Ein Hufeisen um die Araber

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Author: Insa Bader
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Jerusalem

„Ein Hufeisen um die Araber“

A. BRUTMANN

Noch vor dem Beginn der Verhandlungen über den endgültigen Status von Jerusalem schafft Israel Fakten: Durch Enteignung palästinensischen Landes und massiven Wohnungsbau für Juden im arabischen Osten soll die Hoheit des jüdischen Staats über die Heilige Stadt zementiert werden – möglichst für alle Zeiten.

Streitobjekt Jerusalem: „Wenn ich dich je vergesse, dann soll mir die rechte Hand verdorren“ Wir werden einen heiligen Krieg um Jerusalem führen, die Hauptstadt Palästinas. Jassir Arafat Jerusalem bleibt die ungeteilte Hauptstadt von Israel, auf ewig. Jizchak Rabin

s soll ein Fest werden, nächstes Jahr in Jerusalem, auf das die Welt schaut. Hunderttausende, vielleicht Millionen Besucher werden die kurvigen Straßen hinauffahren in die hochgebaute Stadt am Rande der judäischen Wüste. Jose´ Carreras soll kommen, die Deutsche Staatsoper Berlin und Lorin Maazel. Theater, Lightshows und 70 Kongresse, alles von Weltformat. 1996 wird die Stadt Davids 3000 Jahre alt. Und die Stadt putzt sich heraus. Bautrupps hämmern an Fassaden, Archäologen legen am Tempelberg Zeugnisse jüdischen Lebens aus biblischer Zeit frei. Am Damaskus-Tor der Altstadt,

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wo früher häßlicher Stacheldraht die Stadt in Juden und Moslems teilte, entsteht ein friedlicher Palmenhain mit schattigen Pavillons. „Zehn Maß Schönheit wurden auf die Welt verteilt“, heißt es im babylonischen Talmud, „neun davon hat Jerusalem bekommen.“ So ungefähr soll es wieder werden nächstes Jahr in Jerusalem. Doch nichts geht glatt in dieser Stadt – nichts ging hier je glatt. Das Fest könnte ein furchtbarer Flop werden: Zwei Drittel der Jerusalemer lehnen das Jubiläum vehement ab. Für die orthodoxen Juden der Stadt, rund 170 000, ist die Feier nur ein unseriöses Festival der Ungläubigen, das an dem heiligen Ort nichts zu suchen hat. Ihre gelehrten Rabbiner datieren das Ereignis nach dem jüdischen Kalender ohnehin erst auf das Jahr 2132. Und die Araber im Osten, rund 155 000 Menschen, fühlen sich durch die

pompös angelegte Party der jüdischen Stadtverwaltung provoziert. „Hier wird der arabische Anteil an der Geschichte und Gegenwart der Stadt vollständig ausgeklammert“, beschwert sich Feisal el-Husseini. Der Sproß einer alten Jerusalemer Familie ist als Minister ohne Portefeuille Statthalter von Jassir Arafat in Jerusalem. Das Fest diene, so Husseini, lediglich dazu, „den jüdischen Anspruch auf die ganze Stadt zu erheben“. Der Kampf um Jerusalem hat begonnen, und die geplante Feier ist dabei nur eine Episode, wenngleich eine entlarvende. Im kommenden Jahr werden die wichtigsten politischen Weichen gestellt, könnte sich das Schicksal der Heiligen Stadt entscheiden – vielleicht für Jahrhunderte. 1996 sollen, nach dem Fahrplan des Friedensabkommens von Oslo, die Gespräche über den endgültigen Status der Stadt von David, Jesus und Mohammed beginnen.

