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Freuds Psychoanalyse - Die relativierte Revolution AUTORIN: Prisca Straub REDAKTION: Susanne Poelchau SPRECHER Frauen leiden unter Penisneid … SPRECHERIN Männer unter Kastrationsangst. SPRECHER Die Mutter begehren und den Vater vernichten wollen … SPRECHERIN … zur kindlichen Entwicklung gehört der Ödipuskomplex. SPRECHER Sexualität ist der Schlüssel für alle psychischen Konflikte … SPRECHERIN … und wer von einer Zigarre träumt, der meint in Wirklichkeit natürlich keine Zigarre … SPRECHER … sondern einen Penis - einen vom Bewusstsein zensierten Penis! SPRECHERIN Das ist ja neurotisch! SPRECHER Nein, im Gegenteil - alles sehr gewöhnlich! SPRECHERIN So viel zumindest weiß man gerüchteweise über Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, der sich übrigens am liebsten mit einer dicken Zigarre in der Hand fotografieren ließ. SPRECHERIN Was ist geblieben von Sigmund Freud! Was lässt sich heute zum Beispiel anfangen mit Begriffen wie Kastrationsangst und Penisneid? Wie hilfreich ist die Theorie vom Ödipuskomplex in der modernen therapeutischen Praxis? So viel scheint unter Fachleuten zumindest unbestritten zu sein: 1 ZSP Freud Ach wissen Sie, der alte Freud. Es ist über 150 Jahre her, dass er gelebt hat. Er konnte auch noch nicht alles antizipieren. Und Gott sei Dank sind wir ein Stück weiter an Erkenntnissen.

2 SPRECHERIN Sagt Professor Marianne Leuzinger-Bohleber, Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt. SPRECHER Wie viel ist also von Freud noch zu retten? Welche seiner Überzeugungen erweisen sich noch immer als hilfreich, welche gelten als überholt - und welche Ideen gehören unter Umständen ganz über Bord geworfen? SPRECHERIN Zunächst ein paar Fakten. SPRECHER Über kaum einen Autor des 20 Jahrhunderts ist so viel geschrieben worden wie über Sigmund Freud. Immerhin gehören seine Theorien zu den großen Kränkungen des menschlichen Selbstverständnisses. Hatte Galileo Galilei den Menschen aus dem Mittelpunkt des Universums verbannt und Charles Darwin ihn als Krone der Schöpfung vom Sockel gestoßen - Sigmund Freud hat unserer Selbstgewissheit mit seiner Lehre vom unbewussten Seelenleben einen weiteren, schmerzhaften Dämpfer verpasst. SPRECHERIN Seine ungeheuerliche These: Der Mensch, so vernunftbegabt er sich auch wähnt, auf einer tiefen geistigen Ebene funktioniert er auf primitivste Art und Weise. Er ist getrieben von Impulsen, von denen er nicht einmal ahnt, dass es sie überhaupt gibt. Diese verborgenen unterbewussten Kräfte - sie bestimmen das Bewusste in einem solchen Ausmaß, dass der Mensch sich selbst gegenüber im Grunde fremd vorkommen muss. Der jüdische Nervenarzt aus Wien hat den Menschen die Illusion geraubt, Herr im eigenen Haus zu sein. SPRECHER Schon zu Lebzeiten hat Sigmund Freud glühende Verehrer und erbitterte Feinde. Von Zeitgenossen wie von Nachfolgern wird er ebenso idealisiert wie verspottet. Den einen gilt er geradezu als Übervater, als Gründerfigur einer ganz neuen Denkrichtung andere verhöhnen ihn als unwissenschaftlichen und sexualfixierten Scharlatan. SPRECHERIN Sein am wenigsten umstrittenes Werk und gleichzeitig sein bekanntestes ist "Die Traumdeutung": ZITATOR Freud Ich werde den Nachweis erbringen, dass es eine psychologische Technik gibt, welche es gestattet, Träume zu deuten, und dass bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt . SPRECHER Natürlich ist Freud keinesfalls der erste, der danach fragt, warum wir träumen und was Träume eigentlich sind. Die Beschäftigung mit Träumen ist um 1900 weder originell noch neu. Und doch machen Freuds programmatische Sätze am Beginn seines grundlegenden Werkes deutlich: Hier geht es offensichtlich um eine ganz neue Methode. Um eine bis dahin nie gekannte Systematik, mit der Freud so etwas Flüchtigem wie Traumgespinsten auf die Schliche kommen möchte. Marianne Leuzinger-Bohleber vom Sigmund-Freud-Institut: 2 ZSP Freud Dass Träume, wie er das genannt hat, die "Via Regia" zum Unbewussten sind, also ein Schlüssel sind für unbewusste Informationsverarbeitungsprozesse würden wir heute sagen, das ist immer noch ein großer Konsens in der Psychoanalyse.

