Wahr-nehmen oder Falsch-nehmen?

Arbeitsagogik - Fördern durch Arbeit www.arbeitsagogik.ch Wahr-nehmen oder Falsch-nehmen? "Wir glauben nur, was wir sehen - leider sehen wir nur, wa...
Author: Stephan Weber
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Wahr-nehmen oder Falsch-nehmen? "Wir glauben nur, was wir sehen - leider sehen wir nur, was wir glauben wollen" Jede Wahrnehmung ist subjektiv und selektiv. Das, was ich wahrnehme, was in mein Bewusstsein dringt, wird durch meine Persönlichkeit, meine Vorerfahrungen, meine Kultur und zahlreiche weitere Faktoren beeinflusst: Wahrnehmung ist also nie objektiv. Nachfolgende Phänomene (Fehlerquellen) beeinflussen unter anderem unsere Wahrnehmung: C Interpretation Jede Wahrnehmung ist zugleich - ob ich will oder nicht - Interpretation. Sie führt zu Einordnungen in mein vorhandenes Bild der Wirklichkeit und zu Wertungen auf der Grundlage der Wertskalen, die ich durch meine bisherige Sozialisation erworben habe. C Identifikation Der Beobachter versetzt sich mehr oder weniger unbewusst durch emotionale Bindung an den behinderten Menschen oder eine andere Bezugsperson in deren Lage und fühlt, denkt und handelt in der Folge, wie diese es tun würden. Wird dieser Prozess nicht bewusst reflektiert, so geschehen Wahrnehmungsverzerrungen und einseitige Parteinahmen (z.B.: "Das Kind hat unter der negativen Einstellung der Klassenlehrerin und der Schulhilfe schwer zu leiden." = Einseitige Parteinahme für das Kind gegen die Klassenlehrerin und die Schulhilfe). C Übertragung Der Beobachter überträgt oder verlagert einen positiven oder negativen Affektbezug von einem Mitmenschen (Mutter, Vater, Geschwister, Partner etc.) auf den behinderten Menschen oder eine seiner Bezugspersonen. Dadurch werden früher erlebte Beziehungen und Lebensschemata reaktiviert, reinszeniert und wiederholt. (z.B. "Die Schwierigkeiten von L. lassen sich vermutlich kaum beheben, solange ihre Mutter sie derart gängelt und überbehütet.") Gefühle, Einstellungen und Abwehrhaltungen werden also von früheren Beziehungen und Erlebnissen auf andere Menschen übertragen, und zwar auf Personen, die damit überhaupt nichts zu tun haben. Eine Frau, die von vielen Männern enttäuscht wurde, hat unter Umständen nun bei allen Männern Vorbehalte. C Projektion Dem behinderten Menschen und/oder einer seiner Bezugspersonen werden eigene verdrängte Fehler oder eigene unterdrückte Bedürfnisse und Wünsche zugeschrie

