Die sokratische Methode und die Bedeutung der Frage im Lernprozess

Die sokratische Methode und die Bedeutung der Frage im Lernprozess 28.01.2006 Sabine Berlin / Elisabeth Linhard 1 Ambivalenz des Fragens? „Alles F...
Author: Ursula Egger
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Die sokratische Methode und die Bedeutung der Frage im Lernprozess 28.01.2006

Sabine Berlin / Elisabeth Linhard

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Ambivalenz des Fragens? „Alles Fragen ist ein Eindringen. Wo es als Mittel der Macht geübt wird, schneidet es wie ein Messer in den Leib des Gefangenen. Es ist bekannt, was man da finden kann; man will es aber wirklich finden und berühren.“ (Elias Canetti) „Was gibt es Unsinnigeres als jene Schulsituation, in der der Lehrer, der die Sache kennt, fragt, und der Schüler, der sie nicht kennt, antwortet? Gerade umgekehrt sollte es sein: Der Schüler fragt und der Lehrer soll antworten.“ (Gaudigs Trugschluss nach Hans Aebli) 28.01.2006

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Was ist sokratisch? ƒ ƒ

Ö Ö ƒ ƒ ƒ Ö

sokratische Methode nach der Theorie Leonard Nelsons (Göttinger Philosoph; 1882 – 1927) der Fragende findet und identifiziert diejenige Frage im Universum der möglichen Fragen, die ihn selber so wie die anderen betrifft, betroffen macht, angeht er ist kein Herrschender, seine Macht erstreckt sich allein auf das Vermögen, gute Fragen zu stellen die Frage wird zur Zuspitzung eines allgemeinen Zweifels der Lehrer der eine Frage stellt, täuscht nicht vor, etwas nicht zu wissen, was er ganz genau weiß er fordert den Schüler nicht auf, über etwas Auskunft zu geben, das ihm unbekannt ist er fordert ihn einfach auf, einen vorliegenden Gegenstand unter einem bestimmten Gesichtpunkt zu betrachten Urheber der großen Entdeckungen und Erfindungen haben auch ein Stück Wirklichkeit unter einem ganz neuen Gesichtspunkt betrachtet und sind so zu neuen Erkenntnissen gelangt

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Prinzipien des Sokratischen 1. Untersuchung eines Problems, die Beantwor-

tung einer durch eine solche Untersuchung zu beantwortende Frage 2. ein argumentierendes Miteinanderreden über

das in Rede stehende Problem, also eine Wahrheitssuche mit dem Ziel eines Konsens 3. Grundlage ist die Erfahrung der Teilnehmenden 28.01.2006

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Anforderungen die das sokratische Gespräch stellt a) 1. 2. 3. 4.

an die Teilnehmer Ehrlichkeit des Denkens und Sprechens Nutzung einer gemeinsamen, auf der Erfahrung aller Teilnehmer basierenden, Sprache bewusste und ständige Prüfung ob die Teilnehmenden einander verstehen solange kein Konsens erreicht ist, muss das Gespräch fortgesetzt werden ( das heißt aber nicht, dass ein gefundener Konsens der Irrtumsmöglichkeit und der Revisionsbedürftigkeit endgütig entzogen wäre)

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b) Speziell an den Gesprächsleiter Dieser muss dafür sorgen, dass 1. eine wirkliche Verständigung zwischen den Teilnehmern erreicht wird Ö hat er den Eindruck, dass eine Aussage nicht von allen gleich verstanden wurde, muss er das Gespräch bei dieser Aussage festhalten, bis volle Verständigung erreicht zu sein scheint 2. die Teilnehmer bei der gerade zur Diskussion stehenden Teilfrage festgehalten werden Ö Festhalten am „roten Faden“ 3. er sich nicht inhaltlich einmischt 28.01.2006

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Zitate zum Zurückhaltungsgebot für den Lehrer: „Ein unbedingt auszuschaltender Einfluß [ist] derjenige, der von den Urteilen des Lehrers ausginge. [Ansonsten] hat der Lehrer alles getan, dem Urteil des Schülers durch Anbietung eines Vorurteils zuvorzukommen.“ (Leonard Nelson)

