Exkurs: Politische Parteien und direkte Demokratie in Westeuropa

Exkurs: Politische Parteien und direkte Demokratie in Westeuropa Im Unterschied zu den US-Bundesstaaten haben die Parteien in den direktdemokratischen...
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Exkurs: Politische Parteien und direkte Demokratie in Westeuropa Im Unterschied zu den US-Bundesstaaten haben die Parteien in den direktdemokratischen Prozessen der "parteienstaatlich determinierten Demokratien" in Westeuropa "eine relevante Rolle", so Luthardt.46 Ohne eine Reflexion der Funktion der politischen Parteien und ihrer Interessen könne die referendumsdemokratische Praxis in westeuropäischen Parteiendemokratien nicht verstanden werden. Luthardt hält es für "verfehlt, die antinomische Gegenüberstellung: 'direkte Demokratie versus politische Parteien' als Grundmuster heranzuziehen".47 In seiner westeuropäischen Vergleichsstudie formuliert Luthardt für Volksbegehren der Parteien den Begriff der Parteieninitiative: "Diese Form kann als Parteieninitiative, als Verlängerung der Parteienpolitik und eines Wechsels der (parlamentarisch-) repräsentativen Politikarena bezeichnet werden. Auch hier sind zwei Unterscheidungen erforderlich: die Initiative wird vor allem von kleinen bzw. kleineren Oppositionsparteien und, eher sporadisch, auch von ansonsten im Parteien- und Regierungssystem fest etablierten, die Oppositionsrolle gelegentlich oder für längere Zeit einnehmenden großen Parteien mit ergriffen."48 Luthardt unterscheidet in seiner Typologie nach den direktdemokratischen Akteuren die gouvernementale Initiative, die Parteieninitiative, die Verbändeinitiative und die Volksinitiative. Kleine Parteien, vor allem solche des linken politischen Spektrums, bedienten sich direktdemokratischer Mittel; bei großen Parteien stünden dabei oft parteiinterne Konflikte im Hintergrund.49 Referenden können nach Auffassung von Arend Lijphart in Konkurrenzdemokratien mit ausgeprägtem Parteienwettbewerb als "consensual instrument" wirken.50 Neben den komparativen Studien von Luthardt und Möckli ist für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit die Studie von Laurence Morel von besonderem Interesse, in der die Einstellungen der politischen Parteien zu den Referenden in Westeuropa untersucht wurden.51 Die 46

Wolfgang Luthardt, Direkte Demokratie. Ein Vergleich in Westeuropa, Habil. schrift, Berlin 1992, S. 19 und S. 69; mit Verweis auf: Gordon Smith, The Referendum and Political Change, in: Government and Opposition, Vol. 10, Nr. 3, 1975, S. 294 - 305, S. 303: "The 'nature' of a referendum is substantially defined by the attitudes taken towards it by the parties and by the electorate". 47 Luthardt, a.a.O., S. 265 48 Wolfgang Luthardt, Direkte Demokratie. Ein Vergleich in Westeuropa, Baden-Baden 1994, S. 169 f (Überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift, Berlin 1993, S. 272) 49 Luthardt, a.a.O., S. 170 f (273 f) mit Verweis auf die Konflikte der Labour Party beim britischen EGReferendum und der schwedischen Sozialdemokratie beim Kernkraft-Referendum. 50 Arend Lijphart, Democratic Political Systems: Types, Cases, Causes, and Consequences, in: Journal of Theoretical Politics, Nr. 1, 1989, S. 33 - 48, S. 38. 51 Laurence Morel, Party Attitudes Towards Referendums in Western Europe, in: West European Politics, Vol. 16, No. 3, July 1993, S. 225 - 244

