltern, z. B. zum »Väter-Töchter-Zelten«, oder Familien-Freizeiten und Gesprächskreise. Ausbildungskurse zu Erziehung, Konfliktbearbeitung, Klassenleitung oder Gesprächsführung gehören zum Standardprogramm von verschiedenen Anbietern für den schulischen Bereich. Das alles gibt es in vielen wertvollen Formen und Ausrichtungen. Doch die Wurzel der gesellschaftlichen und damit auch der schulischen Probleme bleibt häufig unangetastet: die Sehnsucht nach der Erfüllung grundlegender Bedürfnisse und die Erziehung zur Bewältigung von Neid und Schuld und zur selbstverständlichen Solidarität mit Notleidenden. Die Mitarbeitenden in der Schulpastoral, häufig Religionslehrer/innen, aber auch Lehrkräfte mit anderen Fächern, oder Sekretärinnen, oder, wo vorhanden, auch kirchliche Mitarbeiter/innen, die sich als Schulseelsorger/ innen haupt- oder ehrenamtlich zusammen mit Kollegen/innen engagieren, stehen vor der Herausforderung, neben den eher klassischen Formen – Gottesdienste, Beratungsgespräche, Besinnungstage oder Krisenbegleitung – die oben benannten Themen aufzugreifen. Hier geht es um den ehrlichen Blick auf Realität und Notwendigkeit. Am Anfang aller Schuld war der Neid auf das, was ein Mensch im Moment nicht haben kann (vgl. Gen 3). Kinder und Jugendliche erleben das z. B. sehr ausgeprägt durch den Markenfetischismus bei Kleidung, Elektronik, etc. Aber es geht viel tiefer und weiter: die Eifersucht auf Freundschaften und Familienkonstellationen, Missgunst gegenüber Erfolg und Anerkennung. Die darunterliegenden unerfüllten Bedürfnisse sind die eine Triebfeder für Neid, doch die andere liegt in dem ständigen Begehren eines Menschen nach dem, was auch andere begehren. Hier liegt eine große erzieherische Herausforderung für Eltern, Lehrkräfte, Schulseelsorger/innen und alle, denen das Wohl von Kindern und Jugendlichen am Herzen liegt. Die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Status quo als positivem Zustand, demgegenüber erst das Begehren und der Neid Unzufriedenheit und Ärger schüren, bedeutet eine Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen des Lebens und eine Diskussion über Werte und deren Priorisierung. Die eigene Lebenseinstellung wird befragt: Orientiere ich mich an dem, was ich mir noch alles wünsche? Oder versuche ich,

