Die medizinischen Begutachtungen in der IV im Wandel der Rechtsprechung und Politik

[1] Die medizinischen Begutachtungen in der IV im Wandel der Rechtsprechung und Politik Ralf Kocher Altbekanntes, und doch gut zu wissen Seit jeher g...
Author: Angela Meyer
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Die medizinischen Begutachtungen in der IV im Wandel der Rechtsprechung und Politik Ralf Kocher Altbekanntes, und doch gut zu wissen Seit jeher geht es bei der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung (IV) um nicht mehr und nicht weniger, als dass der medizinische Experte der IV, dem Rechtsanwender sein Fachwissen zur Verfügung stellt. Die Gutachter arbeiten also an einer wichtigen Schnittstelle zwischen Medizin und Recht. Somit werden sie nahezu immer in unklaren, und damit auch umstrittenen Fällen beizogen. Dabei ist in der Regel stets unklar, welche gesundheitliche Beeinträchtigungen welche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der versicherten Person haben. Strittig ist dann oftmals, ob die versicherte Person Leistungen der IV zu Gute hat. Damit diese Fragen geklärt werden können, soll das medizinische Gutachten die entsprechenden Grundlagen liefern. Das Resultat der Arbeit der Gutachter sollte sich auf die Feststellung und Wiedergabe der medizinischen Erkenntnisse begrenzen. Die aufgezeigten medizinischen Grundlagen sollten für Dritte nachvollziehbar und belegt sein und es sollten nicht objektivierbare Beschwerden als solche benannt sein. Die Anforderungen der Gerichte an ein verwertbares Gutachten sind seit Jahren bestens bekannt. Vom Gutachter wird das Folgende erwartet: •

die persönliche, gesundheitliche und berufliche Anamnese;



die Wiedergabe der geklagten Beschwerden;



die Beschreibung der objektiven Befunde;



Feststellungen darüber, welche Funktionen wie eingeschränkt sind;



die Diagnose oder die Diskussion der Differentialdiagnose (BGE 125 V 352 E. 3a).



konkreten Aussagen über die verbliebene, aus medizinischer Sicht zumutbare Betätigungsmöglichkeit bzw. Verrichtung in der bisherigen oder einer anderen Tätigkeit und

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Hinweisen darauf, welche Eingliederungsmassnahmen aussichtsreich sind.

Hinsichtlich des Beweiswertes eines medizinischen Gutachtens ist entscheidend, ob es •

die gestellten Fragen umfassend beantwortet;



auf allseitigen Untersuchungen beruht;



die geklagten Beschwerden berücksichtigt;



in Kenntnis der und gegebenenfalls in Auseinandersetzung mit den Vorakten abgegeben wurde;



in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet;



Schlussfolgerungen enthält, die so begründet sind, dass sie nachvollzogen werden können.

Aus diesen altbekannten Anforderungen an ein Gutachten haben die Gutachter eigentlich nur folgende Fragen zu beantworten: Bei den noch vorhandenen körperlichen, geistigen und psychischen Fähigkeiten sind •

welche Tätigkeiten und Leistungen noch möglich?



in welchem Umfang?



unter Beachtung welcher Rahmenbedingungen der versicherten Person?

Von den Gutachtern wird auch seit jeher ein fundiertes medizinisches Allgemein- und Fachwissen, klinische Erfahrung, versicherungsmedizinische Kenntnisse und eine fachliche Fortbildung erwartet. Es ist auch eine Binsenwahrheit, dass den Gutachtern eigentlich nur Sach-, jedoch keine Rechtsfragen zu stellen sind. Es ist die Aufgabe der rechtsanwendenden Behörde, die vom Gutachter dargelegten Fakten rechtlich zu würdigen. Es ist somit an den IV-Stellen zu prüfen, ob diese Fakten den Anforderungen an Gesetz und Rechtsprechung genügen. Dabei geht es um Rechtsbegriffe wie Kausalität, Zumutbarkeit, Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit

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und schlussendlich Invalidität. Damit kommt der ärztlichen Begutachtung die Sicherstellung des gesetzeskonformen Vollzugs der Sozialversicherung zu, womit die Gutachterstelle auch eine Schlüsselfunktion in der Abklärung und Beurteilung der Ansprüche der versicherten Personen auf Leistungen der Sozialversicherungen, der IV haben. Die bisherigen Ausführungen lassen den Schluss zu, dass sich im medizinischen Begutachtungswesen seit Jahren nichts verändert hat. Die „Basics“ sind immer noch die gleichen, und trotzdem ist das Gutachterwesen seit einiger Zeit ein stetes Thema in den Medien, der Politik und bei den Gerichten. Aufgrund der sich häufenden juristischen Gutachten zur medizinischen Begutachtung, den zahlreichen Berichten in den Medien, den immer häufig erscheinenden Fachartikeln und nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Urteile der kantonalen Versicherungsgerichten und des Bundesgerichts wird man den Eindruck nicht los, dass sich offenbar doch sehr vieles im Bereich der medizinischen Gutachten verändert hat. Medikalisierung Hätte man vor 20 Jahren jemanden gefragt, was eine somatoforme Schmerzstörung oder ein PäusBonog-Beschwerdebild1 sei, so wäre die Antwort mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Achselzucken gewesen. Heute sind diese Beschwerdebilder bestens bekannt. Diese Entwicklung lässt sich am ehesten mit dem Begriff „Medikalisierung“ erklären. Während man vor einiger Zeit noch die Haltung vertrat, nicht gleich bei jedem Unwohlsein zum Arzt zu rennen, hat die medizinische, aber auch gesellschaftliche Entwicklung dazu geführt, dass heute viele Lebensumstände in einem medizinischen Kontext gesehen, und auch behandelt werden. Diese Entwicklung wird einerseits durch unser sehr gut ausgebautes Gesundheitswesen mit seinen finanziellen Anreizen gefördert, oder anders gesagt: Ärzte und Ärztinnen verdienen nur an kranken Patienten. Andererseits hat sich unsere Gesellschaft zu einer steten Leistungsgesellschaft entwickelt, in welcher immer mehr Menschen den täglichen Anforderungen nicht mehr gerecht werden und oftmals einen Ausweg über eine „Medikalisierung“ suchen, oder mit den Worten von Immanuel Kant: "Die Ärzte glauben, ihrem