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Autorin behandelte 17 landesweite Referenden in acht parlamentarischen Demokratien, die zwischen 1975 und 1991 stattfanden, mit Stellungnahmen von 94 Parteien. Die Länderliste umfaßte Großbritannien, Österreich, Schweden, Spanien, Dänemark und Frankreich mit jeweils einem Referendum, Irland mit zwei und Italien mit neun Referenden. Die Schweiz und die USStaaten wurden ausgeschlossen, weil in diesen beiden System die politischen Parteien einen geringen Einfluß ausübten, und weil dort die direkte Demokratie bereits zum Routineverfahren gehöre. Zunächst unterschied die Autorin die Parteipositionen danach, ob sie der Durchführung eines Referendums zustimmten oder es ablehnten. Da in zahlreichen Fällen die Position in den Parteien uneinheitlich ausfiel und sich im Lauf des Prozesses wandelte, wurde die endgültige, offizielle Position der Parteiführung beziehungsweise der Parteivorsitzenden festgestellt. Im nächsten Schritt wurde eine Typologie aufgestellt, die darlegt, welche funktionalen und dysfunktionalen Wirkungen Referenden für die Anliegen der Parteien ausüben. Im Blick auf den Zusammenhalt der Partei kann ein Referendum einigend oder trennend wirken. Hinsichtlich der Gesetzgebung kann das Referendum ein politisches Vorhaben durchsetzen oder es durch die Volksabstimmung verhindern. Bezüglich des Machtinteresses der Partei kann das Referendum zu Gewinn oder Verlust führen. Die Legitimität einer Entscheidung kann durch das Referendum besonders begründet werden, aber auch die Rolle der Partei entlegitimieren.

Typology of party functions and dysfunctions of referendums Party concern

function

dysfunction

Internal cohesion Legislation Power Legitimacy

unifying passing a policy political profit special legitimation of policy

divisive popular rejection politcal losses delegitimation of party role

Quelle: Laurence Morel, Party Attitudes Towards Referendums in Western Europe, in: West European Politics, Vol. 16, No. 3, July 1993, S. 225 - 244, S. 230

Die vier Anliegen der Parteien werden unter Bezugnahme auf die Abstimmungsfälle diskutiert. Mit Blick auf den Zusammenhalt kann das Referendum als Mittel gebraucht werden, die Einheit der Partei zu sichern. In Streitfällen über kontroverse Themen wird das Referendum eingesetzt, um drohende Spaltungen zu verhindern; mit der Volksabstimmung soll der interne Konflikt gelöst werden.

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"One of the most striking features of referendums is their ambiguous impact on the internal cohesion of groups (parties or party coalitions) faced with a divisive issue. The 'paradox' of referendums is that they may intensify or endanger existing divisions."52 Das britische Referendum über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1975 wurde von Labour Parteichef und Premierminister Harold Wilson herbeigeführt, weil in der Labour Party auf allen Ebenen beitrittsgegnerische Mehrheiten bestanden. Wilson hätte den EG-Beitritt im Parlament nur mit Hilfe der Konservativen und Liberalen durchsetzen können und hätte damit eine innerparteiliche Rebellion hervorgerufen. Da die Beitrittsgegner selbst ein Referendum forderten, konnte das Referendum als Konfliktlösung angesehen werden. Gerade im Vorfeld von Wahlen scheint das Referendum gerne instrumentalisiert zu werden, um einen innerparteilichen Konflikt auszulagern und die Wahlchancen zu sichern. Der SPÖ-Vorsitzende und österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky fürchtete, im Streit um das Atomkraftwerk Zwentendorf entweder die Einheit seiner Partei und ihre Wahlchancen, oder aber die konsensuale Zusammenarbeit mit ÖVP und FDÖ zu riskieren, die eine Inbetriebnahme des Kraftwerks ablehnten. Die Volksabstimmung 1978 brachte zwar die von Kreisky nicht erwünschte Stillegung in Zwentendorf, sicherte aber die Einheit der eigenen Partei und die Kooperation mit den anderen Parteien und darüber hinaus den nächsten Wahlsieg. Diese Erfahrung machten sich die Schwedischen Sozialdemokraten zunutze, wo das Kernenergieprogramm ebenfalls drohte, die Partei zu spalten oder die Regierungsmehrheit zu verlieren. Die Volksabstimmung 1980 diente als "Blitzableiter für den Dissens". Andererseits können Referenden die innerparteiliche Einheit gefährden. Im Fall der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft lehnte 1975 die Conservative Party im Parlament die Durchführung des Referendums ab, weil sie eine Parteikrise vermeiden wollte. Ebenso befürchtete die französische Rechte aus UDF und RPR innerparteiliche und zwischenparteiliche Konflikte und lehnte daher ein Referendum über den Status von Neukaledonien 1988 ab. Die drei Referenden zur Kernenergie und die zwei Referenden zur Justiz in Italien 1987 wurden von den Christdemokraten und den Kommunisten abgelehnt, weil sie in den betreffenden Fragen zerstritten und um die Einheit ihrer Parteien besorgt waren. Die DC mußte befürchten, daß ihre Regierungskoalition scheitern würde. Im Hinblick auf die Durchsetzung einer Gesetzgebung wird bei bestimmten Vorlagen ein obligatorisches Referendum verlangt, oder aber die Partei strebt ein Referendum als Oppo-

