Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens 1. Einleitung

Gisela Kubon-Gilke Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens 1. Einleitung Gerechtigkeitsfragen werden in aktuellen ökonomischen Ansä...
Author: Brit Adenauer
0 downloads 0 Views 198KB Size
Gisela Kubon-Gilke

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens 1. Einleitung Gerechtigkeitsfragen werden in aktuellen ökonomischen Ansätzen eher als Randthemen denn als zentrale Fragestellungen behandelt. Entweder werden sie anderen Themenbereichen wie der Wohlfahrtstheorie oder der Verteilungstheorie unmittelbar zu- bzw. untergeordnet oder sie gehen in spezieller Hinsicht in den Datenkranz insbesondere der mikroökonomischen Analyse ein, wenn etwa implizit angenommen wird, dass Gerechtigkeitsüberlegungen in bestimmter Weise das Verhalten der Individuen beeinflussen und sie z.B. daran hindern, alle strategischen Optionen zur Aneignung von Überschüssen anzuwenden, die man aus Rationalitätserwägungen heraus erwarten müsste. In den Modellen schlägt sich dies als eine spezielle Präferenz für bestimmte Formen der Gleichheit nieder, oder es werden Restriktionen formuliert, die bestimmte Verhaltensweisen ausschließen. Auch in der Wirtschaftspolitik scheinen bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen, die mit Umverteilungen verbunden sind, zur Zeit nur von untergeordneter Bedeutung zu sein, wenn man etwa den Umbau von Systemen der Sozialen Sicherung betrachtet. Gerade in diesem Zusammenhang fällt auf, dass offensichtlich ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwischen Effizienz und (Verteilungs-)Gerechtigkeit gesehen wird und dem Effizienzziel Priorität eingeräumt wird, wenngleich es grundsätzlich diskussions-

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

2

Gisela Kubon-Gilke

würdig ist, ob beide Konzepte überhaupt auf einer identischen Zielebene liegen1. Wenn man nun aufbauend auf den Ausführungen der vorangehenden Beiträge den Begriff der Gerechtigkeit stärker in den Fokus der Überlegungen stellt und zudem resümierend noch einmal betont, dass Gerechtigkeit eine Voraussetzung für effizientes Wirtschaften ist, stellen sich die Fragen, welche Begriffe von Effizienz und Gerechtigkeit jeweils angesprochen sind, welche Relevanz für ökonomische Fragen die gewählten Begriffe und Konzepte haben und wieso sie anders als in anderen Vorstellungen nicht neutral oder gar dysfunktional zur ökonomischen Effizienz gesehen werden. Dieser Beitrag beschäftigt sich deshalb zunächst kurz noch einmal mit Begriffen und Konzepten, die im Zusammenhang mit Gerechtigkeit und Effizienz diskutiert werden. Dabei wird auf grundsätzliche moralphilosophische und -psychologische Sichtweisen zu Gerechtigkeitsfragen Bezug genommen.. Es soll gezeigt werden, dass eine gewisse Annäherung beider relevanter Perspektiven in den Ideen des aus einer aristotelischen Tradition entwickelten Konzepts des „guten Lebens“ und einer gestaltpsychologischen Perspektive möglich wird. Während unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte und mit ihr verbundene Freiheitsvorstellungen explizit als disparate Modelle verstanden und diskutiert werden, scheint der Effizienzbegriff in der ökonomischen Theorie mit der Verwendung der Konzepte des Pareto-Optimums und des Kaldor-Hicks-Kriteriums relativ unstrittig. Diese Position ist jedoch u.a. unter Beachtung der Diskussion über die Gerechtigkeitsmodelle nicht ohne weiteres haltbar. Es soll gezeigt werden, dass der Effizienzbegriff ebenfalls mit konzeptionellen Problemen behaftet ist. Aus der Diskussion des „guten Lebens“ und der Gestaltperspektive ergibt sich, dass Präferenzen für eine Reihe ökonomischer Fragestellungen nicht als hinreichend stabil angenommen werden können, weil sie systematisch vom wahrgenommenen Kontext abhängen.2 In diesem Fall greift eine Effizienzvorstellung jedoch nicht mehr, die auf konstanten Präferenzen beruht. Wenn man das traditionelle Effizienz1

Vgl. Sturn/Held/Kubon-Gilke in diesem Band.

2

Vgl. die ausführlichen Darstellungen, mit denen Mikula (in diesem Band) die Rolle des Kontextes für die Gerechtigkeitswahrnehmung und damit auch für die Motivation und Verhaltensweisen von Individuen.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

3

konzept aus diesen Gründen jedoch aufgibt, entstehen eine Reihe schwerwiegender Probleme auf der normativen Ebene für die Ökonomik, die bislang noch wenig diskutiert wurden. Man kann diese Schwierigkeiten jedoch nicht für alle ökonomischen Problemstellungen umgehen, indem man pragmatisch an den gängigen Konzepten festhält, sondern muss sich konzeptionell damit auseinandersetzen, um nicht Gefahr zu laufen, nur aus Gründen der Tradition an inhaltlich inadäquaten Konzepten festzuhalten und sich der Frage nach einer grundlegenden Ethik zu entziehen. Im Anschluss an die Frage nach den verwendeten Begriffen und den darin angelegten Zielbeziehungen zwischen Effizienz und Gerechtigkeit soll gezeigt werden, dass selbst unter Verwendung traditioneller Effizienzvorstellungen keineswegs ein grundsätzlicher trade-off zwischen Gerechtigkeit (im Sinne der Umverteilung) und Effizienz bestehen muss. Immer dann, wenn es in Märkten Koordinierungsprobleme gibt – ob durch asymmetrische Informationen, unvollständige Verträge, Motivationseffekte o.a.m. – kann es einerseits Möglichkeiten geben, dass durch wirtschaftspolitische Maßnahmen sowohl eine Verbesserung der Koordination als auch eine gleichmäßigere Verteilung eintritt. Andererseits bilden sich im Wettbewerb der Institutionen auch endogen bestimmte Lösungen des Koordinierungsproblems, was sowohl die Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik tangiert als auch die Einschätzung ihrer allokativen und distributiven Wirkungen. Mit dem Institutionenwettbewerb werden wiederum auch die ethischen Fragen relevant, da die Entfaltungsmöglichkeiten und die Entscheidungsfähigkeit von Individuen von dem Design des Koordinationssystems beeinflusst werden. Auch Fragen von wahrgenommenen Verpflichtungen, von Macht oder anderen Asymmetrien sind in diesem Zusammenhang relevant.

2. Gerechtigkeit, Freiheit und Effizienz Wegen der Vielschichtigkeit der Gerechtigkeitstheorien ist es nur schwer möglich, die verschiedenen Ansätze zu kategorisieren. Dennoch lassen sich zumindest einige grobe Denkrichtungen und -traditionen angeben, auch wenn nicht jedes Modell ganz eindeutig zuzuordnen ist. Nachfol-

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

4

Gisela Kubon-Gilke

gend sollen zwei Argumentationslinien unterschieden werden, wobei die erste Linie eher einer moralphilosophischen und die zweite eher einer moralpsychologischen Grundrichtung entspringt. Schlicht (2001a) charakterisiert die hier einer moralphilosophischen Tradition zugeordneten Gerechtigkeitstheorien als Modelle der emotiven Gerechtigkeitsauffassung, die auch für die moderne Wohlfahrtstheorie dominant sei. Die Begründung von Gerechtigkeitsvorstellungen erfolgt dabei über Gerechtigkeitsemotionen, über Wünsche der Individuen und daraus abgeleiteten Werturteilen. Besonders deutlich zeigt sich diese Vorstellung bei Smith´ (1789) Theorie der ethischen Gefühle, bei der über die grundlegende Emotion der Sympathie in Verbindung mit dem Eigennutz, speziell dem Stolz, die Bildung von Gerechtigkeitsregeln abgeleitet wird (vgl. Schlicht 2001, S. 52-55). Die konkrete Ausgestaltung der Gerechtigkeit sieht SMITH eher auf einer prozeduralen Ebene, insbesondere in der Sicherung der Eigentumsordnung (vgl. Nutzinger 1991). Ähnliche funktionale Überlegungen auf der Grundlage von Werturteilen können Ansätzen der Wohlfahrtstheorie zugeordnet werden, die von der Nutzenmaximierung eines repräsentativen Agenten, bestimmten Wohlfahrtsfunktionen oder Sozialvertragsüberlegungen (vgl. Suchanek in diesem Band) ausgehen. Die Gleichsetzung von Gerechtigkeit mit Wohlergehen in einem weiten Sinne kennzeichnet auch andere Gerechtigkeitstheorien, die allerdings z.T. auf einer anderen Wertbasis argumentieren, entweder, weil sie utilitaristische und daran angelehnte Vorstellungen grundsätzlich in ihren Wertungen ablehnen oder weil sie konzeptionelle Probleme sehen, so dass die vorgeschlagenen Konzepte letztlich nicht den Wohlergehenszielen dienten. Rawls (1971) beispielsweise wendet sich gegen utilitaristische Maximierungsregeln und gegen den Nutzen als Wertbasis. Dennoch ist sein Ansatz ähnlich instrumentell, nur dass er von Nutzenvorstellungen auf die Ebene von „Grundgütern“ wechselt, zu denen auch Rechte und Freiheiten zählen. Sein Unterschiedsprinzip besagt, dass Ungleichheiten dann akzeptabel sind, wenn sie den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen. Auch bei diesem Modell wurden von Kritikern wiederum die abgeleiteten Werturteile in Zweifel gezogen, indem in einer Reihe von Beispielen darauf verwiesen wurde, dass es doch wesentlich nicht auf die Güter an sich ankomme, sondern auf die Relation zwischen den Gütern und den Individuen (vgl. Weikard 1998, S. 74 ff.). Sen (1987) fokussiert in Anlehnung an diese

