Die Schlacht bei Appenzell

Fleischkönigin Im Kühlraum der Metzgerei Fässler in Steinegg bei Appenzell holt Tanja Knechtle ein Schweinscarrée vom Haken. Schlacht Die bei Appenz...
Author: Eduard Franke
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Fleischkönigin Im Kühlraum der Metzgerei Fässler in Steinegg bei Appenzell holt Tanja Knechtle ein Schweinscarrée vom Haken.

Schlacht

Die bei Appenzell Ein Knochenjob mit (zu Unrecht) blutigem Image: Die Appenzellerin TANJA KNECHTLE, 21, ist Europameisterin der Fleischfachleute. Wie sie mit einem Kalbsherz siegte und sich mit Veganern zerfleischt. Und in welchem Sport sie sonst noch EM-Siegerin ist.

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Basteln mit Würsten In der Metzgerei Fässler bereitet T ­ anja ein Fleischplättli zu. Sie sagt dem «Plattenlegen». Kreativer Job Als Fleischfachfrau könne sie gestalten und sich entfalten, sagt die 21-Jährige. «Mein Traumberuf.»

Massarbeit mit dem Messer Tanja beim Ausbeinen eines Rindsstotzens. Auch das war eine ihrer EMDisziplinen.

Geburtstag Eben hat Kuh Mädi im Stall der Knechtles ein Kälbchen zur Welt gebracht. Tanja tränkt Mädi.

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Zug.

Frauen am Tanja ist auch noch Europameisterin im Seilziehen

Seilschaft Tanja (vorne) beim Training mit den Damen des Seilziehclubs Gonten. Bald geht sie an die EM. 44 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE

An der EM In Imst, Österreich, kämpfen Fleischfach­leute aus ganz Europa um den Titel. Tanja mit Brille. Fleischberg Mit ihrem Matterhorn, geformt aus einem Kalbsherz, überzeugt Tanja die Wettkampf-Jury.

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Zu hübsch Im Ausgang wird sie oft auf ihren Job an­ gesprochen: «Aber du siehst ja gar nicht aus wie eine Metzgerin!»

TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS MARKUS BÜHLER-RASOM

K

Schulzimmer Eineinhalb Jahre Training für die EM. Tanja übte in diesem Verkaufswagen ihres Chefs ­Philip Fässler. Die Knechtles Das Heu ist im Trockenen. Nun höckelt die ganze Familie vor dem Haus. Bei Most und Appenzeller Bier.

urz nach vier Uhr an diesem Diens­ tagnachmittag auf dem Hof der Fa­ milie Knechtle in Enggenhütten, Appenzell Inner­ rhoden, bringt die Kuh namens Mädi ein Kalb zur Welt. Doch das Neugeborene will nicht recht at­ men, liegt reglos da. Die jüngste Tochter der Knechtles, die 21-jäh­ rige Tanja, stimuliert das Kälb­ chen mit einem Gutsch Wasser, reibt es mit Stroh ab und regt so Atmung und Kreislauf an – und endlich kommt Leben in das Tier. Die Kalbsbrust hebt und senkt sich, es lupft den Kopf, stiert um­ her mit seinen grossen, braunen, staunenden Augen. «Diese Augen …», sagt Tanja Knechtle, «schaut ein Tier mich so herzig an, könnte ich es unmöglich töten. Und metzgen.» Tanja hat Tiere sehr gern. Vor vier Stunden stand die gleiche Tanja an ihrem Arbeits­ platz, in der Metzgerei – geschützt mit Kettenschurz und Ketten­ handschuh, als wäre sie ein Ritter auf dem Weg zur Schlacht(platte) – und entbeinte und zerlegte ­einen Fleischmocken. Einen 45-KiloStotzen. Vom Rind. Tanja hat Fleisch sehr gern. In der Schweiz wird jährlich 432 000 Tonnen Fleisch gegessen. Das ist ein Pro-Kopf-Konsum von 51 Kilo (in den USA 115 Kilo). 96 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer essen Fleisch. Wir wären fleischlos unglücklich. Wir mögen es gebraten, geschmort, grilliert, geräuchert. Wir genies­ sen es saftig, paniert, gehackt, als Zvieri-Plättli, im Sandwich oder als Chinoise. Wie das Tier aber zum Fleisch auf unserem Teller wird – das wollen wir lie­ ber nicht so genau wissen. Ist uns wurst.

