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Die Kosten-Versicherungs-Spirale im schweizerischen Gesundheitswesen Von Peter Zweifel, Zürich*

1. Problemstellung Die Ökonomen haben schon seit längerer Zeit die Krankenversicherung mit der Kostenexpansion im Gesundheitswesen in Verbindung gebracht. Weil der Versicherte die Kosten medizinischer Leistungen nur abgeschwächt spürt, übersteigt seine gegenüber den Leistungsanbietern manifestierte Zahlungsbereitschaft seine wahre Zahlungsbereitschaft beträchtlich, vgl. Pauly (1968, 1971). Eine (einmalige) Ausweitung des Versicherungsschutzes, wie ihn die Revision des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes 1964 gebracht hat (Eidg. Expertenkommission, 1972, S. 40), läßt deshalb ohne weiteres einen Anstieg von Preisen und Kosten im Gesundheitswesen erwarten, allerdings gefolgt von einer Stabilisierung als Zeichen der Annäherung an ein neues Gleichgewicht. Nach der Erfahrung beinahe aller OECD-Länder {OECD, 1985, S. 24, 34-40) läßt jedoch eine solche Stabilisierung seit rund zwanzig Jahren auf sich warten. Vielmehr verfestigt sich der Eindruck, daß man es mit einem dynamischen inflationären Prozeß zu tun hat. Feldstein (1973) beschrieb diesen Prozeß erstmals für die USA als eine Kosten-Versicherungs-Spirale: Auf eine erste, exogene Zunahme der Kosten medizinischer Behandlung reagieren bisher nicht Versicherte mit dem Abschluß einer Krankenversicherung. Da damit die Versicherungsdichte gestiegen ist, erhalten die Anbieter im Gesundheitswesen in der folgenden Periode den Spielraum zu einer nunmehr endogenen Kostenexpansion, welche ihrerseits die weitere Ausbreitung der Krankenversicherung begünstigt. Dieses Konzept einer Kosten-Versicherungs-Spirale vermag jedoch im Falle der Schweiz kaum zu überzeugen, beträgt doch die Versicherungsdichte seit Ende der sechziger Jahre mehr als 95% {Bundesamt für Sozialversicherungen, 1983). Die Kosten-Versicherungs-Spirale muß deshalb von etwas anderem als der erhöhten Versicherungsdichte in Gang gehalten werden. Die institutionellen Gegebenheiten unterscheiden sich auch insofern, als in der Schweiz zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor eine deutlich stärkere Trennung

* Der Autor möchte dem Schweizerischen Nationalfonds für die unter Projekt Nr. 4349.079.08 empfangene finanzielle Unterstützung sowie Herrn Prof. H. Schmid für die Mitwirkung der Krankenkasse KKB bei der Erhebung der Daten danken, ebenso den Herren P. Ghermi und O. Waser (Zürich) für die Unterstützung bei verschiedenen Berechnungen. Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Heft 3/1986

556 besteht als in den USA, wo der Allgemeinpraktiker seinen Patienten auch heute noch ins Spital begleitet, um dort eine kleinere Operation vorzunehmen. Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, Modellvorstellungen zu entwickeln und soweit möglich empirisch zu überprüfen, welche diese besonderen institutionellen Gegebenheiten des schweizerischen Gesundheitswesens angemessen wiedergeben. Das Schwergewicht wird auf zwei Aspekte gelegt: Erstens ist es die Spitalzusatzversicherung für (halb) private Unterbringung und Behandlung, welche in den siebziger Jahren expandierte, und zweitens spricht einiges dafür, daß mit der Einweisung ins Spital der Patient ein gutes Stück weit seine Entscheidungsfreiheit verliert. Im folgenden Abschnitt wird deshalb ein mikroökonomisches Modell für die simultane Wahl der Krankenzusatzversicherung für (halb) private Unterbringung im Spital und die Nachfrage bzw. Inanspruchnahme medizinischer Leistungen im Krankheitsfall vorgestellt. Sodann kommen die qualitativen Voraussagen zur Sprache, welche die beiden Komponenten der vermuteten Spirale ausmachen. Einerseits ist zu erwarten, daß die Versicherten ihren Schutz an veränderte finanzielle Risiken im Krankheitsfall anpassen, und andererseits dürfte der verbesserte Versicherungsschutz kostensteigernde Auswirkungen haben, möglicherweise nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Bereich. Ein weiterer Abschnitt ist der Beschreibung der Datenbasis gewidmet. Daran schließt sich eine kurze Präsentation der zentralen empirischen Ergebnisse an, und eine Stabilitätsanalyse des dynamischen Prozesses leitet zu einigen abschließenden gesundheitspolitischen Folgerungen über.