3 SPRECHER Ausgerüstet mit dem richtigen Handwerkszeug, so verspricht Freud, soll es möglich sein, den Träumen einen unter der Oberfläche versteckten Sinn zu entlocken. Und zwar allen Träumen, so skurril und abseitig sie auf den ersten Blick auch zu sein scheinen. Es geht um eine tiefere, sozusagen eingekapselte Bedeutung, die Analytiker und Patient in der sogenannten "Traumarbeit" freilegen und vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichte des Träumers deuten. So erlaube der Traum direkte Rückschlüsse auf die im Verborgenen schlummernden Antriebsmomente. Der Traum sei also das Mittel der Wahl für die Erforschung des Unbewussten. SPRECHERIN Darüber herrscht bis heute Konsens unter Psychoanalytikern: Träume sind -so meinen sie - kein zusammenhangloser, irrationaler Unsinn, sondern sinnstiftende, psychische Gebilde. Der Traum entspringt einer speziellen inneren Logik und kann äußerst kostbare Informationen über innere Wahrheiten liefern. Informationen, die dem Träumenden im Wachzustand eben nicht zur Verfügung stehen. SPRECHER Soweit so gut. Doch gehen wir einen Schritt weiter. Freud sagt, der Traum sei im Wesentlichen das Ergebnis von in das Bewusstsein drängenden, tabuisierten, meist sexuellen Wünschen. Und auf diese Weise sei der Traum sogar eine Wunscherfüllung aus dem Unbewussten. An dieser Stelle ist die Psychoanalyse heute - Hand in Hand mit der modernen Schlaf- und Traumforschung - ohne Zweifel ein großes Stück weiter. 3 ZSP Freud Das Konzept der Wunscherfüllung ist ein bisschen eng. Wir verstehen heute Träume eher als einen Versuch der schlafenden Seele, neue Lösungen auszuprobieren. Und sie benutzt da Visualisierungen, Traumbilder, die das Gehirn produzieren kann. SPRECHER Heute wird der Traum als eine seelische Verarbeitungsform von aktuellen und früheren Konflikten betrachtet. Der Traum stellt dabei eine Art Probehandlung für mögliche Lösungen dar. 4 ZSP Freud (…) Und das ist sehr faszinierend in der therapeutischen Situation, weil Träume kann man eben viel weniger steuern als anderes, was man dem Therapeut mitteilt Und daher bilden sie für den Analytiker und für den Patienten oft ein wichtiges Material um herauszufinden, was im Moment denn gerade den Analysanden umtreibt und in der Nacht sich mit der Traumsprache versucht auszudrücken. SPRECHERIN Träume gelten heute also eher als Probehandlung, denn als Wunscherfüllung. Das relativiert auch eine andere berühmte These Sigmund Freuds. Die Idee von der Arbeit des Über-Ichs. Freud stellte sich noch vor, dass die mit dem Traum ins Bewusstsein drängenden Inhalte triebhaft und sozial inakzeptabel seien. SPRECHER Mit anderen Worten: schlicht unsagbar peinlich! SPRECHERIN Also verkleide sie ein innerer Zensor, das Über-Ich, in akzeptable, harmlose Bilder. SPRECHER Jeder kennt die berüchtigte Beispiele: Zigarre, Spazierstock, Schlüssel für Penis … Schlüsselloch, Tasche, Höhle für Vagina…

4 SPRECHERIN Und heute? Heute darf eine geträumte Zigarre also zumindest auch bleiben, was sie auf den ersten Blick ist - einfach nur - eine Zigarre! SPRECHER Heißt das dann auch im Umkehrschluss, dass die berühmten drei Freud'schen Instanzen ausgedient haben? Das Über-Ich - der Zensor, moralische Instanz. Das Es als triebhafter Teil des Individuums. Und das Ich, das zwischen beiden zu vermitteln versucht? Das wäre zu weit gegangen, meint Marianne Leuzinger-Bohleber: 5 ZSP Freud Für mich ist das ein Modell. Ich lehre das meinen Studenten manchmal so als historisches Wissen. Und weil man mit diesem Modell zum Teil Konflikte in der Adoleszenz sehr gut verstehen kann. Also, das Über-Ich, als Werte-Raum, als Instanz, wo die Gesetze, aber auch die Ideale enthalten sind, und dass das in Konflikt gerät mit Wünschen, Triebwünschen im weitesten Sinn, und (…) das kann man mit diesem alten Freud'schen Modell immer noch, finde ich, recht gut erklären. Aber dann gibt es eben andere Modelle, die ebenso wichtig sind (…) Man kann nicht alles nur mit dem Strukturmodell erklären. SPRECHERIN Es, Ich und Über-Ich liefern für die Psychoanalyse immer noch eine brauchbare BasisTopografie der Seele. Aber neben dem Freud’schen Strukturmodell ist heute vor allem die Bindungstheorie wichtig geworden. Sie relativiert die starke Betonung des Sexuellen bei Freud, das die Psychoanalytikerin Leuzinger-Bohleber eher als historisch bedingt versteht. 