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

5

Diskussion auf die Funktionen, die ein Güterbündel für Individuen hat und schlägt als Wertbegriff die „Befähigung“ in einer Art Kompromiss zwischen Nutzenvorstellungen und der Kategorie der Grundgüter vor. Die werturteilsgebundene und funktionale Grundlinie wird in all diesen Ansätzen nicht verlassen. Eine wichtige Debatte entstand vor dem Hintergrund, dass sich bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen gegenseitig auszuschließen scheinen. Diejenigen, die wie Hayek (1991) oder Friedman (1982/1962) eher eine prozedurale Vorstellung der Gerechtigkeit entwickelten und ihr Konzept auch wiederum mit einer Funktion für Freiheit und Wohlergehen begründen, stehen denjenigen gegenüber, die einen solidaritätsbezogenen Gerechtigkeitsbegriff verwenden, der deutliche Umverteilungsforderungen stellt und der damit begründet wird, dass zunächst einmal überhaupt relevante Auswahlmöglichkeiten vorhanden sein müssen.3 In diesem Zusammenhang zeigen sich auch einige Parallelen in der Diskussion um den Begriff der Freiheit. Prozedurale Gerechtigkeitsvorstellungen sind kompatibel mit einer negativen Deutung der Freiheit, die Freiheitsrechte wie die der freien Berufswahl durch Umverteilung eingeschränkt sieht. Die positive Deutung der Freiheit unterstreicht die Notwendigkeit einer materiellen Basis, damit sich Freiheiten auf anderen Ebenen durch die Eröffnung von Handelnsoptionen überhaupt erst entfalten können (vgl. Koller in diesem Band). Als eine Art Kompromiss erscheint die konditionale Freiheit, die auf einer Mindestsicherung für die Individuen ansetzt und ansonsten den Argumenten der negativen Deutung des Freiheitsbegriffs sowie der prozeduralen Gerechtigkeit folgt. Immer noch im Rahmen eines werturteilsbezogenen Verständnisses der Gerechtigkeit haben sich eine Reihe von spezifischen Vorstellungen gebildet, von denen hier nur zwei genannt seien. In der Theorie „zwangsausübender Angebote“ (vgl. Peter in diesem Band) wird diskutiert, dass es bei Tauschakten nicht nur auf die Tauschvorteile beim Status quo ankomme, der auch durch eine extreme Ungleichheit gekennzeichnet sein kann, sondern auch darauf, ob die Personen eine andere Anfangsverteilung als Tauschbasis vorgezogen hätten. Es ergeben sich allerdings Fragen, ob es nicht grundsätzlich so sein wird, 3

Vgl. auch NUTZINGER (in diesem Band) zu der solidaritätsbezogenen Gerechtigkeitsvorstellung im Alten Testament und den Änderungen der Gerechtigkeitsvorstellungen im Neuen Testament.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

6

Gisela Kubon-Gilke

dass mindestens eine Person eine andere Anfangsausstattung vorziehen würde, wie sich Forderungen nach der Besserstellung in einer realen Welt mit politischen Institutionen konkretisieren lassen und welche genauen Konsequenzen aus der Zwangsausübung zu ziehen sind. Einen anderen Weg schlägt Weikard (1998) ein. Aus der Auseinandersetzung mit wohlfahrtstheoretischen Ansätzen und Gerechtigkeitstheorien in der Werturteilstradition entwickelt er sein normatives Konzept der Wahlfreiheit, bei dem Gleichheit an bewerteten, realen Handlungsoptionen insbesondere in intertemporaler Hinsicht gefordert wird. Das Wahlfreiheitskonzept ist noch nicht vollständig entwickelt; so sind u.a. Fragen der Aggregation noch nicht geklärt. Außerdem benötigt das Konzept ein Maß für die Vielfalt. Allein an der Güter- oder Alternativenmenge können Handlungsoptionen nicht abgelesen werden. So wird man sicherlich einen Unterschied darin sehen, ob man die Wahl zwischen zwei engen Substituten oder zwischen sehr unterschiedlichen Gütern hat, so dass man auch eine Art Abstandsmaß für die einzelnen Güter und deren Eigenschaften benötigt.4 Ein besonders weit reichendes Konzept, dass die emotive Ebene der Argumentation nicht ausschließlich betrachtet, ist das auf Aristoteles zurückgeführte Modell des guten oder gelingenden Lebens.5 Zunächst wird ähnlich funktionalistisch wie bei allen anderen Modellen argumentiert, indem auf der grundlegenden Kategorie der „Freundschaft“, insbesondere auch der Freundschaft zu sich selbst, als Ziel das gute Leben formuliert wird. Dieses gute Leben wird von Nussbaum (1999) vor allem unter den Aspekten der Verteilungsgerechtigkeit diskutiert. Da kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Wohlergehen und materiellen Gütern (allein) gesehen wird, muss die Vorstellung des Guten konkretisiert werden. Nussbaum versteht in ihrem „essenziellen Aristotelismus“ als gutes Leben, wenn universalmenschliche Bedürfnisse befriedigt werden (insoweit gibt es noch eine gewisse Nähe zu Rawls) und wenn das Einüben universalmenschlicher Fähigkeiten gelingt.

4

Vgl. z.B. Nehring/Puppe (2001) oder Kubon-Gilke (2002) zu allgemeinen Problemen, wie in der Ökonomik Vielfalt und Homogenisierung thematisiert werden.. 5 Vgl. zu den philosophischen Grundlagen und zu verschiedenen Ausprägungen BENDER-JUNKER 200.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

7

Das Konzept bezieht sich in erster Linie auf die Befähigung von Menschen: „Das aristotelische Programm zielt auf die Herausbildung von zwei Arten von Fähigkeiten ab: interne und externe. Die internen Fähigkeiten sind Eigenschaften (des Körpers, des Geistes, des Charakters), die es einem Menschen ermöglichen, sich für die Ausübung verschiedener von ihm geschätzten Tätigkeiten zu entscheiden. Externe Tätigkeiten sind interne Fähigkeiten plus der externen materiellen und sozialen Bedingungen, die dafür sorgen, dass dem einzelnen Individuum die Entscheidung für die geschätzte Tätigkeit überhaupt offensteht.“ (Nussbaum 1999, S. 63). Das ist immer noch eine sehr vage Vorstellung, die sowohl liberalen, prozeduralen Vorstellungen als auch in gewisser Weise den Wahlfreiheitsvorstellungen folgt. Die grundsätzliche Idee wird allerdings ergänzt um die Forderung nach einer notwendigen Theorie des Menschen, da erstens zu klären ist, welche Bedingungen zur Entfaltung solcher Fähigkeiten gegeben sein müssen, außerdem muss auch dem subjektiven Verständnis des guten Lebens Beachtung geschenkt werden. Im Konzept des guten Lebens werden nur Beispiele für die Voraussetzungen dieser Befähigungen gegeben, die man aber mit einer gewissen Vorsicht sehen muss. So wird beispielsweise bei der Frage nach geeigneten Arbeitsbedingungen in starkem Maße auf die Kritik von Marx an einer kapitalistisch organisierten Arbeitsteilung rekurriert. Das ist sicherlich eine etwas einseitige Betrachtung (vgl. Schlicht 1999), aber es deutet dennoch einige wichtige Implikationen an, wenn man für das „Gute“ oder das „Wohlergehen“ Bedingungen aufzeigt, die dafür sorgen, dass sich menschliche Fähigkeiten entfalten können. In der traditionellen ökonomischen Theorie wird darauf wenig Augenmerk gelegt. Dort werden die Menschen im Prinzip als unveränderbare Individuen betrachtet, die höchstens geeignete Anreize benötigen, um bestimmte Dinge zu tun. Die Motive und Wünsche der Individuen werden als gegebene, also exogene Größen betrachtet. Psychologische Erkenntnisse legen jedoch nahe, dass Menschen systematisch durch den Kontext, auch den institutionellen Kontext, in ihren Wünschen, Fähigkeiten und Motiven beeinflusst werden. Diese Zusammenhänge müssten in dem Konzept des guten Lebens eine Rolle spielen.6 Dann trennt sich die Idee 6