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sitionsinstrument gegenüber Regierung und Parlamentsmehrheit an, wenn sie sich die Zustimmung der Wählerschaft erhofft. "The fact that a referendum is obligatory does not mean that it automatically takes place and that parties have no say whether to hold it or not. They sometimes abandon a piece of legislation in order to avoid a referendum which threatens to damage their interests. In other cases, they wish the referendum per se, in the hope of reaching some political aims having nothing to do with the promotion of the issue put to the people." 53 Die irische Fianna Fail Partei verpflichtete sich, 1983 ein Referendum über den Schwangerschaftsabbruch durchzuführen und erhielt im Austausch die Zusage der Interessengruppen, daß sie das Thema nicht in die Wahlkämpfe 1981 und 1982 bringen würden. Das Verfassungsreferendum über die Ehescheidung von 1986, das von Fine Gael und den Labour and Workers parties herbeigeführt wurde, sollte nach der Vorstellung von Fine Gael-Chef und Premierminister Garret FitzGerald dazu dienen, dem protestantischen Nordirland eine Wiedervereinigung schmackhaft zu machen. Die Zulassung der Ehescheidung sollte zu einer Säkularisierung der Republik Irland beitragen. Die Arbeiterparteien standen unter Druck wegen der Wirtschaftsund Sozialpolitik und wollten ihre Wählerschaft befriedigen, die das Scheidungsrecht forderte. Allerdings führte das Referendum zu inneren Konflikten bei Fine Gael. "The study of party attitudes towards referendums shows that parties whose position is likely to be defeated at a referendum will generally be hostile to holding it. Even if it were to serve as an opposition device, parties are reluctant to engage in a referendum without good chances of winning, with the possible exception of small and politically isolated, or extra-parliamentary, parties, which are more likely to seek publicity at any cost."54 Die Aussicht auf eine Abstimmungsniederlage führt Parteien zu einer Vermeidungsstrategie gegenüber dem Referendum. Die Mehrzahl der irischen Parteien wollte 1987 das Referendum über die Europäische Gemeinschaft vermeiden, weil die Europäische Akte in allen Parteien umstritten war. Nur die Workers Party sah das Referendum als Minderheitenwaffe an. Fianna Fail, Fine Gael und die Labour Party fürchteten um ihre Glaubwürdigkeit, innere Einheit, und um die Chancen in der Abstimmung. Schließlich verfügte der Oberste Gerichtshof aufgrund einer Klage gegen die Parlamentsentscheidung zur EG-Akte, daß das Referendum gemäß der Verfassung obligatorisch sei. 53 54

Morel, a.a.O., S. 233 Morel, a.a.O., S. 234

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In Italien wollte die Mehrzahl der Parteien 1985 ein Referendum zum Lohnindex verhindern, weil sie fürchteten, in der Volksabstimmung zu unterliegen. Die PCI hatte das Referendum angestrengt, um der DC-Regierungskoalition und der Konkurrenzpartei PSI eine Niederlage zuzufügen. Das Parlament kann die Durchführung des Referendums verhindern, wenn es die betreffenden beanstandeten Gesetze substantiell verändert. So versuchten die Parteien, der PCI das Referendum abzuhandeln, blieben aber aufgrund des gewerkschaftlichen Widerstandes erfolglos, so daß das Referendum durchgeführt wurde. Im Referendum wurde Bettino Craxis Dekret zur Kürzung des Inflationsausgleichs nach der automatischen Lohngleitklausel (scala mobile) bestätigt; er hatte mit dem Rücktritt als Ministerpräsident gedroht.55 Im Verhältnis der Parteien zur Macht wird mit dem Referendum einerseits die Hoffnung auf Machtzuwachs, andererseits die Sorge vor Machtverlust verbunden. Der PSI-Vorsitzende und Ministerpräsident Bettino Craxi verband mit den Justiz- und Nuklear-Referenden 1987 die Absicht, die DC auszuspielen. Jedoch mußte, egal wie die Volksabstimmungen ausgehen würden, mit innerparteilicher Uneinigkeit und mit Folgen für die folgenden Wahlen gerechnet werden. Die Funktionalität des Referendums im Parteienwettbewerb um die Macht besteht darin, daß es für die gegnerische Partei dysfunktional ist, sei es, weil sie die Abstimmung verliert, oder weil sie dadurch gespalten wird. Der Referendumserfolg für Parteien besteht darin, beim Mehrheitsstandpunkt die führende Rolle eingenommen zu haben und die Entscheidung zu verantworten, darüber die Wählerschaft befinden zu lassen. Dazu verhilft oft die Position der Regierungspartei mit dem Parteivorsitzenden als Regierungschef. Ein zusätzlicher Faktor ist die Höhe des Abstimmungsresultates. Der wahre politische Sieg einer Partei beim Referendum liegt darin, argumentiert Morel, konkurrierende Parteien dazu zu bringen, ihrer Haltung zu folgen. In dieser Situation befand sich die regierende PS in Frankreich 1988. Vorrangig ging es um die Frage des künftigen Status der Kolonie Neukaledonien, daneben diente es dazu, die UDF und RPR auseinander zu dividieren. Die sozialistische Minderheitenregierung von Premierminister Michel Rocard profitierte davon, mit der UDF zu kooperieren, um weitere parlamentarische Mehrheiten in anderen Fragen zu bilden. Während die frühere RPR-UDF-Regierung die Neukaledonien-Frage nicht lösen konnte, stellte sich die PS mit Präsident Francois Mitterand, der das Referendum ausgelöst hatte, als strahlender Sieger dar. In solchen Fällen zeigt sich die plebiszitäre Akklamationsfunktion des Referendums.