6 ZSP Freud Ich glaube, da muss man schon daran denken, in welcher Zeit Freud gelebt hat. Das Wien Anfang des 20, Jahrhunderts. Da war die Sexualität sehr stark gesellschaftlich tabuisiert. Und dass er dann die Bedeutung der Sexualität - als etwas Widerspenstiges, das eben aus dem Bewusstsein verbannt werden muss - dass er das ein Stück weit überschätzt hat, weil das eben kulturelles Tabu war das glaube ich schon. SPRECHER Die Bindungstheorie hat mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen die Freud'sche Triebtheorie unwiderruflich in ihre Schranken verwiesen. Sie ist geradezu als Gegenbewegung zu Freud und seiner Sexualfixierung in den 1970er Jahren entstanden 7 ZSP Freud (…) Also Bowlby und andere Forscher haben gezeigt, dass der menschliche Säugling eben auch sehr stark ein Bindungsbedürfnis hat. Nach Geborgenheit, Zärtlichkeit usw. strebt. Dass das ein ebenso wichtiges Motivationssystem ist wie die Sexualität. Und da hat das Pendel dann eine Zeit lang in die andere Richtung geschlagen, dass man die Bedeutung der kindlichen Sexualität, aber Sexualität überhaupt dann unterschätzt hat. Und das ist ganz spannend, dass es in der neuesten Diskussion wieder eine neue Integration gibt von dem, was Freud die Triebtheorie genannt hat, und eben die Erkenntnisse der Bindungsforschung, dass das wieder neu zusammengedacht wird. SPRECHERIN Was bleibt also von Freud? Sicher nicht Freud in Reinform. Doch einige seiner grundsätzlichen Überlegungen tauchen in vielen psychologischen Disziplinen immer

5 wieder auf - in der Entwicklungspsychologie, der Persönlichkeitspsychologie, der Säuglingsforschung. SPRECHER Freud wird also überarbeitet und ergänzt. Und das ist kein Wunder. Denn was Freud um 1900 im Wesentlichen aus der persönlichen Erfahrung mit seinen Patienten geschlossen hat, das braucht heute - rund 100 Jahre später - zur Bestätigung die Datenfülle großer empirischer Studien. Und sogar den Blick ins Gehirn. SPRECHERIN Die Psychoanalyse ist zu einem großen Teil von der Couch ins Labor gewandert. Anhand von aktuellen klinischen Beobachtungen und modernen bildgebenden Verfahren kann man heute immer genauer und immer detaillierter die Funktionsweise des psychischen Apparats enthüllen. SPRECHER Hirnforscher haben inzwischen entschlüsselt, wie die Schaltkreise des Gehirns funktionieren. Wie sich neuronale Vernetzungen schon im Mutterleib und später dann beim Kleinkind entwickeln. Die Trauma-Forschung konnte Auffälligkeiten nachweisen, wenn in diesen frühen Phasen etwas schief geht. Die Biochemie des Hirns wird zunehmend enträtselt, komplexen Vorgängen wie Gedächtnis und Vergessen ist man auf der Spur. SPRECHERIN Und erstaunlicherweise lassen sich viele der neueren Erkenntnisse mit Freud’schen Überlegungen in Einklang bringen: So wissen Neuropsychologen, dass unser Gehirn tatsächlich nichts vergisst. Dass jede Erfahrungen gespeichert wird - und - auch das steht im Einklang mit Freud - dass Kindheitserfahrungen tatsächlich jederzeit abrufbar sind. Vorstellbar sozusagen als biochemische Zündschnur aus der Vergangenheit - die in der Gegenwart des Erwachsenen gezündet wird. SPRECHER Freud hingegen kannte noch keine bildgebenden Verfahren. Er wusste nichts über EEG und Hirnscan. Er hatte keine Ahnung von Botenstoffen im Gehirn, neuronalen Schaltkreisen und der Existenz von Sexualhormonen. Trotzdem war er überzeugt, dass die Psyche auf irgendeine Weise im Hirngewebe präsent sein müsse. Nur kam er mit den ihm zur Verfügung