Vgl. Kubon-Gilke (1997) zu den psychologischen Zusammenhängen und institutionenökonomischen Schlussfolgerungen.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

8

Gisela Kubon-Gilke

aber in gewisser Weise von einer rein werturteilsbezogenen Herleitung ihres Gerechtigkeitskonzepts und rekurriert auch auf psychologische Theorien, die thematisieren, wie Menschen Gerechtigkeitsurteile bilden und unter welchen Umständen sie welche Gegebenheiten als „gut“ empfinden. Effizienzkonzepte im Sinne des Pareto- oder des Kaldor-HicksKriteriums greifen in einer solchen Vorstellung ins Leere, denn es nutzt nichts, an den Präferenzen anzusetzen, die ja erst selbst durch Institutionen, Verteilungsgegebenheiten, Sozialisationsbedingungen etc. geformt werden, d.h. hier sind traditionelle Effizienzkonzepte und Vorstellungen des guten Lebens nicht miteinander vereinbar und höchstens für eng umrissene ökonomische Fragestellungen verwendbar, bei denen man keine Präferenz- und Motivationsänderungen erwarten kann. Bei grundlegenden Fragen benötigt man dagegen eine allgemeine Ethik zum Vergleich verschiedener Entfaltungsmöglichkeiten und der damit verbundenen Interpretationen und Präferenzen der Individuen. Die Bedeutung ethischer Überlegungen zeigt sich insbesondere in der Institutionenanalyse und allgemein bei Phänomenen, die durch Pfadabhängigkeiten gekennzeichnet sind und bei denen verschiedenen Pfade mit sehr unterschiedlichen Einstellungen, Normen und Institutionen verbunden sind, so dass die denkbaren temporären Gleichgewichte keinen einfachen Effizienzvergleich mehr erlauben. Ein Problem bei den meisten Ansätzen einer emotiven Gerechtigkeitsauffassung besteht darin, dass sie sich wenig mit den individuellen Gerechtigkeitsurteilen auseinander setzen und allein auf die Funktionalität der Gerechtigkeit rekurrieren. Diese Position übersieht, dass gerechtes und funktionales Verhalten weit auseinander fallen kann. Nicht alles, was dem Wohlergehen dient, wird von Individuen als gerecht empfunden. Gerechtigkeit kann auch ausschließlich im Kontext von Tatsachenurteilen untersucht werden, was einige moralpsychologische Theorien zeigen.7 Schlicht (2001a) bezeichnet die entsprechenden Modelle als Ausdruck einer kognitiven Gerechtigkeitsauffassung und zeigt auf, wie sich sozial Gerechtigkeitsvorstellungen entwickeln. Von besonderer Bedeutung sind dafür allgemeine psychologische Theorien über die Regelbildung. Eine gerechte Situation ist dann dadurch gekennzeichnet, dass den 7

Vgl. Heidbrink (1992) zu einem Überblick über wesentliche moralpsychologische Theorien der Gerechtigkeit in diesem Kontext.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

9

für die entsprechenden Sachverhalte gültigen Regeln gefolgt wird. Dabei zeigt sich, dass Gerechtigkeitsurteile auf verschiedenen Ebenen gefällt werden. Man mag die Bezahlung bestimmter Berufsgruppen wie etwa der Piloten für ungerecht hoch halten. Würden dabei nur die männlichen, nicht aber die weiblichen Piloten so hohe Löhne erhalten, so erschiene diese Ungleichbehandlung wiederum als ungerecht. Regeln sind kognitive Gebilde, und es gibt systematische Wirkungszusammenhänge bei der Bildung und Stabilisierung von Regeln (vgl. Kubon-Gilke 1997, Kap. 4). In der Gestalttheorie und nahe liegenden Ansätzen wird gezeigt, dass sich Regeln in der Weise bilden, dass Tatbestände in möglichst einfacher und klarer Weise erfasst werden und Komplexität reduziert wird (vgl. z.B. Asch 1987, S. 52 ff.). Ausnahmen von Regeln werden als Unregelmäßigkeiten wahrgenommen und im sozialen Kontext als Ungerechtigkeit bezeichnet. In der gestalttheoretischen Perspektive bleibt es nicht allein bei der Diskussion der rein kognitiven Phänomene, die bei der emotiven Gerechtigkeitsauffassung zu wenig Beachtung finden. Darüber hinaus wird auch gezeigt, dass Gerechtigkeitsregeln emotive Kraft haben, was die Frage beantwortet, warum Menschen gerechte Situationen anstreben und sich bei wahrgenommenen Ungerechtigkeiten unzufrieden fühlen. Eine einfache Erklärung dafür liefert die Theorie der kognitiven Dissonanz (vgl. Festinger (1957), wonach das – gut belegte – Streben nach Konsistenz, nach Sinnhaftigkeit gerechte Situationen erstrebenswert macht. Die gestaltpsychologische Sicht geht noch einen Schritt weiter. Der dort verwendete Begriff der „Gefordertheit“ ist weit reichender als der der kognitiven Konsistenz, er ist allerdings häufig missverstanden worden. Es geht dabei nicht nur um die Emotion als eine Art Nebenprodukt der kognitiven Grundlagen der Regelbildung. Es wird statt dessen diskutiert, dass Emotionen und Kognitionen untrennbar miteinander verbunden sind, Verhaltensanforderungen aus den wahrgenommenen Situationen und Regeln erwachsen (als „gute Fortsetzung“) und dass Gefordertheiten kontextabhängig wahrgenommen werden. Mit dem Gefordertheitskonzept hätte man auch Möglichkeiten, die noch vorhandenen Lücken in der Theorie des guten Lebens zu füllen. Von beiden Seiten wird der Versuch unternommen, sowohl die emotiven als auch die kognitiven Komponenten der Gerechtigkeit zu erfassen, aber in dem Modell des guten Lebens besteht noch mehr die Forderung nach einer umfassenden

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

10

Gisela Kubon-Gilke

Theorie des Menschen, als dass bereits gesicherte Kenntnisse darüber vorhanden sind, in welchem Kontext sich menschliche Fähigkeiten am besten entfalten können. Ob man diesem Konzept nun Perspektiven einräumt oder nicht, so bleibt dennoch festzuhalten, dass sowohl die gestalttheorietische Perspektive als auch die des guten Lebens auf schwerwiegende konzeptionelle Probleme des ökonomischen Effizienzbegriffs hindeuten. Wenn die Fähigkeiten und Motive des Menschen nicht bereits vorhanden sind, sondern im Kontext verschiedener Institutionalisierungen und auch bestimmter Verteilungen entwickelt oder zurückgedrängt werden, dann kann die Frage nach dem Gelingen der ökonomischen Koordinierung nicht mehr an exogenen Wünschen und Präferenzen der Menschen ansetzen, weil diese sich mit anderen Verteilungen und Institutionen systematisch ändern können. Ohne eine allgemeine Ethik über gewünschte Entfaltungsmöglichkeiten, Präferenzen und Motivationen sind keine Beurteilungen möglich.