1 Pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage (somatoforme Schmerzstörungen, Fibromyalgie, Chronic-Fatigue-Syndrom/Neurasthenie, dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen, dissoziative Bewegungsstörungen, HWS-Problematik und Hypersomie sowie Tinnitus-Leiden) 3/3

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Patienten sehr viel genützt zu haben, wenn sie seiner Krankheit einen Namen geben". Weitere Probleme entstehen auch dadurch, dass in unseren Sozialversicherungen der Begriff „Krankheit“ nicht überall die gleiche Bedeutung bzw. die gleichen Auswirkungen auf die Leistungspflicht der Versicherung hat. So kann es eben vorkommen, dass die Kosten der medizinische Behandlung eines Gesundheitsschadens von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ohne wenn und aber übernommen werden, während der gleiche Gesundheitsschaden bzw. seine Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in der Invalidenversicherung keinen Anspruch auf Leistungen ergibt. Diese unterschiedlichen Auswirkungen und Folgen eines Gesundheitsschadens haben denn auch in letzter Zeit zu einer verstärkten Diskussion des massgebenden Krankheitsmodells geführt. Zur Diskussion steht einerseits das biopsychosoziale Krankheitsmodell, welches in der klinischen, der behandelnden Medizin zur Anwendung gelangt. Dem steht das biopsychische Krankheitsmodell entgegen, dem die IV bei der Prüfung der Invalidität folgt. Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust! oder biopsychosoziales versus biopsychische Krankheitsmodell Im Hinblick auf die zu erfüllenden Anforderungen an ein medizinisches Gutachten kann man sich gut vorstellen, dass schon so mancher Gutachter an Faust gedacht und zu sich gesagt hat: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust! Dies deshalb, weil das Erstellen eines Gutachtens einen Wechsel in der Perspektive des Arztes erfordert. Für den Arzt stehen nicht mehr die therapeutisch orientierten Bemühungen um die Gesundung des Patienten im Vordergrund. Es geht vielmehr darum, die gestellten Fragen neutral und wissenschaftlich objektiviert zu beantworten. Ein wichtiger Aspekt in der Begutachtung ist nach wie vor die Tatsache, dass sich der juristische Krankheitsbegriff nicht mit dem medizinischen deckt. Während der medizinische Krankheitsbegriff gekennzeichnet ist von der Behandlung des Leidens des Patienten, orientiert sich der juristische Krankheitsbegriff am Bedarf auf Leistungen der Sozialversicherung ( BGE 127 V 299, Erw. 5a). Bezugspunkt des medizinischen Krankheitsbegriffs ist ein biopsychischsoziales Krankheitsmodell, während sich das Recht, das Gesetz an einem biopsychi4/4

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schen Modell orientiert, das soziale Faktoren mehr oder weniger ausklammert. Dieser Unterschied der beiden Modelle wird bei der rechtlichen Beurteilung der Folgen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch grösser. Was aus medizinischer Sicht ein behandlungsbedürftiger Gesundheitsschaden darstellt, dessen Behandlungen nota bene von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen werden, muss aus rechtlicher Sicht allfällig zusätzlichen Anforderungen genügen, damit eine Leistung der IV zugesprochen werden kann. Herr Dr. Jörg Jeger hat sich einmal über diesen beruflichen Spagat der Gutachter wie folgt geäussert: „Der Gutachter muss dann sozusagen eine Brille aufsetzen, die er im klinischen Kontext längst nicht mehr benützt, er wird zum Anachronismus und zur Unwissenschaftlichkeit genötigt, da diese Sichtweise längst nicht mehr dem Stand der Wissenschaft, dem "besten Wissen und Gewissen", entspricht“2. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wissenschaft könnte man sich aber möglicherweise auch einmal kritisch die Frage stellen, ob die Sozialversicherungen aus gesellschaftspolitischen, aber auch finanzpolitischen Überlegungen jede Entwicklung in der Medizin vorbehaltlos übernehmen sollen. Die Anwendung des biopsychischsozialen Krankheitsmodells und dessen Auswirkungen sind nicht nur positiv und geben durchaus auch Anlass zu Diskussionen über die weitere Entwicklung unseres Gesundheitssystems. Dass mit einem Auftrag an einen Gutachter die Erwartung an ein neutrales, unabhängiges Gutachten verbunden ist, erscheint als selbstverständlich. Für den Gutachter bedeutet dies, dass er allfällig vorhandener Interessen sowohl der zu begutachtenden Personen wie auch der auftraggebenden Versicherungen auszublenden hat. In der Realität bedeutet dies, dass der Gutachter vom Explorand zu hören bekommt, dass er auf Grund der Krankheit seine Stelle verloren hat, gesellschaftlich isoliert ist, sich Spannungen in der Familie ergeben haben und er vor dem finanziellen Ruin steht. Der Explorand ist der Einzige, der Einblick in seine subjektiv empfundene Situation geben kann. Es ist deshalb normal und auch akzeptiert, dass die Person, die sich in einem Rentenverfahren der IV befindet, ihre schwierige, unter Umständen existenzbedrohende Situation entsprechend dar-