stehenden Methoden - mit Mikroskop und Skalpell - hier nicht weiter. SPRECHERIN Wenn man heute sogar die Wirksamkeit von Psychotherapie als elektrisches Aktivitätsmuster im Hirn abbilden kann - dem menschlichen Bewusstsein also mit naturwissenschaftlichen Methoden zu Leibe rückt - dann führt das die Arbeit von Sigmund Freud durchaus in seinem Sinne weiter. Wobei es natürlich eine Illusion bleibt, Röntgenaufnahme der Seele herstellen zu können. Professor Marianne Leuzinger-Bohleber vom Frankfurter Sigmund-Freud-Institut: 8 ZSP Freud Ich bin ganz fasziniert, was da alles an Dialog möglich ist Moment. Natürlich werden die dann auch wieder überschätzt. Also die Hirnbilder zeigen uns nicht einfach wie die Seele aussieht (lacht). Man muss da schon aufpassen, was sind die Methoden der Neurowissenschaft, was sind unsere Beobachtungen mit Patienten, die wir in der therapeutischen Beziehung machen. Aber dass wir Beobachtungen in einen kritischen Dialog mit den Neurowissenschaften bringen, das finde ich sehr spannend.

6 SPRECHER Lange hat die Psychoanalyse auf Kritik von Außen äußerst empfindlich reagiert. Heute ist klar, dass es keine wissenschaftliche Erkenntnis geben kann ohne kritische Überprüfung. SPRECHERIN Und dabei geht es natürlich auch um den berüchtigten Ödipuskomplex. SPRECHER Die Mutter begehren, den Vater vernichten wollen … SPRECHERIN Der Ödipuskomplex beschreibt die eifersüchtige Liebe des Kindes zur Mutter, das den väterlichen Rivalen beseitigt haben möchte. Freud, der dieses psychische Phänomen der frühen Kindheit auch bei sich selbst entdeckt haben will, setzt es unter Zuhilfenahme des Ödipus-Mythos ins Bild. Doch Vatermord und Inzest mit der Mutter finden natürlich nicht real statt wie bei Ödipus, sondern werden als konfliktträchtige, unbewusste Impulse im Inneren des Individuums ausgetragen. Ein typischer Vorgang in einer ganz bestimmten Entwicklungsstufe - so Freud - und sein eisernes Credo, von dem er sich trotz großer Anfeindungen nie abbringen ließ. ZITATOR) Man kann nicht behaupten dass die Welt der psychoanalytischen Forschung für die Aufdeckung des Ödipuskomplexes sehr dankbar gewesen ist. SPRECHERIN Dennoch genießt der wohl berühmteste der Freud'schen Begriffe ungebrochene Beliebtheit. Die Psychoanalyse hält bis heute an ihm fest. 9 ZSP Freud Ja, vielleicht um eine provokative Diskussion in Gang zu setzen, durchaus. Es gibt heute sehr präzise entwicklungspsychologische Forschungen, die zeigen, dass im Alter zwischen 3 und 5 Jahren - in der Phase, die Freud die ödipale Phase genannt hat dass das Kind einen wichtigen Schritt (..) macht, (…) wo es darum geht, sich mit einer Dreieckssituation auseinanderzusetzen (…) Und darum versteht man heute den ödipalen Konflikt als die Fähigkeit, sich in engen Beziehungen, Dreieckskonstellationen auseinanderzusetzen, wo man sich mit heftigen Gefühlen der Leidenschaft, des Dazugehören-Wollens, den einen für sich haben wollen, mit Eifersucht und den Gefühlen von Ausgeschlossenheit konfrontiert sieht. Und dass das dann für ein 3-, 4-, 5-jähriges Kind eine sehr heftige Dimension hat, die Freud in Bezug auf die griechische Mythologie mit dem Ödipus Komplex beschrieben hat, das kann uns immer noch sensibilisieren für die Heftigkeit kindlicher Gefühle in diesem Alter. SPRECHER Hier ist die moderne Psychoanalyse also weit zurückgerudert. Der inzestuöse Skandal ist fast ausgeblendet. Der Ödipuskomplex nur noch eine Bezeichnung für ein generelles, emotionales kindliches Dilemma. Und keineswegs geht es hier nur um ein Drama zwischen Söhnen und Vätern. Diese moderne Interpretation widerlegt Freud nicht grundsätzlich, öffnet aber den Blick. Denn wieder weist sie über Freuds sexualisierte und vorwiegend am männlichen Kleinkind orientierte Sichtweise weit hinaus. SPRECHERIN Und überhaupt: Freuds sehr einseitige Konzentration auf das Männliche in der Psychoanalyse wird heute besonders kritisch gesehen.