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2. In die Schule gehen

eine innere Gelassenheit aufzubauen, die diese Wünsche am Rand sieht und in die Mitte andere Werte stellt? Die Beschäftigung mit dem, was Kinder und Jugendliche sich wünschen für ihre »Ausstattung«, womit sie in der Schule und im Freundeskreis »dazugehören«, ist im Kern die Frage nach dem Selbstwertgefühl, der Persönlichkeit, der Außendarstellung und Fremdwahrnehmung. In Phasen großer Unsicherheit soll dann eben wenigstens die Kleidung und das Zubehör »in« sein, wenn schon der Mensch dahinter sich selber eher »out« fühlt. Und es gehört meines Erachtens in die Aufarbeitung von Lebensthemen im Rahmen von Schulpastoral, soweit dies dort möglich ist. Die Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorger stehen vor der Herausforderung, nicht nur in kleinen Schritten in Einzelberatung und religiösen Impulsen Akzente im Schulalltag zu setzen, sondern die gesellschaftliche Entwicklung, die sich in der Schule spiegelt, immer wieder neu zu analysieren und die Weite ihrer möglichen Aufgaben anzuschauen. Die Erkenntnis der Phänomene in der Gesellschaft als Ausdruck der Bedürftigkeit und der Suche der Menschen muss in der Schule in praktisches Handeln, in Lebens-Lernen umgesetzt werden, das eine psychische Gesundung anstrebt, die alle Menschen dort umfasst. Um mit den Schwierigkeiten und Krisen des Lebens fertig zu werden, braucht ein Mensch bestimmte Faktoren von Resilienz als Elemente einer psychisch gesunden Lebenshaltung, die Zufriedenheit nachhaltig fördern können. Dazu gehören: Optimismus, Humor, Flexibilität, Lösungsorientierung, soziale Kompetenzen und Netzwerkorientierung, wachsen wollen, Zukunft planen, Verantwortung übernehmen, um Hilfe bitten können, anderen helfen (vgl. Bilinski 2010; Welter-Enderlin/Hildenbrand 32010), aber auch vergeben und die religiöse Haltung. Eine Ausrichtung der Pädagogik in der Schule auf den Aufbau von Resilienz kann eine stabilisierende Wirkung auf Kinder und Jugendliche haben. Diese Thematik sollte in die Lehrerfortbildung und in die Stundentafel einfließen, damit die gegenwärtigen Probleme aus einer anderen Sicht angegangen werden können: Menschen haben das Potenzial, eine menschenwürdige Gesellschaft aufzubauen, die von Respekt und Hilfsbereitschaft geprägt ist. Ihr Umgang mit Versagen und Schuld wird durch Resilienz allein noch nicht gelöst, aber die Botschaft von einem Gott, der mir nahe sein will, der für mich Gutes will und durch mich wirkt, kann hier Wege anbieten. Es ist die Botschaft von einem Gott, der den unmenschlichen Situationen auf den Grund geht, der den Menschen nachgeht, um eine Perspektive auf Wandel und Veränderung zu eröffnen. Und jede Schule braucht Menschen, die immer wieder zu dieser Veränderung einladen. Und jede/r Schulseelsorger/in braucht in der Schule alle anderen, die mit ihm und ihr daran arbeiten. Denn: Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten!

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Literatur Berger, Peter, »Was macht am Lehrerberuf krank?«, unter: www.hardtwaldklinik2.de/media/files/ ArtikelLehrer-Burnout.pdf. Bilinski, Wolfgang, Phönix aus der Asche. Resilienz – wie erfolgreiche Menschen Krisen für sich nutzen, Freiburg i.Br. u. a. 2010. Bundesministerium für Gesundheit/Bundesministerium für Bildung und Forschung/Robert-KochInstitut, Erkennen – Bewerten – Handeln: Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2008, in: www.bmg.bund.de/fileadmin/redaktion/pdf_broschueren/KIGGS-Studie. pdf. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Ängste, Zwänge und Depressionen bestimmen den Alltag, in: http:// media.dgkjp.de/mediadb/media/dgkjp/pressemeldungen/dgkjppresse-service-01.pdf. Deutsche Gesellschaft für Unfallversicherung, »Jeder zehnte Schülerunfall Folge von Raufereien«. Pressemitteilung der DGUV vom 10.2.2009, in: www.dguv.de/inhalt/presse/2009/Q1/didacta_ pm/index.jsp. Fritzen, Wolfgang, Von Gott verlassen? Das Markusevangelium als Kommunikationsangebot für bedrängte Christen, Stuttgart 2008. Hurrelmann, Klaus, Gewalt an Schulen, in: http:// kriminalpraevention.stk.rlp.de/fileadmin/kriminalpraevention/downloads/service/downloads/gewalt_an_schulen.pdf. Kumher, Ulrich, Schulpastoral und religiöse Pluralität, Würzburg 2008. Schmälzle, Udo, Schulpastoral im Lernprozess, in: Diakonia 41 (2010), 166–173. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Bildung in Freiheit und Verantwortung – Erklärung zu Fragen der Bildungspolitik, Bonn 1993. Welter-Enderlin, Rosmarie/Hildenbrand, Bruno (Hrsg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Lebensumstände, Heidelberg 32010.

