Die Präambel des Grundgesetzes zwischen Sachlichkeit und Numinosität

Maik Herold, Jan Röder Die Präambel des Grundgesetzes zwischen Sachlichkeit und Numinosität Als Spielregelwerke des Politischen sind Verfassungen eig...
Author: Heini Walter
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Maik Herold, Jan Röder

Die Präambel des Grundgesetzes zwischen Sachlichkeit und Numinosität Als Spielregelwerke des Politischen sind Verfassungen eigenartige Chimären. Bereits die Staatsrechtslehre des frühen 20. Jahrhunderts hatte ihnen eine doppelte Natur zugewiesen. Der neukantianisch begründete Entwurf einer Rechtslehre, der mit Vorstellungen von Essentialität und Reinheit operierte und scharf zwischen den Sphären von Recht und Politik unterschied, traf hier auf Kritik aus den unterschiedlichsten Richtungen.¹ Die Verfassung erschien in der Folge als eine Institution, in der die Sphären von Recht und Politik auf eigentümliche Weise ineinanderflossen. Diese ausgemachte Doppelstellung wurde an anderer Stelle um zusätzliche Aspekte erweitert. Die Verfassung eines Staates sei, so argumentierte beispielsweise Rudolf Smend, „nicht nur als Organisationsstatut zu verstehen, das den Staat organisiert […], sondern zugleich als eine Lebensform seiner Angehörigen“². Neben ihrer rechtlich-organisatorischen Aufgabe bringe sie deshalb immer auch ein bestimmtes Werte- und Sinnsystem zum Ausdruck, dessen Totalität jedoch niemals vollständig dargestellt werden könne.³ In diesem Sinne hat vor allem Peter Häberle die Verfassung als Schnittstelle zwischen Recht und Kultur beschrieben. Verfassungen seien demnach nicht nur als „rechtliche Ordnung für Juristen“ oder „normatives Regel-Werk“ zu verstehen, sondern auch „Speicher von überkommenen ‚kulturellen‘ Informationen“, „Ausdruck eines kulturellen Entwicklungsstandes“, „Mittel der kulturellen Selbstdarstellung eines Volkes“ sowie „Spiegel eines kulturellen Erbes und Fundament neuer Hoffnungen“.⁴ Ihre Präambeln seien entsprechend nicht nur als „Grundlegung“, sondern auch als „Bekenntnis“ zu deuten, in dem die „tieferen Schichten“ vorpositiver Basis- und Glaubenswahrheiten eines politischen Gemeinwesens zur Geltung gebracht werden.⁵

1 Vgl. Gerber 1998; Laband 1901 und vor allem Kelsen 1992 sowie zur kritischen Auseinandersetzung mit deren formalistisch-positivistischer Rechtslehre Heller 1970; Smend 1928; Schmitt 1989; Kaufmann 1921. 2 Smend 1987, Sp. 1357. 3 Vgl. etwa Smend 1928, S. 260ff. 4 Häberle 2006, S. 636f. 5 Häberle 1982, S. 231f. Um Verfassungen als Institutionen im Grenzbereich zwischen den Sphären von Recht und Kultur zu fassen, wurde in der neueren politikwissenschaftlichen Diskussion die Unterscheidung zwischen instrumenteller und symbolischer Dimension eingeführt. Während Verfassungen einerseits als Instrument den politischen Prozess

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Die Präambel des Grundgesetzes zwischen Sachlichkeit und Numinosität 

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Insbesondere in politischen Gründungssituationen scheinen derartige Andeutungen eines Zusammenhangs von Recht und Religion nahezuliegen. Wie ist also das Verhältnis zwischen Verfassung und Transzendenz im Hinblick auf eine erfolgreiche Konstituierung, Legitimierung und Stabilisierung politischer Ordnungen? Welche Rolle spielt hierbei die Präambel? Diesen Fragen soll im Folgenden, nach einigen kurzen theoretischen Vorbemerkungen (1), beispielhaft und empirisch nachgegangen werden (2). Im Mittelpunkt stehen dabei die Verhandlungen des Parlamentarischen Rats 1948/49 zur Ausgestaltung einer möglichen Präambel für das neu zu schaffende Grundgesetz im Ausschuss für Grundsatzfragen.⁶ In systematischer Hinsicht werden die Ergebnisse schließlich zusammengefasst (3).

1 Verfassung und Transzendenz 1.1 Die Verfassung zwischen Recht und Religion Auch im Assoziationsfeld von Recht und Religion können Verfassungen wichtige Aufgaben zugeschrieben werden – und zwar sowohl im Hinblick auf ein substanzielles, als auch in Bezug auf ein eher funktionales Religionsverständnis. Im Rahmen der erstgenannten Variante werden gelegentlich Metaphern gebraucht, die die Konstitution etwa als „politische Bibel des Staates“⁷ bezeichnen oder in Analogie zur „Heiligen Schrift“⁸ setzen. Jenseits dieser rein illustratorischen Ebene haben zahlreiche Ansätze bestimmte inhaltliche Momente moderner Verfassungsordnungen und -dokumente mit dezidiert religiösen Prägefaktoren der sie umgebenden politischen, historischen und kulturellen Kontexte assoziiert. In diesem Sinne werden gelegentlich sowohl den Inhalten und grundlegenden Prinzipien moderner westlicher Verfassungen als auch der Form des Konstitutionalismus an sich religiöse, monotheistische oder gar dezidiert christliche Wurzeln