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Anna Capretti, Direkte Demokratie in Italien, in: Heußner, Jung, Hg., Mehr direkte Demokratie wagen, München 1999, S. 123 - 141, S. 137 f

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In der Ambivalenz des Referendums liegt es, daß es nicht nur zu politischem Machtgewinn, sondern auch zu Niederlagen und Rückschlägen führen kann. Dies erläutert Morel für das konsultative Referendum in Spanien über den Verbleib in der NATO 1986. Der Führer der Popular Coalition, Manuel Fraga, kalkulierte, daß seine Partei, welche Spanien 1981 in die NATO geführt hatte, - wie auch immer die Abstimmung ausgehen würde - in jedem Fall Nachteile erwarten müßte, lehnte die Durchführung der Befragung ab und empfahl schließlich die Stimmenthaltung. Der Sozialistenchef González hatte bis zu seiner Kehrtwende 1984 die NATO-Mitgliedschaft abgelehnt. "On the whole, the most typical effect of the referendum is to confront the people with their representatives. Most of its disruptive consequences and political drawbacks, are related to this."56 Das obligatorische Referendum ist geeignet, einer politischen Entscheidung besondere politische Legitimität zu verleihen, vorausgesetzt es handelt sich um ein grundlegendes Thema. Morel bezweifelt, daß die Legitimität als "klassische" Funktion des Referendums von politischen Parteien vorrangig angestrebt wird. Die Parteien betonen offiziell die Legitimierung einer Entscheidung, während ihre tatsächlichen Absichten andere sind. Im politischen Gebrauch des Referendums interessieren sich Parteien nur in sehr seltenen Fällen für die Legitimationsfunktion, wenn ein Referendum keine der anderen drei Funktionen haben kann. Die Legitimation politischer Entscheidungen durch die Volksabstimmung könne paradoxerweise die Legitimität der Parteien schwächen. Für Morel ist klärungsbedürftig, ob ihre Funktionstypologie hinsichtlich der demokratischen Standards von Referenden, speziell während der Abstimmungskampagnen, tragfähig ist. Ferner sieht sie Forschungsbedarf darin, welche politischen und parteipolitischen Folgen die Funktionen und Dysfunktionen des Referendums haben. Von einer Bewertung der Ursachen von Referenden erhofft sie sich, klären zu können, ob der zunehmende Gebrauch von Referenden ein vorübergehendes oder dauerhaftes Phänomen ist. Dabei spricht sie die Bemerkung von Lijphart an, die Frage, warum Referenden in einigen Staaten häufiger stattfinden als in anderen, könne nicht befriedigend beantwortet werden.57

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Morel, a.a.O., S. 239 Morel verweist auf: Arend Lijphart, Democracies - Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries, New Haven, CT and London 1984, S. 197