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2. In die Schule gehen

2.2 In der Schule leben und überleben HELGA KOHLER-SPIEGEL

Der Individualisierungsschub der vergangenen Jahrzehnte hat auch Schule verändert. In fast allen Lebensbereichen gilt es, aus einem wachsenden Angebot zu wählen, bei gleichzeitiger Privatisierung gesellschaftlicher Anliegen und einer Reduktion realer Lebensmöglichkeiten für viele Menschen. Mit der »Bastelmentalität« der Postmoderne geht eine hohe Ungleichzeitigkeit und Unvorhersehbarkeit der Lebensthemen einher, gesellschaftspolitische Themen sind häufig individualisiert, jede und jeder ist gefordert, sein/ihr eigenes Leben auf die Reihe zu bringen, die Lösung von Problemen liegt beim Einzelnen. In einer Zeit, in der alles möglich scheint und es an der einzelnen Person selbst liegt, erfolgreich zu sein, wächst auch der Druck auf die einzelne Person – für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Lehrpersonen. Pluralisierung gilt auch im religiösen Bereich, es gibt nicht mehr nur eine »richtige« Religion, sondern in der Vielfalt von Religion und Religiosität muss sie glaubwürdig sein. Zugleich sind Religionslehrpersonen gebunden an die eigene Kirche, an die Gemeinde, an die konkreten Ausprägungen vor Ort. Einerseits geben Kirche und Tradition den Maßstab vor, zugleich prägt aber auch die eigene Erfahrung, was zu glauben sinnvoll ist. In dieser oft als Spannung erlebten Situation werden von Religionslehrpersonen Glaubwürdigkeit und Authentizität erwartet (vgl. Englert/Güth 1999 und Feige 2000; 2006). Schule als Lebensraum für Kinder und Jugendliche muss auch Lebensraum für die Lehrpersonen sein. Deshalb gilt es, im Kontext von Schulpastoral, verstanden »als Dienst der Kirche an den Menschen im Handlungsfeld Schule« (Die deutschen Bischöfe 1996, 13), auch die Lehrpersonen mit in den Blick zu nehmen und »füreinander Verantwortung zu übernehmen« (ebd.), um sich selbst nicht zu verlieren, nicht zu ermüden und auszubrennen, sondern – um auch als Lehrperson in der Schule zu »überleben«, mehr noch: zu leben. Psychologische Erkenntnisse, Wissen um die Dynamik des Ausbrennens sowie über Jahrhunderte tradiertes religiöses Wissen können helfen, sich persönlich als Mensch und beruflich als Lehrperson zu stärken, auch feinere Signale wahrzunehmen, achtsam mit sich selbst und mit anderen Menschen zu sein – und bei all dem den Humor zu bewahren. Auch das ist »Schulpastoral«.

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Umgang mit schwierigen Situationen Neben vielem, was für Lehrpersonen positive Herausforderungen sind, gibt es belastende Situationen, die Lehrpersonen nach außen bewältigen und nach innen verarbeiten müssen. Eine erste Herausforderung ist bereits, solche »schwierigen Situationen« genau zu beschreiben. Sobald man selbst involviert ist, ist aber die genaue Beschreibung einer schulischen Szene gar nicht so einfach. Eine kleine Übung soll dies verdeutlichen: Ich lehne mich für einen Moment zurück und nehme wahr, welche schwierige Situation mir in der vergangenen Zeit entgegengekommen ist. Ich versuche, diese Szene zu beschreiben: ■ Was nehme ich genau wahr? ■ Wie beginnt die Situation? ■ Wer zeigt welches Verhalten? ■ Was nehme ich wahr, bevor ich dieses Verhalten sehe? ■ Gibt es Symptome der Ankündigung oder kommt es ohne »Vorwarnung«? ■ Ist genau das ein wichtiges Element des Schwierigen, dass es so überraschend kommt? ■ Steigert sich dieses Verhalten? ■ Wie ist sein Verlauf? Dann kann ich auch fragen: Gibt es Interventionen, ein Verhalten, das in diesem Moment hilfreich ist, das die Situation besser macht? ■ Gibt es Interventionen, ein Verhalten, das in diesem Moment kontraproduktiv ist, das die Situation schlechter macht? ■ Gibt es Interventionen, ein Verhalten, das in diesem Moment keine Wirkung zeigt, das weder besser noch schlechter ist, sondern keine Veränderung für die Situation bringt? ■