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Dr. med. Jörg Jeger; Invalidität – einige Überlegungen aus der Medizin (Sozialversicherungsrechtstagung 2012, Schriftenreihe des Instituts für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, Band 84) 5/5

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stellt. Diese Person muss ja beweisen, dass sie krank ist, sonst werden ihr keine Versicherungsleistungen zuerkannt. Damit muss sie auch ihre Defizite betonen, nicht ihr Ressourcen, sonst widerlegt sie den Anspruch auf Rentenleistungen gleich selber. Dementsprechend sollte sich der Gutachter der Interessen der versicherten Person bewusst sein. Dieses Spannungsfeld ist seit langem bekannt und es ist nicht so, dass sich die IV, die Gerichte dieser Entwicklung völlig verschlossen haben. So hat das Bundesgericht in einem Urteil3 folgendes ausgeführt: Psychosoziale und soziokulturelle Faktoren lassen sich oft nicht klar vom medizinisch objektivierbaren Leiden trennen. Trotzdem können solche äusseren Umstände nicht als gesundheitliche Beeinträchtigungen im Sinne des Gesetzes verstanden werden, weil der gesetzliche Invaliditätsbegriff selber klar zwischen der versicherten Person als Trägerin des (invalidisierenden) Gesundheitsschadens und der durch ihn verursachten Erwerbsunfähigkeit unterscheidet. Infolgedessen können psychische Störungen, welche durch soziale Umstände verursacht werden und bei Wegfall der Belastung wieder verschwinden, nicht zur Invalidenrente berechtigen. Zwar kann einer fachgerecht diagnostizierten psychischen Krankheit der invalidisierende Charakter nicht mit dem blossen Hinweis auf eine bestehende psychosoziale Belastungssituation abgesprochen werden. Je stärker aber psychosoziale und soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen, desto ausgeprägter muss eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert vorhanden sein (BGE 127 V 294 E. 5a S. 299). Nur wenn und soweit psychosoziale und soziokulturelle Faktoren einen derart verselbständigten Gesundheitsschaden aufrechterhalten oder seine - unabhängig von den invaliditätsfremden Elementen bestehenden - Folgen verschlimmern, können sie sich mittelbar invaliditätsbegründend auswirken (SVR 2010 IV Nr. 19 S. 59 E. 5.2). In diesem Sinn werden Wechselwirkungen zwischen sich körperlich und psychisch manifestierenden Störungen und der sozialen Umwelt berücksichtigt, wenn auch bedeutend weniger stark als nach dem in der Medizin verbreiteten biopsychosozialen Krankheitsmodell (SVR 2008 IV Nr. 62 S. 204 E. 4.2). Für die IV bedeutet dies konkret, dass im Hinblick auf eine erfolgreiche Eingliederung durchaus auch soziale, kulturelle oder familiäre Faktoren eine Rolle spielen und beachtet werden. 3