3. Vermutete trade-offs zwischen Gerechtigkeit und Effizienz Aus all den vorgestellten Gerechtigkeits-, Freiheits- und Effizienzkonzepten ergeben sich bestimmte Vorstellungen über die Notwendigkeit, die Funktion und das Ausmaß von Umverteilungsmaßnahmen. Nur für den Fall, dass Effizienz synonym als (Leistungs-)Gerechtigkeit verstanden wird, braucht man sich über mögliche trade-offs keine Gedanken zu machen. Rothschild (2001, S. 3) sieht grundsätzlich das Problem, dass Ökonomen Verteilungsfragen wenig Beachtung schenken und sich auf Effizienzprobleme konzentrieren, um das konfliktträchtige Verteilungsproblem dem politischen Prozess zu überlassen. Dennoch geht die Verteilungsproblematik in der wirtschaftstheoretischen Diskussion nicht gänzlich unter. Während bei Adam Smith der materiellen Gerechtigkeit im Sinne einer angemessenen Einkommens- und Vermögensverteilung keine besondere Beachtung geschenkt wird (vgl. Nutzinger 1991: S. 95 f.), wird von Friedman (1982: S. 190 ff.) und Hayek (1991: S. 156 ff.) trotz ihres spezifischen prozeduralen Gerechtigkeitskonzepts und der Verteidigung eines entsprechenden Freiheitsbegriffs zumindest eine be-

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

11

grenzte materielle Sicherheit als notwendig anerkannt. Bei anderen Wertgrundlagen – wie bei Rawls, Sen, Weikard oder Nussbaum – sind sowohl ein anderes Mix an Maßnahmen als auch andere Umverteilungsvolumina gefordert. Solange der Gerechtigkeitsbegriff funktional hinsichtlich der Wohlfahrt oder des „Guten“ im allgemeinen Sinne verstanden wird, kann man statt eines Konflikts zwischen Effizienz und Gerechtigkeit zu einem großen Teil eher davon sprechen, dass es einen Konflikt zwischen verschiedenen Wohlfahrtsvorstellungen gibt, die nicht alle gleichzeitig erreicht werden können. In welcher Begrifflichkeit man diese Fragen auch immer diskutiert, es stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit die Art und das Ausmaß von Umverteilungsmaßnahmen die Koordination einer arbeitsteiligen Wirtschaft beeinflussen. Eine Skizze verschiedener Modellwelten ist vielleicht am besten geeignet zu zeigen, auf welchen Ebenen und mit welchen Argumenten Zielkonflikte und Zielübereinstimmungen vermutet werden.8

3.1 Referenzmodell vollständige Konkurrenz In der neoklassischen Referenzwelt gibt es gemäß der beiden Hauptsätze der Wohlfahrtsökonomik unter den gegebenen perfekten Bedingungen keinen Zielkonflikt. Das Effizienzziel wird durch das (paretooptimale) Konkurrenzgleichgewicht erreicht, und das Verteilungsziel kann durch eine gewünschte Anfangsausstattung bzw. lump-sum-Transfers erreicht werden (vgl. z.B. Putterman et al. 1998).9 Aus den beiden nebeneinander stehenden Zielen wird jedoch unmittelbar ein Zielkonflikt, wenn die Bedingungen des 2. Hauptsatzes der Wohlfahrtstheorie nicht erfüllt sind. 8

Vgl. insbesondere Weise sowie Sturn/Held/Kubon-Gilke (beide Beiträge in diesem Band) zu einer allgemeinen Betrachtung verschiedener Möglichkeiten, in welcher Zielbeziehung Effizienz und Gerechtigkeit zueinander stehen können. 9 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bei friktionslosem Tausch nicht nur durch ein System vollständiger Konkurrenzmärkte Effizient erreicht werden kann. In einer Welt ohne jegliche Transaktionskosten erreicht man über alternative Koordinationsformen ebenfalls eine effiziente Allokation (vgl. Kubon-Gilke 2002).

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

12

Gisela Kubon-Gilke

Sollte es Probleme der Präferenzenthüllung geben und lump-sumTransfers nicht möglich sein, dann gibt es keine allokationsneutralen Umverteilungen. Sobald Umverteilungsmaßnahmen die Steuerung durch den Preismechanismus beeinflussen, wird die Allokation verzerrt und das Pareto-Optimum nicht erreicht.

3.2 Koordinierungsprobleme des Marktes und Wettbewerb der Koordinierungssysteme Sollten nicht alle der (restriktiven) Bedingungen vollkommener Konkurrenzmärkte erfüllt sein, ist nicht mehr sicher, dass ein Marktgleichgewicht zu einer paretooptimalen Allokation führt. Die Gründe, die Zweifel an der Relevanz des 2. Hauptsatzes der Wohlfahrtstheorie entstehen lassen, können auch Ursachen dafür sein, dass die Marktkoordination beeinflusst wird. So sind asymmetrische Informationen ein wesentliches Problem für die Umverteilung via lump-sum-Transfers (vgl. zu einem Überblick Putterman et al. 1998: S. 862 – 865), und auch die Marktkoordination kann durch asymmetrische Informationen systematisch beeinträchtigt werden. Neben asymmetrischen Informationen gibt es aber noch eine Reihe weiterer Gründe wie etwa Externalitäten, Verhandlungsprobleme und unvollständige Verträge, die bezweifeln lassen, dass der Preismechanismus stets paretooptimale Allokationen generiert. In diesen Fällen ist es grundsätzlich denkbar, dass politische Maßnahmen sowohl die Effizienz verbessern als auch zu einer gleichmäßigeren Verteilung führen. Es greift jedoch zu kurz, nur auf Marktversagen zu rekurrieren, auch wenn dadurch wirtschafts- und sozialpolitischer Handlungsbedarf angezeigt wird. Wenn die Marktkoordination nicht perfekt gelingt, dann können sich im Wettbewerb der Institutionen alternative Koordinationssysteme durchsetzen. Zu überprüfen ist dann, welche allokativen und distributiven Konsequenzen mit diesen institutionellen Ausgestaltungen verbunden sind und vor allem, welche Interdependenzen zwischen den einzelnen Systemen vorliegen, indem beispielsweise Preise und Löhne in verschiedenen Koordinationsformen in unterschiedlicher Art und Weise funktional sind. Dies soll nachfolgend am Beispiel der Entlohnung angesprochen werden, wobei sich exemplarisch zeigen wird,

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

13

dass (Verteilungs-)Gerechtigkeit und Effizienz nicht grundsätzlich im Widerspruch stehen müssen und dass zudem gerade in den Fällen, in denen man gleichzeitig über verschiedene Koordinationsformen diskutiert, Motivations- und Präferenzwirkungen mitbedacht werden müssen, die nicht zu dem traditionellen Effizienzbegriff passen. Bevor dies jedoch angesprochen wird, soll in einem ersten Schritt von der institutionenökonomischen Perspektive abstrahiert und zunächst nur die Koordinierungsprobleme von Märkten hinsichtlich des vermuteten trade-offs zwischen Gerechtigkeit und Effizienz thematisiert werden.

3.3 Effizienz und Verteilung bei Problemen der Marktkoordination Verläßt man die neoklassische Referenzwelt und lockert einige der rigiden Annahmen im Zusammenhang mit der Vorstellung zur idealtypischen Koordinierung mittels Marktmechanismus, dann zeigen sich auf verschiedenen Ebenen Allokationsprobleme. Die folgende Aufzählung erwähnt beispielhaft nur solche Phänomene, bei denen die Behebung einer allokativen Verzerrung gleichzeitig mit einem Umverteilungseffekt in Richtung einer gleichmäßigeren Verteilung verbunden sein kann, ohne im Detail auf eine vertiefende Diskussion der Phänomene einzugehen, bei denen teilweise auch alternative Sichtweisen zur Notwendigkeit und zur Wirkung wirtschaftspolitischer Eingriffe vertreten werden. In Anlehnung an die Übersicht, die von Putterman et al. (1998) gegeben wird, müssen in den folgenden Fällen – zumindest in einer Reihe plausibler Problemkonstellationen – das Effizienz- und das Gerechtigkeitsziel nicht im Konflikt zueinander stehen. (1) Mindestlöhne und Marktregulierung: Im perfekten Arbeitsmarkt können Mindestlöhne dysfunktional sowohl für das Effizienz- als auch für das Gerechtigkeitsziel sein, da sie zwar für die Beschäftigten, die zu den Mindestlohnkonstellationen arbeiten, Verbesserungen bringen, gleichzeitig aber unfreiwillige Arbeitslosigkeit generieren, so dass die Arbeitslosen eine noch schlechtere Position haben als zu den zuvor niedrigeren Löhnen. Diese Argumentation ist dann zu modifizieren, wenn der Arbeitsmarkt z.B. monopsonistische Züge trägt, da in diesem Fall ein Min-