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ben. So projiziert, können sie dort wahrgenommen und abgewehrt werden oder aber ersatzweise in Erfüllung gehen (z.B. Fehldeutung von Zärtlichkeiten als genitalsexuelle Ausdrucksform und Unterdrückung dieser Verhaltensweisen) C Reziproke Affekte Wahrgenommene Affekte, gefühlsmässige Einstellungen und Haltungen des behinderten Menschen lösen beim Beobachter häufig analoge affektive Reaktionen aus. Auf Opposition wird mit negativen Affekten, auf affektive Zuneigung mit positiven Affekten reagiert. (z.B. "P. macht mir besonders Mühe, sie zu akzeptieren. Sie kneift mich stündlich heftig in den Arm.") C Implizite Persönlichkeitstheorie Die individuelle und private Theorie des Beobachters über den Menschen, die verschiedenen Eigenschaften einer Person, deren Beziehung untereinander und das Entstehen von Verhalten bestimmt mit, wie wir die Lücken in der Wahrnehmung von Personen füllen und ergänzen. (z.B.: "Es wundert nicht, dass L. mit einer so schlechten Arbeitsmotivation auch in den Kulturtechniken keine Fortschritte macht.") C Attribution, Attributierung Die Lücken zwischen der wahrgenommenen Wirklichkeit und persönlichem Eindruck werden durch Zuschreibung von nichtbeobachteten Eigenschaften oder Interpretationen bezüglich den Ursachen und Motiven für ein bestimmtes Verhalten oder den Umweltbedingungen, die zu diesem Verhalten führen können, geschlossen. (z.B. "W. kann nicht", "W. will nicht", "W. ist ...", "die Aufgabe ist zu schwer für W.", "Wenn W. sich anstrengen würde, dann könnte er..", "weil W. Zuwendung möchte...") C Projektive Ähnlichkeit Der Beobachter schreibt dem behinderten Menschen positive oder negative Eigenschaften zu, die er bei sich selber erkennt, in Anspruch nimmt und entsprechend beurteilt. (z.B.: "E. arbeitet exakt und zuverlässig, trägt Sorge zu seinen Kleidern und erledigt auch seine Ämter sehr genau. Mit der Ordnung im eigenen Zimmer hat er zwar Mühe, aber das geht mir ja auch manchmal so." Oft erkennen wir ausgerechnet also ausgerechnet jene Eigenschaften, die an uns unlieb sind, in anderen Menschen wieder und bekämpfen sie vielleicht deshalb vehement. Eine Person beispielsweise, die geizig ist und das von sich auch weiss, lehnt alle Menschen ab, die sparsam sind. C Stereotypisierung Aufgrund von "Signalbeobachtungen" schreiben wir dem Gegenüber Eigenschaften zu, ohne sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Wir machen uns ein

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Bild von einer Person und nehmen an, dass... Eine ungepflegte Person ist ein Arbeitsloser, ein Drogensüchtiger ist verwahrlost. Ein Mann mit Krawatte und Aktenkoffer ist konservativ oder ein Bankbeamter. Die Angehörigen einer Gruppe, einer sozialen Schicht, einer Rasse oder des Geschlechts werden also mit überdauernden und starren Sichtweisen und Überzeugungen bezüglich ihren Merkmalen und Eigenschaften belegt. (z.B."Die Mütter von Autisten haben ein gestörtes emotionales Verhältnis zu ihrem Kind.") C Logischer Irrtum Oft nehmen Beobachter an, dass bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen gemeinsam miteinander auftreten, ungeachtet ob dies wirklich zwingend der Fall sein muss. (z.B. "B. sieht nicht, hört nicht und ist zudem schwer geistigbehindert. Da man ihn ohnehin nicht mit Beschäftigung aktivieren kann, verbringt er den halben Nachmittag im Bett.") Wir ordnen also zwei Eigenschaften zwingend zusammen, weil wir glauben, dass sie logisch zusammengehören: zum Beispiel „unordentlich" = „faul". C Halo- oder Hof-Effekt (Halo griech.= "Hof" um eine Lichtquelle) Aufgrund von positiv oder negativ wahrgenommenen Eigenschaften und Verhaltensweisen werden entsprechend dieser Beurteilung alle weiteren Eigenschaften und Verhaltensweisen wahrgenommen, währenddem die gleichen Merkmale bei anderen Personen nicht beachtet werden oder sogar als positive Eigenschaften beurteilt werden. (z.B. "M. arbeitet gut mit und fügt sich gut in die Gemeinschaft der Wohngruppe und der Schulklasse ein. Ihre gelegentliche Essensverweigerung muss als altersgemässe Autonomie-Kundgebung gewertet werden." oder aber "O. verhält sich sowohl in der Schule als auch in der Wohngruppe unruhig und opponiert gegen alle Regeln. Besonders schwierig ist die Situation am Mittagstisch, wo er gelegentlich das Essen verweigert.") Eine Eigenschaft, die uns wichtig ist, überlagert oder überblendet also alle anderen. Wenn jemand nicht pünktlich ist, dann hat dies auch einen Einfluss auf... Auch eine besonders gute oder besonders schlechte Leistung kann andere Verhaltensweisen überstrahlen. Ist ein Arbeitsagoge vom „kompetenten Auftreten" eines betreuten Mitarbeiters beeindruckt, nimmt er auch an, diese Person sei zum Beispiel fachlich kompetent oder intelligent. C Pygmalion-Effekt (auch Rosenthal-Effekt oder Selbsterfüllende Prophezeiung) Die Erwartungen des Beobachters oder der Bezugsperson bezüglich des Verhaltens eines behinderten Menschen bewirken mit grösserer Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Partner in Richtung dieser Erwartung verhält. (z.B."Schwer geistigbehinderte Erwachsene sind wie Kinder." oder aber: "Auch schwer Geistigbehinderte sind lernfähig!" Erwartungen also, zum Beispiel aufgrund von Vorinformationen aus dem Lebenslauf, werden zu sogenannten „self-fulfilling prophecies". Wir neigen unbewusst dazu, unsere Erwartungen