SVR 2008 IV Nr. 62 S. 204 E. 4.2 6/6

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Wenn es aber um den gesetzlichen Invaliditätsbegriff geht, muss doch mit aller Klarheit festgehalten werden, dass der Gesetzgeber nach wie vor am biopsychischen Modell für die Beurteilung der Leistungspflicht in der IV festhält. Damit wäre ein weiteres Mal aufgezeigt, dass sich für die medizinische Begutachtung in der IV keine wesentlichen Veränderungen ergeben haben. Als Beleg und illustratives Beispiel sei die Lektüre eines Urteils des Bundesgerichts aus dem Jahre 1961, dem „Säuglingsalter“ der IV empfohlen (Urteil des EVG vom 6.5.1961, ZAK 1961, S. 415ff.). Neue bzw. neu definierte Gesundheitsschäden und ihre Auswirkungen auf die Gesetzgebung Die Probleme und Diskussionen im Bereich der medizinischen Abklärungen, insbesondere bei den polydisziplinären Gutachten (3 und mehr Fachrichtungen), dürfen nicht ohne die Entwicklung der Beurteilung von nicht objektivierbaren Gesundheitsschäden durch die IV bzw. die Gerichte betrachtet werden. Im Jahre 2003 erreichte die Zunahme an IV-Neurenten mit 28 200 gewichteten Renten4 einen Höchststand. Diese Entwicklung war nicht zuletzt auf die starke Zunahme von Renten infolge neu auftretender Beschwerdebilder, den nicht objektivierbaren Gesundheitsschäden, zurückzuführen. Aufgrund dieser erschreckend raschen Zunahme von Renten und den entsprechenden finanziellen Auswirkungen reagierte die Politik mit einem Ausbau und einer Verbesserung der versicherungsmedizinischen Abklärungen in der IV (Einführung der regionalen ärztlichen Dienste, RAD) im Rahmen der 4. IVG-Revision. Parallel dazu etablierte das Bundesgericht mit dem am 12. März 2004 ergangenen Urteil seine Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen5. Diese kommt seither bei allen sogenannten PäusBonogBeschwerdebildern zur Anwendung. Aufgrund der besorgniserregenden finanziellen Entwicklung der IV verankerte der Gesetzgeber im Rahmen der 5. IVG-Revision die vom Bundesgericht entwickelte Rechtsprechung und damit auch das Zumutbarkeitsprinzip - ausdrücklich im Invaliditätsbegriff des Bundesge-

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Bei der Gewichtung der Renten werden ganze Renten einmal gezählt, Dreiviertelsrenten 0,75-mal, halbe Renten 0,5-mal, Viertelsrenten 0,25-mal. 5 BGE 130 V 352 7/7

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setz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG). Art. 7 Abs. 2 ATSG hält seit dem 1. Januar 2008 explizit fest, dass nur dann von einer Erwerbsunfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Probleme gesprochen werden kann, wenn sie “aus objektiver Sicht nicht überwindbar“ ist. Weil davon auszugehen ist, dass eine Person, welche eine IV-Rente beansprucht, aus subjektiver Sicht die Folgen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung kaum je als überwindbar betrachten wird, wurde die objektive Betrachtungsweise im Gesetz festgeschrieben. Hierzu wird in der Botschaft ausdrücklich festgehalten, dass das subjektive Empfinden der versicherten Person bei der Beurteilung der Zumutbarkeit, eine Arbeitsleistung zu erbringen und damit ein Erwerbseinkommen zu erzielen, nicht mehr massgebend ist. Entscheidend ist vielmehr, ob der betroffenen Person trotz der subjektiv erlebten gesundheitlichen Probleme (z.B. Schmerzen) aus objektiver Sicht zugemutet werden kann, einer Arbeit nachzugehen6. In Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG wurde zudem ausdrücklich der Ausschluss invaliditätsfremder Faktoren bei der Beurteilung über das Vorliegen einer Invalidität verankert7. Die explizite Verankerung des seit Entstehung der IV bekannten Zumutbarkeitsprinzips im Gesetz hatte zwar eine Verminderung der Zusprache von Neurenten zur Folge, jedoch keine Wirkung auf bestehende Renten. So wurde es allgemein als stossend empfunden, dass beispielsweise noch Renten an Personen mit somatoformen Schmerzstörungen ausbezahlt wurden, deren Zusprache vor der Einführung des Zumutbarkeitsprinzips erfolgt war. Das Bundesgericht beurteilte diesbezüglich sowohl die Änderung der Rechtsprechung wie auch die neue gesetzliche Grundlage im Rahmen der 5. IVG-Revision als nicht genügend, um entsprechende Renten revisionsweise aufzuheben8. Deshalb wurde im Rahmen der 6. IVGRevision (erstes Massnahmenpaket) eine spezielle Schlussbestimmung aufgenommen, welche es erlaubte, auch laufende Renten nach den neuen Prinzipien zu beurteilen und zu revidieren9. Aufgrund dieser zahlreichen Gesetzänderungen in den vergangenen Jahren ist der Eindruck entstanden, dass die IV ihren Invaliditätsbegriff wie auch die ursprünglichen Beurteilungskri6

BBl 2005, 4577 BBl 2005, 4577 8 BGE 135 V 201 sowie BGE 135 V 215 9 BBl 2010, 1911 7

