Einige Thesen zur Philosophie Martin Heideggers

Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg RAINER MARTEN Einige Thesen zur Philosophie Martin Heideggers Originalbeitrag erschienen i...
Author: Renate Hofer
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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

RAINER MARTEN

Einige Thesen zur Philosophie Martin Heideggers

Originalbeitrag erschienen in: Joachim Kreuzer (Hrsg.): Weisheit und Wissenschaft. München: Fink, 1995, S. 199-213

Einige Thesen zur Philosophie Martin Heideggers Rainer Marten, Freiburg im Breisgau

Heidegger erinnere ich als Menschen, zu dessen lebendigem Willen und Selbstverständnis es gehörte, Umgang mit Anderen zu haben. Philosophisch jedoch, wie ich ihn lese, hat er es, wenn schon überhaupt mit „Seiendem", dann allein mit den Dingen gehalten und gekonnt, nicht mit dem — anderen — Menschen. So wollte ich anfangen, über „Heidegger und die Dinge" zu schreiben. Doch dann hat die Begründung dieses Anfangs, zunächst nur als Anmerkung vorgesehen, mich noch einmal den ganzen Heidegger vornehmen und fragen lassen, warum eigentlich bei ihm das Verhältnis zum Anderen auf derart eklatante Weise zu kurz kommen, wenn nicht schief geraten muß. Ergebnis: Vor das Kapitel „Die Dinge" ist das Kapitel „Die Anderen" gerückt. Doch damit nicht genug. Wie nämlich sollte ich Heideggers Deutungen von „Mitsein" und „Mitdasein" verstehen, wie die Frage nach dem Ob einer Solidarität seiner ,,Sterblichen" stellen, wenn mir nicht zuvor sein Konzept des Menschen hinlänglich vertraut und durchsichtig geworden wäre. So macht denn inzwischen das Kapitel „Der Mensch" den Anfang, genauer formuliert: „Der Mensch als Seiendes". Aus diesem werde ich im folgenden einige Rekonstruktionen Heideggerscher Gedanken vortragen. Im Selbstgespräch des wesentlichen Denkens mit sich selbst, wie er es selber nennt, fragt Heidegger um 1936: Und was „ist" dann? Seine Antwort: Dann erst ist diese Frage unmöglich, dann ist für einen Augenblick das Er-eignis Ereignis. Dieser Augenblick ist die Zeit des Seins. Wie Sie hören: endlich sind Sein „und" Zeit nahtlos beisammen: nicht Sein und Zeit, nicht Temporalität des „Daseins", nicht Zeit als Sinn von Leben und Sein, als Horizont von Seinsverstehen und Sein, nein: Zeit des Seins, und dies selbstverständlich noch bevor irgendeine Grammatik mit der Unterscheidung von Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus eingreifen kann. Nahezu bis zu dieser Zeit und diesem Augenblick will ich Sie führen, indem ich Ihnen zeige, wie Heideggers Denken „immer schon" dort war beziehungsweise ist. Ich bleibe im wesentlichen bei Sein und Zeit (Halle

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1927) und beim Kontext dieser Wegstation (19194929), um damit, wie ich ihn lese und sehe, den Heidegger der 30er bis 60er Jahre keineswegs auszuschließen. Mystische Nähe regiert bereits die 20er Jahre, auch wenn der Philosoph in diesem Jahrzehnt die für ihn er-denkbaren und er-sprechbaren Ausdeutungen der Nähe von Mensch und Sein noch bei weitem nicht erschöpft. „Kehre"!? Ja, der Inversionen gibt es viele. Alles wird umgekehrt und umgestellt in Sachen Mensch und Sein. Nichts bleibt, wie es war und ist. Aber gibt es denn nicht die eine Kehre, Wende, Schleife? Ja und amen! Er hat es so gesagt und gewollt. Jetzt, das soll heißen: „nach der Kehre", erweist Heidegger dem Sein ausdrücklich und eindeutig die Reverenz. Die existentialphilosophische Frömmigkeit, ja Religiosität, „ontisch" als Atheismus faßbar, erhält ihre exakte und endgültige Einstellung. Eine wirkliche Umstellung war nicht erforderlich, auch gar nicht möglich. Von ihr zu reden, macht sich freilich philosophie- und denkweggeschichtlich gut. Es gewährt zugleich Einblick in die Selbstschätzung des Autors, wenn dieser die Richtschnur für alle Auslegungen selber verbindlich vorgeben zu können glaubt. Heidegger muß sein Ulm-Erlebnis früh gehabt haben. Ich kann es nicht genau datieren. In der Vorlesung des Kriegsnotsemesters 1919, in der er seine Idee von Philosophie als Urwissenschaft entwickelt, steht es bereits deutlich hinter jedem Reflexionsschub. Anders aber als dem Descartes, ist Heidegger da offenbar nicht urplötzlich etwas in den Sinn und vor das Auge des Geistes gekommen, sondern eher unmittelbar in ihn gefahren: das Ereignis als solches, wie es nur die eigenste, innerste und innerlichste Existenz als solche erfährt und erfaßt. Ein durchaus mystisches Ereignis und Erlebnis, wie uns aus sicherer theoretischer Distanz vorkommen muß. Heidegger hat dieser geistig-praktischen Unmittelbarkeit eigensten und zugleich befremdlichsten Seins samt ihrem Kairos den Namen „Faktizität" gegeben. In der Sache ist es bei diesem Ulm geblieben: „Faktizität als Faktizität" — das ist Heideggers erster und letzter Gedanke. Alles was er er-denkt und schließlich er-ahnt, auch prophetisch vermutet, was er zu Beginn dem Er-leben überantwortet und dann immer genauer akzentuiert dem Er-eignen, überhaupt jede Idee von Denken und Dichten, von Leid, Opfer und Jubel, die er vertritt, ist diesem Gedanken gewidmet.

