Referat Stiftung Solodaris 28.4. Olten

Echt wahr? Echt wahr! von Cornelia Kazis

Ich bedanke mich bei der Solodaris Stiftung und Daniel Wermelinger für die Einladung hier mit Ihnen dieses 11. Aare Forum zu eröffnen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mich ausschliesslich freue. Nein ehrlich: ich bin auch aufgeregt. Ich kenne mich hier nämlich noch nicht aus. Ich war noch nie hier und habe noch nicht mal eine Powerpoint-Präsentation, die ein bisschen von mir ablenken würde. Aber ich bin eben eine Radiofrau und am Radio gibt es keine Bilder. Es gibt nur Stimme und Sprache um Sie ins Bild zu setzen. Und so ist es auch hier und heute. Sie dürfen also getrost die Augen schliessen. Ich nehme es ganz auf meine Kappe, wenn sie einschlafen. Ehrenwort.

Thema der nächsten kleinen halben Stunde werden die Werte sein. Und dabei nicht gleich alle, sondern zwei besonders: Ehrlichkeit und Respekt. Die Werte: Was für ein praktisches Thema! Es erspart uns nämlich, uns im Gestrüpp der ganz normalen Alltagskonflikte zu verlieren. Immer wieder neu überlegen zu müssen: Was tun? Was sagen? Wie reagieren? Denn wer weiss, worum es ihm als Vater, als Mutter, als Arbeitnehmer oder Arbeitgeberin, als Freundin oder Freund, als Nachbarin oder Nachbar eigentlich und im Wesentlichen geht, der hat eine Richtschnur, der hat einen Kompass. Der muss nicht von Fall zu Fall von Grund auf neu überlegen. Wertesysteme sind in hohem Masse zeit - und kulturabhängig. Manche setzen nie Patina an, wie beispielsweise die Liebe, andere wirken heute ziemlich ladenhütermässig, wie beispielsweise die Tapferkeit. Für Platon und Aristoteles aber war Tapferkeit ganz wichtig, nebst Gerechtigkeit, Freundschaft und

Wahrhaftigkeit. Thomas von Aquin postulierte im Mittelalter die Werte Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Absolutismus setzte den unbedingten Gehorsam auf die Liste und die Aufklärung Kritikvermögen und Vernunft. Dann kam das Bürgertum mit seinen bürgerlichen Tugenden auf den Plan: Ordnung, Sauberkeit, Fleiss, Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Pflichterfüllung waren da normgebende Leitplanken. Und die 68er Jahre haben den Wertekanon: Mitsprache, Selbständigkeit, Solidarität, Toleranz, Offenheit und Verantwortungsbewusstsein etabliert. Später, durch die Oekologie -, die Friedens - und die Frauenbewegung kamen Umweltbewusstsein, Gleichberechtigung und Friedfertigkeit dazu. Wenn ich das so aufzähle, merken Sie: Die Ehrlichkeit stand nie so ganz explizit zur Debatte. Sie war offenbar ein unbestrittener zeitunabhängiger Dauerbrenner. Ehrlich währt, so gesehen, vielleicht wirklich am längsten!

Ehrlichkeit ist Bestandteil des Dekalogs. Das 8. Gebot heisst ja: Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten. Klingt seltsam in Zeiten des Postfaktischen. Postfaktisch, das Wort des Jahres 2016. «Postfaktisch»,- das Schimpfwort, zielt auf politische Hasardeure, die sich nicht mehr an Tatsachen orientieren wollen und bloss noch auf Stimmung setzen. Es zielt auf jene populistischen Bewegungen, die in Europa mittlerweile ein immenses Feld abstecken und in Amerika gerade an die Macht gelangt sind. Lügen haben gar nicht immer kurze Beine. Manchmal haben sie auch blonde Haare! Zugegeben, das war jetzt recht frech, aber es wird halt schwierig mit dem Respekt wenn einer nicht glaubwürdig ist. Und schon sind wir beim Respekt. Einem zweiten Wert. Auch er findet sich im Dekalog. Mit dem 4. Gebot nämlich,