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zuvor die Staatsgrenze Jerusalem zwischen Jordanien und MittelIsrael lief, wieder vereiarabische Wohngebiete meer nigt. Die Palästinenser geenteignetes Land, hören zu den Verlierern – jüdische Siedlungen WESTund entsprechend sieht die freie Fläche mit Bauverbot JORDANJerusalem Stadt heute aus. LAND Vorschläge für neue Der westliche jüdische Enteignungen Teil wuchs seitdem zu eiISR AEL Grenzverlauf ner modernen Metropole von 1949 bis 1967 mit Hochhäusern, FußJORDANIEN gängerzonen und eleganten Shopping-Malls. Die Stadt im wüsten Bergland leistet sich in ihren westlichen Bezirken heute bewässerte Parks, und alle Beit Hanina Häuser müssen mit dem teuren Jerusalemer SandRamot OSTJERUSALEM stein verkleidet sein, der die Stadt bei Sonnenuntergang rötlich schimmern WESTläßt. JERUSALEM Dagegen mutet der araAltstadt bische Osten an vielen Ekken so rückständig an wie ein Provinzkaff. Auf der Abu Dis Salah el-Din, einst Prachtstraße Ost-Jerusalems, baumeln Stromkabel lose vor schmuddeligen FassaBeit Safafa den, in düsteren Geschäf3 Kilometer ten verstauben billige Auslagen, die Seitengaswerden Schlaglöcher nicht geflickt, sen sind ein Bild des Elends. In Silwan, die medizinische Versorgung gilt als predem biblischen Kidron-Tal unterhalb kär. des Ölbergs, leben die Palästinenser in Häusern, die jeder jüdische EinwandeDie miserablen Zustände sind weder rer entsetzt zurückweisen würde. gottgegeben noch zufällig. Sie sind das Ergebnis zielgerichteter israelischer BeAuf höchstens ein Drittel des Westnisatzungspolitik. „Höchstens vier bis fünf veaus kommt der Lebensstandard im Prozent der städtischen Ausgaben“ ginOsten: Die Schulklassen sind überfüllt, gen in den arabischen Osten, beklagt die die Müllabfuhr arbeitet schlampig, die linksliberale Merez-Partei, die in der Straßenbeleuchtung schummert düster, Rabin-Regierung vier Minister stellt. wenn es überhaupt Licht gibt. Jahrelang Und selbst davon werde noch ein Viertel für die Bewachung und besondere Versorgung der jüdischen Bewohner der Altstadt verwendet. Jerusalems Ex-Bürgermeister Teddy Kollek gibt zu, daß alles „Gerede“ über die Gleichstellung der Araber „leeres Geschwätz“ gewesen sei: „Sie waren und bleiben Bürger zweiter und dritter Klasse.“ Kollek, der den Ruf genießt, sich auch um den arabischen Teil der Stadt gekümmert zu haben, sagt ehrlich: „Für das jüdische Jerusalem habe ich einiges tun können. Aber in Ost-Jerusalem – nicht einmal ein Bürgersteig existiert da; nicht einmal eine kulturelle Einrichtung. Ja, wir haben Abwasserkanäle gelegt und Wasserleitungen. Wissen Sie warum? Um ihnen etwas Gutes zu tun? Es gab einige Fälle von Cholera dort drüben. Und die Juden hatten Angst, daß es sie auch erwischen könnte.“ Im Ruhestand kümmert sich Kollek jetzt um ein arabisches GemeindezenIsraelische Militärstreife in der Altstadt: Weder friedlich noch allen heilig J. JONES / KATZ PICTURES / FOCUS

Rund 50mal seit seiner Gr ündung ist Jerusalem erobert und dabei meist zerstört worden, ein dutzendmal wechselte die herrschende Religion. Jeruschalajim, „Stadt des Friedens“, heißt sie auf Hebräisch. Für die meisten Juden, nicht nur für die frommen, ist Jerusalem Zentrum ihrer Identität. 657mal ist die Stadt im Alten Testament erwähnt, 154mal im Neuen, hier standen die jüdischen Tempel, hier regierten die großen Könige. Selbst Regierungschef Jizchak Rabin, keiner der Religiösen, zitiert oft den 137. Psalm: „Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren.“ El-Kuds, „die Heilige“, wird die Stadt von den Arabern genannt und mit derselben Verve beansprucht. 1300 Jahre lang haben arabische Potentaten die Heilige beherrscht. Von hier, so will es die Legende, ritt Mohammed auf seinem Wunderpferd gen Himmel. Über dem Felsbrocken, von dem er abgehoben haben soll, erhebt sich der Felsendom, eines der imposantesten Sakralbauwerke weltweit. Hauptstadt eines arabischen Landes allerdings war Jerusalem nie, und der Koran erwähnt die Stadt nicht einmal. Heute ist Jerusalem weder „friedlich“ noch allen „heilig“ – wahrscheinlich war es diese Stadt nie. Aber das Abkommen von Oslo könnte bewirken, daß Juden und Araber diesmal über die Zukunft Jerusalems verhandeln und nicht Krieg führen. Am Verhandlungstisch werden allerdings zwei sehr ungleiche Partner sitzen. 3000 Jahre nach König David, der die Stadt von den Jebusitern eroberte, sind die Juden wieder die unumstrittenen Herrscher von Jerusalem. Die Israelis haben den Sechstagekrieg von 1967 gewonnen; seitdem ist die Stadt, durch die