Daß ich lebe, daß ich bin, daß ich faktisch existiere — das nimmt seinen Weg. Sicher: das wird methodisch entwickelt und anders eingestellt, neu gedacht und neu gesagt, aber nie wirklich überstiegen und

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aufgegeben. Die Basis bleibt: die Seinszugehörigkeit als solche und das heißt die Wahrheit der Faktizität als solcher, auch wenn sie dann anders lautet: das Dasein ist er-eignet, das Sein west (freilich nicht ohne den Menschen), Es gibt Sein (freilich nicht ohne den Menschen), das Ereignis ereignet (freilich nicht ohne den Menschen). Hören Sie nur noch einmal zum Vergleich von 1924 und 1936: Ich bin, das Dasein ist er-eignet. Ein Schelm, der nicht hört, daß sich alles geändert hat, und zugleich alles bleibt, wie es war und ist. Ich sage Ihnen, die Sie Heidegger gelesen haben, nichts Neues. Wie sollte ich das auch sinnvoll vorhaben! Alle Philosophen sagen dasselbe. Zumindest einer hat sich an dies Diktum Heideggers gehalten: er selbst. Nach meiner Lesart, die Sie inzwischen kennen, hat Heidegger nichts Gründenderes und Weiterzielendes, ja schlechtweg nichts anderes gedacht als Faktizität als solche. Ich selbst komme da aus dem Staunen nicht heraus. Freilich weiß jedes Erstsemester schon von Schulzeiten her: der Existentialismus setzt bei der faktischen Existenz an und sattelt dann noch die elitäre Existenz darauf: Heidegger und Jaspers und ... Ich staune dennoch, — nicht über Jaspers und ..., sondern über Heidegger, über seine Art und Weise, Faktizität existentiell so einzubringen und existential so zu deuten, daß ein ganzes Leben daraus wird: ein Denkweg, wie er gerne und auch mit einem gewissen Recht sagt. Ein Werk nämlich soll und kann es nicht sein. Das machte sein Gedachtes zu etwas Hergestelltem: zu einer Theorie. Die Unmittelbarkeit des philosophisch-entwerfenden Selbsteinsatzes wäre zumindest ihrer Idee nach verspielt. In weitgehender Beschränkung auf Sein und Zeit und seinen Kontext stelle ich Ihnen nunmehr, gegliedert in zehn Punkte, meine Lesart des näheren vor.

1. Das Seinsverstehen Der Mensch, als „Seiendes" und das heißt als „faktisches Existieren" gedeutet, erhält den ontologischen Titel „Dasein". Faktisch zu existieren ist aber fiir das „Dasein" kein Faktum, sondern Faktizität. Wie es nämlich faktisch

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existiert, ist es geistigen Wesens: es verhält sich zu seinem Sein, und zwar verstehend, das heißt: es legt sich selbst als „Seiendes" in seinem Sein (genauer transitiv: in seinem das eigene Sein Sein) aus. Die Dimension seiner Selbstauslegung ist die Faktizität als solche. Sich selbst auslegend, verhält es sich zu seinem Daß. Das auslegende Verhalten ist sein — geistiges — Sein. Anders gesagt: In seiner Selbstauslegung ist es sein eigenes Selbst, weil sich auslegen heißt: sein, und zwar selbsthaft sein. Und noch einmal anders gesagt: Sich auf seine Faktizität hin auslegend, ist das „Dasein" sein Daß. Sie sehen: angesichts der je eigenen Faktizität gibt es für den, der nicht abschweift, nur eins zu verstehen und zu sein: die Faktizität. Die existentiale Ontologie als Hermeneutik der Faktizität setzt notwendig damit ein, die Faktizität zu bejahen, und zwar rein als Faktizität. In diese Bejahung ist eingeschlossen, die Selbstauslegung von allem frei- und reinzuhalten, was nicht zur Faktizität als solcher gehört: zum Daß des je eigenen Seins, kurz zum Daß des Daß. Tun Sie sich schwer damit, das Daß auf diese einzige Weise um sich selbst erweitert und gedoppelt zu hören (das Daß des faktischen Seins und das heißt das Daß des Daß), dann fragen sie sich am besten, ob Sie sich, von schönsten Erziehungstagen her an das Warum? gewöhnt, mit der Formel „Warum das Warum?" befreunden können. Genau so nämlich fragt — konsequent — Heidegger. Bei ihrem Bejahen und Reinhalten nun versteht sich die existentiale Hermeneutik nicht als Theorie. Das wäre der Standpunkt von außen. Der geistig-praktische Ort der Selbstauslegung aber, ihre „Situation", ist die Faktizität selbst. Wer nicht eigens sein Daß ist, so will es diese Hermeneutik, hat hier eigentlich nichts zu verstehen und schon gar nichts zu sein. Fazit: Seinsverstehend ist das „Dasein" sein faktisches Sein als solches auf bejahende und geistig-praktische Weise. Das „Dasein" versteht, bejaht und weiß unmittelbar, daß es ist und zu sein hat. Genau auf diese Weise ist es sein Daß. Das „Ich bin" als die „eigentliche Aussage vom Sein vom Charakter des Daseins des Menschen" hat so seinerseits seine erste Auslegung erfahren. Weil der Anfang meiner Rekonstruktion Heideggers nicht zuletzt seine Bedeutung darin hat, daß wir hier überhaupt damit anfangen, einander zu verstehen, wiederhole ich das Fazit von Punkt 1 — etwas umgeformt und erweitert: Der Mensch, „Dasein" tituliert, ist „Seiendes". Doch was soll denn am Menschen sein Seiendsein ausmachen? „Der Hörsaal ist. Der Hörsaal ist beleuchtet" lautet ein beliebtes Beispiel Heideggers, um zu „beweisen", daß der Hörsaal — sowohl ganz selbstverständlich als auch zugleich höchst unverständlich — „Seiendes" ist. Und der Mensch? Wie wird der als „Seiendes" „bewiesen"? Etwa durch „Der Mensch ist: er ist technisch begabt, ist für seine Verhältnisse viel zu dumm, ist noch nicht am Ziel"? Sollte der Mensch