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terien einer Invalidität im Einzelfall stetig verschärft habe. Wenn man nur gerade die Entwicklung in der Rentenzusprache der IV isoliert betrachtet, mag dieser Eindruck zwar entstehen, aber ein weiterer Blick in den bereits zitierten Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahre 1961 zeigt ebenfalls hier, dass es auch im Bereich der Beurteilung der Auswirkungen und Folgen eines Gesundheitsschadens im Hinblick auf eine Invalidität keine grundlegenden Veränderungen in der IV gegeben hat. Das Recht zur Beschwerde des Einzelnen und dessen Auswirkungen auf das System Mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts, den neuen Gesetzesbestimmungen zu den nicht objektivierbaren Gesundheitsschäden sowie dem verbesserten versicherungsmedizinischen Abklärungsverfahren verringerte sich die Anzahl der Neurenten. Auch der Rentenbestand, der zwischen 2003 und 2006 noch von 220 400 auf 257 500 zugenommen hat, ist seit 2007 stetig gesunken. Derzeit werden noch rund 234 600 gewichtete Renten ausgewiesen. Gleichzeitig schnellte die Anzahl Beschwerden gegen rentenablehnenden Entscheide in die Höhe. So haben sich zwischen 2004 und 2009 die Beschwerden vor den kantonalen Gerichten im Zusammenhang mit Renten mehr als verdoppelt, betreffend Verfahrensfragen nahezu verdreifacht. Im gleichen Zeitraum haben die Beschwerden ans Bundesgericht im Zusammenhang mit Renten um fast die Hälfte zugenommen, betreffend Verfahrensfragen haben sie sich mehr als verdreifacht (vgl. Grafiken im Anhang). Auf Grund der oben umschriebenen Entwicklungen erstaunt es daher wenig, dass gerade die rund 4000 pro Jahr von der IV in Auftrag gegebenen polydisziplinären Gutachten eines der Hauptthemen in Beschwerden gegen Rentenentscheide der IV-Stellen darstellen. In Anbetracht der Tatsache, dass nur in sehr wenigen Fällen bei nicht objektivierbaren Gesundheitsschäden ein rentenbegründender Invaliditätsgrad festgestellt wird, ist es nicht verwunderlich, dass von Seiten der anwaltlich vertretenen Versicherten oftmals nur noch Einwände formeller Art gegen die Begutachtungen ins Feld geführt worden sind. Trotz der verringerten Neurentenzusprache, des sinkenden Rentenbestands wie auch der grossen Anzahl Beschwerdefälle sind sowohl vor den kantonalen Gerichten als auch vor dem Bundesgericht in den letzten neun Jahren die Zahlen zum Verfahrensausgang konstant 9/9

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geblieben. Sowohl vor erster als auch zweiter Instanz obsiegten die Versicherten in rund acht Prozent der Fälle. Die IV-Stellen vermögen zu rund 55 Prozent die kantonalen Gerichte, zu 70 Prozent das Bundesgericht zu überzeugen. Rückweisungen zur weiteren Abklärung erfolgten in 28 Prozent der Fälle vor kantonalen Gerichten (Tendenz abnehmend), vor Bundesgericht in 12 Prozent (die restlichen Fälle betrafen Nichteintreten oder Rückzug der Beschwerde). Diese Zahlen zeigen, dass die Abklärungen und Entscheide der IV-Stellen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und vor Gericht standhalten (vgl. Grafik im Anhang). An dieser Stelle sei vielleicht auch einmal erwähnt, dass nicht wenige Beschwerden im Zusammenhang mit Begutachtungen in den letzten Jahren wohl schon fast wider besseren Wissens geführt worden sind. So lassen sich zahlreiche Bundesgerichtsurteile finden, in denen beispielsweise schon gar nicht auf die Beschwerde eingetreten wurde, weil sie „offensichtlich unbegründet“ war. Die Einzigen, die von solchen Urteilen profitieren, sind die Anwälte. Alle anderen Beteiligten hatten grosse Aufwände, hohe Kosten und viel Zeit verloren. So gesehen haben unsere rechtsstaatlichen Prinzipien auch ihren Preis. Mit diesen Beschwerden bekamen die Gutachter aber auch immer wieder zu hören, dass sie sich mit der Annahme eines, oder gar mehrerer Gutachtensaufträge unweigerlich in die finanzielle Abhängigkeit der IV begeben, und damit de facto nicht mehr in der Lage sind, neutrale, unabhängige Gutachten zu erstellen Dies auf Grund der Tatsache, dass die IV von der Politik einen Sparauftrag erhalten hat, weshalb im Hinblick auf eine rasche Sanierung der IV möglichst jede Rente zu verhindern sei, womit die IV logischerweise für das bezahlte Honorar ein Gutachten im Sinne der Versicherung und ihrem Sparauftrag erwartet. Diese Unterstellung kam nicht zuletzt von den gleichen Anwälten, die in nahezu jedem von ihnen begleiteten Leistungsbegehren einer versicherten Person ein polydisziplinäres Gutachten gefordert haben, mit welchem vielleicht doch noch bewiesen werden kann, dass ein rentenbegründender Invaliditätsgrad vorliegt! Unabhängige, umfassende und fachlich ausgewiesene medizinische Gutachten stellen eine unerlässliche Basis für die Beurteilung des Anspruches auf Rentenleistungen der IV dar.