„Man führe das Gespräch sokratisch, etwa im Sinne Leonard Nelsons. […] möglichst schweigend und zuhörend, geduldig wartend, nicht passiv und nicht hart, sondern mit vertrauender stützender Geduld, mit (unsichtbarem) ‚Harren‘. […] Fragen folgender Art stellend: Worüber sprechen wir jetzt? Was wollten wir eigentlich herausbringen? Sind wir weiter gekommen? Wer ist einverstanden mit dem, was eben gesagt wurde? Hast du selber verstanden, was du eben gesagt hast?“ (Martin Wagenschein) 28.01.2006

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Welche Rolle spielt das Sokratische in der Lehre Wagenscheins? ƒ Das Exemplarische betrifft die Auswahl der Inhalte ƒ Das Genetische bezieht sich auf die Perspektive unter der ƒ Ö Ö Ö

Unterricht vollzogen wird Das Sokratische bezeichnet die Methode des Gesprächs Mit dem Sokratischen wird die Spur des Verstehens entlang der Genese eines Erkenntnisprozesses verfolgt Ganz so, wie es auch bedeutende Entdecker und Erfinder getan haben Auch sie haben bereits Vorhandenes unter einer anderen Fragestellung betrachtet, haben an sich selbst ‚neue‘ Fragen gestellt

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a)Welche Bedeutung hat also die Frage im Unterricht? b) Was ist das Ziel der sokratischen Methode?

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Die Bedeutung der Frage im Unterricht ƒ durch das Fragen soll der Schüler zum Vollzug einer bestimmten Tätigkeit

am Gegenstand / Problem aufgefordert werden ƒ meist weiß der Schüler vor einer neuen Gegebenheit eben nicht was er

fragen soll ( es sind eben häufig nicht die Laien die Fragen, sondern die Sachkundigen die die meisten Fragen haben und stellen) Ö Schaffung einer natürlichen Erkenntnissituation Ö nicht jede Frage dient der Erkundigung, sondern kann auch zur Erfassung

einer neuen Gegebenheit anleiten Ö die Frage des Lehrers als Hilfestellung (der Weg zur Mündigkeit führt schließlich über die Unmündigkeit, der Weg zur Selbstständigkeit über die Abhängigkeit) 28.01.2006

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Ö deshalb

ist es Ziel eines fragend-entwickelnden Unterrichts, dass ƒ der Schüler von den Fragen des Lehrers dadurch unabhängig wird, dass er beginnt zu lernen sich die Fragen selber zu stellen ƒ er lernt die bei ihm bereits vorhandenen Begriffe und Denkoperationen vor neuen Problemen selbstständig anzuwenden

Ö somit

kommen wir sokratischen Methode 28.01.2006

auch

zur

Zielvorstellung

der

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Was ist das Ziel der sokratischen Methode? Ö Wagenschein selbst sagt dazu, unter Bezug auf Leonard

Nelson: „Seine (des Sokrates) pädagogische Größe liegt darin, dass er, die Schüler auf diesen Weg des Selbstdenkens weist und durch den Austausch der Gedanken eine Kontrolle einführt, die der Selbstverblendung entgegenwirkt. [Es geht darum], sie das Selbstgehen zu lehren, ohne das sie dadurch alleine gehen, und diese Selbstständigkeit so zu entwickeln, dass sie eines Tages das Alleingehen wagen dürfen, weil sie die Obacht des Lehrers durch die eigene Obacht ersetzen.“ 28.01.2006

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Offene Fragen ƒ

Wie und wann wird eine Gesprächskultur eingeführt?

ƒ

Kann diese Form des Gesprächs auch in der Grundschule stattfinden?

ƒ

Ist Martin Wagenschein ein Konstruktivist?

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Wie und wann wird eine Gesprächskultur eingeführt? Ö Schüler müssen bereits über elementare soziale und kommunikative Fähigkeiten verfügen Ö diese beinhalten, dass ƒ die Kinder sich mit Respekt begegnen; ƒ sie in der Lage sind, Erfahrungen in Zusammenhängen zu artikulieren; ƒ sie gelernt haben, andere Kinder ausreden zu lassen und ihnen aktiv

zuzuhören; ƒ sie bereit sind, sich über Regeln des Gesprächs zu verständigen und bereit sind, sich an diesen Regeln zu orientieren

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Wie und wann wird eine Gesprächskultur eingeführt? Ö im

ersten und zweiten Schuljahr sollten Vorraussetzungen geschaffen werden, z.B. durch:

dafür

die

ƒ ritualisierte Gesprächskreise ƒ Gruppen- oder Partnerarbeit ƒ Rollenspiele ƒ gezielte Übungen zum Erzählen oder Argumentieren