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dann wegen seiner technischen Begabung, unverständlichen Dummheit und geschichtlichen Zukunft „Seiendes" sein? Nein, zumindest nicht für Heidegger. Keinerlei Was-sein taugt ihm dazu, Seiendes als solches in seinem Sein zu bestimmen. Das wäre Seinsbestimmtheit ä la Platon, seinsvergessene Seinsbestimmtheit. Was aber bleibt ohne Was? Nichts als das Daß und das Wie: die Faktizität und die Seinsweise der Faktizität! Das ist — zumindest formal — gut zu verstehen. Darum beantworte ich jetzt unsere Frage ohne weitere Vorbereitung und einfach so wahr, wie ich es bei Heidegger lese und auslege: Der Mensch ist ein Seiendes, das als solches sein eigenes Daß und Wie ist. Das ist wiederum verständlich. Doch ich bitte Sie im Interesse Heideggers und meiner Darstellung, es zugleich auch nicht zu verstehen. Der Mensch ist ein Seiendes, das als solches sein eigenes Daß und Wie ist. Das ist doch unerhört, ja eben völlig unverständlich. Halten Sie etwa Ihren Nachbarn hier darum für ein „Seiendes", weil er sein eigenes Daß und die Seinsweise seines Daß ist (falls er es überhaupt ist)? Haben wir also Geduld, seien wir bedächtig. Ich frage:

Was IST der Mensch? Heidegger antwortet: Der Mensch, als „Seiendes" gedacht, IST seine Existenz. Ich halte das nach wie vor für aufregend: Alles Was-Sein im Sinne von quidditas, essentia, alles eidetisch bestimmte Sein ist wie abgeschafft. Das pure Daß-Sein herrscht, und dies so, daß es zum einzig wesenhaften und echten „Was"-Sein erklärt wird. Ich sehe das auch für Heideggers Dinge so, doch für heute genügt es, geht es nach mir, wenn wir beim Menschen bleiben. Vielleicht ist es jetzt doch noch etwas klarer, was dahintersteckt, wenn es heißt: Das „Dasein" ist sein faktisches Sein als solches auf verstehende, bejahende und geistig-praktische, also unmittelbare Weise, ohne sich selbst Objekt zu sein.

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2. Der Seinssinn, die Seinstendenz Ich bin, um zu sein — das wäre nicht falsch, aber mißverständlich gesagt. Im Sein des „Daseins" muß stets das Seinsverstehen mitgedacht beziehungsweise mit präsent sein. Der Sinn faktischen Existierens ist die Faktizität — das ist nicht nur richtig, sondern auch unmißverständlich gesagt. Sich als „Dasein" und das heißt als faktische Existenz auf seine Faktizität und auf nichts sonst hin auszulegen — das ist auch schon der voll getroffene Sinn des Seins. Doch versuchen Sie es nur einmal selbst, sich auf einzigartig existentialontologische Weise sinnvoll zu verhalten. Sie merken sogleich: in dieser eigens praktizierten Zuwendung zur Faktizität steckt ein Entwurfscharakter. Verstehen und bejahen Sie nämlich mit geistig-existentiellem Einsatz, daß Sie sind und zu sein haben, dann entwerfen Sie sich auch schon auf ihre Zeitlichkeit. Das bedeutet beileibe nicht, Sie stünden — gut darwinistisch — im Kampf ums Dasein, Sie kümmerten sich darum, Ihr nacktes Sein noch für einige Zeit zu erhalten — bis morgen, bis ins nächste Jahr, mit Sicherheit bis zum Tode. Nein. Es geht überhaupt nicht um „Sein oder Nichtsein", bei dem es auf chronos, das heißt auf abmeßbare Zeit im Rahmen der großen Zeitordnung ankäme. Im Verstehen Ihres faktischen Seins und Zu-sein-Habens entwerfen Sie sich vielmehr auf Zeitlichkeit, nicht auf Zeit. Das ist eben der Vorteil von Selbstauslegung im Spielraum reiner Faktizität: nicht zu den Fakten zu müssen, nicht theoretisch zu werden, sondern ganz einfach geistigpraktisch zu bleiben und so — verstehend — das eigene faktische Sein zu sein. Sie verstehen: ist der Seinssinn des faktischen Existierens die Faktizität, dann ist er auch schon die Zeitlichkeit der Faktizität. Doch kommen Sie, kommt Heideggers „Dasein" wirklich so unausweichlich auf die Zeitlichkeit? Könnte die Selbstauslegung nackter Faktizität nicht auf eine Weise in sich selbst schwingen, daß sie das „Dasein" sein eigenes Daß als Daß wie selbstvergessen im Nu der Ewigkeit erfahren und sein ließe? Nein. Selbstauslegung und Selbstsein des „Ich bin" führen unmöglich zu einem selbstvergessenen Schweben und Schwingen in reiner Faktizität, weil und sofern in diesem Verstehen und Sein ein besonderes Können haust.