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"The more frequent referendums are, the less dysfunctional they need to be to representative institutions; their legitimacy would rise and their use come to be regarded as a commonplace feature of 'politics as usual'."58 Gesellschaftlicher Wandel, der neue Themen aufwirft, welche die bestehenden Parteilinien durchtrennen, könnte den Gebrauch des Referendums in seiner einigenden Funktion fördern. Werden parteitrennende Themen, die zuletzt vorherrschend waren, fragt die Autorin, nach einer Neuordnung der Parteien (party realignment) verschwinden? Die Analyse von Morel wurde hier ausführlich referiert, weil sie nach meiner Kenntnis bisher als einzige das Verhältnis von Parteien und Volksabstimmungen auf nationaler Ebene thematisiert. Ihre Funktionstypologie erscheint plausibel, gerade was die ambivalenten Funktionen und Dysfunktionen des Referendums betrifft. Die Aufgliederung der Parteiinteressen für die Anwendung des Referendums in die Faktoren Zusammenhalt, Gesetzgebung, Macht und Legitimität ist nützlich. Die Ausarbeitung nach den Haltungen der Parteivorsitzenden zur Durchführung von Referenden bietet eine spannende Perspektive auf die direktdemokratische Praxis in Westeuropa, vernachlässigt aber die jeweiligen politischen Systeme, politischen Kulturen, die unterschiedlichen Parteienkonstellationen und vor allem die sehr verschiedenartige verfassungsmäßige und gesetzliche Ausgestaltung der direktdemokratischen Instrumente in den einzelnen Staaten. Referendum ist nicht gleich Referendum. Die Darstellung legt nahe, die Verantwortlichen in den Parteien könnten gewissermaßen unabhängig von den Verfahrensregeln Referenden anberaumen oder sie verhindern, um ihre Interessen zu verfolgen. Dies wären allerdings keine Referenden, sondern willkürliche Plebiszite, deren Übereinstimmung mit den demokratischen Standards von direkter Demokratie sehr fraglich ist. Die Parteichefs erscheinen hier als souveräne Landes- und Stammesfürsten und nicht als demokratische Repräsentanten von Mitgliederparteien oder Wählerparteien. Vermutlich sind die Parteichefs in den parlamentarischen Demokratien Westeuropas in der Lage, relativ freizügig über Referenden zu entscheiden, weil in den meisten der betrachteten Länder eben keine kontinuierliche Referendumspraxis besteht, die unweigerlich, wie die Schweiz und die US-Bundesstaaten demonstrieren, zu einer höheren Regelungsdichte führen würde. Die behandelten Fälle von Referenden waren oftmals obligatorische Referenden, Präsidial-, Regierungs- oder Parlamentsreferenden und wurden von den betreffenden repräsentativen Organen ausgelöst. Volksinitiativen sind in den von Morel behandelten Ländern nicht vorgesehen.

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Morel, a.a.O., S. 243

Wenn das Verhältnis der politischen Parteien zur direkten Demokratie in den westeuropäischen Verfassungsstaaten hier nicht näher ausgeführt wird, dann nicht nur deshalb, weil dies die ursprüngliche Themenstellung dieser Studie weit überziehen würde, sondern auch aus dem inhaltlichen Grund, daß Volksinitiativen und Referenden in der Schweiz und in den US-Staaten im Sinne eines Routineverfahrens zum regelmäßigen politischen Prozeß gehören, während in Dänemark, England, Frankreich, Spanien und anderen Ländern Volksabstimmungen nur zu außergewöhnlichen Grundsatzfragen abgehalten werden, die dann von Regierung oder vom Parlament und nicht durch ein Volksbegehren oder obligatorische Verfassungsbestimmungen eingeleitet werden. In Irland gibt es mehrere Fälle von obligatorischen Verfassungsreferenden, aber keine Volksinitiative. Das abrogative Referendum in Italien bleibt insofern ein Spezialfall, als dort parlamentarische Gesetze auch lange Zeit nach Inkrafttreten durch das Referendum aufgehoben werden können. Von 1974 bis 1999 fanden in Italien elf Urnengänge mit 46 abrogativen Referenden statt. Die kleine Radikale Partei trat dabei als Urheber des abrogativen Referendums auf, aber auch die Christdemokraten, die Kommunistische Partei und die Sozialistische Partei. Bei drei Abstimmungstagen blieben die elf Referenden ungültig, weil die vorgeschriebene Beteiligung der Hälfte der Stimmberechtigten nicht erreicht wurde. Das abrogative Referendum zielt stets darauf ab, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz aufzuheben; es ist keine Volksinitiative, die einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen könnte.59 Nachdem das Verhältnis von politischen Parteien und direkter Demokratie in den amerikanischen Bundesstaaten und in den westeuropäischen Demokratien thematisiert wurde, folgt im nächsten Kapitel eine Erörterung der Beziehung von Parteien und Volksabstimmungen in der Bundesrepublik Deutschland und in den deutschen Bundesländern.

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Anna Capretti, Direkte Demokratie in Italien, a.a.O., S. 132 f

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