Die Gene – Buch des Lebens Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing 30. 6. – 2. 7. 2006 in Thurnau
Was kann die Humangenetik zur Aufklärung multifaktorieller Krankheiten beitragen? Peter Propping Institut für Humangenetik Universität Bonn
Beispiele für multifaktorielle Krankheiten
Arteriosklerose - Herzinfarkt - Schlaganfall Diabetes mellitus I Diabetes mellitus II Adipositas Bluthochdruck Asthma Epilepsie Schizophrenie
Konkordanzrate bei eineiigen (EZ) und zweieiigen Zwillingen (ZZ) % Koronare Herzkrankheit Hyperthyreose Neurodermitis Diabetes mellitus I Diabetes mellitus II Lepra Epilepsie („idiopathisch“) Schizophrenie – enge Definition – weite Definition
EZ
ZZ
46 47 83 45 95 59 86 26 41
12 7 28 5 10 20 4 4-10 10-20
Humangenom-Projekt Humangenom: 3,2 x 109 Nukleotidpaare
Keine “einzigartige” Sequenz, sondern beträchtliche interindividuelle Variabilität
Vergleich zweier beliebiger Genome: 99,9% DNA-Sequenz-Identität, d. h. 0,1 % Sequenz-Unterschiede (3 Mio.)
Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs)
aatcagattaatactgactagcg SNP
aatcagattagtactgactagcg
gggtcaacctcgggatatttagg SNP
gggtcaaccttgggatatttagg
Wieviele SNPs gibt es im menschlichen Genom ? etwa 1 SNP / 290 bp
12
etwa 1 SNP / 3280 bp
11
10 7.1
Mio. SNPs
8
5.3
6
3.3
4
2 2 0
0.97 ≥ 1%
≥ 5%
≥ 10%
≥ 20%
≥ 30%
≥ 40%
Häufigkeit des selteneren SNP-Allels Kruglyak & Nickerson, 2001
Nachweis von Krankheits-assoziierten SNPs
Patienten
Kontrollen
Gene, in denen Mutationen zu erhöhten Risiken für multifaktoriell erbliche Krankheiten führen Erkrankung
Gen
Crohnsche Krankheit
NOD2/CARD15
Altersabhängige Makuladegeneration Komplementfaktor H
Relatives Risiko 2,6 bei Heterozygotie 42,1 bei Homozygotie 4,6 bei Heterozygotie 7,4 bei Homozygotie
Alzheimersche Krankheit
Apo E
11,2 2,2 1,6 0,6
Lepra-Anfälligkeit
PARK2
3,1-5,7
Dyslexie
DCDC2
4,7
Androgenetische Alopezie
Androgen-Rezeptor
Tod an Sepsis nach Trauma
TNF-alpha
= E4/E4 = E3/E4 = E2/E4 = E2/E3
bis 11,1 (abhängig vom Genotyp) 7,6
Zwei Hauptgruppen erblicher Krankheiten Monogen (= Mendelnd) erbliche Krankheiten - monokausal - klare Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp - > 1700 verschiedene Krankheiten bekannt - die meisten sind selten - Therapie oft schwierig
Zwei Hauptgruppen erblicher Krankheiten Monogen (= Mendelnd) erbliche Krankheiten - monokausal - klare Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp - > 1700 verschiedene Krankheiten bekannt - die meisten sind selten - Therapie oft schwierig Multifaktorielle Krankheiten - kompliziertes genetisches Bedingungsgefüge - in der Bevölkerung häufig - durch äußere Faktoren beeinflussbar - Therapie oft möglich
Gen-Dosis-Effekt bei multifaktoriellen Krankheiten Beispiel: Bluthochdruck
„super„super-normal“
leicht disponiert
leicht krank
schwer krank
schwerst krank
Gen-Dosis-Effekt bei multifaktoriellen Krankheiten Modell: Zwei Phänotyp-Dimensionen, z.B. Bluthochdruck + Übergewicht
„super„super-normal“
leicht disponiert
leicht krank
schwer krank
schwerst krank
Korrelation eines Genotyps mit einem Phänotyp
Monogen erbliche Krankheiten: odds ratio >> 1000 Genetisch komplexe Krankheiten: odds ratio 1,3 bis 5
Genetische Disposition zu multifaktoriellen Krankheiten Wesentliches Problem - Korrelation Genotyp-Phänotyp für jeden SNP - Wechselwirkung zwischen Genotypen - Notwendigkeit von Biobanken
Nutzen - Aufklärung der Pathophysiologie von Krankheiten - Gezielte Prävention möglich - Entwicklung spezifischer Therapie möglich
Zukunft der Humangenetik Multifaktorielle Krankheiten
-
Aufgaben für 50 Jahre
Großer Patienten-/Familienkollektive (>> 1000) - standardisierte klinische/apparative Diagnostik - Biobanken Assoziations-/Kopplungsuntersuchungen - Genidentifikation - Replikationsstudien - relatives Risiko Populationsgenetik - Genotyp-Phänotyp-Beziehung - Interaktionsanalysen (Epistase) - Genotyp-Umwelt-Interaktion - Evolutionäre Analysen Funktionelle Studien in vitro - Pathophysiologie - neue Therapiekonzepte
Monogen erbliche Krankheiten