2. Ein Modell für schweizerische institutionelle Bedingungen Seit einigen Jahren gibt es eine internationale Debatte über Ausmaß und Wirkung des moralischen Risikos1 in der Krankenversicherung {Evans, 1983; Newhouse, 1981). Spielt moralisches Risiko beim Versicherten keine Rolle, so braucht es auch keine Kostenbeteiligung. So kommt Pfaff (1980) zum Schluß, eine Kostenbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands müsse sozial nicht mehr akzeptable Werte annehmen, um genügende Wirkung zu entfalten. Demgegenüber stellen Newhouse et al. (1981) für die USA sowie Zweifel/Waser (1986) für die private Krankenversicherung in der BR Deutschland beträchtliche Bremswirkungen im ambulanten Bereich fest, auch wenn die Kostenbeteiligung nur den Gegenwert von einigen hundert Franken jährlich

1 Unter moralischem Risiko werden - in Verallgemeinerung des versicherungstechnischen Begriffs - die durch die Existenz eines Versicherungsvertrags induzierte Verhaltensänderung verstanden.

557 beträgt. Einigkeit besteht darüber, daß das vom Versicherten selber ausgehende moralische Risiko wohl am ehesten bei der ambulanten medizinischen Behandlung eine Rolle spielen dürfte. Gerade im ambulanten Bereich ist es aber im Falle der sozialen Krankenversicherung in der Schweiz unmöglich, nachzuweisen, daß moralisches Risiko existiert. Denn obwohl die Krankenkassenmitglieder an den Kosten der ambulanten medizinischen Behandlung beteiligt sind, macht die zur Zeit geltende Kostenbeteiligungsregel eine Reaktion des Versicherten auf Preisänderungen in vielen Fällen unwahrscheinlich. Die Regel lautet: "Der Versicherte hat eine Franchise von 30 Franken oder 10% des Rechnungsbetrages selber zu tragen, was immer den höheren Betrag ergibt" {Schmid, 1981). Dies bedeutet, daß eine Arztrechnung im Bruttobetrag von 30 Franken den Versicherten gleich stark belastet wie eine solche von 300 Franken, nämlich mit der Franchise von 30 Franken. Zwischen diesen Grenzen haben demnach zusätzliche medizinische Leistungen einen Geldpreis von Null, und eine Veränderung der ärztlichen Tarife verliert jede Steuerungswirkung (vgl. Zweifel, 1985a, für eine detaillierte Darstellung). Da diese Kostenbeteiligungsregel von allen wichtigen Krankenkassen angewendet wird, läßt sich ein Einfluß der Versicherung auf die Nachfrage nach ambulanten medizinischen Leistungen nur grob an einem Vergleich zwischen Versicherten und NichtVersicherten durchführen, vgl. Leu/Doppmann (1984). Diese Überlegungen münden in die Folgerung 1: Die zurzeit gültige Ausgestaltung der Kostenbeteiligung für ambulante medizinische Leistungen verunmöglicht es, für eine Population von Versicherten eine Preiselastizität der Nachfrage zu ermitteln und damit den Nachweis eines moralischen Risikos zu führen. Im Angebot der meisten Krankenkassen sind hingegen zwei Parameter der Spitalzusatzversicherung frei wählbar: Der Versicherte kann selber die Obergrenze der noch gedeckten täglichen Aufenthaltskosten bei (halb) privater Unterbringung sowie der noch gedeckten Kosten der stationären Behandlung festlegen. Damit eröffnet sich - zumindest für die Zeit bis etwa 1980 - die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen der Deckung dieser Aufwendungen und der Nachfrage bzw. Inanspruchnahme ambulanter und stationärer medizinischer Leistungen zu erkennen. In den letzten Jahren haben allerdings Verträge mit Spitalkostengarantie in einem großen Maße die traditionellen Verträge abgelöst. Hier entscheidet sich der Einzelne nur noch, ob er einen Vertrag mit voller Deckung für eine bestimmte Spitalklasse abschließen will oder nicht; eine Anpassung an gestiegene finanzielle Risiken im Falle eines Krankenhausaufenthaltes entfällt. Kostensteigerungen im Spitalsektor drücken sich nur noch in höheren Prämien aus.