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

14

Gisela Kubon-Gilke

destlohn sowohl für mehr Beschäftigung und höhere Löhne auf dem betrachteten Markt sorgt als auch die Ineffizienzen beseitigt, die durch das monopsonistische Kalkül entstehen. Dabei muss allerdings vorausgesetzt werden, dass die Unternehmungen keine strategischen Möglichkeiten haben, die Mindestlohnsetzung des Staates zu ihren Gunsten zu beeinflussen und es auch keine Probleme bereitet, die Unternehmungen dazu zu veranlassen, die notwendigen Informationen über ihre Kosten- bzw. Ertragssituation via geeigneter Mechanismen wahrheitsgemäß zu offenbaren. Selbst in diesen Grenzen kann man aber immer noch nicht sicher sein, dass im Monopol- und Monopsonfall Effizienz- und Verteilungsziele im Gleichschritt erreicht werden, weil dazu zunächst die vorherige Verteilungsposition zu klären ist. Nur wenn durch einen Mindestlohn tatsächlich eine Einkommensangleichung stattfindet, sind beide Ziele gleichzeitig zu erreichen. Das gilt auch für Deregulierungsforderungen oder für spezielle Regulierungsformen im Monopolfall. Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass durch einen Markteingriff zur Verhinderung von Monopolrenten die Verteilung noch stärkere Differenzen der Einkommenshöhen nach sich zieht. Wenn man beispielsweise feststellte, dass Taxibesitzer trotz gewisser Marktverschließungen zu einem Großteil zu denjenigen gehören, die unterdurchschnittlich hohe Einkommen haben, dann würde die Aufhebung der Marktverschließung nicht notwendigerweise eine Umverteilung in die gewünschte Richtung zur Folge haben. Es gibt neben dem Monopolargument noch eine Reihe weiterer Gründe (Suchkosten, Effizienzlohnprobleme), warum Eingriffe in die Preisbildung oder andere Maßnahmen, die mit Umverteilungseffekten verbunden sind, allokativ nicht grundsätzlich negative Konsequenzen haben müssen. Sofern dadurch Umverteilungseffekte „in die richtige Richtung“ ausgelöst werden, hat man wiederum Fälle, in denen sich beide Ziele nicht unbedingt widersprechen. Besonders deutlich zeigt sich dieses Phänomen im Effizienzlohnzusammenhang.10 Wenn der Markt auf Grund asymmetrischer Informationen, motivationaler Zusammenhänge oder Fluktuationskosten zu einem nicht-markträumenden Gleichgewicht tendiert, dann gibt es mehr Bewerber als Stellen zur Verfügung stehen. In diesem Fall greifen jedoch andere Auswahlprozeduren und Rationierungsmechanis10

Zu den folgenden Ausführungen vgl. Schlicht (2001b).

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

15

men als bei einem idealtypischen Konkurrenzmarkt. Die Folge sind Industrie- und Firmeneffekte in der Entlohnung mit den dazugehörigen JobRenten und entsprechenden Ineffizienzen. Diese Ineffizienzen können u.U. durch eine progressive Einkommensteuer reduziert werden, weil die Steuer Lohndifferentiale verringert, die nicht auf unterschiedliche Produktivitäten zurückführbar sind. (2) Fehlende oder ineffiziente Kredit- und Versicherungsmärkte: Die asymmetrische Verteilung von Informationen wird als wesentlicher Grund dafür genannt, dass Kredit- und Versicherungsmärkte entweder nicht existieren oder zumindest Ineffizienzen aufweisen (vgl. Stiglitz 1987). Dies hat zusätzliche Konsequenzen für eine Reihe weiterer ökonomischer Probleme, entweder, weil andere Instrumente die Kredit- und Versicherungsfunktionen übernehmen müssen oder weil sich effiziente Lösungen in anderer Hinsicht nicht einstellen können, da die notwendigen Versicherungen und Kreditaufnahmen nicht realisiert werden können. In solchen Fällen kann eine Umverteilung effizienzsteigernd sein, sofern sie etwa bessere Möglichkeiten der Risikostreuung bietet, die für die Koordination auf anderen Märkten essentiell sein kann. Im Entwicklungsländerkontext wird z.B. argumentiert, dass Landreformen und damit verbundene gleichmäßigere Vermögensverteilungen allokativ von Vorteil sein können, weil sich auf diesem Weg erst effiziente Anreizssysteme implementieren lassen. Die Bewirtschaftungsformen im ländlichen Sektor, bei denen Lohnarbeit oder eine Ernteteilung genutzt werden, bieten in dieser Sichtweise keine perfekten Anreize. Die Eigenbewirtschaftung, der bessere Anreize zugeordnet werden, weil sie diejenigen, deren Arbeit nicht kostenlos und vollständig überwacht werden kann, zu Gewinnbeziehern macht, kann sich jedoch nicht etablieren, wenn in diesem Bereich kein Kreditmarkt existiert und keine geeigneten Möglichkeiten der Risikostreuung existieren. Das grundsätzliche Argument ist nicht allein auf den Entwicklungsländerkontext beschränkt. Auch in der Theorie der Unternehmung werden ähnliche Phänomene analysiert. Unter den gegebenen Problemen asymmetrischer Informationen, unvollständiger Verträge etc. werden sich Unternehmensformen durchsetzen, die mit bestimmten Gewinnanrechten, Mitspracherechten, Lohnformen u.a.m. verknüpft sind. Einige der potentiellen Lösungen bei Marktkoordinierungsschwierigkeiten können sich unter Umständen dann

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

16

Gisela Kubon-Gilke

nicht etablieren, wenn es bestimmten Personen oder Personengruppen an Kapital mangelt, sie dieses Kapital wegen ineffizienter Kapitalmärkte nicht beschaffen können und sich auch nicht gegen wesentliche Risiken absichern können. Durch eine Umverteilung könnten sich diese Unternehmensformen eher bilden und durchsetzen. In anderem Zusammenhang wird argumentiert, dass fehlende Kredit- und Versicherungsmöglichkeiten ineffiziente Ausbildungsentscheidungen nach sich ziehen können und dieses Problem durch Umverteilung gemildert werden könnte, weil dadurch die Finanzierungsmöglichkeiten verbessert werden, oder es wird zumindest gefordert, dass der Staat selbst in diesen Fällen die Versicherungen und die Kredite zur Verfügung stellen muss. Ganz ähnlich werden staatliche Sozialversicherungen oder eine generelle Versicherungspflicht bei essenziellen Existenzrisiken mit dem Hinweis auf Probleme der Marktkoordination auf dem Versicherungsmarkt bei asymmetrischen Informationen begründet. (3) Internalisierung externer Effekte: Die Argumentation im Zusammenhang mit externen Effekten ähnelt der Monopoldiskussion. Sofern keine spontanen Lösungen bei externen Effekten entstehen, können Markteingriffe allokative Verbesserungen nach sich ziehen. Diese Eingriffe haben in der Regel auch Verteilungskonsequenzen. Wenn zuvor Benachteiligte durch die Maßnahmen profitieren, werden beide Ziele im Gleichschritt erreicht; eine Verteilungswirkung in Richtung auf mehr Ungleichheit ist aber auch denkbar, wenn die Personen, denen die Internalisierung sozialer Kosten durch wirtschaftspolitische Maßnahmen auferlegt werden, bereits am unteren Ende der Einkommensskala stehen. (4) Physiologische und motivationale Effekte von Einkommenssteigerungen: Eine der ersten Effizienzlohntheorien thematisierte den Zusammenhang zwischen der Lohnhöhe und der Leistungsfähigkeit von Individuen im Entwicklungsländerkontext (vgl. Leibenstein 1957). Die Notwendigkeit zu höheren als den markträumenden Löhnen wird dabei nicht auf asymmetrische Informationen zurückgeführt, sondern auf die Möglichkeiten zu besserer Ernährung durch eine höhere Entlohnung und einen dadurch entstehenden positiven Zusammenhang zwischen der Lohnhöhe und der Produktivität. Andere Effizienzlohntheorien, die ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Lohn und Produktivität beschreiben, diskutie-

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

17

ren neben „traditionellen“ Anreizproblemen Fluktuationskosten oder motivationale Effekte der Entlohnung (vgl. Kubon-Gilke 1990 zu einem Überblick). Bei dem Zusammenhang zwischen Motivation, Lohnform und Lohnstruktur werden Erkenntnisse aus der Soziologie und Psychologie sowie aus der experimentellen Spieltheorie herangezogen (vgl. z.B. Frey 1997 und Eichenberger / Oberholzer-Gee 1999). Auch in diesen Begründungszusammenhängen wird auf die Funktionalität von Lohnstrukturen hingewiesen, allerdings in einer Modellierung, die nicht nur auf Motivation via externer Anreize hinweist, sondern die Kontextabhängigkeit der Wahrnehmung, auch der Selbstwahrnehmung und die daraus erwachsenden Motive und Verhaltensweisen thematisiert. Die Verteilungseffekte einer höheren als der markträumenden Entlohnung sind allerdings nicht eindeutig. Wenn z.B. insbesondere in solchen Tätigkeiten motivationsstärkende Effizienzlöhne gezahlt werden, die durch schlechte Beobachtbarkeit, einen großen Tätigkeitsspielraum für die Arbeitnehmer u.a.m. gekennzeichnet sind, dann können gerade Arbeitnehmer in Hochlohnbereichen davon profitieren. Da die Märkte im Effizienzlohngleichgewicht nicht geräumt sind, können diejenigen, die auf diesem Markt keine Beschäftigung finden, durch Arbeitslosigkeit oder durch den Wechsel zu (schlechter bezahlten) Tätigkeiten auf anderen Teilarbeitsmärkten Nachteile haben, ebenso wie alle Beschäftigten auf diesen anderen Arbeitsmärkten, die durch ein höheres Arbeitsangebot niedrigere Löhne in Kauf nehmen müssen oder gar arbeitslos sind. Die Verteilungskonsequenzen des ineffizienten Marktgleichgewichts ähneln auf den ersten Blick denjenigen bei einer Mindestlohnfestsetzung. Die Lösungen der Probleme unterscheiden sich jedoch. Bei den Effizienlohngleichgewichten ist wiederum zu diskutieren, inwieweit eine progressive Einkommensteuer sowohl die Allokationsprobleme lösen als auch eine Umverteilung in Richtung einer gleichmäßigeren Verteilung herstellen kann. (5) Verteilung und soziale Kooperation: Auf einer etwas anderen theoretischen Ebene wird argumentiert, dass eine sehr ungleichmäßige Verteilung der Einkommen und des Vermögens das „moralische Fundament“ einer Gesellschaft unterminieren kann. Die Vorstellung, dass der Marktmechanismus unter gewissen Bedingungen das Koordinierungsproblem effizient löst, basiert u.a. darauf, dass eine geeignete Eigentumsordnung