hat Respekt den Alltagskampf mit einer schwierigen Wirklichkeit aufgenommen: Du sollst Vater und Mutter ehren. Noch immer ist der Respekt ein Grundthema in der Pädagogik, ein Dauerbrenner zwischen alt und jung, arm und reich, oben und unten. Und leider wird Respekt immer noch häufig als Einbahnstrasse gedacht und gelebt: Vom Kind zu den Eltern. Vom Arbeitnehmer zum Arbeitgeber. Von den Jungen zu den Alten. Von unten nach oben. Von den Ohnmächtigen zu den Omnipotenten. Umgekehrt wäre auch gefahren. Finden Sie nicht? Oder konkreter gefragt: Wie soll ein Kind seinen Vater ehren, wenn der die Mutter schlägt? Wie soll ein Jugendlicher seine Mutter ehren, wenn diese ihn in seiner Seelennot nicht sieht und somit vernachlässigt? Wie können Schüler den Respekt wahren vor ihrem Lehrer, wenn der Mobbing in der Klasse toleriert?

Wie können Arbeitnehmer ihren Chef respektieren, wenn der nicht wirklich sieht, was sie leisten. Wie können Transmenschen einem Staatsmann Respekt zollen, der Freizügigkeiten rückgängig macht? Keine Angst. Das klingt nun ein bisschen kulturpessimistisch. Aber kulturpessimistisch bin ich keineswegs. Ich finde, dass Fundamentalisten von anderswo gehörig irren, wenn sie unsere offene und relativ freie Gesellschaft als eine Gesellschaft, die keine Werte kennt, schlechtredet. Irrtum: Wir leben in einem Rechtstaat. Wir kennen die Menschenrechte. Es gibt die UNO Kinderrechtskonvention und viel anderes, was die Miesmacher Lügen straft. Und dann gibt es noch eine Tatsache, die mir, was das soziale Leben auf dieser Erde betrifft, sehr gefällt. Nicht nur, weil sie für mich wegweisend ist sondern auch, weil sie zu kennen, selbstverantwortlich macht. Die Tatsache heisst: man kann nicht nicht kommunizieren. So eingängig hat das der österreichische Psychotherapeut, Autor und

Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick formuliert. Mit anderen Worten, ganz gleich ob ich spreche oder schweige, ob ich lache oder die Arme abwehrend vor meiner Brust kreuze, ob mit oder ohne Powerpoint,- ich kommuniziere immer! Das Gleiche gilt für die Werte. Ich glaube es gibt sie nicht, die Wertfreiheit. Was immer ich nämlich tue, wie immer ich mit meinen Kindern rede, wie ich einkaufe und esse, wie ich reise oder ein Geschäft führe, was ich sage oder verschweige: es geschieht auf dem Hintergrund eines Wertesystems. Dieses System kann bewusst sein. Oft ist es aber auch unbewusst. Wenn mein kleines Referat dazu beiträgt, Ihr Augenmerk für die eigenen gelebten Werte zu schärfen, freut es mich. Hand aufs Herz! Haben Sie heute schon gelogen? Sagen Sie jetzt nicht zu schnell nein! Denn sonst sitzen sie möglicherweise schon in der Falle! Und sie sässen, wären

Sie alle Pinocchios, schon etwas langnasiger auf den Stühlen als vor einer Minute. Klar, es ist noch früh und vielleicht hatten sie noch nicht so viel Gelegenheit zu flunkern, zu schummeln, zu tricksen, zu mogeln, zu täuschen, jemanden zu verschaukeln oder hinters Licht zu führen. Sie merken an diesen vielen Begriffen: bei der Lüge gibt es sie noch - die Artenvielfalt. Und es ist eine Tatsache, dass wir mit der nackten Wahrheit und nur mit ihr nicht durch den Alltag kämen. Ehrlich währt nicht am längsten! Das sagt einer, der es wissen muss: er heisst Klaus Fiedler und ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Freiburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Bedeutung der Lüge in der Kommunikation. Er bezeichnet sich selber als Ehrlichkeitsfanatiker und Lügenexperte. Ein interessantes Selbstbild!