558 Für die Zeitperiode bis 1980 wird das folgende mikroökonomische Verhaltensmodell postuliert (vgl. Tab. 1): Der Entscheidungsträger ist ein Versicherter, der bereits eine Spitalzusatzversicherung hat, sich aber über deren mögliche Anpassung an erhöhte finanzielle Risiken im Erkrankungsfalle klar werden muß. Die Zielfunktion drückt einen Erwartungsnutzen über drei Zustände aus. In einem ersten Zustand bleibt das Symptomniveau s zwischen 0 (vollkommene Gesundheit) und einer kritischen Schwelle c; übersteigt s diese Schwelle, veranlaßt der behandelnde Arzt eine Spitaleinweisung. Im zweiten Zustand wird die Schwelle c überschritten, doch die Symptomintensität bleibt unter einer zweiten Schwelle m, welche den Übergang zum eigentlichen Notfall, dem dritten möglichen Zustand symbolisiert. In allen drei Zuständen bewertet der Versicherte seine Situation aufgrund des Einkommens Y sowie der gesund verbrachten Freizeit H. Je nach Zustand sind aber die drei Größen unterschiedlich festgelegt. Im Zustand Nr. 1 verdient das Individuum ein Arbeitseinkommen, wobei von der entlöhnten Arbeitszeit W möglicherweise die Zeit abgezogen wird, welche für ambulante ärztliche Behandlung aufgewendet werden muß {gt-M, mit g>0). Für viele Angestellte und insbesondere Beamte gilt g = 0, weil der Arbeitgeber gesundheitlich bedingte Absenz vom Arbeitsplatz toleriert (Gleichung la). Aus dem Einkommen ist die Kostenbeteiligung für ambulante medizinische Leistungen zu bezahlen, welche einfachheitshalber durch einen konstanten prozentualen Satz r abgebildet wird2. Daneben fällt immer die Krankenversicherungsprämie R an. Was die gesund verlebte Freizeit anbetrifft (Gleichung lb), so ist vom Total Tneben der Arbeitszeit Wein stochastischer krankheitsbedingter Verlust L in Abzug zu bringen, der durch den Einsatz ambulanter medizinischer Leistungen M reduziert werden kann. Im Zustand Nr. 2 ist zwar eine Spitaleinweisung nötig, doch kann der Versicherte immer noch ein Spital suchen, dessen Tagespreis in der (halb) privaten Abteilung durch den Versicherungsvertrag voll gedeckt wird. Es bleibt aber das Risiko bestehen, daß die Behandlungskosten {K Operationsstunden zum Preis q3) den im Vertrag vereinbarten Höchstwert X überschreiten (Gleichung 2a). Aus dem Transfereinkommen Y, welches das Arbeitseinkommen ersetzt, müssen nach wie vor die Versicherungsprämien R gedeckt werden. Was die gesund verbrachte Zeit betrifft (Gleichung 2b), so hängt der kranheitsbedingte

2

Wie weiter oben in diesem Abschnitt festgelegt, beträgt die marginale Rate der Kostenbeteiligung zuerst r = 1 bis zum Betrag von 30 Franken, r = 0 für Beträge zwischen 30 und 300 Franken und r = 0.1 jenseits dieser Grenze. 3 Einfachheitshalber wird für die Preise im Gesundheitswesen durchwegs das gleiche Symbol q gewählt, weil für die Analyse Veränderungen dq die entscheidende Rolle spielen, wobei diese Veränderungen hoch korreliert sind vgl. Gygi/Frei, 1985, Tab. 15.2 und 15.3).

559 Tabelle 1 Ein mikroökonomisches Modell zur Erklärung der Nachfrage nach Versicherungsschutz, der Nachfrage nach ambulanten medizinischen Leistungen sowie der Inanspruchnahme stationärer Leistungen

E(U) = jU[Y(s), H(s)]f(s, J)ds + ! U[Y(s), H(s)]f(s, +

l)ds jU[Y(s),H(s)]f(s,l)ds

max. unter den NB: Y = H

(la)

w[W-gt-M]-rqM-R =T-L(M,s)-W

Y =

1. Zustand

s), M(s), s]

Y =Y-[(q-b)M(S)]-[q H =T-L[K(s),

[

c^s