Ein erster Schritt im Umgang mit den komplexen Schulsituationen liegt im genauen Hinsehen und Beschreiben von auslösenden Faktoren, von Interventionen und ihrer Wirkung, von Möglichkeiten zur Veränderung und – leider nur manchmal – auch von Lösungen. Die Komplexität der Beobachtung lässt sich erweitern, z. B.: ■ ■ ■ ■

Wie reagieren die anderen Kinder in der Klasse? Welche Dynamik löst dieses Verhalten bei anderen Kindern aus? Verändert sich das, was schwierig ist, wenn andere Personen dazukommen? Wird es für mich anders, wenn Kolleginnen und Kollegen oder gar eine vorgesetzte Person dabei sind? Und: Was nehme ich an mir selbst wahr? Körperlich? Emotional?

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Schule ist von der Komplexität der Szenen und der Faktoren geprägt, eindimensionale Wahrnehmung behindert den Umgang im Alltag und erhöht die Gefahr des Ausbrennens. Ohne an dieser Stelle ausführlich auf das »Ausbrennen« einzugehen, sei darauf verwiesen, dass Burnout gemäß der »Internationalen Klassifikation der Erkrankungen« (ICD 10) nicht als psychische Störung gilt. Als »Erschöpfungssyndrom« (Burnout-Syndrom), gehört es zu den »Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen«. Als Syndrom, d. h. als Bündel von Symptomen, wird Burnout in folgende Phasen unterteilt: Warnsymptome der Anfangsphase – reduziertes Engagement – depressive und aggressive Reaktionen – Abbau von Leistungsfähigkeit, Motivation und Kreativität – Verflachung im geistigen und Gemütsbereich sowie im sozialen Leben – psychosomatische Reaktionen (HerzKreislauf, Magen-Darm, Muskulatur, Immunsystem usw.) – Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Suizidneigung (nach Burisch 2006, 25 f.).

Mehrdimensionale Perspektive Personale Aspekte Schülerinnen und Schüler setzen sich und ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle und ihre Verletzlichkeiten in Szene, sie drücken sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aus, verinnerlichte Beziehungsmuster werden sichtbar. Die erwachsene Person kann zu verstehen versuchen, was die Not oder die Angst oder die Energie der Schüler/innen ist, wenn sie dieses Verhalten zeigen, sie kann wahrzunehmen versuchen, für welche Situation, für welches Gefühl oder für welche Belastung die Kinder und Jugendlichen sinnvollere Formen der Verarbeitung entwickeln müssen. Die Empathie-Forschungen (vgl. Bauer 2005) haben deutlich gemacht, dass der neuronale Apparat nicht nur beim eigenen Tun, sondern auch beim Zuschauen von Handlungen anderer angeregt wird. Deshalb können Erlebnisse und Gefühle anderer mitempfunden werden. Wenn ein Kind massiv gemaßregelt wird, löst dies auch bei den zusehenden Kindern Mitgefühl oder Angst aus, ebenso wie in anderen Situationen Freude und positive Erfahrungen im Gehirn der Zusehenden mitvollzogen werden. Diese Empfindungen wahrzunehmen und zu benennen kann den Schulalltag entlasten und die erfreulichen Momente bewusster werden lassen. Für Lehrpersonen bieten Schule und die damit verbundenen komplexen Szenen ständige »Selbsterfahrung«. Eigene Muster, mit denen die Lehrperson schulische Szenen wahrnimmt und verarbeitet, stoßen gerade dann an ihre Grenzen, wenn die auftretenden Gefühle sehr stark sind und den eigenen Handlungsspielraum einschränken. In intensiven Momenten von Glück und von Trauer, von Ohnmacht oder Überraschung wird spürbar, dass sich Wahrnehmung, Erinnerung und Handlungsmöglichkeiten verändern. Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, das Kennen der eigenen