Finden Sie auch? In einem Interview wird Fiedler etwas Ähnliches gefragt, wie ich Sie eben gerade gefragt habe: Hand aufs Herz, wann haben Sie das letzte Mal gelogen? Fiedlers Antwort: Gute Frage! Durch meine Arbeit und Forschung bin ich zu einem Ehrlichkeitsfanatiker geworden. Ich mache mich oft unbeliebt, weil ich die unbequeme Wahrheit sage. Trotzdem ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich einer Person ein halbehrliches Kompliment mache. Sind Komplimente denn schon Lügen? fragt die Interviewerin. Und Fiedler kommt in Schwung. Er bezeichnet jeden Flirt als Orgie von Halblügen und erklärt, wie wichtig das Flunkern ist, wenn wir jemanden für uns gewinnen möchten. Der Professor soll herausgefunden haben, dass wir alle im Alltag oft lügen. Mehr als die Hälfte unserer Äusserungen entsprächen nicht ganz der Wahrheit. Sie seien frisiert. Echt wahr?

Echt wahr! Fiedler beruhigt und meint: Die meisten Lügen im Alltag sind moralisch nicht verwerflich, sondern harmlos und gut gemeint. Wir lügen aus Taktgefühl, aus Höflichkeit, aus Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen. Diese Lügen sind für das soziale Miteinander unerlässlich. Ohne sie wäre das soziale Leben undenkbar. Mit anderen Worten, Sie können jetzt Ihre PinocchioNasen wieder kürzer werden lassen, indem Sie auf meine Frage von vorhin einfach einmal entspannt nicken. Nur Kinder und Narren sagen bekanntlich die Wahrheit. Wir alle längst nicht immer. Und trotzdem können wir glaubwürdig sein und vertrauenserweckend. Ehrlichkeit gibt es also nicht in Reinkultur. Der französische Schriftsteller, Musikkritiker und Pazifist Romain Rolland hat lange über Wahrheit und Lüge nachgedacht und seine Gedankengänge in den wunderschönen Satz gegossen:

Man soll die Wahrheit mehr als sich selbst lieben, aber seinen Nächsten mehr als die Wahrheit. Den Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Man soll die Wahrheit mehr als sich selbst lieben, aber seinen Nächsten mehr als die Wahrheit. Wir haben es hier mit einer Wertehierarchie zu tun: Wahrheit vor Selbstliebe Nächstenliebe vor Wahrheit. Die Ehrlichkeit ist ein später Wert. Vorschulkinder sind darin mehr als wackelig. Ich finde es wirklich ziemlich bemerkenswert, dass Schulreife auch heisst, fähig zu sein, zu lügen. Dann wenn die Kinder aus dem Elternhaus ins Leben treten und mächtige Miterziehende wie die Gleichaltrigengruppe und die Lerninstitution auf den Plan treten, dann ausgerechnet dann ist das Kind fähig zur

bewussten Lüge. Positiv ausgedrückt ist es erst dann in der Lage, wahr und nicht wahr eindeutig zu unterscheiden. Werden Kinder bei Unehrlichkeiten ertappt, reagieren wir Erwachsenen meist ziemlich alarmiert, kommen aber doch nicht immer auf den Gedanken nach dem Grund zur Lüge zu fragen. Aber grundlose Lügen, da sind sich die Fachleute einig, gibt es selten. Sehr selten sogar. Deshalb ist der Weg zur Ehrlichkeit arg verstellt wenn die Erwachsenen nicht wissen, warum Kinder die Ehrlichkeit nicht wagen. Die häufigsten Gründe sind: -Angst vor Strafe -Vermeidung von Scham -Vermeidung von elterlicher Enttäuschung -Loyalität -Minderwertigkeitsgefühle und -Selbstbehauptung

Erst wenn wir diese Gründe kennen und ernst nehmen, können wir unseren Kindern den Weg zur Ehrlichkeit ebnen. -Angst vor Strafe -Vermeidung von Scham -Vermeidung von Enttäuschung -Loyalität -Minderwertigkeitsgefühle und -Selbstbehauptung Sie merken vielleicht, so fremd sind uns diese kindlichen Gründe eigentlich gar nicht, wenn wir an uns selber denken. Es gibt natürlich noch einen ganz anderen wichtigen Grund, warum Kinder lügen: Denken Sie an Herrn Fiedler! Natürlich! Wir machen es ihnen vor.