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durch unser eigenes Verhalten zu bestätigen. Damit tragen wir dazu bei, dass sich unsere „Vorurteile" während der Beobachtung bestätigen. Überhäufen wir einen Mitarbeiter mit viel Freundlichkeit und Zuwendung, wird dieser entspannter und freundlicher sein als ein Betreuter, den wir mit misstrauischen, distanzierten Blicken verunsichern. (Vgl. Watzlawick: Die Geschichte mit dem Hammer) C Milde-Effekt Beobachter tendieren unter Umständen dazu, positiv wahrgenommene und wünschenswerte Eigenschaften stärker zu gewichten sowie negative und ungünstige zu mildern. ("L. hat sehr viel Gemüt, auch wenn er oft stark trotzt.") C Sympathie-Effekt Menschen, die uns sympathisch sind, sehen wir meist in besonders günstigem Licht. Ihr unpassendes Verhalten wird leicht übersehen oder entsprechend uminterpretiert. (Macht nicht nur Liebe, sondern auch Sympathie blind?). C Der erste Eindruck Beim ersten Eindruck spielen persönliche Sympathien und Antipathien eine zentrale Rolle. Der erste Eindruck kann trügen, zumal persönliche Vorerfahrungen und nicht unser Gegenüber im Vordergrund stehen. Erlebtes wird übertragen. Sieht beispielsweise die Person einem Onkel ähnlich, der mich immer beschenkt hat, wird der erste Eindruck von dieser Erfahrung geprägt. Es kommt zu einer Fehleinschätzung. C Überbetonung negativer Informationen Wir lassen uns durch negative Informationen wesentlich stärker beeinflussen als durch positive. Bereits wenige negative Punkte können zur „Ablehnung" des Beobachteten führen. Untersuchungen haben ergeben, dass im Durchschnitt 8,8 günstige lnformationseinheiten benötigt werden, um einen ursprünglich ungünstigen Eindruck zu verändern, aber nur 3,8 ungünstige Informationen, um einen ursprünglich günstigen Eindruck zu verschlechtern. C Selektive Wahrnehmung Wahrnehmung ist nie neutral und allumfassend. Aufgrund der jeweiligen Situation beobachten oder hören wir immer nur ausgewählte Teilaspekte. Der persönliche Hintergrund und Vorurteile beeinflussen die Auswahl der Aussagen. Wir wählen beispielsweise gezielt aus, was uns interessiert oder was wir hören wollen. Persönliche Gründe für die selektive Wahrnehmung - Betroffenheit durch die eigenen Lebensumstände - Angesprochen werden durch Reizworte (Werbung)

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Assoziationen, Gedankenbrücken Interessenslage von Beruf, Hobby, Beziehungen Reiz als Problemlösungsangebot Präsente Erinnerungen an frühere Erlebnisse Eigene Gefühle werden angesprochen Aktualität des Themas (z. B. in den Medien präsent)