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

18

Gisela Kubon-Gilke

vorhanden sein muss, dass Eigentumsrechte getauscht werden können und dass im Großen und Ganzen diese Rechte auch spontan akzeptiert werden und nicht nur durch externe Institutionen durchgesetzt werden müssen. Im letzteren Fall könnten die Kosten, das Marktsystem zu nutzen, prohibitiv hoch werden. Hirschman (1993, Kap. V) sieht in diesem Zusammenhang mit dem Hinweis auf den „Tunneleffekt“ verschiedene Konstellationen hinsichtlich der Erträglichkeit von Ungleichheit und in der Systemakzeptanz. Ähnlich zu einer Situation eines Staus in einem Tunnel, bei dem man froh ist, wenn sich die Schlange auf der Nachbarspur nach langer Wartezeit in Bewegung setzt, auch wenn die eigene Spur noch keine Weiterfahrt ermöglicht, werden nach Hirschman ökonomische Ungleichheiten akzeptiert, sofern sie eine Bewegung aus einer ökonomisch unbefriedigenden Situation andeuten, auch wenn man von dieser Bewegung selbst aktuell noch nicht profitiert. Diese Akzeptanz könne in Ablehnung umschlagen, wenn man im Staubeispiel nach langer Zeit immer noch ausschließlich die Fahrzeuge auf der anderen Spur fahren sieht und selbst weiterhin festsitzt und ein Spurwechsel nicht möglich ist. Ähnlich verhalte es sich mit ökonomischen Ungleichheiten. Bessere ökonomische Konditionen anderer seien nur solange ein positives Zeichen, solange sich daran die Erwartung eigener Vorteile knüpfe. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, kommt es nach Hirschman zur Empörung über die Ungleichheit, was wiederum Konsequenzen für die Systemakzeptanz und die Kooperationsbereitschaft habe und somit die gesamte Funktionsfähigkeit des Koordinationssystems beeinträchtige. Dafür spielt nicht nur eine statische Verteilungsungleichheit eine Rolle, sondern eher die soziale Mobilität bzw. die Durchlässigkeit der Einkommensklassen.11 Nachlassende Kooperationsbereitschaft und zu geringe Akzeptanz des Eigentums werden nicht nur mit der Einkommens- und Vermögensverteilung in Verbindung gebracht, sondern teilweise mit dem Wirtschaftssystem selbst. Im Hinblick auf die Marktkoordination wird z.B. von Marx, Hirsch und Schumpeter mit unterschiedlichen Begründungen und Begrifflichkeiten eine Selbstzerstörungsthese vertreten, wonach das Markt11

Champernowne / Cowell (1998) und Amiel / Cowell (1999) zeigen grundsätzliche Probleme bei der Messung von Ungleichheit auf und diskutieren die individuelle Wahrnehmung von Ungleichheiten.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

19

system die Werte und Normen zerstört, die es zur eigenen Funktionsfähigkeit benötigt.12 Nach dieser These könnten Maßnahmen zur Verhinderung einer "zu ungleichen" Verteilung und der Schutz alternativer Koordinierungsmechanismen hilfreich sein, um die Selbstzerstörung zu verhindern. Die These der Selbstzerstörung ist jedoch nicht unumstritten, und es gibt auch die genau gegenteilige Ansicht, dass der Markttausch die Menschen diszipliniere und eine Triebkraft der Zivilisation darstelle, weil mit dem Markttausch gegenseitig Vorteile realisiert werden könnten und durch den Nutzen aus dem Handel alle menschlichen Eigenschaften in den Hintergrund träten, die den vorteilhaften Tausch verhindern. Hirschman (1993, S. 193 ff.) bezeichnet diese Vorstellung als „Doux-CommerceThese“, wonach der Markttausch als moralisierende Kraft gesehen wird, der die Kosten der Marktbenutzung immer weiter senken wird und die Vorteilhaftigkeit des Marktes mit der Ausbreitung des Systems automatisch stärkt. In diesem Fall wäre es nicht notwendig, spezielle politische Maßnahmen zur Stützung des moralischen Fundaments einzusetzen. Beide Thesen – Selbstzerstörung und Selbststabilisierung – müssen sich nicht einmal widersprechen, da vom Marktsystem Effekte in beide Richtungen ausgehen können. Ohne eine Vorstellung über psychologische Mechanismen der Regelbildung, speziell von Gerechtigkeitsregeln und deren emotiver Wirkung, bleibt man jedoch im Bereich reiner Spekulationen über die Gründe für die Akzeptanz solcher Regeln, die für ein Marktsystem essenziell sind.

3.4 Wirtschaftspolitisches Instrumentarium Selbst wenn grundsätzlich die Möglichkeit besteht, durch Umverteilungsmaßnahmen sowohl allokative als auch distributive Ziele zu verfolgen, bleibt zu klären, welche Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftspolitik gesetzt sind. Dabei sind zunächst Probleme zu nennen, die in der Politischen Ökonomie diskutiert werden. Neben der Frage, wie sich gesellschaftliche Verteilungswünsche in politische Maßnahmen um12

Vgl. Hirschman (1993, S. 192 - 225) zu einem Überblick über diese Ansätze.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

20

Gisela Kubon-Gilke

setzen lassen, ist zu diskutieren, welche Selbstbindungsprobleme der Staat zu lösen hat und wie dies die staatlichen Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Selbst wenn man einen Konsens für eine Grundsicherung unterstellt, können sich zumindest in der Ausgestaltung bestimmte Formen der Sicherung als schlecht durchführbar erweisen.13 Eine weitere Schwierigkeit kann entstehen, wenn mit zu wenig Instrumenten versucht wird, verschiedene Ziele zu erreichen. Ein Beispiel für diese Art von Problemen zeigt die Gesundheitsökonomie auf, indem darauf verwiesen wird, dass es unter relevanten Umständen nicht möglich ist, ein Versicherungs- und Honorierungssystem zu konstruieren, das gleichzeitig das Effizienz- und das Verteilungsziel erreichen kann (vgl. z.B. Breyer / Zweifel 1997).

4. Exogene und endogene Lösungen bei Koordinationsproblemen Wirtschafts- und sozialpolitische Aufgaben im Zusammenhang mit allokativen und distributiven Zielen werden häufig mit Marktversagen begründet. In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits angedeutet, dass dieses Bild etwas zu einfach ist. In der Transaktionskostentheorie oder allgemein in der Institutionenökonomik wird darauf hingewiesen, dass bei Koordinationsproblemen des Marktes endogen über einen Institutionenwettbewerb Lösungen entstehen. Diese Lösungen können eine gewisse Strukturierung von Märkten beinhalten, indem sich z.B. die Preise auf bestimmte Tauschdimensionen beziehen. Ähnlich zu der Frage, ob Löhne auf die Arbeitszeit, eine spezifizierte Leistung oder etwas anderes rekurrieren, können auch Versicherungsprämien und allgemein Preise für Güter und Dienstleistungen auf verschiedenen Dimensionen beruhen. Nur im perfekten Markt sind alle in diesem Sinne verstandenen Marktstrukturen äquivalent. Die institutionelle Lösung kann aber auch darin bestehen, dass Märkte durch alternative Systeme ersetzt werden, was u.a. in der Theorie der Unternehmung diskutiert wird. Im Institutionenwettbewerb, so wird unter13

Vgl. z.B. Knobloch (in diesem Band) zu der Frage von einmaligen Zahlungen vs. einer fortlaufenden Unterstützung.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