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Kann diese Form des Gesprächs auch in der Grundschule stattfinden? Anwendungsaufgabe: ƒ Lest euch das Protokoll Siegfried Thiels zum Thema Schall aufmerksam durch! ƒ Achtet insbesondere auf die Rolle des Lehrers, welche Anforderungen, die das sokratische Gespräch stellt, erfüllt er? ƒ Denkt ihr, dass dies ein gelungenes sokratisches Gespräch mit Grundschülern ist? Erinnert euch auch an die Anforderungen, die das sokratische Gespräch an die Teilnehmer stellt! 28.01.2006

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Das sokratische Gespräch in der Grundschule? ƒ Wagenschein selbst war zunächst skeptisch, mit Kindern

im Grundschulalter überhaupt ein vernunftgemäßes Gespräch zwecks Entwicklung von Sachzusammenhängen führen zu können ƒ erst die Thielschen Ergebnisse überzeugten ihn von einem

Gelingen ƒ trotzdem sollte man immer beachten, dass eine bereits

vorhandene Gesprächskultur und auch Gesprächsregeln unverzichtbar für ein Gelingen sind 28.01.2006

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Ist Martin Wagenschein ein Konstruktivist? Ö Beantwortung bedarf der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Kontinuität oder der Diskontinuität naturwissenschaftlicher Vorstellungen bei Kindern Ö kontinuierlicher Lernweg: ƒ es erfolgt eine Erweiterung und kleinere Revisionen der vorhandenen

Vorstellungen ƒ der exemplarisch-genetisch-sokratische Sachunterricht nach der Lehre Wagenscheins geht von dieser Annahme aus Ö aus den ursprünglichen, naiven, kindlichen Formen der Sachauseinandersetzung entwickelt sich nach und nach das wissenschaftliche Denken, sofern diese Entwicklung durch Anregung und Lernimpulse (u.a. Fragen) stetig gefördert wird 28.01.2006

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Ö es gibt diesem Konzept zufolge eine stetige Entwicklung des exakten Denkens bei Kindern, die sich aus dem ursprünglichen Verstehen Schritt für Schritt (zunächst noch unter Anleitung) herauskristallisiert Ö es

zeigt sich nochmals, welch tragende Rolle hierbei dem Sokratischen zukommt und warum eine solche Vorstellung von den Lernwegen bei Kindern das Sokratische geradezu bedingt Ö diskontinuierlicher Lernweg: ƒ es muss eine grundlegende Revision des Bestehenden erfolgen, damit

Kinder zu naturwissenschaftlichen Vorstellungen gelangen können ƒ es bedarf also besonderer von außen herangetragener Impulse

(conceptual change) ƒ da eine Transformation, also keine schrittweise Erweiterung, des vorhandenen Wissens erfolgen muss, damit Kindern zu einer naturwissenschaftlichen Denkweise gelangen können

Ö diesem Lernweg folgt die konstruktivistische Didaktik 28.01.2006

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Fazit Martin Wagenschein ist demnach kein Konstruktivist, da er von der Vorstellung einer Kontinuität der Lernwege bei Kindern ausgeht

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Literatur ƒ DOHMEN, Günther / MAURER, Friedemann (Hrsg.): Unterricht. Aufbau und Kritik, München: R.Piper & Co. Verlag 1976 ƒ PFEIFFER, Silke: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Alltag. In: Grundschulmagazin 72 (2004) 6, S.17-20 ƒ TESAK, Gerhild: Mit Kindern im Gespräch über Natur nachdenken. In: Grundschulunterricht 49 (2002) 4, S.43-45 ƒ KROHN, Dieter u.A. (Hrsg.): Das sokratische Gespräch – ein Symposion, Hamburg: Junius 1989 ƒ SCHREIER, Helmut: Was ist sokratisch? In: CECH, Diethard / FEIGE, Bernd / KAHLERT, Joachim / LÖFFLER, Gerhard / SCHREIER, Helmut / SCHWIER, Hans-Joachim / STOLTENBERG, Ute (Hrsg.): Die Aktualität der Pädagogik Martin Wagenscheins für den Sachunterricht. Walter Köhnlein zum 65. Geburtstag, Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2001, S.81-94 ƒ WAGENSCHEIN, Martin: Kinder auf dem Wege zur Physik, Weinheim und Basel: Beltz-Verlag 1990 28.01.2006

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