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einer Diskussion um den Status der Stadt bleibt so auf ein Minimum reduziert. „Jerusalem ist und bleibt eine jüdische Stadt“, erklärt der Konservative Ehud Olmert, Bürgermeister seit 1993, „ein Kompromiß kommt nicht in Frage.“ Und Israels Regierungschef Jizchak Rabin, von der sonst eher kompromißbereiten Arbeitspartei, stimmt ihm zu: „Wir haben 1967 Jerusalem unter israelischem Gesetz vereinigt. So ist es, und so wird es bleiben.“ Israel Kimche, von 1965 bis 1989 verantwortlicher Stadtplaner von Jerusalem, bekennt offen, die Entwicklungsplanung habe sich „vom ersten Moment an im wesentlichen nach politischen und strategischen Gesichtspunkten ausgerichtet“. Soll heißen: durch Landenteignung zu Lasten der Araber. Unmittelbar nach der Annexion Ost-Jerusalems hatte Israel begonnen, palästinensisches Land zu konfiszieren, die Grenzen zu korrigieren, neue Siedlungen anzulegen und sie durch Straßen zu verbinden. Einziges Ziel der Aktion: „Es sollte in Stein und Beton der Standpunkt dokumentiert werden, daß Jerusalem eine jüdisch dominierte Stadt unter Israels alleiniger Herrschaft sein muß“, schrieb unlängst der angesehene Jerusalem Report. „Ich schlug Menachem Begin 1977 vor“, erinnert sich der ehemalige Verteidigungsminister Ariel Scharon, „lege ein jüdisches Hufeisen um die Araber – und so hat er es gemacht.“ Da war die Einkesselung des arabischen OstJerusalem bereits in vollem Gange. Mittlerweile liegt um den palästinensischen Teil der Stadt ein regelrechter Ring von jüdischen Siedlungen wie Ramot, jede vom Format einer Kleinstadt. Sari Nusseibe, Sproß eines angesehenen palästinensischen Clans und Professor für Philosophie, beklagt, seine Landsleute würden jetzt schon „in einem arabischen Ghetto in Jerusalem“ leben. Schreite die Entwicklung weiter fort, werde Arabisch-Jerusalem zu einer „ethnischen Enklave“ in der Stadt – wie Little Italy in New York oder Chinatown in San Francisco. Die ganze Welt würde gegenwärtig Zeuge einer „Dearabisierung der Stadt“, die, so Nusseibe, „zu einer Vernichtung des kulturellen Erbes der Araber in ElKuds, der Heiligen, führen kann“. 2350 Hektar Land wurden seit 1967 enteignet, das meiste davon aus Privatbesitz palästinensischer Familien. Die

Jüdische Neubausiedlung Ramot: Ansprüche in Beton gegossen

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vergangenen Jahr mit Steinen nach Juden. 8mal schossen politisch motivierte Araber auf Israelis, und 181mal wurden Brände gelegt – meist an Mietwagen aus dem Westen, die im Osten parkten. 21 Palästinenser wurden von israelischen Soldaten an den Kontrollpunkten erschossen, die vor rund zwei Jahren an den Zufahrtstraßen vom Jordan-Westufer zum Schutz vor Terror errichtet wurden. Dabei reichte oft ein vager VerOlmert dacht. Der Riß geht tief. Ost- und West-Jerusalemer haben sich, auch nach dem Oslo-Abkommen, den Rücken zugekehrt. Sie wollen möglichst wenig miteinander zu tun haben, weil sie glauben, miteinander nicht auskommen zu können. Juden wie Araber träumen den gleichen Traum: Die Sonne geht auf, und der ungeliebte Nachbar ist einfach verschwunden. Solange dieser Traum nicht in Erfüllung geht, versuchen die Volksgruppen, sich das Leben so schwer wie möglich zu machen. Am längeren Hebel sitzen dabei die Juden: Die israelischen Behörden versuchen durch gezielte Siedlungspolitik und Wohnungsbau, die jüdische Hegemonie über ganz Jerusalem abzusichern – möglichst unumkehrbar. Die Araber sollen vor vollendete Tatsachen gestellt werden; der Spielraum BENOVIC / GAMMA / STUDIO X