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3. Das Seinkönnen Was ist, kann sein!? Nein, so jetzt nicht! Aber was kann dann sein? Fragen Sie sich das nur selbst — freilich nicht als die, als die Sie selbst hierhergekommen sind. Inzwischen haben Sie sich ja als „Dasein" ergriffen, als faktische und sich als solche selbst auslegende Existenz. Und meine Erfahrung: haben wir eine Philosophie auch nur ein wenig verstanden, dann läßt sie uns bisweilen schon ganz in ihrem Sinne fragen und antworten. Also: was können Sie,das heißt was kann je „Ihr" „Dasein", das verstehend sein — faktisches — „Da" ist? Ganz klar: Sie verstehen sich darauf, eben ganz wie das „Dasein" sich darauf versteht, jeden Augenblick nicht mehr da sein zu können. Kurz: Was da ist, kann nicht mehr da sein. Das ist im Ernst Heideggers Gedanke: „Dasein", verstehendes „Dasein", ist ein Können! — Wir sind damit am „Rätsel" des Seinkönnens des Menschen als eines „Seienden", mit dem die Ausführungen von Sein und Zeit den geduldigen Leser konfrontieren. Von einem eigenen Können weiß man für gewöhnlich dadurch, daß es, wenn schon nicht eigens erworben und entwickelt, so doch eigens in Gebrauch genommen worden ist. Ich kann sehen. Ja: ich habe gesehen; ich sehe. Ich kann auch Zähneputzen: ich habe es getan und werde es wieder tun. Gut. Aber: Ich kann mich jeden Augenblick aus meinem Dasein in mein Nichtmehrdasein verändern!? Woher denn nur soll dieses Können mir als ein sicheres und gewisses zuwachsen? Wie kann ich das, was mit mir sein kann, können? Wie könnte ich von diesem Können Gebrauch machen? Die Antwort darauf verlangt, daß wir Heidegger auslegen. Mein Vorschlag: Das „Dasein" ist als solches ein verstehendes Wesen. Ein kleiner Schwenk mit Heidegger genügt, in dieser verstehenden Wesensart auch schon die „könnende" zu hören. „Verstehen" nämlich bedeutet in diesem Zusammenhang zugleich „sich verstehen auf". Hören wir also die Sache geglückt zusammen: Das „Dasein", das seinem Sein nach verstehend ist, versteht sich, auslegend, auf seine Faktizität. Das aber ist noch nicht alles. Das „Dasein" versteht auch zu hören. Worauf? Nun, auf seine Faktizität! Diese nämlich, unheimlich schweigsam in ihrer Reinheit, wie sie ist, hat einen Sprecher und Rufer, einen höchst verschwiegenen: das Gewissen. Dieses hat uns nur eins zu verstehen zu geben: die Gewißheit des möglichen Nichtmehrdaseins. In diesem Sinne ruft es ohne Unterlaß das „Dasein" dazu auf, sein eigenes Daß und Da, sonst aber ja nichts zu sein. Gemeint ist: das „Dasein" habe seinsgemäß sein unüberholbares Seinkönnen wahrzumachen: angesichts des jederzeit möglichen und sozusagen gekonnten Nichtmehrdaseins eigens sein Daß und Da zu sein. Nur auf diese Weise könne es sein Nichtmehr-da-sein-Können sein. So haust also in der verstehenden Auslegung je eigener Faktizität zutiefst

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ein Können. Das Seinsverstehen lebt geradezu von diesem Seinkönnen des Nicht-mehr-da-sein-Könnens. Das Seinkönnen ist überhaupt nur selbst das Können, das es ist, sofern es auf diesem ganz anderen Können (dem Können dessen, was sein kann) basiert. Zur Verdeutlichung: Ich verstehe mein Sein, das ich sein kann, und ich verstehe zugleich mein Nichtsein, das ich sein kann, weil es sein kann und weil ich es sein kann. Noch deutlicher: Das Seinsverstehen ist ein seinkönnendes Seinsverstehen von dem, was sein kann. Das Seinkönnen ist insofern, ein kleines Potenzwunder!, in eins ein Verstehenkönnen und ein Der-Fall-sein-Können. Nun ist aber der Sinn allen Seinkönnens der faktischen Existenz die Faktizität selbst. Soweit darin eingeschlossen ist, daß das Nicht-mehr der faktischen Existenz sein kann, rückt der Gedanke der endlichen und ganzen Faktizität in den Blick.