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Wohl nicht zuletzt deshalb reagierte das Bundesgericht auf die zunehmende Kritik in diesem Bereich. Anhand eines Beschwerdefalles beleuchtete es die Funktion der Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) und prüfte insbesondere, ob die von der Bundesverfassung (Art. 29 Abs. 1 und 2, Art. 30 Abs. 1 BV) sowie der Europäischen Konvention für Menschenrechte (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) gestellten Anforderungen an ein faires Verfahren eingehalten sind. In seinem Entscheid vom 28. Juni 201110 kam es zum Schluss, dass der Einsatz einer MEDAS grundsätzlich verfassungs- und EMRK-konform sei. Wegen systemischer Gegebenheiten (u.a. Art von Auftragsvergabe und -abgeltung) sowie schlechter gewordener Rahmenbedingungen brauche es zur Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit jedoch rechtliche Korrektive. So änderte das Bundesgericht in drei Punkten seine langjährige Praxis, welche von der IV bis anhin stets respektierte wurde und forderte das BSV auf, binnen angemessener Zeit folgende Korrektive vorzunehmen: •

Vergabe der MEDAS-Begutachtungsaufträge über eine IT-Plattform nach dem Zufallsprinzip



Mindestdifferenzierung des Gutachtenstarifs



Verbesserung und Vereinheitlichung der Qualitätsanforderungen und –kontrollen



Stärkung der Partizipationsrechte der versicherten Personen o

Bei Uneinigkeit ist die Expertise durch eine anfechtbare Zwischenverfügung anzuordnen

o

Der versicherten Person stehen vorgängige Mitwirkungsrechte zu

Nach der Justiz folgt die Politik Parallel zu der regen Beschwerdetätigkeit wurden die Begutachtungen in der IV in den Medien immer mehr und mehr anhand von Einzelfällen als unfair und nicht mehr objektiv dargestellt. Medial gut begleitet wurde im Februar 2010 ein vom emeritierten Professor Jörg Paul Müller und dem Rechtsanwalt Johannes Reich erstelltes Parteigutachten zur Vereinbarkeit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur medizinischen Begutachtung durch medizinische Abklärungsstellen betreffend Ansprüche auf Leistungen der Invalidenversicherung mit 10

BGE 137 V 210 ff. 11/11

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Artikel 6 EMRK publiziert. Das Gutachten kam zum Schluss, dass „die gegenwärtige Ausgestaltung des Verfahrens zur Beurteilung von Leistungsansprüchen gegenüber der Invalidenversicherung im Hinblick auf das grosse Gewicht der von den MEDAS erstellten [medizinischen] Gutachten dem Anspruch auf ein faires Verfahren nicht genügt“. Frau Nationalrätin Margret Kiener Nellen nahm das Gutachten zum Anlass, am 19. März 2010 eine Parlamentarische Initiative 10.429 zum Thema „Faire Begutachtung und rechtsstaatliche Verfahren“ einzureichen und verlangte, dass die betreffenden Gesetze, welche die Abklärung des Gesundheitszustandes im Zusammenhang mit den Sozialversicherungen festlegen, dahingehend zu ändern sind, dass unabhängige Gutachterinnen und Gutachter den Gesundheitszustand der gesundheitlich beeinträchtigten Personen feststellen und dabei die Garantien eines rechtsstaatlichen Verfahrens gemäss Artikel 6 EMRK eingehalten werden. Nach Anhörung der Verwaltung kam die Mehrheit der Kommission zum Schluss, dass der Bundesrat und die Verwaltung auf dem richtigen Weg seien, um die Probleme zu lösen. Herr Nationalrat Reto Wehrli hielt schlussendlich im Nationalrat fest, dass die von der Verwaltung bereits getroffenen oder geplanten Massnahmen ausreichend seien und „jede weitere Gesetzgebung objektiv unnötig mache“. Der Nationalrat beschloss daher am 28. September 2011 mit 46 zu 91 Stimmen der Initiative keine Folge zu geben. Es kommt Bewegung ins System Der Bundesrat und das BSV erfüllten in der Folge per 1. März 2012 sämtliche Forderungen des Bundesgerichts. So setzte der Bundesrat den neuen Art. 72bis IVV in Kraft, der sicherstellt, dass polydisziplinäre Gutachten für die IV nur noch von Gutachterstellen erarbeitet werden dürfen, welche die Qualitätsanforderungen erfüllen, die in einer Vereinbarung mit dem BSV festgehalten sind. Zudem wurde bundesrechtlich verankert, dass die Zuweisung von Aufträgen für polydisziplinäre Gutachten nur noch nach dem Zufallsprinzip erfolgen darf. Um die neuen Vorgaben zu gewährleisten, erarbeitete das BSV einen Kriterienkatalog, den die Gutachterstellen seit dem 1. März 2012 zu befolgen haben. Darin sind einerseits formelle und fachliche Vorgaben (u.a. Facharzttitel, Konsensbesprechungen) festgehalten, anderseits 12/12

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werden den Instituten aber auch Transparenz- und Unabhängigkeitsvorschriften (u.a. Rechtsform, Trägerschaft, Auftraggeber) gemacht. Im Weiteren erliess das BSV einen neuen, nach Aufwand und Anzahl Fachdisziplinen differenzierten Tarif, mit der separaten Abgeltung von Zusatzleistungen wie Laboranalysen oder Röntgenbilder.11.. Eine Tarifanpassung, welche der IV übrigens jährliche Mehrkosten im zweistelligen Millionenbereich verursacht. Entsprechend dem oben genannten Bundesgerichtsurteil wird den Versicherten nun auch vor der Begutachtung der von der IV-Stelle vorgesehene Fragekatalog zugestellt und es wird ihnen das Recht eingeräumt, selber Fragen an die Gutachter zu stellen. Die entsprechenden Verfahrensvorschriften wurden in den Weisungen12 an die IV-Stellen konkretisiert. Im Sinne einer möglichst grossen Transparenz veröffentlicht das BSV die aktuelle Liste der zugelassenen

Gutachterstellen

im

Internet.