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Geschichte und der damit verbundenen Verhaltens- und Reaktionsmuster helfen, in den Herausforderungen schulischen Alltags handlungsfähig zu bleiben. Auch hier wieder ein kleiner Impuls: Vielleicht merke ich im Alltag, dass manche Situationen für mich belastend werden, wenn andere Kinder mitbetroffen sind. Oder ich merke, dass für mich Szenen schwierig sind, wenn mich eine Kollegin, ein Kollege oder eine vorgesetzte Person in dieser Situation beobachtet. Oder ich merke, dass ich bei aggressivem Verhalten von Schülern an Grenzen stoße, oder wenn dieses überraschend kommt. Vielleicht merke ich, dass ich vor allem vor dem Gefühl der Ohnmacht zurückschrecke, oder vor eigenem Zorn … Kognitive und emotionale Wahrnehmung lassen sich nicht trennen (vgl. Hüther 2005); wenn eine Lehrperson z. B. wahrnimmt, dass ein Kind unerwartet aggressiv agiert, dann passiert diese Wahrnehmung zuerst die eigenen Gefühle, bevor das Verhalten des Kindes als solches realisiert wird. Das Verhalten des Kindes ist also bereits mit den jeweils eigenen Gefühlen der Lehrperson verbunden, etwa Ärger oder Angst oder Ohnmacht. Und je nach eigener emotionaler Verstrickung in der jeweiligen Szene reagieren Lehrpersonen unterschiedlich, denn diese emotionale Verknüpfung ist wiederum geprägt von der je eigenen Biografie, den im Laufe des Lebens verinnerlichten Erfahrungen. Konkret kann das Verhalten eines Schülers in der Lehrperson Gefühle von Ohnmacht auslösen, die zugleich verbunden sind mit der verinnerlichten Überzeugung: »Wenn ich mich nur genug anstrenge, ist alles zu schaffen.« Dann wird verständlich, wieso dieses Schülerverhalten im konkreten Fall zur Belastung für die Lehrperson führt (vgl. Hüther 2006). Eigene Muster und Verhaltensreaktionen zu kennen, kann nun fragen lassen: Wie spüre ich meine Ohnmacht, wie meinen Zorn, wie Unsicherheit? Wie reagiere ich in Konflikten? Werde ich laut oder verstumme ich eher? Bin ich innerlich überzeugt, dass ich schwierige Situationen selbst lösen muss? Oder rechne ich damit, dass mir andere helfen? Ergänzend kann an dieser Stelle auf die entsprechenden Kommunikationsmodelle verwiesen werden. Was in kommunikativen Zusammenhängen jeweils gehört und nicht gehört wird, ist ebenso angebunden an biografisch geprägte Muster der beteiligten Personen. Wenn jemand gewohnt ist, Botschaften tendenziell auf der Beziehungsebene oder als Appell zu hören, kann dies das Hören der darin enthaltenen Selbstaussage verstellen (vgl. Schulz von Thun 2002). Systemische Aspekte Neben der einzelnen Person haben das jeweilige Team, vorgesetzte Personen und die Institution besondere Bedeutung. Teams helfen, eigene Wahrnehmungen durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede einzuordnen und zu verstehen, Variationen im Verhalten zu finden sowie im Miteinander ein »Wir« zu entwickeln, das die einzelne Person in ihren Handlungen stärkt.