trum im Osten und bessere medizinische Versorgung. Seit 1967 trennt kein Schlagbaum mehr den Osten vom Westen, kein Stacheldraht – und doch sind die Gr äben „tiefer als je zuvor“, meint Hanna Siniora, palästinensischer Verleger und enger Freund Arafats. Hier wächst nichts von selbst zusammen – weil man sich nicht zusammengehörig fühlt. Kaum ein jüdischer Bewohner aus dem Westen geht heute freiwillig Bürgermeister in den Osten der Stadt. Zum Beten an der Klagemauer in der Altstadt nehmen die meisten Gläubigen erhebliche Umwege in Kauf, um nicht durch das moslemische Viertel gehen zu müssen. Viele Siedler vom Jordan-Westufer erscheinen mit umgehängtem Gewehr und Pistole im Hosenbund an der heiligen Tempelmauer. Die Taxifahrer aus dem Westen verweigern oft die Fahrt „nach drüben“. Die Palästinenser wechseln schon häufiger über die ethnische Grenze, vor allem, weil es „drüben“ Geld zu verdienen gibt – für Männer meist auf dem Bau, für Frauen als Küchenhilfe. Haß und Mißtrauen baut das nicht ab. Die Polizei nennt die Terrorstatistik des vergangenen Jahres eine „deutliche Verbesserung“. Doch der Fortschritt ist relativ, die Zahlen bleiben erschrekkend: 71mal warfen Palästinenser im

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FOTOS: A. BRUTMANN

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Juden, Palästinenser an einem Altstadt-Tor: „Nie wieder geteilt“ Enteignung von 53 Hektar arabischen Landes bei Beit Hanina im Norden und Beit Safafa im Süden der Stadt, die Anfang Mai weltweit Protest hervorrief und sogar den Uno-Sicherheitsrat beschäftigte, lag ganz auf der Linie, im Osten soviel Land wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Zwar beschloß Israels Regierung schließlich, die Konfiszierung dieses Stückchen Landes vorerst aufzugeben. Doch die Politik der Landnahme geht unverdrossen weiter. Ende Mai, kaum waren die internationalen Proteste abgeflaut, beschloß der Stadtrat von Jerusalem, bei Har Homa im Süden auf bereits enteignetem Land demnächst 6500 neue Wohnungen zu bauen – ausschließlich für jüdische Mieter. Die Plazierung von jüdischen Siedlungen im Osten der Stadt, meist auf der Kuppe von Hügeln, was ihnen den Charakter von Wehrburgen verleiht, hat dabei einen doppelten Effekt: Der arabische Teil der Stadt wird an seiner Ausdehnung gehindert, und gleichzeitig verstärkt sich im Osten der jüdische Bevölkerungsanteil – durch Straßen, Berge und Freiflächen von den arabischen Vierteln getrennt. Die jüdische Bevölkerung Gesamt-Jerusalems hat sich seit Beginn der Besatzung mehr als verdoppelt – von 196 500 im Jahre 1967 auf rund 460 000 heute. Davon wohnen 160 000 in den neuen Hufeisen-Siedlungen. Erstmals in seiner neueren Geschichte leben damit im Osten Jerusalems mehr Juden als Palästinenser. Die jüdische Menschenrechtsorganisation B’Tselem befand in einer Studie, Israel habe „eine demographische und geographische Realität geschaffen, die jeden künftigen Versuch, Israels Souveränität in Ost-Jerusalem in Frage zu stellen, unmöglich machen soll“. Die Menschenrechtler beklagen, daß die israelische Regierung durch die Ent-

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eignung von Land, durch Stadtplanung und Wohnungsbau „eine Politik der systematischen und vorsätzlichen Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung“ betreibe. Die massive Benachteiligung zeigt sich, nach Informationen von B’Tselem, besonders beim Wohnungsbau. Auf dem Land, das den Palästinensern weggenommen worden ist – insgesamt 35 Prozent der Fläche Ost-Jerusalems –, sind 38 500 Wohnungen entstanden – alle ausschließlich Juden vorbehalten. Große Areale wurden zu unbebaubaren Sicherheitszonen oder Gr ünflächen erklärt. Und auf nicht-konfisziertem Boden arbeitet die Stadtverwaltung mit Schikanen: Wenn überhaupt, dann dürfen die Palästinenser nur zwei Stockwerke hoch bauen. Daß Regierung und Stadtverwaltung mit Annektierung und Besiedlung des be-