4. Das Ganzseinkönnen Das existierende „Dasein", das jeden Augenblick enden und in Nichtmehrdasein übergehen kann, versteht, daß es auf eben diese Weise jeden Augenblick „ganz" sein kann. Das ist wiederum von schönster Doppeldeutigkeit. Das „Dasein" sei „ganz", sobald es in Nichtmehrdasein umschlägt. Das sieht reichlich positivistisch aus: die — zeitlichen — Augenblicke des „Daseins" sind gezählt: einmal ist es „vorbei", wie Heidegger 1924 sagt; einmal ist das „Dasein" „weg", ist es sein „Weg-sein", wie er 1936 sagt. Das ganze zu lebende Leben, das ganze existent auszustehende „Dasein" — Heidegger versteht es, diese Gänze im Blick zu behalten und doch in ihrem Sinn zu drehen. Wer seinkönnend versteht, daß es einmal vorbei und er einmal weg ist, und er hält das Verstehen aus, ja läßt sich eigens könnend darauf ein, um überhaupt nichts anderes mehr zu verstehen, der versteht es auch, in diesem Moment des „Daseins" aufs Ganze zu gehen, das heißt seinsverstehend und seinkönnend „ganz" seine Faktizität zu sein. Er ist dann nicht punktuell seine Faktizität — wie im Nu der Ewigkeit, sondern ist sie „ganz". Ohne zu enden, ist er — verstehend und könnend — zum Ende. Ist der Sinn des Seins des „Daseins" die Faktizität in ihrer Zeitlichkeit, dann versteht dieser Sinn sich jetzt genauer aus ihrer Ganzheitlichkeit, das meint: aus dem Ganzseinkönnen des „Daseins". Ich wiederhole: Das ganze Sein zu sein, die ganze tatsächliche Spanne der Faktizität — das wäre der Blick des vorstellenden und das heißt theoretischen Denkens. Das seinspraktische Denken, diese wundersame Vermählung des Existentiellen und Existentialen, behält dieses „Ganzsein" auf eine nichttheoretische Weise im Blick_ um es_ ehen_nraktisch zu sein_ Das Seinkönnen

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wird somit „ganz" im Sinne vollendeter Praxis: „Ich bin ganz da" — das Ganze des Seins und des Lebens hat sich aufs merkwürdigste verwandelt. Erst im Ganzseinkönnen feiern Seinsverstehen und Seinkönnen des „Daseins" den vollen Triumph seiner Faktizität. Das wird deutlich, wenn wir zwei Gedanken Heideggers hinzunehmen: den der Sorge und den der Bedeutsamkeit. Seinkönnend nämlich ist das „Dasein" sein Sein als Sorge; seinsverstehend ist es sein Sein als Bedeutsamkeit. Die eigentliche Sorge des „Daseins" als Sein zum Ende und die eigentliche Bedeutsamkeit des „Daseins" als die seines verstehenden Seins selbst fallen in der Faktizität zusammen. Faktizität — das ist die ganze Sorge des „Daseins", das ist seine ganze Bedeutsamkeit, sofern es nur — faktisch — sein Ganzseinkönnen ist. Zu diesem gehört: „ganz" seine Sorge und „ganz" seine Bedeutsamkeit zu sein.

5. Die Dramatisierung des Seins Die Selbstauslegung faktischer Existenz vollzieht sich als ein Formalismus besonderer Art: den Formalitäten seinsverstehender und seinkönnender Faktizität entspricht kein möglicher Gehalt. Dieser Formalismus ist insofern nicht bloß, sondern sogar ein solcher. Das Formale ist als Formales bereits selbst sein Gehalt. Dennoch schätzt es Heidegger nicht in jeder Hinsicht, seinen methodisch bedingten Formalismus offen zu verteten. Was er uns entdeckt, sieht ja nicht nur leer aus, es ist auch leer. So hat er einen Weg gefunden, das mögliche Ungenügen der Selbstauslegung des „Daseins" für dieses selbst zu überspielen: ihre Dramatisierung. Wo dem „Dasein" in seinem nackten Daß an ihm selbst etwas fehlen könnte, springt die Dramatik der „Situation" und der „Befindlichkeit" ein. Da ist es urplötzlich so, als herrschte vollstes Leben und Sein, beileibe nicht buntestes, wohl aber ernstestes, gewagtestes, ja selbst und gerade unheimlichstes. Für Heideggers existentiale Deutung der praktisch-geistigen Existenz des „Daseins" ist es von nicht leicht zu überschätzendem Glück gewesen, daß sich unter Menschen, wie sie leibhaft leben, lieben und sterben, ein Wort findet, das zumindest in unserer Kultur und Zeitgenossenschaft der Selbstauslegung und dem Selbstsein reiner Faktizität auf Dauer zur Dramatisierung und Selbstverklärung verhilft: das Wort Tod. Wie mit dem Können und dem Ganzsein, die je doppelt und dann doch ganz einfach umgedreht zu verstehen sind, so spielt Heidegger auch mit dem Tod: er sagt Tod, meint aber verstehendes Seinkönnen, das heißt verstehendes Verhalten zur Faktizität in ihrer Zeitlichkeit und Endlichkeit. Wer bei Heidegger sterben kann, versteht sich nicht etwa darauf, sich gut von sich selbst und den Seinen, von seinem Stolz und Neid, von seinem Haß und