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Zugleich kann sich schwieriges Verhalten einzelner Schülerinnen und Schüler auf andere Kinder übertragen, sodass sich dies über das Tun des Einzelnen hinaus auswirkt. Man nennt dies »Spiegelphänomene«. Damit wird die Erfahrung beschrieben, dass sich die Dynamik des Verhaltens von der Primärsituation auf eine nächste oder andere Ebene verlagern kann. Wenn also aggressives Verhalten eines Schülers bei den anderen Ohnmacht auslöst, kann dasselbe Phänomen der Hilflosigkeit auch im Helfersystem sichtbar werden; es kann sich als Ohnmacht zeigen, es kann sich aber auch als Aktionismus zur Verhinderung der Hilflosigkeit zeigen. Austausch und Reflexion im Team helfen zu verhindern, dass sich solche Spiegelphänomene auf andere Ebenen verlagern. Teams haben auch die Aufgabe, manchmal wenigstens das Verstummen oder gar Vereinsamen einzelner Kolleginnen oder Kollegen zu verhindern. Systemisches Denken geht davon aus, dass sich Themen, Stärken sowie Belastungen, die im System latent vorhanden sind, im jeweiligen System auch widerspiegeln. So kann über die einzelne Person hinaus ein System in seinen Strukturen und in seiner Kultur des Miteinanders hilfreich sein oder hilflos werden, Rollen und »Plätze« im System können lösungsfördernd oder lösungsmindernd sein. Methoden aus der systemischen Arbeit (wie zirkuläres Fragen oder Aufstellungen) unterstützen oft diesen Prozess. Konkret kann gefragt werden: Wo zeigt sich das Problem? Wer hat das Problem? Wer ist Teil des Problems? Wer ist Teil der Lösung? Wenn ich als Erwachsene/r Teil der Lösung bin, muss ich oft auch aushalten, einen Teil der Dynamik des Problems zu erleben. Teil der Lösung sein zu wollen heißt auch, sich auf das Problem einzulassen. Auf Systemebene gilt es also zu sehen, wie das System selbst und mit ihm die Personen im System handlungs- und steuerungsfähig bleiben. Besondere Bedeutung kommt dabei – aufgrund ihres besonderen Platzes im System – den Leitungspersonen zu. Ihnen obliegt u. a. Definition und Durchsetzung von Normen und Regeln für alle Beteiligten, neben den offiziellen haben vor allem informelle Bewertungen Wirkung im System. Klarheit im Blick auf Regeln, Freiräume und Grenzen, regelmäßiges Feedback, Kongruenz zwischen verbal vertretenen und konkret gelebten Werten sowie klare Arbeitsziele, offene Rollengestaltung, Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Wertschätzung sind bekannte Faktoren für Arbeitszufriedenheit aller Beteiligten. Auf gesellschaftlicher Ebene spielt auch die Anerkennung der Tätigkeit durch eine Gemeinschaft oder Teile gesellschaftlicher Öffentlichkeit eine Rolle.

Und was hilft? Präventionsmöglichkeiten Wenn es darum geht, eine humane Schule als Lebensraum für alle zu entwickeln, mit anderen Worten: schulpastoral zu handeln, dann ist entsprechende Achtsamkeit auf den verschiedenen Ebenen nötig, der Blick auf die eigene Person, das Team, das System und die Leitungsperson.

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Personenbezogene Maßnahmen Personenkonzentrierte Maßnahmen legen den Schwerpunkt auf die jeweils eigene Person. Exemplarisch seien der Zugang zu den eigenen Gefühlen und Glaubenssätzen genannt. Die eigene Biografie sowie eigene Muster und Bewältigungsstrategien zu kennen, hält die Möglichkeit zur Veränderung offen und hilft in der Verarbeitung schulischer Szenen. Techniken der Kommunikation zu kennen und sich von Zeit zu Zeit zu vergegenwärtigen, hält Kompetenz im personalen und sozialen Bereich präsent. Wissen um Zusammenhänge, Verstehen der Komplexität von Schule und der damit verbundenen Erwartungen, Ansprüche und Ideale ebenso wie Zeiten der Reflexion können hilfreiche Distanzierung ermöglichen. Regelmäßige Bewegung, mentale Techniken im Umgang mit Stress sowie körperorientierte Techniken zum Abbau von Anspannung und zur Entspannung, musikalische Betätigung, Rhythmisierung des Alltags und das Ernstnehmen von Pausen sind Hilfen im Alltag. Zugleich aber ist der Spannungsbogen wichtig: sich einlassen, ohne aufzugehen in der Aufgabe; Einfühlungsvermögen und zugleich die Fähigkeit zur Distanz bewahren; Grenzen setzen und Nein sagen; sich selbst, die eigene Verletzlichkeit wahrnehmen und Schutzmöglichkeiten entwickeln. Neben beruflicher Identität sind hier private Lebenswelten, Familie, Freunde, freie Zeiten von Bedeutung. Team- und systembezogene Maßnahmen Auf der Ebene der Teamkultur ist zuallererst »Verständnis« zu nennen. Eine verständnisvolle, unterstützende, auch nach außen solidarische Reaktion von Kolleginnen und Kollegen ist enorm wichtig. Wenn ein Schüler durch sein Verhalten eine Lehrperson massiv herausfordert, ist die Reaktion im Team entscheidend dafür, ob eine Kollegin die Schwierigkeiten weiterhin äußern oder ob sie verstummen wird. Sozialer Austausch, Wertschätzung und kollegiale Anregung haben hier eine hohe Bedeutung. Das Verhalten der Leitungsperson verstärkt oder reduziert Belastungen in einem Lehrerteam deutlich. Die Leitungsperson prägt die Spielregeln, sie kann mitsteuern, was als »Problem« und was als »Herausforderung« angesehen wird, sie unterstützt Lösungen oder Stigmatisierungen. Auf die Organisation bezogen sind v. a. klare Festlegungen von Aufgaben, Zielen und Verantwortlichkeiten, klare Rollen und wechselseitige Unterstützung sowie Freiräume im System, Vermeidung von Kränkungen, wertschätzende Formen von Feedback und Erfolgserlebnisse u.v.m. förderlich.