In der Hitparade der unbelieb­ testen Berufe rangiert der Metz­ ger weltweit in den Top Ten. Die Schweizer Fleischbranche hat pro Jahr 600 Lehrstellen zu vergeben, über die Hälfte bleibt unbesetzt. Die Vorurteile gegen­ über den Fleischern sind gross: Der grobschlächtige Schlachter mit den Wurstfingern und der blutigen Schürze. Und wenn es gar eine Metzgerin ist, so ein fett­ wanstiges Mannsweib … Gegen solche Klischees kämpft der Schweizer FleischFachverband. Etwa mit seiner derzeit erfolgreichsten Berufs­ frau, seinem Filetstück gewisser­ massen: Tanja Knechtle. Char­ mant, flott, zierlich, 1 Meter 62 gross und mit 58 Kilo Körper­ gewicht «leichter als mancher 70-Kilo-Rinderstotzen, den ich herumwuchten, ausbeinen und zerteilen muss». Tanja Knechtle ist soeben Europameisterin der Fleischfachleute geworden. Unsere Fleischkönigin. Eine Sache will sie gleich zu Beginn klipp- und klarstellen. Sie sagt: «Ich bin keine Metzgerin!» Wie jetzt? «Ich töte und schlachte keine Tiere.» Sie sei Fleischfachfrau. Heutzutage gebe es drei Fachrich­ tungen: die Gewinnung (Schlach­ ten, Metzgen, Zerlegen), die Ver­ arbeitung (Produktion von Würs­ ten, Bündnerfleisch, Schinken, Würzen, Räuchern) und – Tanjas Berufsrichtung – die Veredelung (Herstellen von Traiteur-Pro­ dukten, kalten Platten, Buffet­ gestaltung, Kundenberatung). Fleischfachperson sagt man al­ so. Der Volksmund nennts halt trotzdem weiterhin Metzger. Ein Gnagi bleibt ein Gnagi – selbst wenn man Trüffel darüberhobelt. Morgens um neun ist der Ver­ kaufsladen der Metzgerei Fässler in Steinegg bei Appenzell schon gut besucht. Die Kunden kaufen Mariniertes zum Grillieren – und

gratulieren: «Ase guet gmacht, Tanja, göll», sagen sie, man hat «ase mitgfieberet», ist «ase stolz» auf die Europameisterin, die hin­ ter der Fleischtheke steht, ihre Kundschaft bedient und das alles «ase emotional» findet. An der weiss gekachelten Wand, wo letzte Woche noch ein Schild für «Alpstein-Kaninchen» warb, thronen auf einem Regal drei Po­ kale. Dreimal hat Tanja an der EM in Imst, Österreich, abgeräumt – oder besser gesagt aufgetischt: Sie gewann in der Disziplin Grill­ platte, wurde Vize-Europameis­ terin in der Einzelwertung und holte sich (zusammen mit der Lu­ zernerin Manuela Riedweg) den Team-EM-Titel. Besonders angetan war die Ju­ ry von Tanjas frecher Kreation in der Kategorie «Gelatine, Pastete, Terrine». Mithilfe einer grossen Toblerone-Gussform model­lierte sie ein Matterhorn aus einem Kalbsherz, ins Innere ihres Fleisch­ berges pflanzte sie ein Käse­herz. So viel Herzblut der jungen Frau wurde mit dem Kategoriensieg belohnt. Eineinhalb Jahre hat sich Tanja auf die EM vorbereitet, trainierte zweimal die Woche: Ihr Lehrmeister und Chef, Philip Fässler, 40, sagt, Tanja könne gut improvisieren und werde nie ner­ vös. Und wenn sie etwas nicht perfekt beherrsche, dann übe sie verbissen. Etwa die EM-Disziplin «Ausbeinen einer Rinderkeule». Wohl hundert Keulen hat Tanja an ihren arbeitsfreien Tagen zer­ legt. So lange, bis ihr das Ausbei­ nen in Fleisch und Blut überging. Was bekommt eine EM-Sie­ gerin? «Ruhm und Ehre», sagt Tanja. Letztes Jahr erhielten die Gewinner einen iPad, so einen hätte sie, sagt sie, also auch noch gern genommen. Sie bekam statt­ dessen zwei Metzgermesser. Und zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag ist sie etwas un­ u SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 49

u wirsch. Sie habe drum daheim

schon 20 solcher Messer. Natürlich hat sie Fleisch «ase gern». Kutteln weniger, Lamm muss nicht sein, Zunge gehe noch knapp, «am liebsten halt ein anständiges Rinderfilet oder ein Entrecôte». Das schönste an ihrem Beruf ? «Plattenlegen» (sie meint die garnierten Zvieri-Plätt­ li mit allerlei Wurstwaren). Ihr Beruf sei überaus kreativ und vielfältig, schwärmt die 21-Jähri­ ge, sie könne gestalten, sich ent­ falten, «man glaubt es kaum, wie fantasievoll man mit Fleischwa­ ren arbeiten kann». Klingt nach Basteln mit Würsten. Was nervt sie an ihrem Beruf ? «Dass ich mich andauernd recht­ fertigen muss.» Wäääh, heisse es oft von Gleichaltrigen, etwa im Ausgang, wäääh, du bist Metzge­ rin, wäää, tote Tiere, wäääh, bluti­ ges Fleisch («dabei ist das Fleisch­ saft!»). Tanja kontert dann meist mit ihrer Killerfrage: «Isst du Fleisch?» Wer Ja sagt, den lässt sie nicht mehr vom Fleischerhaken: «Aha, und was glaubst du, woher das Fleisch kommt, wer das für dich parat macht?» Mit Vegetariern hat sie kein Problem. Jeder könne essen, was er wolle (Veganer findet sie dann doch etwas verschärft, «so ganz ohne Eier und Milch …»). Sie mag es hingegen gar nicht, wenn man sie von ihrer Fleischeslust be­ kehren will. Wie grad vor ein paar Wochen, an einer Geburtstags­ party: Sie habe noch extra zwei feine Fleischplätti hergerichtet und mitgenommen. Dann waren da zwei Veganer, die mit ihr über Fleischkonsum diskutieren woll­ ten. Immerzu wollten die Veganer übers Essen reden: Mit solch nervigem, ideologischem Getue, meint Tanja, «schneiden die sich doch nur ins eigene Fleisch». Diesen Nachmittag hat sie freigenommen. Es ist Heuwetter, da will sie daheim helfen. Der Hof 50 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE