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seiner Liebe zu verabschieden. Nein, der versteht sich allein darauf, daß es in jedem Augenblick aus und vorbei und er selbst weg sein kann, dies aber so, daß er dabei zur Ganzheitsform seines faktischen Existierens aufläuft. Tod — das ist nicht der Tod, sondern die exaltierte geistige Befindlichkeit, die dazu konstruiert ist, dem leeren Formalismus der Selbstauslegung aufzuhelfen und zur eigentlichen Praxis zu verklären: ist einer verstehend und könnend sein Daß und nichts sonst, dann ereignet sich das Eigentliche. Tod — von einem galanten Umgang mit ihm hat Heidegger ebensowenig wissen wollen wie von einem lebenszeitlich-glückenden. So starb Abraham in schönem Alter, alt und lebenssatt (wörtlich: in Erfülltheit der Tage, plere hemeron). Nein. Heidegger braucht den Tod in seiner erschreckendsten und bedrohlichsten Konnotation, um dem nackten Daß auch mit dem gehörigen Schrecken und der nötigen Bedrohung kommen zu können. In dieser Absicht hat er selbst vor dem alten Nora incerta nicht halt gemacht, und es gegen alle Lebenserfahrung dramatisch verkehrt. Gilt es sonst als Zeichen der Barmherzigkeit Gottes, die Stunde des Todes nicht zu kennen, so wird diese „Unbestimmtheit" jetzt zum Stachel im Innersten und Innerlichsten desjenigen, der von sich selbst praktisch nichts anderes weiß und wissen will, als daß er ist und zu sein hat — gewissenhaft, entschlossen und ganz, weil er etwas ganz Außerordentliches kann, nämlich: nicht mehr sein. Frage an Sie: was, glauben Sie, müssen Sie können, um „eigentlich" das zu sein, was Sie sind? Heideggers Antwort: Sie müssen nicht mehr sein können. Und wie wollen Sie das können? Ganz einfach: indem Sie „eigentlich" sind. Heidegger sieht den Menschen nicht etwa gehalten, seine Endlichkeit zu reflektieren, damit er sich geistig und affektiv auf Zukunft mit ihrer Unbestimmtheit der Zeit, die noch zum Leben und Handeln bleibt, einläßt. Das genau nicht. Tod hat allein die Funktion, das „Dasein" in seiner Selbstauslegung auch wirklich auf es selbst zurückzubringen. Tod ist ein genialer Fund, dem „Dasein" die Fixierung auf Faktizität nicht nur nicht zu verderben, sondern endgültig zu sichern und schmackhaft zu machen. Ist das Todesverhalten, genauer: das Verhalten zum Todesverhalten, wirklich alles, dann bin ich — verstehend und könnend — auch gänzlich in der Faktizität aufgehoben. Keine Färbung irgendwelcher Seinsbestimmtheit, keinerlei Was befleckt das Daß. Der Tod besiegelt: Der Sinn des Daß ist das Daß als die endliche Ganzheit des Daß und zwar so, daß sich der Verstehende ganz auf die Nacktheit seines Seins als solche und im ganzen einläßt. Das Daß des Seins wird damit

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gänzlich in die Verstehensbewegung zu diesem Daß hin eingebettet. Tod bewährt sich auf diese Weise als einzigartiger Garant dafür, daß das „Dasein" in seiner geistig-praktischen Existenz den Geist nicht schweifen, sondern ganz auf die Faktizität als solche gerichtet sein läßt. Es ist der Tod, wie ihn das Gewissen im Vorruf zur Eigentlichkeit als gewiß zu verstehen gibt. Das aber geschieht, wie Heidegger wörtlich bemerkt, nicht etwa um den Tod „verständlich" zu machen für Zeitungsschreiber und Spießbürger. (Beiträge, 286) Und wozu geschieht es dann? Auch das ist einfach beantwortet: um den Menschen aus jeder Sozialität und Lebensteilung, vorzüglich dabei aus dem Miteinandersprechen herauszunehmen und zurückzuholen. Nur so kann das Todesgewissen in seiner Verschwiegenheit walten und den faktisch existierenden Menschen vor seine Faktizität bringen: das „Dasein" vor sein „Da". Das ist seine Bedeutsamkeit, das ist seine Sorge.

6. Die Seinsvergessenheit Die einzigartige Gefahr für die geistig-praktische Existenz des „Daseins" besteht darin, daß es sich an seinem Sein versieht: an der Faktizität als solcher und im ganzen. Wenn eines um des eigentlichen Seins willen nicht sein darf, dann dies, daß sich das Daß mit irgendwelchem Was auflädt. Der wahre Name dieser Gefahr, der Name des Seins also, in dem das „Dasein" sich auch schon in seinem Daß verfehlt hat, lautet: Sein-mit und Sein-bei. Wer mit Anderen und bei den Dingen ist, hat sich in seinem wahren Sinn und Sein selbst aufgegeben. Sich als Mann und Frau zu verstehen, als Handwerker und Bauer, als Käufer und Verkäufer, heißt: sich in der Buntheit eigenheitlichen und lebensteiligen Seins auszulegen und das heißt seinsvergessen zu sein. Sein mit Relevanz für eigenstes und eigentliches Seinkönnen ist ausschließlich das situative Daß: das „Wie" des Seins, nie sein Was. Jede besondere Existenz stellt als solche nur eine besondere Form von Seins- und Ganzheitsvergessenheit dar. So ruft das Gewissen zurück aus jeder Seins- und Lebensspezialität, aus jeder Art Was. Die anderen Menschen und die Dinge sind einfach dadurch Garanten der Seinsvergessenheit, daß sie Was-Sein repräsentieren. Rein auf ihr Daß gesehen, auf ihr Ereignetsein, könnten sie durchaus Sein „erinnern". Freilich: wir sind „zunächst und zumeist" was wir sind; welthaft sind wir „immer schon" was. Doch so soll es eben eigentlich nicht durchweg bleiben und sein. Heidegger spricht von „modifizieren", ganz so, als sei Daß-Sein für eine „Modifikation" von Was-Sein zu nehmen.