21

stellt, werden sich diejenigen Koordinationsmechanismen durchsetzen, die komparative Vorteile bei der Koordinierung besitzen (vgl. KubonGilke 1997).14 Wegen der systematischen Einflüsse der situativen Effekte, also des wahrgenommenen Bezugsrahmens auf die Selbstkategorisierung und die Motivation der Individuen, spielen für die Vorteilhaftigkeit eines Koordinationssystems nicht nur die traditionell diskutierten Anreizwirkungen eine Rolle. In einer Unternehmung kann die Motivationslage eine gänzlich andere als in einem wahrgenommenen Markttausch sein, was sich durch andere Formen der Verpflichtung, der Kreativität und der Motivation zeigen kann und was die Qualität der Koordinierung beeinflusst.15 Für die Frage nach Effizienz und Gerechtigkeit ergeben sich daraus eine Reihe von Problemen. So kann erstens das traditionelle Effizienzkonzept für solch umfassende Fragestellungen nicht mehr sinnvoll verwendet werden, weil je nach institutioneller Umgebung unterschiedliche Präferenzen und Motive unterstützt werden und dadurch die Modellierung mit exogenen Präferenzen nicht mehr trägt. Zweitens ist zu prüfen, ob im Institutionenwettbewerb erwartet werden kann, dass sich stets die Institutionen stabilisieren, die das Koordinierungsproblem unter den gegebenen Problemen „am besten“ koordinieren, wobei sich bei dieser Formulierung andeutet, dass es ohne ethische Grundlagen bzw. ohne ein weiter zugeschnittenes Effizienzkonzept zunächst offen bleiben muss, woran sich die Koordinierungsleistung festmachen lässt. Nur an der Menge der produzierten Güter oder einer eng definierten Wohlfahrt ist dies nicht erkennbar, wenn man die Entfaltungsmöglichkeiten für Individuen als relevante Kategorie anerkennt. Selbst wenn man dafür einen Maßstab hätte, bräuchte man eine Vorstellung über die konkrete Wirkungsweise des Institutionenwettbewerbs. Es greift sicher zu kurz, in einer einfachen Ana14

Vgl. auch SCHMID (in diesem Band) zur grundsätzlichen Unterscheidung der Koordinationssysteme Reziprozität, Redistribution und Markt sowie zur Theorien über die komparative Vorteilhaftigkeit und der Evolution der verschiedenen Systeme. 15 Die Veränderungen bei den Motiven sind in einem statistischen Sinne zu verstehen. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum sich bei bestimmten Individuen keine Veränderung der Motivation einstellt und warum sich an ihrer Selbstattribution auch nichts ändert. Es geht eher darum, dass bestimmte Motive durch die Institutionen nahegelegt werden und sich im Durchschnitt eine Motivationsänderung einstellt, die schon hinreichend für einen Wettbewerbsvorteil sein kann.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

22

Gisela Kubon-Gilke

logie zum perfekten Markttausch zu folgern, dass sich stets die „besten“ Institutionen im Wettbewerb durchsetzen. Sollte das dennoch der Fall sein, hätte man allerdings eine ähnliche trade-off-Debatte wie beim perfekten Konkurrenzgleichgewicht zu führen, indem zu überprüfen wäre, inwieweit Umverteilungsmaßnahmen die wettbewerbliche Steuerung beeinflussen. In allen anderen Fällen müsste ebenfalls ganz analog untersucht werden, inwieweit sich auch Institutionen stabilisieren können, die das Koordinierungsproblem nicht gut lösen und inwieweit verteilungspolitische Maßnahmen dem Koordinierungsziel dienen können, wenn sie die Richtung des Institutionenwettbewerbs beeinflussen. Diese Analysen finden jedoch auf anderen Argumentationsebenen statt, und es ist auch erst noch zu prüfen, inwieweit sich bei der Beachtung der Frage nach „Entfaltungsmöglichkeiten“ das Verteilungs- und das Koordinierungsziel überhaupt noch sinnvoll trennen lassen. Zumindest kann man berechtigten Zweifel anmelden, dass der Institutionenwettbewerb stets die „besten“ Institutionen hervorbringt (vgl. North 1991, Kubon-Gilke 1997, S. 470 ff.). In Ergänzung dazu müssen die situativen Effekte bei der Wahrnehmung, der Motivation und des Verhaltens, auch bei der Bildung von Gerechtigkeitsurteilen für diese Fragen beachtet werden (vgl. z. B. Mikola in diesem Band). Ein enges Nutzenmaximierungskonzept mit stabilen, exogenen Präferenzen hilft bei diesen sehr grundlegenden und für das reale Wirtschaften weitreichenden Fragen nicht weiter. Es soll hier nur angedeutet werden, auf welchen Ebenen sich Perspektiven für eine weitergehende Betrachtung des Effizienz-GerechtigkeitsProblems ergeben. •

Viele Ökonomen, insbesondere aber auch Nichtökonomen, sehen mit Sorge eine von ihnen vermutete Ausdehnung des Marktsystems auf Kosten von Reziprozitätssystemen wie Familien oder Netzwerken. Implizit scheint dahinter die Vorstellung der Selbstzerstörungsthese des Marktsystems zu stehen, bei dem nur ein Mindestmaß an anderen Koordinierungssystemen und die daraus erwachsenden moralischen Verpflichtungen das Marktsystem lebensfähig erhalten. Hirschman (1993, S. 222) spricht bei solchen Vorstellungen von der These des feudalen Segens, meint dabei aber nicht nur funktionale Relikte aus einer feudalen Wirtschaftsordnung, sondern allgemein die moralisierende Wirkung von nicht-marktlichen Koordinierungsformen. Hier

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens



23

ergeben sich eine Reihe von Fragen, die eine grundlegende, umfassende psychologische Theorie unumgänglich machen. Ohne eine Theorie über die Bildung von Gerechtigkeitsurteilen und einer Theorie der Moralentstehung ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Koordinierungssystem und moralischem „Überbau“ nicht zu beantworten. Dieser Schritt kann auch nicht umgangen werden, wenn man das Neben- und Miteinander verschiedener Koordinierungsformen , d.h. die Evolution des Institutionenmix verstehen will. Wenn verschiedene Koordinierungsformen koexistieren, dann haben identische Instrumente häufig unterschiedliche Aufgaben. Der Lohn soll auf dem Arbeitsmarkt für Markträumung sorgen, in einer Unternehmung jedoch Fluktuation, Motivation, Kreativität und anderes mehr geeignet beeinflussen. Wenn sich politische Maßnahmen nur auf eine Funktion – die der Markträumung in der Regel – beschränken, dann muss zumindest mitbedacht werden, welche Probleme damit den anderen Lohnaufgaben erwachsen. Ähnliches gilt für andere Instrumente. Ein typisches Konfliktfeld wird durch das Instrument betrieblicher Krankenkassen aufgezeigt, die aus Unternehmenssicht doppelt von Vorteil sein können; erstens können sie bei geeigneter Ausgestaltung motivational günstig als eine von vielen kleinen Anreizen dienen, zweitens sind durch den Versichertenmix auch vergleichsweise günstige Versicherungsprämien möglich. Dies kann aber mit staatlichen Vorstellungen zur allgemeinen Krankenversicherung kollidieren und eine Negativauslese bei den gesetzlichen Krankenkassen verursachen. Wenn der Staat die betrieblichen Möglichkeiten unterbindet, indem entweder Mindestversicherungsprämien für betriebliche Krankenkassen gefordert werden oder ein Zwang zur Aufnahme von allen Interessenten an dieser Leistung festgesetzt wird, dann verliert dies Instrument an innerbetrieblicher Wirkung, und die motivationale Unterstützung bzw. die Reduzierung der Fluktuation muss durch andere Mittel - eventuell verstärkt über den Lohn - gesteuert werden, was allerdings wiederum die Arbeitsmarktprobleme tangiert. Das bedeutet, dass selbst für relativ enge wirtschafts-, sozial- und gesundheitspolitische Fragestellungen die gesamte Funktionalität eines Instrumentes für die verschiedenen Koordinierungsformen bedacht werden muss, wenn man dieses Instrument politisch beeinflusst.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