Wir lügen aus Höflichkeit: "Ich finde das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet" und verdrehen dabei in die andere Richtung die Augen. Oder wir lügen aus Bequemlichkeit. Beispielsweise wenn das Telefon klingelt: "Sag ich bin nicht da!" Auf die Frage: „Wie geht es dir?“ Antworten wir schnell einmal: "Gut, danke!" Auch dann, wenn der Haussegen schief hängt, oder die Kündigung droht, der Kopf schmerzt oder das Herz schwer ist. Professor Fiedler hat schon recht: Wir lügen aus Feigheit und aus Scham, aus Rücksicht oder Prestige und aus Mitleid und aus Not. Und nicht selten auch aus reiner Bequemlichkeit. Ganz falsch ist das, wie wir nun wissen, nicht immer. Denn die ungeschminkte Wahrheit ist gnadenlos. Trotzdem bleibt Ehrlichkeit natürlich ein wichtiger Wert. Gerade in einer Welt voller Verlogenheiten. Gerade in einer

Gesellschaft, in der das Postfaktische fröhliche Urständ feiert. Ehrlichkeit, ein Weggefährte von Vertrauen und Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung. An der Stelle möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Es ist eine wahre Geschichte. Sie hat sich im letzten Jahr in Deutschland zugetragen. Ich habe diese Geschichte in der Basler Zeitung gefunden. Der Titel lautet: Vermögen im Schrankboden. Der Untertitel: Flüchtling meldet seinen Fund. Als Held des Tages feiern Stadt und Polizei in Minden einen 25- jährigen Flüchtling. Der Syrer hat 50`000 Euro Bargeld und Sparbücher mit einem Guthaben von über 100`000 Euro gefunden und beim Ausländeramt abgegeben. Die 100 neuwertigen 500 Euroscheine und das Sparguthaben hatte er gefunden, als er in seiner bislang spärlich möblierten Wohnung einen Schrank aufbaute, den eine karitative Einrichtung gespendet hatte. Sie waren

unter einem Einlegeboden des Möbelstücks verborgen. Wie die Polizei gestern weiter mitteilte, informierte der Flüchtling die Mitarbeiter der Ausländerbehörde über seinen Fund. Das Amt schaltete die Polizei ein, die nun versuchen werde, den Eigentümer der stattlichen Summe Dieser Mann hat sich vorbildlich verhalten



zu ermitteln.

und verdient viel Ankerkennung für seine Ehrlichkeit.“ lobte ihn die Polizei. Der 25- jährige ehrliche Finder ist nach Polizeiangaben im vergangenen Herbst nach Deutschland geflohen und schliesslich in Minden in Ostwestfalen angekommen. Seine Familie blieb in Syrien zurück. Soweit der Bericht aus der BaZ vom 29. Juni 2016. Weil Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit so wichtig ist, gibt es auch das alte Spiel: Wahrheit oder Lüge. Sie haben das vielleicht früher auch gespielt. Die Regeln sind einfach: Jede Spielerin schreibt eine persönliche Frage auf je ein Kärtchen. Wenn alle mindestens 5 Kärtchen mit 5 Fragen vor sich haben, kann das Spiel beginnen. Eine Fragerin fragt einen Mitspieler: Wahrheit oder Lüge? Der Mitspieler

hat nun die Wahl. Sagt er "Wahrheit" muss er die Frage, die er ja noch nicht kennt, ehrlich beantworten. Antwortet er "Lüge", muss er etwas tun, das die Fragerin ihm vorgibt: ein Lied vorsingen, Bälle jonglieren, einen Kopfstand machen, für alle Sirup servieren oder sonst was. Ein Spiel das nicht nur moralische Entscheidungsmöglichkeiten vermittelt, sondern auch das Vertrauen erhöht, Sprachlichkeit fördert und obendrein meistens sehr spannend ist. Wir haben als Kinder das früher stundenlang gespielt. Ein einfaches Spiel. Ein Gratisspiel. Nun ist das alte Kinderspiel raffinierter geworden. Nun gibt es nämlich in jeder grösseren Spielwarenabteilung Lügendetektoren. Lügendetektoren für Kinder ab vier. Oder für den Partyspass für Grosse. Vorsorglich wird dabei gewarnt, dass einige Produkte dieser Wahrheitsware für Epileptiker, Schwangere und Menschen mit labilem Kreislauf nicht geeignet sind. Denn es geht ja darum die Spieler mit verfänglichen Fragen zu konfrontieren und mittels dieser käuflichen Messgeräte, die an Finger und