Nicht ansprechbar für den Reiz -

Erkennen des Reizes als Gefahrenmoment (= Warnsignal) Übersättigung von Reizen (abschalten) Besetztsein durch starke Erlebnisse Ängste oder ausgeprägte Wunschvorstellungen

C Vorinformationen Mündliche oder schriftliche Vorinformationen über eine Person beeinflussen die Wahrnehmung sehr stark. (Sozialer Hintergrund, Mängel, besondere Leistungen). Die Vorinformationen beeinflussen auch die Beobachtung und Beurteilung, C Reihenfolge Effekt Aus der Lern- und Gedächtnispsychologie ist bekannt, dass wir uns Informationen, die am Anfang und am Ende angeboten werden, besonders gut merken können. Informationen aus dem Mittelteil zum Beispiel eines Standortgesprächs gehen infolgedessen oft verloren. C Kontrasteffekte Wird ein durchschnittlicher Betreuter nach drei bis vier schwachen MitarbeiterInnen beurteilt, zeigt sich eine Tendenz zur Überbewertung des durchschnittlichen Betreuten. Wenn die Arbeitsagogin während des Gesprächs oder der Beobachtung keine Notizen macht, wirkt sich dieser Effekt drastisch auf die Urteilsfähigkeit aus. C Beharrungseffekt Es ist viel leichter, auf einer schon einmal getroffenen Beurteilung zu beharren oder daran festzuhalten, als die Meinung zu ändern. ("Sie war, ist und bleibt so"). C Tendenz zur Vereinheitlichung "Erfahrungen" mit dem positiven wie negativen Verhalten eines Betreuten werden zur Deutung des Verhaltens auf andere Situationen übertragen.

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C Generalisierung Die einzelnen Beobachtungen, Episoden, Situationen werden schnell vergessen, aber generalisiert, verallgemeinert. C Betreuteneigenschaften Tendenz, aus Gelegenheitsbeobachtungen Betreuteneigenschaften zu machen. Beobachtetes Einzelverhalten wird zu einem Betreutenbild verschmolzen; der Betreute X ist nicht nur in bestimmten Situationen aggressiv, er ist ein aggressiver Mensch. C Beeinflussbarkeit Wir werden in unserer Beobachtung verunsichert durch Fragen und Bemerkungen Dritter, selbst wenn diese mit der Wahrnehmung nichts zu tun haben und den Beobachteten möglicherweise nicht einmal aus eigener Erfahrung kennen. C Wertvorstellungen Jeder Mensch hat ganz persönliche Überzeugungen, Einstellungen oder Wertvorstellungen in Bezug auf seine eigene Person, auf seine Mitmenschen sowie auf die Gesellschaft und Umwelt, in der er lebt. Aufgrund dieser inneren Haltungen beurteilt er Menschen, Dinge und Ereignisse. C Menschenbild Allem agogischen Handeln liegen, mehr oder weniger bewusst, Vorstellungen vom Menschen, das heisst ein Menschenbild zugrunde. Dieses beeinflusst in erheblichem Masse die Wahrnehmung unseres Gegenübers. C Kontext Die Wahrnehmung von Menschen und Objekten wird durch ihre Umgebung beeinflusst. Die äusseren Umstände der Beobachtung sind daher im Auge zu behalten. Ebenso ist dem „Setting" eines Gesprächs die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken. C Optische Täuschungen Optische Täuschungen beruhen weder auf einer mangelhaften Leistungsfähigkeit unserer Augen, noch sind sie auf falsche Vorstellungen von einem Gegenstand zurückzuführen. Die Ursache für die Täuschungen besteht vielmehr darin, dass optische Wahrnehmungen nie isoliert erfolgen. Gesehen wird nicht mit den Augen allein, sondern auch mit dem Gehirn.

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