Diese

Liste

ist

für

jedermann

unter

http://www.bsv.admin.ch/themen/iv/00027/index.html?lang=de einsehbar. An gleicher Stelle findet man zudem die Mustervereinbarung wie auch Erläuterungen zur Auftragsvergabe und dem Zufallsprinzip von SuisseMED@P . Kaum waren alle diese Änderungen mit grossem Aufwand für alle Beteiligten umgesetzt, machte bereits das nächste juristische Parteigutachten Schlagzeilen. Im Auftrag der Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz haben Jörg Paul Müller und Matthias Kradolfer Ende November 2012 ein Rechtsgutachten erstellt13. In ihrer Untersuchung zur Rechtslage betreffend Zusprache von IV-Renten in Fällen von Päusbonog-Beschwerdebildern kamen die beiden Gutachter zu folgenden Kernaussagen:



Das Verfahren, das bei den beschriebenen Krankheitsbildern zwecks Abklärung des Invaliditätsgrads angewandt wird, ist diskriminierend und verletzt das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK, Art. 6 Abs. 1 und Art. 14).

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vgl. dazu Mustervereinbarung unter www.bsv.admin.ch/themen/iv/00027/index.html?lang=de (6.3.2013) Kreisschreiben über das Verfahren (KSVI), Randziffern 2074ff. 13 Rechtsgutachten zur Rechtslage betreffend Zusprache von IV-Renten in Fällen andauernder somatoformer Schmerzstörungen und ähnlicher Krankheiten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichts bis Herbst 2012 und der Bundesgesetzgebung im Rahmen der 5. und 6. IV-Revision, 20. 11.2012 von Prof. Dr. Jörg Paul Müller, Dr. iur. h.c., LL.M. (Harvard), RA, em. Ordinarius für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Bern und Dr. iur. Matthias Kradolfer 12

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Die vom Bundesgericht angenommene Überwindbarkeits-Vermutung ist im Sinn der Strassburger Rechtsprechung nicht sachlich begründet und verletzt daher das Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK.

Die entsprechenden rechtlichen Erwiderungen auf diese Vorwürfe finden sich bei den vorausgegangenen Ausführungen zu den Neuerungen im Rahmen der 5. IVG-Revision. In seinem Urteil vom 3. Juli 201314befasste sich das Bundesgericht noch einmal intensiv mit dem Verfahren für medizinische Begutachtungen. Einerseits kam das Bundesgericht zum Schluss, dass das neue Verfahren für die Vergabe von polydisziplinären Gutachten rechtmässig sei und damit ein faires und verfassungskonformes Verfahren gewährleistet wird. Andererseits verlangt das Bundesgericht aber noch, dass bei mono- und bidisziplinären Begutachtungen ein konsensorientierteres Verfahren als bisher zu schaffen sei. Die entsprechenden Umsetzungsarbeiten erfolgen per 1. Januar 2014, womit auch in diesem Bereich die Anforderungen des Bundesgerichts erfüllt sein werden. Interessant in diesem Urteil ist auch die Feststellung des Bundesgerichts, wonach es zwar keine festen Kriterien zur allgemeingültigen Abgrenzung der Anwendungsfelder der verschiedenen Kategorien von Expertisen gebe, weshalb die grosse Vielfalt von Begutachtungssituationen Flexibilität erfordere. Gleichzeitig legte das Bundesgericht aber fest, dass nur in begründeten Fällen von einer polydisziplinären Begutachtung abgesehen und eine mono- oder bidiszipilinäre durchgeführt werden könne. Damit schränkt das Bundesgericht die selbst proklamierte Flexibilität der Versicherungsträger gleich wieder massiv ein, und damit auch den in Artikel 43 ATSG vorgesehenen Ermessensspielraum der Versicherungsträger, die von Amtes wegen die notwendigen Abklärungen vorzunehmen haben. Inwiefern diese Aussage des Bundesgerichts eher dem Wunschgedanken nach einer zufallsorientierten Zuteilung der Gutachten als den tatsächlichen Gegebenheiten im Alltag der IV entspricht, sei einmal dahingestellt. Hat der Berg eine Maus geboren?