Brust anzulegen sind, gegebenenfalls der Lüge zu überführen und zum Gaudi aller mit einem leichten Stromstoss zu bestrafen. Denn diese Lügendetektoren reagieren fein auf Pulsfrequenz und Atemstrom, Blutdruck und Hautwiderstand. Ob sie auch auf Erröten reagieren, weiss ich nicht. Den Kindern wird mit dem Lügendetektor aus dem Spielwarengeschäft eingeredet, man könne die Lüge gewissermassen technisch erkennen. Die grossen und ganz gescheiten Kinder der Wissenschaft vermessen die Areale des Gehirns inzwischen mit unendlich genauen und komplizierten Geräten. So entdecken sie genau den Moment, in dem sich eine Lüge im Gehirn abzeichnet. Ich hab das alles jüngst in einem Artikel von Karl Markus Gauss in der ZEIT gelesen und habe mir gedacht: Man könnte meinen, dass wir im Zeitalter der Wahrheit leben. Aber in Wahrheit wird so erfolgreich gelogen wie selten zuvor. Und zwar im grossen Stil auf dem politischen Parkett. Und das hat nun beileibe nichts mit Fiedlers Grosszügigkeit in Sachen Schummeln zu tun.

Bevor ich doch kulturpessimistisch werde, komme ich zum zweiten Wert: Dem Respekt. Sie kennen den Satz und ich sage Ihnen da bestimmt nichts Neues: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Ich gebe zu, das ist nicht besonders originell, aber deswegen nicht weniger wahr. Schliesslich umreisst es thematisch immerhin grossomodo den Kant`schen kategorischen Imperativ. Es ist eine "Regula aurea" eine goldene Regel und ein alter und weit verbreiteter Grundsatz der praktischen Ethik. Aber wie wir von der Neurowissenschaft wissen, ist es für das Gehirn aufwändig in der Negation zu denken. Deshalb gefällt mir die Verdrehung ins Positive noch besser:

Was du willst, das man dir tu, das füge auch den anderen zu! So oder so. Ob negativ oder positiv formuliert: Der Satz ist ein Imperativ. Eine Aufforderung, sich in den Anderen zu versetzen. In den Schuhen des Anderen zu gehen. Etwas mit seinen Augen zu sehen. Die Perspektive zu wechseln. Sich einzudenken in das Gegenüber. Sich einzufühlen in den Anderen, in das Andere. Seien wir ehrlich: Das gelingt längst nicht immer. Es ist manchmal nämlich mühsam, aber dafür fast immer friedenstiftend. Das Zauberwort heisst Empathie. Empathie hat viel mit Respekt zu tun und mit Achtung. Achtung Achtung! Diesen Slogan schlage ich Ihnen heute vor. Achtung Achtung!

Das kann sich jeder und jede sofort merken. Darin ist Selbstachtung selbstverständlich inbegriffen, denn sie ist, meine ich, der Startpflock zur Achtung anderer. Natürlich gehören zu diesem Thema auch Respekt und Höflichkeit und ich habe dazu ein Schopenhauer- Zitat gefunden. Der Philosoph schrieb einst: Höflichkeit ist wie ein Luftkissen. Es mag wohl nichts drin sein, aber es mildert die Stösse des Lebens. Die Tatsache, dass Benimmbücher wieder Hochkonjunktur haben, zeigt, es braucht in jeder Gesellschaft dieses Schmiermittel, das das Zusammenleben reibungsloser und bekömmlicher macht. Ganz besonders in unserer Multikultur braucht es das. Und da gab es ja vor einigen Wochen ein Tsunami im Schweizer Wasserglas, wie ein Berufskollege in der Basler Tageswoche schrieb. Ich rede von der sogenannten Händedruckdebatte. Ein islamisches Geschwisterpaar wollte in Therwil ihrer Lehrerin die Hand nicht geben. Eine Respektlosigkeit

sondergleichen riefen die einen und zeigten sich besorgt über die Islamisierung des Schweizer Schulsystems. Anders der Therwiler Schulleiter. Viel gelassener äusserte er sich gegen den Händedruck -Zwang. Das Wichtige sei, dass die beiden Buben ihre Lehrerin als Frau und Wissensvermittlerin respektierten. Nicht die beiden Therwiler Schüler seien das Problem, sondern die Skandalgelüste der Medienkundschaft, die aus Nichtigkeiten einen Kulturkampf inszenierten, meinte der Geschichtsprofessor Georg Kreis. Und sie, was sagen Sie? Schon sind wir wieder bei der Wertefrage. In früheren Zeiten wurden die Kleinen mit Zwang dazu gebracht, sich den gesellschaftlichen Formen anzupassen. Kerzengerade und ruhig am Tisch zu sitzen, die Hände aus den Taschen und die Mütze vom Kopf zu nehmen und bei der Begrüssung auf jeden Fall das schöne Händchen zu geben.