regulieren, artikulieren sie in ihrer symbolischen Dimension die Ordnungs- und Sinngehalte der jeweiligen politischen Kultur. Vgl. Gebhardt 1995; Vorländer 2002a; Vorländer 2006; Brodocz 2003. 6 Vgl. zur Arbeit des Parlamentarischen Rates: Benz 1999; Feldkamp 2008; Niclauß 1998. Die Rekonstruktion der Entstehung der Präambel gewährt grundlegende Einblicke in das Selbstverständnis und die Ordnungsvorstellungen der Gründungsväter und -mütter; so auch Werner 1993, S. XXIX. 7 Paine 1973, S. 224. 8 Ottmann 1990, S. 174.

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Jenseits der Geltung Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart

Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 804 herausgegeben von Stephan Dreischer, Christoph Lundgreen, Sylka Scholz und Daniel Schulz

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Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an der TU Dresden.

ISBN 978-3-11-030300-1 e-ISBN 978-3-11-030309-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Inhaltsverzeichnis Stephan Dreischer, Christoph Lundgreen, Sylka Scholz, Daniel Schulz Transzendenz und Konkurrenz: eine Einführung   1 Geltendes bestreiten – Transzendenz herausfordern Christoph Lundgreen Beim Staate hört die Freundschaft auf! Ciceros amicitia als konkurrierende Transzendenzbehauptung  Antje Junghanß, Katharina Walther Du sollst nicht töten? Zum Tötungsrecht in der römischen Antike 

 29

 47

Nathanael Lüke, Daniel Pauling Teufels Braten Opferfleisch in der paganen und frühchristlichen Antike 

 67

Alexander Kästner, Annette Scherer „die heiliege dreyfaltigkeit, salva reverentia, angeschießenn“ Wahrnehmung und Deutung gotteslästerlicher Worte in Leipzig im 17. Jahrhundert   85 Jessica Buskirk, Bertram Kaschek Kanon und Kritik Konkurrierende Körperbilder in Italien und den Niederlanden 

 103

Katja Schröck Die polychrome Ausgestaltung des Prager Veitsdoms im 19. Jahrhundert Religiöse Praxis und Kunstreligion im Konflikt   127 Angelo Maiolino Politische Kultur und Hegemonie 

 143

Stephan Dreischer, Sebastian Heer, Katharina Kern Politische Ordnungsdiskurse im Vergleich: Gesamtdeutschland, Ostdeutschland und die Europäische Union   158

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VIII 

 Inhaltsverzeichnis

Geltendes balancieren – Transzendenz amalgamieren Nele Schneidereit Der Streit um Gleichheit Konkurrierende Werte in der normativen Sozialphilosophie der Gegenwart   179 Katja Lasch, Denise Theßeling Freundschaft, triuwe und êre – Leitsemantiken und konkurrierende Verpflichtungen im Engelhard und im Prosalancelot   197 Kai Hering, Tobias Tanneberger Unglaubliche Geschichten? Zur Plausibilisierung von Transzendenzbehauptungen 

 212

Stefan Dornheim, Swen Steinberg Die lange Schicht von Ehrenfriedersdorf Konkurrierende Transzendenzbezüge in der Lebens- und Arbeitswelt des erzgebirgischen Bergbaus zwischen Reformation und Romantik   233 Rut-Maria Gollan, Kai Krauskopf Gottes Abschied? Die Frankfurter Paulskirche und die Dresdner Frauenkirche 

 249

Katharina Neumeister, Peggy Renger-Berka Das Atom im Reagenzglas Die Kerntechnik als Legitimationsressource im öffentlichen BiotechnikDiskurs   272 Dietrich Herrmann Vor und über der Verfassung Außerkonstitutionelle Begründungsmuster in höchstrichterlichen Entscheidungen   288 Geltendes transformieren – Transzendenz (neu) begründen Irene Schulmeister, Johanna Rautenberg Tora oder Wort Gottes? Legitimierung von Gemeinschaftsmodellen im nachexilischen Israel (Deuteronomium 23, 2–9, Nehemia 13,1–3, Jesaja 56,1–8)   313

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Inhaltsverzeichnis 

 IX

Gernot Kamecke Die Ordnung der Literatur und das Paradigma der Metaphysik Eine Betrachtung der Säkularisierungsthese aus der Perspektive der spanischen Aufklärung   330 Marzia Ponso Die Sakralisierung der Nation in der Ikonographie des Risorgimento   345 Maik Herold, Jan Röder Die Präambel des Grundgesetzes zwischen Sachlichkeit und Numinosität   370 Katrin Pittius, Sylka Scholz Von Natur aus ungleich? Der Diskurs um das Gleichberechtigungsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland   388 Uwe Fraunholz, Detlev Fritsche, Anke Woschech Grenzen der Technikgläubigkeit? Konkurrierende Deutungen von Atomkraft im Übergang von der Technokratischen Hochmoderne zur Reflexiven Moderne   406 Paul Kaiser Gemeinsinn-Suggestion und Status-Überschreitung Akteurskonzepte und Strukturwandel im Kunstsystem der Gegenwart   426 Über die Autorinnen und Autoren 

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