setzten Territoriums im Osten gegen internationales Recht verstoßen, stört die Israelis nicht sonderlich. „Kein einziger Staat“, stellte kürzlich etwa Regierungschef Rabin fest, habe bisher anerkannt, „daß das vereinigte Jerusalem unter israelischer Hoheit“ stehe – doch „das ist deren Problem“. Einmischung von außen wird abgelehnt. „Niemand kann Israel erzählen, wie es sich in bezug auf Jerusalem zu verhalten hat“, sagte Wohnungsbauminister Ben-Elieser. Gern verweisen die Israelis darauf, daß es die Araber waren, die den für sie günstigen Uno-Teilungsplan für Palästina 1947 ablehnten. Er sah eine Internationalisierung Gesamt-Jerusalems vor, das somit nie israelische Hauptstadt hätte werden können. 1980 erklärten die Israelis, gegen internationalen Protest, Jerusalem per Gesetz zur „ewigen Hauptstadt Israels“, die „nie wieder geteilt“ sein soll. Die PLO proklamierte 1988 die Gr ündung des Staates Palästina ebenso apodiktisch „mit seiner Hauptstadt Jerusalem“. Schwer zu sehen, wo da ein Verhandlungsspielraum bleibt. Doch noch in diesem Jahr soll ein Zeitplan für die Verhandlungen über den künftigen Status von Jerusalem aufgestellt werden. Zur Vorbereitung auf die große Debatte sind Konferenzen in Brüssel, Belfast und London geplant – ausnahmslos Städte, in denen es reichlich Erfahrungen mit ethnischen oder religiösen Konflikten gibt. Unmittelbar nach dem Abkommen von Oslo tauchten großartige Konzepte auf, die Jerusalem als ungeteilte multikulturelle Metropole sahen – als einzige Kommune der Welt gleichzeitig die Hauptstadt zweier Staaten. Oder gar

Brandanschlag an der Altstadtmauer: „Die Schöne den Zionisten entreißen“

als Hauptstadt zweier Staaten mit einer gemeinsamen Stadtverwaltung und gemischten jüdisch-palästinensischen Polizeipatrouillen sowie einer Altstadt, die als „corpus separatum“ den Gläubigen aller Welt gehören soll. Doch zu derart phantastischen Lösungen dürfte es kaum kommen: Die Israelis werden ihre Hoheit über Jerusalem nicht aufgeben, und die Palästinenser werden das kaum ändern können. Eine Chance liegt in dem – besonders von Palästinensern bekämpften – Projekt eines „Groß-Jerusalem“. Nach den Plänen der israelischen Regierung sollen die Grenzen vor allem auf dem Jordan-Westufer Richtung Palästinensergebiet vorgeschoben werden. Im Norden soll Jerusalem bis Ramallah, im Süden bis Betlehem reichen – und nur dichtbesiedelte arabische Gebiete ausschließen. Gerade aber die Einbeziehung einer arabischen Stadt könnte das Jerusalem-Problem entschärfen. Die Palästinenser hätten somit einen Regierungs- und Verwaltungssitz mit Postadresse Jerusalem, wenngleich fernab vom Felsendom. Erst unlängst ließen israelische Regierungskreise streuen, der Vorort Abu Dis an der südöstlichen Stadtgrenze könnte zur palästinensischen Verwaltungszentrale werden. Gegenwärtig ist Abu Dis nur ein schäbiger Flecken ohne Bedeutung, durch einen neuen Zuschnitt des Stadtplans aber würde Abu Dis Teil von Jerusalem. Diese Planspiele setzen allerdings voraus, daß der Aussöhnungsprozeß voranschreitet. Das aber ist keinesfalls sicher, denn auch in Jerusalem werden die Fundamentalisten immer einflußreicher – auf beiden Seiten. Keine Bevölkerungsgruppe wächst gegenwärtig so stark wie die jüdischorthodoxe. In zehn Jahren, so alle Prognosen, wird Jerusalem wohl einen orthodoxen Bürgermeister haben. Die frommen Juden jedoch lehnen einen Ausgleich mit den moslemischen Arabern unerbittlich ab. Von den Palästinensern würden bei einem Kompromiß noch mehr Zugeständnisse verlangt; nur eine starke PLO-Führung könnte sich die leisten. Aber seit dem Abkommen von Oslo ist die Zahl der Radikalen gewachsen, auch in der Heiligen Stadt. Knapp 200 Fundamentalisten der Hamas-Bewegung zählte der israelische Geheimdienst noch vor Jahresfrist. Seitdem ist ihre Zahl auf über 3000 angestiegen. Mit Hamas aber, deren militärischer Arm Selbstmordattentäter in den Kampf gegen Israel schickt, ist eine friedliche Lösung nicht zu schaffen. „El-Kuds, die Schöne“, so heißt es im politischen Programm von Hamas, „muß den Zionisten entrissen werden.“ Y DER SPIEGEL 24/1995

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