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Religiös-spirituelle Aspekte jüdisch-christlichen Glaubens Einerseits ist es wichtig, Arbeitsprozesse im System Schule auf diesen verschiedenen Ebenen (von Person, Team, System und Leitung) wahrzunehmen, andererseits öffnet Schulpastoral als »Dienst der Kirche an den Menschen im Handlungsfeld Schule« immer auch den Blick auf die spirituelle Dimension, in Verbindung mit der jüdischchristlichen Erfahrung Gottes als dem »der da ist«. Glauben – ein Bindungsangebot Gerade die spirituelle Dimension, die Rückbindung an den eigenen Glauben, kann eine Ressource sein, um in der Schule zu leben und manchmal zu überleben. »Glauben« bedeutet von der hebräischen Wurzel her »festhalten« und beschreibt die Bewegung des kleinen Kindes, wenn es sich in einer unsicheren Situation am Rockzipfel, an den Hosenbeinen seiner primären Bezugspersonen, meist Mama oder Papa, festhält. Die jüdisch-christliche Tradition beschreibt die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen häufig mit den Bildern von Bindung, Beziehung und Begegnung. So kann der Glaube die Erfahrung bestärken, selbst gebunden zu sein, Halt zu haben  – als Mensch und als Lehrperson. Religion, etymologisch gern mit religare – »sich rückbinden« in Verbindung gebracht, aktiviert die je eigenen Bindungserfahrungen und -muster. In der psychologischen Forschung wird Bindungsverhalten nach John Bowlby verstanden als »jede Form von Verhalten, das zum Ergebnis hat, dass eine Person Nähe zu einem anderen differenzierten und bevorzugten Individuum herstellt oder aufrechterhält« (Holmes 2002, 86). Bindung, attachment, versteht Mary Ainsworth als ein »imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet.« (zit. nach Grossmann 2004, 74). Diese Fähigkeit des Menschen, sich zu binden, schafft Sicherheit und Orientierung, und mindert Angst. Dieser Wunsch, gebunden zu sein, ist angeboren. Bindung wird dann aktiviert, wenn Gefahr für den Erhalt der Bindung besteht, wenn der Verlust der Beziehung befürchtet wird. Von Geburt an wird Bindung vermittelt durch Sehen, Hören und Halten. Gehalten zu werden und die Haut des anderen auf der eigenen zu spüren, vermittelt das Gefühl, das letztlich in Nähe und Entspannung endet. Diese körperlichen Erfahrungen werden später symbolisiert und können dadurch auch verinnerlicht abgerufen werden. Wir haben also »ein Modell von Welt«, in dem das Selbst und wichtige andere Menschen sowie ihre Beziehungen zu uns und untereinander repräsentiert sind. Für religiöse Menschen gehören die religiösen Überzeugungen, Gottesvorstellungen und die eigene Spiritualität zu diesem »Modell von Welt«, zu diesen verinnerlichten Erfahrungen, die innerlich zugänglich sind und vergegenwärtigt werden können. Glaube ermöglicht also, sich auch Gott gegenüber gut gebunden, rückgebunden zu erleben. Ich kann mich innerlich im Glauben mit Gott verbinden und als gebunden erfahren. Diese innere