Klischee

Das der grobschlächtigen Metzgerin – Tanja widerlegt alle Vorurteile der Familie Knechtle liegt abseits des Dorfes Enggenhütten, auf fast tausend Metern Höhe: Weit im Osten gleisst der Bodensee, an klaren Tagen kann man gar den Fernsehturm von Stuttgart sehen. Untere Höhi heisst es hier, ein sonniger Ort – «ja, jetzt schon, im Winter siehts dann hier aber ganz anders aus», sagt Sonja Knechtle, 49, Tanjas Mutter. Von Mitte Oktober bis Anfang März bekäme ihr Hof keinen einzigen Sonnenstrahl ab, «16 Wochen lang leben wir im Schatten». Vielleicht haben darum alle Knechtles ein so sonniges Gemüt. Vater Sepp, 51, schöchelt grad das Heu, sein Sohn, Sepp junior, das älteste der vier KnechtleKinder, fährt mit dem Ladewagen. Die anderen Knechtles helfen mit: Schwestern, Schwägerin, Schwiegereltern, Neffen – alle rechen Heu zusammen, es wird geschwatzt, gelacht, geneckt. Und dann, im ungünstigsten Moment, bringt Kuh Mädi ihr Kalb zur Welt. Alle rennen in den Stall. Und so ist Fleischfachfrau Tanja halt auch noch Tierhebam­ me. Sie kennt den Lauf eines sol­ chen Kuhdaseins nur zu gut, von der Geburt bis zum Kotelett. Dem Kalb gehts mittlerweile gut, auch Mutterkuh Mädi hat sich erholt, also eilen Knechtles zurück aufs Feld. Am Abend sind Gewitter gemeldet, das Heu muss zeitig rein, es pressiert, man hilft sich, zieht am gleichen Strick. Und das wortwörtlich. Knechtles Kinder gehören nämlich zur Seilziehelite der

Schweiz. Sepp junior war U23Weltmeister, seine Schwester Judith nahm an WM und EM teil, und auch Tanja gewann mit der Schweizer Nati 2015 EM-Gold in Belfast. Somit ist sie zweifache Europameistern, einmal am Seil, einmal mit Fleisch. Nur Tanjas zweite Schwester, Miriam, hat nichts mit Seilziehsport zu tun. Sie macht Musik, spielt Blech­ blasinstrumente. Europameiste­ rin ist sie dennoch: in der Katego­ rie Brass-Band. Diese Knechtles, Siegertypen. Im September reist Tanja an die Seilzieh-EM nach England. Bis dahin muss sie noch ein paar Kilo abspecken, um ihr Wett­ kampfgewicht zu erreichen. Das sei nicht so einfach, wenn sie den ganzen Tag feine Sachen um sich habe. Ihr Geist sei ja willig, aber bei Fleisch werde sie schwach. Das Heu ist im Trockenen. Feierabend. Feierabendbier. Fa­ milie Knechtle hockt am Tisch vor dem Haus. Man sucht noch nach einem Namen für das neue Kälb­ chen. Tanja schaut nach dem Neugeborenen. In der Zwischen­ zeit ist es aufgestanden, stakst auf seinen Beinchen durchs Stroh. Tanja erzählt, sie habe auch schon Fleisch verarbeitet, dass von Tieren vom eigenen KnechtleHof stammte. So sei das nun mal, «da isch d Natur». Das Neugeborene wird wach­ sen, grösser und schwerer werden. In ein paar Monaten wird aus dem Kalb ein Jungrind. Später dann ein Rind. Und irgendwann Rindfleisch. 

Grün in Grün Auf dem Hof ihrer Eltern, hoch über dem Dorf Enggenhütten AI, hilft Tanja beim Heuen. Eine schöne Fassade Mit ihrem Freund Silvio Inauen, 24, lebt Tanja in dieser Wohnung in Weissbad AI.