7 SPRECHER Tatsächlich ist seine reaktionäre patriarchalische Sichtweise für heutige Leserinnen und Leser nahezu unerträglich. Stichwort Penisneid! ZITATOR Von dem kleinen Mädchen wissen wir, dass es sich wegen des Mangels eines großen sichtbaren Penis für schwer benachteiligt hält, dem Knaben den Besitz neidet und (…) den Wunsch entwickelt, ein Mann zu sein. SPRECHERIN Das kleine Mädchen als defekter Junge? Die eine Hälfte der Menschheit unzufrieden mit seiner Geschlechterrolle? Ist der Penisneid noch zu retten? Da nimmt auch die Freud-Forscherin Marianne Leuzinger-Bohleber kein Blatt vor den Mund: 10 ZSP Freud (lacht) Also, ich meine, von Frauen hat der gute Freud nicht so viel verstanden, meiner Meinung nach (lacht). Da war er auch Mann seiner Zeit. Aber das Neidproblem, dass das eine wichtige Dimension ist in der kindlichen Entwicklung ist, ich glaube, da hat er wieder etwas auf den Punkt gebracht. Aber er hat das vor allem auf das Mädchen bezogen mit dem Penisneid. Wie wissen heute, dass die kleinen Jungs auch etwas verarbeiten müssen, wenn sie entdecken, dass sie mal keine Kinder kriegen können. Dass es durchaus so etwas wie einen Gebärneid gibt. SPRECHERIN Auch beim Penisneid rudert die moderne Psychoanalyse um das eigentlich Skandalöse zurück. Das konkrete Neidthema wird einfach zu einem generellen Neidthema gemacht, der Frauenverachtung dadurch die Spitze genommen. Bestehen bleibt eigentlich nur die äußerst befremdliche Terminologie, der Grundgedanke dahinter aber hat sich gewandelt. 11 ZSP Freud (…) Einerseits kann man sich ja auch an alten Begriffen in einem positiven Sinn abarbeiten (…) Wenn es einem nur darum geht, wie eine Bibel-Exegese eine FreudExegese zu machen, das ist eigentlich vorwissenschaftlich. SPRECHERIN Also nochmal: Was bleibt von Freud? Rund 100 Jahre nach seinen wichtigsten Abhandlungen geht es heute in der Psychoanalyse nicht mehr darum, Freud nachzubeten oder ihn gar zu idealisieren. Es geht eher darum, seine Überlegungen weiterzutreiben und mit heutigem Wissen zu verbinden. Es ist erstaunlich, wie viel von Freud mit modernen wissenschaftlichen Ergebnissen gestützt werden kann. Immer wieder ist er durch die Hintertür wieder da. Auf der Strecke geblieben ist allerdings seine übergroße Betonung des Sexuellen. Und inzwischen gibt es weitere Erklärungsmodelle für seelisches Geschehen - und natürlich auch andere Therapieformen als die Psychoanalyse. Freud darf also weiterhin als großer Aufklärer gelten - ein Säulenheiliger ist er aber nicht, findet auch die Freud-Expertin Professor Marianne Leuzinger-Bohleber. 12 ZSP Freud Ich bin ziemlich sicher, er würde sich am ehesten erkannt vorkommen - wenn man ihn würdigen würde in seiner historischen Bedeutung. (…) Also diese Heilgenverehrung das ist für mich immer wieder irritierend so ein Idealisierungsbedürfnis.

8 Psychoanalytisch gesehen, ist das ein Abwehrmechanismus (lacht). Idealisierung ist immer die Kehrseite der Entwertung. Ich meine, Freud wird ja auch gleichzeitig immer entwertet. Man hat beides die Idealisierung und die Entwertung. Dabei hat er einfach gelebt vor über 100 Jahren, er hat einen Beitrag geleistet, eine neue wissenschaftliche Disziplin gegründet, und die müssen wir weiterentwickeln. stopp