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Bindung im eigenen Glauben kann Stärke und innere Sicherheit geben – auch im Alltag von Schule (Kohler-Spiegel 2008 und 2010). Die Kernbotschaft jüdisch-christlichen Glaubens Deshalb ist bedeutsam, welches Gottesbild verinnerlicht wird, mit welchem Gottesbild sich Menschen verbinden. Die jüdisch-christliche Bibel selbst redet vom Leben – und sie redet von Liebe und all den Gefährdungen von Liebe, sie redet von Angst und Freude und Mut und Ohnmacht, wenn es um die Erfahrungen des Menschen mit Gott geht. Die Bibel spricht von Gott als JHWH: »Ich bin bei dir. Ich bin da als der ich da sein werde.« Das ist das Zentrum. Der Name Gottes ist ein Bindungsangebot. Gott begleitet, richtet auf, ruft heraus und weckt zum Leben. Am Beginn und am Ende des Weges Jesu steht die Botschaft des »Ich bin bei dir«: Bei Jesu Geburt verkünden Engel die sichtbare Seite Gottes: »Fürchtet euch nicht, habt keine Angst!« Am Grab nach Jesu Tod verkünden Engel: »Fürchtet euch nicht, habt keine Angst!« Die ersten Worte des Auferstandenen an die Jüngerinnen und Jünger lauten: »Schalom. Fürchtet euch nicht!« Dies ist die Botschaft von Weihnachten und von Ostern. Der Gott der Bibel verspricht den Menschen kein einfaches und unkompliziertes, leider auch kein leidfreies Leben, aber ein begleitetes Leben, ein Leben mit etwas weniger Angst: »Ich werde da sein als der ich da sein werde. Also – ihr braucht euch nicht zu fürchten!« Es ist die Botschaft aus sicherer Bindung heraus, eindrücklich formuliert in den Worten des Paulus im Römerbrief 8,25ff: »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?« Oder im bekannten Text der Teresa von Avila: »Nada te turbe, nada te espante …«, in der Übersetzung nach Sabine Mugil:

»Nichts soll dich verwirren, nichts dich erschrecken, alles geht vorbei. Gott bleibt stets gleich und mit Geduld erreicht man alles. Wer bei Gott ist, vermisst nichts. Gott allein genügt.« Biografiebezogen – und ambivalent So ist Glaube erfahrungs- und biografiebezogen verstanden, der eigene Glaube hat zu tun mit eigenem Erleben, mit eigenem Leben. In dieser Entwicklung zeigt sich eine große Chance, eine Bereitschaft, auch ein Bedürfnis: selbst religiöse Erfahrungen zu machen, einen Ort und eine Sprache im eigenen Glauben zu finden – mit und trotz aller Ambivalenzen. Glaube als Bindungsangebot ist ganzheitlich verstanden, am Leib wird Glück spürbar ebenso wie Leiden, der verletzte, der kranke Leib ist ebenso Rea-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Ludwig Rendle Ganzheitliche Methoden in der Schulpastoral Paperback, Broschur, 400 Seiten, 16,5 x 24,0 cm

ISBN: 978-3-466-36885-3 Kösel Erscheinungstermin: Dezember 2013

Ob man gemeinsam ein Fest feiert, ob Krisensituationen bewältigt werden müssen: Die Beispiele in diesem Band zeigen, wie Schulseelsorge den Geist einer Schule positiv prägen kann. Lehrkräfte und Seelsorger erhalten Anregungen, wie gelungene Angebote aussehen können: Konfliktarbeit, Krisenseelsorge bei Unfall und Tod, Tage der Orientierung, Schulgottesdienste, Segensfeiern und vieles mehr.