• Monokausal • Segregation nach Mendel-Ziffern • Qualitativ abweichende Phänotypen • Häufigkeit < 1 : 1.000, meist sehr viel seltener • Ursachen zunehmend bekannt • Störung biologischer Grundfunktionen • Keine kompensatorischen Mechanismen • Bedeutung von Umweltfaktoren meist gering • Therapie meist schwierig/unmöglich
Multifaktorielle (genetisch komplexe) Krankheiten
• Unregelmäßiges familiäres Auftreten • Keine scharfe Abgrenzung der Phänotypen (Ausnahmen!) • Übergang zu normaler Variabilität • Häufigkeit oft im Prozentbereich • Konkordanzraten bei EZ um 50% • Kombination mehrerer disponierender Genotypen • Ursachen meist schlecht bekannt • Pathophysiologie eher besser bekannt • Modifikation des Phänotyps durch kompensatorische Mechanismen • Bedeutung von Umweltfaktoren meist hoch • Therapie oft möglich
Vorhersagbarkeit einer spät auftretenden Krankheit
Monogen erbliche Krankheiten:
hoch
Genetisch komplexe Krankheiten:
meist begrenzt Obergrenze Konkordanzrate von EZ (Durchschnitt) Hohes Erkrankungsrisiko vorhersagbar (Kombination disponierender Genotypen in Minderzahl von Fällen)
Ziele der medizinisch-genetischen Forschung
Monogen erbliche Krankheiten
Forschung: Identifizierung der ursächlichen Mutationen Funktionelle Auswirkungen Genotyp-Phänotyp-Beziehung Populationsgenetik Therapeutische Strategien Praktische Anwendung: Genetische Diagnostik Prädiktive Diagnostik Pränatale Diagnostik
Ziele der medizinisch-genetischen Forschung
Multifaktorielle (genetisch komplexe) Krankheiten
Forschung: Identifizierung der beitragenden Mutationen Einblick in die Pathophysiologie Populationsgenetik Evolutionäre Aspekte Genotyp-Muster und Phänotyp
Praktische Anwendung: Entwicklung therapeutischer Strategien
Genetisch komplexe Krankheiten
Die Frage der Spezifität der Genotyp-Phänotyp-Beziehung • Das genetische Bedingungsgefüge beruht auf einer Kombination mehrerer gleichsinnig wirkender Genotypen. • Der Beitrag einzelner Genotypen zu einer Krankheit ist unterschiedlich groß. • Einzelne Genotypen werden zu den verschiedenen Dimensionen einer Krankheit unterschiedlich beitragen. • Die qualitativ und quantitativ unterschiedlichen Beiträge einzelner Genotypen können erklären, warum innerhalb einer Familie verschiedene Krankheiten vorkommen. • Prototypen für überlappende genetische Dispositionen sind zentralnervöse Krankheiten (Epilepsien, psychiatrische Krankheiten) und Autoimmunkrankheiten.
Plastizität der Hirnfunktion: Lernen
• Vergleich von Ratten in ‘reicher’ und ’armer’ Umwelt: Erhöhung der Dendritenzahl (Rosenzweig et al, Sci Amer 226: 22-29, 1972)
• Vergleich von Ratten mit und ohne Schnurrhaare: Verbesserung der synaptischen Verbindungen im ’Barrel-Cortex’ durch Erfahrung (Petersen et al, Science 304: 739-742, 2004)
• Katzen entwickeln die Neurone der Sehrinde unter dem Einfluss visueller Erfahrungen (Hubel und Wiesel, Sci Amer 241: 130-144, 1979)
• Vergleich von Personen mit Down Syndrom (Trisomie 21) früher und heute: Verbesserung der Lesefähigkeit (E.Wilken, Hrsg.: Neue Perspektiven für Menschen mit Down-Syndrom. Erlangen, 1997)
Experiment von Hubel und Wiesel, 1979
Experiment von Hubel und Wiesel, 1979
Vergleich von Personen mit Down Syndrom früher und heute
1953
4% der Personen mit Down Syndrom können lesen
heute
18% der Personen mit Down Syndrom können lesen, 46% haben Zugang zur Schrift
Redundanz der Hirnfunktion
Monogen erbliche Krankheiten, die höhere Hirnfunktionen beeinflussen
• Entwicklungsstörungen, z. B. geistige Behinderung • Toxische Einflüsse, z. B. PKU • Speicherkrankheiten, z. B. Lipidspeicherkrankheiten, M. Alzheimer • Keine anderen Störungen
Genetische Disposition zu multifaktoriellen Krankheiten Visionen - Untersuchung von Tumoren: Therapie, Prognose - genetische Diagnostik im Interesse der eigenen Gesundheit, z.B. erbliche Krebskrankheiten, Arteriosklerose - umfassende Chip-Diagnostik, z.B. auf 1 Mio. SNPs im Interesse der eigenen Gesundheit - komplette Sequenzierung des individuellen Genoms im Interesse der eigenen Gesundheit - präkonzeptionelle Chip-Diagnostik beider Partner, begrenzte Pränataldiagnostik auf Disposition denkbar