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7. Der Festtag des Seins Das Sein des „Daseins", dem es in seinem Sein um sein eigentliches Ganzseinkönnen geht, zeigt sich als alternatives: es ist exakt nicht seine Alltäglichkeit, sondern seine Festtäglichkeit. Heidegger hat der Alltäglichkeit den Namen Uneigentlichkeit gegeben, dem, was ich Festtäglichkeit nenne, den Namen Eigentlichkeit. Es fällt nicht schwer, diese Namen zum Sprechen zu bringen. „Eigentlichkeit" hat nichts anderem zu entsprechen als der Ganzheitlichkeit, „Uneigentlichkeit" nichts anderem als der Zerstreutheit, Zersplittertheit, Zerspaltenheit. Wer existiert, indem er — verstehend und könnend — seine Seinsganzheit ist, existiert eigentlich, uneigentlich dagegen, wem die Ganzheitlichkeit aus dem Blick geraten ist. Wer im besten Sinne alternativ sein möchte, hat nicht mehr und nicht weniger zu „tun", als verstehend seine Faktizität als solche zu sein — es versteht sich: seine zeitliche, endliche, ganzheitliche. Weil nun aber das existierende „Dasein" ftir gewöhnlich seine Faktizität nicht als solche ist, sondern, „faktisch konkret", in eine Vielheit von Was-Sein aufsplittert, muß fiir echtes alternatives Sein ein alternativer Name zu „Faktizität" gesucht werden. Der Fund lautet: „Existenzialität". Da aber Existentialität in der Sache nichts anderes vorstellt als Faktizität, ist es erhellender, weiterhin allein von „Faktizität" zu sprechen. In Heideggers Sein waltet Askese und Verzicht. Am — seltenen — Festtag des Seins blüht einzig und allein Faktizität als solche auf daß ich existierend mein Ganzseinkönnen bin, daß Es Sein gibt, das mich als solches braucht. Jede Spezialität des Seins bedeutete aus sich schon den seinsgrauen und seinsvergessenen Alltag. Wer festtäglich mit Anderen und bei Dingen sein wollte, müßte es fertig bringen, sie als reines Daß in seine Faktizität als solche einzubeziehen. Kennzeichen für geglückte Einbeziehung wäre die „Erzitterung". Zur Veranschaulichung: das Glas, das mit dem Schlag des Glasbläsers nicht eigentlich ein Glas und Was ist, sondern ein Daß, das zitternd sich selbst aussteht.

8. Die Dramatisierung des Seins Nr. 2 Heidegger hat mit dem Tod zugleich ein Zweites entdeckt, das sich, wie kein Drittes, zur Dramatisierung und Selbstverklärung der Faktizität eignet und auch bereits zu ihrem ersten Akt gehört: den Augenblick. Wie die ganze Faktizität am Gedanken der Faktizität als solcher nichts ändert, so, einzig vergleichbar, die augenblickliche Faktizität ebenfalls nicht. Wer augenblicklich und ganz sein Daß ist, ist nichts als sein Daß. Das also sind im Gedanken

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des alternativen Seins des „Daseins" die beiden Angeln am Tor zur reinen, mystisch erfüllten Faktizität: Tod und Augenblick. „Sein zum Tode" und » Sein im Augenblick" — das im Verein garantiert dem „Dasein" seine Festtäglichkeit: situative Faktizität, die als Faktizität höchst dramatisch gestylt und inszeniert ist. Im zeithaften Augenblick, der die reine Zeit faktischen Seins ohne jede Seinsbestimmtheit ist, konzentriert sich das faktische Sein als solches. In ihrer augenblicklichen Sammlung ist faktische Existenz zugleich gespannt: in die Weite ihrer Seinsganzheit. Diese Weite ist keine Quantität, sondern geistig-praktische Qualität: sich im Sein zum Tode auf die Ganzheit sammeln und sie augenblicklich sein. Ekstatik und Exzentrik des zeithaften Augenblicks sind die Verhaltensarten geistiger Existenz des „Daseins", mit der es im Äußersten seines Verstehens und Könnens an sich hält (verhält). Heidegger hat um 1929/30 diesem Augen-Blick den treffenden Namen „Blick der Entschlossenheit" gegeben. Tod, Augenblick, Entschlossenheit; entsprechend Angst, Entrückung, Vereinzelung — an seinem Festtag versteht es das „Dasein" auf vollkommenste Weise, sich als reines Daß im Glanz dieser Formalitäten zu präsentieren.

9. Die metaphysische Neutralität „Dasein", wie es „zum Tode" und „augenblicklich" sein kann, ist in dieser Konzentration auf Daß-Sein durch eigenste metaphysische Neutralität ermöglicht. „Dasein ist neutral" heißt: es ist nicht leiblich, nicht geschlechtlich, um an jüdisch und christlich, polnisch und deutsch erst gar nicht zu denken. Zutiefst im „Dasein", dort, wo es metyphysische Ichheit ist und rein sich selbst gehört, haust der nabellose und vorgeschlechtliche göttliche Adam. Er stellt das einzigartige Wesen vor, das als reines Daß schon all sein Was in sich birgt — im wesensmächtigen Noch-nicht seiner Existenz. Adam — das ist Heideggers „Dasein", sofern es sein Sein „ist", ohne darum schon Seiendes zu sein. Das existierende „Dasein" in seiner Ganzheitlichkeit und Augenblicklichkeit spiegelt diesen Adam. Das nackte Daß des ganzheitlichen Augenblicks wirft das Licht der metaphysischen Neutralität verklärend in die Selbstauslegung des „Daseins" zurück.