24

Gisela Kubon-Gilke

5. Fazit In diesem Beitrag sollte verdeutlicht werden, dass auf der Grundlage abstrakter Begriffe über Gerechtigkeit und Effizienz nur sehr allgemeine Aussagen über das Verhältnis beider Größen abgegeben werden können. Auch wenn es trivial ist, muss erwähnt werden, dass eine Diskussion des Begriffspaars nur sinnvoll ist, wenn man sie nicht mit einer bestimmten Interpretation der Leistungsgerechtigkeit im Tauschgleichgewicht synonym verwendet, was aber teilweise stillschweigend in der ökonomischen Theorie unterstellt wird. Auf der Grundlage moralphilosophischer und moralpsychologischer Theorien wurden in einer sehr knappen Skizzierung Vorstellungen über Gerechtigkeit, Freiheit und Effizienz zusammengefasst, und es wurde argumentiert, dass nur ein umfassendes Verständnis der Gerechtigkeit sowohl auf der kognitiven als auch auf der emotionalen Ebene für diese Diskussion hilfreich ist. Bei der Frage, warum Gerechtigkeit positiv bewertet wird bzw. werden soll, zeigen sich sehr unterschiedliche Vorstellungen über das, was Menschen wünschen und in welchem Rahmen sie sich entfalten können. Situative Effekte deuten an, dass eine rein materielle Güterversorgung oder ein eng gefasstes Nutzenkonzept weder den Aspekt der Rolle von Anrechten und Wahlfreiheiten noch die menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten erfassen können. Die aus der aristotelischen Tradition abgeleiteten Vorstellungen des „guten Lebens“ erfassen diese Aspekte zwar grundsätzlich, benötigen aber noch ein psychologisches Fundament, um konkrete Aussagen ableiten zu können. Als Kandidat für eine solche psychologische Grundlegung bietet sich die gestaltpsychologische Perspektive an, in der sowohl die kognitiven als auch die emotiven Aspekte der Gerechtigkeit thematisiert werden. Folgt man diesem Konzept, ergeben sich jedoch erhebliche Probleme für das ökonomische Effizienzkonzept, das auf dem Pareto- sowie auf dem Kaldor-Hicks-Kriterium beruht, weil man mit dem psychologischen Modell Präferenzen und Motive endogenisiert. Dadurch verschwindet jedoch der ethische Standard, weil man die Koordinierungsleistung nicht mehr an den Präferenzen festgemacht werden können, da diese durch die ökonomischen Institutionen in starkem Maße geformt werden (vgl. auch Schlicht 1999, S. 41). Festzuhalten bleibt, dass Gerechtigkeit weder eine Nebenbedingung für Grundsatzfragen der Ökonomik dar-

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

25

stellt noch als nachrangige Frage getrennt von Effizienzfragen zu betrachten ist, sondern genuin mit Effizienzfragen verbunden ist. Als Forschungsperspektiven ergeben sich daraus letztlich folgende Fragestellungen: • Wie bilden sich im sozialen Zusammenhang Gerechtigkeitsregeln und wie beeinflussen sie individuelle Wünsche, Verpflichtungsgefühle, Motive und Verhaltensweisen, und in welchem Zusammenhang stehen diese Regeln zu den sozialen Regeln, die für die ökonomische Koordinierung von Bedeutung sind? • Welche der diskutierten Gerechtigkeitskonzepte integrieren die erste Frage in ihr Konzept; und kann man tatsächlich die Vorstellung des „guten Lebens“ inhaltlich so füllen, dass die Frage nach den „richtigen“ Institutionen zur Zielerreichung beantwortet werden kann? • Wenn man den Effizienzbegriff so weit fasst, dass damit die Güte der ökonomischen Koordinierung unter Beachtung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten verstanden wird: Wie und auf welchen Ebenen können dann Effizienz und Gerechtigkeit noch sinnvoll unterschieden werden, und welche Möglichkeiten hat die Wirtschaftspolitik für den Fall, dass es (partielle) trade-offs zwischen beiden Größen gibt? Vor allen institutionenökonomischen Überlegungen zu diesem Themenkomplex müssen ethische Positionen geklärt sein, weil man ansonsten in einer deskriptiven Ebene der Institutionenabfolge und ihrer Konsequenzen verbleibt und ähnlich wie bei der Historischen Schule nur noch Einzelphänomene und kulturelle Eigenarten beschreibt, ohne auf grundsätzliche und systematische Zusammenhänge eingehen zu können. Neben diesen Fragen ist es ebenso wichtig, sich mit der Ambiguität der Begriffe der Effizienz und der Gerechtigkeit zu beschäftigen und in diesem Zusammenhang analog zu den Ausführungen des einführenden Beitrages zu diesem Jahrbuch zu diskutieren, ob beide Begriffe überhaupt als Analysepaar geeignet sind und ob es nicht grundsätzlich zu kurz greift, Effizienz und Gerechtigkeit auf einer Zielebene zu betrachten.

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

26

Gisela Kubon-Gilke

Literatur Asch, S. (1987) Social Psychology, Oxford, Ney York, Tokyo: Oxford University Press Amiel, Y., Cowell, F. A. (1999): Thinking about Inequality, Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press Bender-Junker, B. (2000): Sozialphilosophische Traditionen und die Renaissance der Ethiken des „guten Lebens“, Manuskript, EFH Darmstadt Breyer, F., Zweifel, P. (19972): Gesundheitsökonomie, Heidelberg u.a.: Springer Champernowne, D.G., Cowell, F. A. (1998): Economic Inequality and Income Distribution, Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press Eichenberger, R., Oberholzer-Gee, F. (1999): Intrinsisch motivierte Fairneß: Experimente und Realität, in: Held, M., Nutzinger, H. G. (Hg.): Institutionen prägen Menschen. Bausteine zu einer allgemeinen Institutionenökonomik, Frankfurt/M., New York: Campus, S. 148 - 170 Festinger, L. (1957): A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford: Stanford University Press Friedman, D. (1999): Der ökonomische Code. Wie wirtschaftliches Denken unser Handeln bestimmt, Frankfurt/M.: Eichborn Friedman, M. (1982/1962): Capitalism and Freedom, Chicago, London: The University of Chicago Press Frey, B. S. (1997): Markt und Motivation. Wie ökonomische Anreize die (Arbeits-)Moral verdrängen, München: Vahlen Hayek, F. A. v. (1991): Der Weg zur Knechtschaft. Neuausgabe mit einem Vorwort von Otto Graf Lambsdorff, Bonn aktuell: München Heidbrink, H. (1992): Gerechtigkeit; Eine Einführung in die Moralpsychologie, Quintessenz: München Hirschman, A. O. (1993): Entwicklung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen, aus dem Amerikanischen von Joachim Milles und Hartmut Stahl, Frankfurt/M.: Fischer Kubon-Gilke, G. (1990): Motivation und Beschäftigung, Frankfurt/M., New York: Campus Kubon-Gilke, G. (1997): Verhaltensbindung und die Evolution ökonomischer Institutionen, Marburg: Metropolis Kubon-Gilke, G. (2002): Homogenität und Vielfalt in der ökonomischen Analyse, erscheint in: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc

Effizienz, Gerechtigkeit und die Theorie des guten Lebens

27

Leibenstein, H. (1957): The Theory of Underemployment in Densely Populated Backward Areas, Kap. 6, New York Nehring, K., Puppe, C. (2001): A Framework for Valuing Biodiversity, mimeo, Universität Bonn North, D. C. (1991): Institutions, in: Journal of Economic Perspectives 5(1), S. 97 - 112 Nussbaum, M. C. (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben, aus dem Amerikanischen von Ilse Utz, Frankfurt/M.: Suhrkamp Nutzinger, H. G. (1984): Gerechtigkeit bei Marx und Mill, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 2: Wohlfahrt und Gerechtigkeit, S. 118 – 140 Nutzinger, H. G. (1991): Das System der natürlichen Freiheit bei Adam Smith und seine ethischen Grundlagen, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 9: Adam Smiths Beitrag zur Gesellschaftswissenschaft Putterman, L., Roemer, J. E., Silvestre, J. (1998): Does Egalitarianism Have a Future?, in: Journal of Economic Literature, XXXVI, June, S. 861 – 902 Rawls, J. (1971): A Theory of Justice, Cambridge (Mass.): Harvard University Press Rothschild, K. W. (2001): Ach Europa: Einige kritische polit-ökonomische Notizen zum Thema "Europa", in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 2(1), S. 1 - 14 Schlicht, E. (1999): Institutionen prägen Menschen, in: Held, M., Nutzinger, H. G. (Hg.): Institutionen prägen Menschen. Bausteine zu einer allgemeinen Institutionenökonomik, Frankfurt/M., New York: Campus, S. 30 - 41 Schlicht, E. (2001a): Gestalt Justice. The Fusion of Emotion and Cognition in the Gestalt View of Justice, in: Gestalt Theory, 23 (1), S. 51 – 71 Schlicht, E. (2001b): Job Rents in a Stylized Labor Market, in.: S. Berninghaus (Hg.): Festschrift für Hans-Jürgen Ramser , in Vorbereitung Smith, A. (1789): The Theory of Moral Sentiments*** Sen, A. (1987): On Ethics and Economics, Oxford, Cambridge (Mass.): Basil Blackwell Stiglitz, J. E. (1987): The Causes and Consequences of the Dependence of Quality on Price, in: Journal of Economic Literature 25, S. 1 - 48 Weikard, H.-P. (1999): Wahlfreiheit für zukünftige Generationen. Neue Grundlagen für eine Ressourcenökonomik, Marburg: Metropolis

10:46, 12.04.10, Gerechtigkeit_Text_1.doc