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9C_207/2012 14/14

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Vor über 3 Jahren äusserten sich Dr. Jörg Jeger und Prof. Erwin Murer im Tagungsband zu den Freiburger Sozialrechtstagen wie folgt: „Vorab ist zu bemerken, dass auch bei einer grösstmöglichen Unabhängigkeit und beste Qualität die medizinischen Begutachtungen grundlegende Probleme, die sich hier stellen, nicht werden lösen können. Denn die Forderungen nach mehr Unabhängigkeit und grösserer Qualität gehen teilweise von einer unzutreffenden Einschätzung der nicht oder kaum objektivierbaren gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die bei vielen Begutachtungen im Vordergrund stehen aus. Insbesondere in jenen Fällen, wo die konkret beklagten Beschwerden bereits in der Medizin kontrovers beurteilt werden, muss auch eine in jeder Beziehung bestmögliche Begutachtung die medizinische Grundfrage unbeantwortet lassen. Bei der gegenwärtigen Kritik geht es tatsächlich oft nur vordergründig um Unabhängigkeit und Qualität. In Wirklichkeit prallt die eine medizinische Lehrmeinung, welche den Leistungsanspruch stützt, auf die andere, welche ihn nicht stützt, womit der Rechtsstreit um Leistungen lanciert ist bzw. die sich benachteiligt fühlende Partei das Gutachten angreift, ja angreifen muss15. Dass dem heute so ist, zeigt die folgende, aktuelle Aussage eines Anwaltes an die Adresse mehrerer Parlamentarier: „Das BSV kontrolliert in der derzeitigen Praxis sämtliche Gutachterstellen über die Tarifverträge, bei denen es die einzige Kündigungshoheit hat. Damit ist ohne Belang, welche Gutachterstelle die versicherte Person ausgelost hat, immer wird über die gewinnstrebigen und ausschliesslich oder vorwiegend für die Versicherungen tätigen Gutachterstellen die Meinung des BSV und damit der IV vertreten. Die Spiesse sind also weiterhin ungleich verteilt und von einem rechtsstaatlichen oder EMRK-konformen Verfahren kann keine Rede sein, die aktuelle Praxis ist versicherungsfreundlicher und versichertenfeindlicher denn je, kommt einer Entleerung des Sinn und Zwecks der Sozialversicherungen gleich“. Diese Einschätzung eines Anwaltes wird umso verständlicher im Wissen, dass er Mitglied des Schleudertraumaverbandes und ein Verfechter des biopsychosozialen Krankheitsmodells ist. Daneben ist er auch noch der Auftraggeber des Gutachtens der Herren Mül15

Jörg Jeger / Erwin Murer; Medizinische Begutachtung: Vorschläge zur Lösung des Unabhängigkeitsproblems und zur Qualtiätssteigerung; Freiburger Sozialrechtstage 2010; Stämpfli Verlag AG Bern, 2010 15/15

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ler/Kradolfer, auf welches er sich in schöner Regelmässigkeit in seinen Beschwerdeschriften beruft. Dieses illustre Beispiel zeigt deutlich, dass die oben zitierte Einschätzung der Herren Jeger und Murer nach drei Jahren mit zahlreiche Änderungen und Verbesserungen bezüglich Verfahrensrechte, Unabhängigkeit und Qualität im Begutachtungswesen, nichts an ihrem Gehalt und Weitsicht eingebüsst hat. Mit solch kritischen Aussagen werden wir wohl auch in Zukunft leben müssen, sie sollen uns aber nicht davon abhalten, die Verbesserung der Qualität der Begutachtungen weiter voranzutreiben. Der Bundesrat sieht insbesondere noch Handlungsbedarf in der Erarbeitung und Implementierung von allgemein anerkannten Qualitätsleitlinien. Als gutes Beispiel seien die auf den 1. Juli 2012 unter dem Patronat der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) erlassenen Leitlinien über die Qualität von IV-Gutachten von Personen mit psychischen Störungen zu nennen. Um weitere, allgemein anerkannte und breit abgestützte Qualitätsleitlinien in anderen Fachbereichen erarbeiten zu können, ist die IV aber auf die aktive Unterstützung und Zusammenarbeit mit ärztlichen Fachgesellschaften, aber auch Universitäten wie beispielsweise der Academy of Swiss Insurance Medicine angewiesen. Die IV kann diese Arbeit nicht leisten, denn sie ist eine Versicherung, und damit auch Partei im Verfahren. Im Weiteren hat der Bundesrat auch den Wunsch geäussert, dass diese Organisationen die IV ganz allgemein in ihren Bemühungen um eine qualitative Verbesserung der Gutachten, aber auch in Fragen der Versicherungsmedizin (z.B. Aus- und Weiterbildung, Evaluationen, allgemein verbindliche Fragestellungen) unterstützen. Bei all diesen Diskussionen, Medienberichten, Beschwerdeverfahren, Verfahrensänderungen und auch Unstimmigkeiten über das richtige Krankheitsmodell sollte man nicht vergessen, dass Gutachten für die Klärung der Leistungsansprüche der Versicherten erstellt werden, und nicht als Spielbälle der Juristen, zumal es eigentlich „nur“ um die Beantwortung der folgenden Fragen: •

Welche Tätigkeiten und Leistungen sind bei den noch vorhandenen körperlichen, 16/16

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geistigen und psychischen Fähigkeiten der versicherten Person noch möglich? •

In welchem Umfang?



Unter Beachtung welcher Rahmenbedingungen der versicherten Person?

Ralf Kocher, Fürsprecher Leiter Rechtsdienst, Geschäftsfeld IV, BSV

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Anhang Entscheide der kantonalen Versicherungsgerichte in der IV

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Entscheide des Bundesgerichts in der IV

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Die Erfassung erfolgt in dem Monat, in welchem sie dem BSV zugestellt werden (BSV-Eingangsstempel). 18/18

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Rentenentscheide vor kantonalen Gerichten

Rentenentscheide vor Bundesgericht

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