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10. Die Seinsverschwiegenheit „Dasein", wie es — könnend und verstehend — im Augenblick sein ganzes Sein beziehungsweise ganz sein Sein ist, entdeckt in vollendeter Form, daß es vom Menschen, wie er lebt, liebt, haßt und stirbt, nichts verstehen will und verstehen kann. Die Selbstauslegung eigensten und eigentlichen Seinkönnens erteilt so für sich selbst jeder Verständigung über lebensteilig differenziertes und spezielles Sein die Absage, präjudiziert aber zugleich das Verständnis des durch Festtäglichkeit allererst ermöglichten Alltäglichen. Hat alternatives eigentliches Sein allein Faktizität als solche zu verstehen (daß ich augenblicklich mein Ganzseinkönnen bin, daß Es Sein gibt, das mich ereignishaft braucht), während aller Seinsart und Seinsspezialität die Absage erteilt ist, dann muß schon ein ganz außerordentlicher „Modus der Rede" das seinsverstehende Sagen beherrschen: die Verschwiegenheit. Im Gewissen ruft die Faktizität verschwiegen sich selbst. Heidegger hat für sich selbst sehr gut gewußt, daß er als Entwerfer alternativen Seins und Vordenker des Seins „selbst" eigentlich nichts zu sagen hat. Von diesem Wissen geben alle seine Schriften beredt Zeugnis. Seine „Logik" nennt er selber „Sigetik". Ihr Verschwiegenstes lautet gegen Ende, wie ich es höre: Es gibt: Es gibt. Meine Deutung: Die Faktizität hat als solche ihr Haus gebaut und zieht bei sich selbst ein. Ich komme zum Schluß: Heidegger hat programmatisch versucht, als Philosoph keine theoretische Wissenschaft zu treiben, sondern sich mit existentiellem Einsatz in die Sache selbst zu begeben, in die einzige philosophische Sache, die er kennt und anerkennt: in die Faktizität. Wie das Leben selbst nach Heidegger philosophisch nur zu er-leben ist, soll seine Faktizität nicht überspielt, verdrängt, vergessen werden, so ist das Sein entsprechend nur — ich werde sprachschöpferisch — zu er-wesen. Um sich aber damit nicht aus der Wissenschaft schlechthin zu verabschieden und leibhaftiger Existentialist zu werden, reklamiert Heidegger für seine Existentialontologie die wissenschaftliche Grundhaltung des Fragens. Wie soll das angehen? Versuchen Sie doch einmal, wissenschaftlich auf gar keinen Fall einem Was nachzufragen, sondern allein dem Daß! Gerade in dieser Unmöglichkeit aber hat Heidegger seine Chance gewittert: er war bereit, die unmögliche Frage schlechthin zu stellen. Gelingt sie ihm, dann hat er sich mit einem Schlag nicht nur von allen Wissenschaften distanziert, sondern auch von der gesamten philosophischen Tradition. Diese einzig unmögliche Frage ist die Seinsfrage. Sie bekommt ihre Un-

EINIGE THESEN ZUR PHILOSOPHIE MARTIN HEIDEGGERS

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möglichkeit dadurch, daß sie gar nichts fragt und fragen kann, auch wenn sie neben der höchsten Fragwürdigkeit eigens die Fragbarkeit reklamiert. Sie ist fragbar, weil sie fragt. Da sie aber nicht etwas fragt, fragt sie zugleich nichts und kann auch nichts fragen. Ganz entsprechend will und kann sie keine Antwort bekommen. Die einzigartige Unmöglichkeit der Seinsfrage wird so zur reinen Fraglichkeit. Heideggers Fragen ist genauer ein Wundern. Die „Frage": „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" ist gleichbedeutend mit dem „Wunder aller Wunder": „Daß Seiendes ist und nicht vielmehr Nichts". Anders als bei Platon und Aristoteles stellt das thaumazein bei Heidegger keinen Schritt auf dem Weg zur Entzauberung der Welt dar. Sein staunendes Fragen und fragendes Staunen zeitigt den mystischen Zauber des Daß, bringt ihn ins Verweilen. Der Adam in uns wird wach, die „Götterung" mitten im Seienden. Der Blick der Entschlossenheit herrscht. Die Zeit des Seins ist ereignet. Der schlechtweg unmöglichen Frage als reiner Fraglichkeit und mystischer Verwunderung entspricht die Verschwiegenheit. Wenn philosophisch, außer der „Analyse" und der Brandmarkung des Unwesens, noch etwas die Stille durchbricht, dann ist es der „Zusammenklang des Seins", der Widerhall der Faktizität als solcher. Wir hören den Philosophen im ständigen Echo desselben: vom „daß ich bin und zu sein habe" über „daß Dasein ereignet und gebraucht ist" zu „daß Es Sein gibt", „daß das Ereignis ereignet". Das ist Fundamentalontologie: die unüberholbar fundamentale, ja fundamentalistische Sage vom Sein: Es gibt: Es gibt, kürzer noch: daß: daß (hoti : hoti). Das ist keine theoretische Aussage. Das ist vielmehr adamitisches Sein, gespiegelt im Blick der Entschlossenheit. Das ist der Seinsruf, der den Adamiten ereignet und enteignet in eins.