Davon kann heute keine Rede mehr sein. Und das ist, so meine ich, gut so. Höflichkeit ist viel mehr als leere Floskeln und starre Formen. Viel mehr. Höflichkeit ist nämlich nicht mehr und nicht weniger als Respekt für den anderen, eine menschliche Grundhaltung der Achtung und kein Verhaltenskorsett. Lange bevor Kinder etwas vom Sinn des Respektes und der Höflichkeit verstehen, machen sie schon ihre Erfahrungen damit und passen ihr Verhalten den Umgangsformen an, die sie in ihrem Umfeld beobachten und an sich selbst erleben. Erwachsene Vorbilder sind also gefragt. Und damit meine ich nicht perfekte, unfehlbare Frauen und Männer! Wir haben es ja schon bei der Ehrlichkeit gesehen. Die Perfektion entspricht offenbar nicht dem menschlichen Mass.

Wir können also durchatmen statt zu verkrampfen und ganz einfach mal mit einem wachen, ehrlichen und lieben Auge einen Blick auf unser Verhalten werfen. Wie achtsam, respektvoll und höflich sind wir? Nicht nur Autoritätspersonen gegenüber, sondern ganz besonders gegenüber kleinen Menschen. Gegenüber Fremden? Gegenüber Benachteiligten? Gegenüber solchen, die wir nicht gleich auf Anhieb verstehen? Ausserhalb der eigenen vier Wände sind wir bereits an der Öffentlichkeit. Das heisst wir werden gesehen, wahrgenommen. Wir werden auch bewertet. Wahrgenommen und bewertet. Sie merken wir sind immer noch beim Thema, auch wenn Sie zwischendurch den Eindruck bekommen, ich komme vom 100sten ins 1000ste. Das bringen halt Themen um die grossen Werte so mit sich.

Wer wahrgenommen wird, befindet sich in Vorbildnähe. Ich möchte Ihnen dazu zum Schluss meines Referates zu Werten wie Ehrlichkeit und Respekt eine Geschichte erzählen. Mir gefällt sie. Ich habe sie schon oft erzählt. Und sie gefällt mir noch immer. Es ist eine indische und wahrscheinlich wahre Geschichte dazu: Eine Mutter brachte ihren Sohn zu Mahatma Gandhi und sagte: "Bitte Meister, sagt meinem Sohn, er soll aufhören, Zucker zu essen." Gandhi schaute dem Jungen tief in die Augen und antwortete der Mutter: "Bringe ihn mir in zwei Wochen wieder." "Aber Meister", sagte die Mutter " wir haben einen weiten Weg zurückgelegt. Bitte schickt uns nicht fort. Bitte sagt meinem Sohn, er soll aufhören, Zucker zu essen."

Wieder schaute Gandhi dem Jungen tief in die Augen, aber wieder antwortete er:" Bringe mir deinen Sohn in zwei Wochen wieder." Zwei Wochen später kehrten Mutter und Sohn zurück. Wieder sagte die Mutter:" Bitte Meister, sagt meinem Sohn er soll aufhören, Zucker zu essen." Gandhi schaute dem Jungen tief in die Augen und sagte: "Höre auf Zucker zu essen." Die Mutter antwortete:" Oh danke Euch Meister, danke. Aber bitte sagt mir, warum ihr uns vor zwei Wochen erst fortgeschickt habt. Warum habt ihr meinem Sohn nicht schon vor zwei Wochen gesagt, er solle aufhören, Zucker zu essen?" Gandhi antwortete: "Vor zwei Wochen ass ich selbst noch Zucker." Soviel zum Thema Vorbild.

Soviel zum Thema Ehrlichkeit. Soviel zum Thema Respekt. Soviel zu dem was wertvoll ist. Ich danke Ihnen.