Die Juden Geschichte eines Volkes Tod oder Taufe

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Author: Evagret Kopp
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Die Juden – Geschichte eines Volkes Tod oder Taufe

Ein Film von Nina Koshofer & Sabine Klauser Beitrag: Simon Demmelhuber & Volker Eklkofer

Inhalt

Jüdische Anfänge im Rheinland

Im 9. Jahrhundert fördern deutsche Kaiser und Bischöfe die Ansiedlung jüdischer Kaufleute im Reichsgebiet. Auslöser dieser massiv gestützten Zuwanderungspolitik sind handfeste Wirtschaftsinteressen: Als erfahrene, mehrsprachige Fernkaufleute mit weitgespannten Kontaktnetzen sollen die Einwanderer den Warenaustausch mit dem Orient organisieren und den Binnenhandel ankurbeln. Die Rechnung geht auf: Reichlich fließende Abgaben und Zölle aus dem florierenden Handel beschleunigen die Stadt- und Landesentwicklung erheblich.

Als Siedlungsschwerpunkte schälen sich die Bischofssitze des Rheinlands heraus, wo nach den Wirren der Völkerwanderungszeit erneut urbane Zentren entstehen. Im ausgehenden 11. Jahrhundert steigen Mainz, Speyer und Worms zu weithin ausstrahlenden Zentren jüdischer Gelehrsamkeit auf. In diesen Städten leben die Gemeinden, geschützt durch Privilegien und Sicherheitsgarantien meist friedlich mit ihren christlichen Nachbarn zusammen.

Freiheitsrechte und Schutzgarantien

Am Ausgang des 11. Jahrhunderts bringt die aufgehetzte Stimmung des ersten Kreuzzugs Tod und Verderben über die Juden ganz Europas. Als Ungläubige und Gottesfeinde diffamiert, werden sie zum Opfer einer ungeordnet aufgebrochenen Vortruppe des Kreuzzugsheeres, die als marodierende Bande dem eigentlichen Ritterheer voran zieht. Dieser als Volks-, Armen- oder Bauernkreuzzug bekannte Tross plündert 1096 zahl-

Im Gegenzug leisten Kaiser und Bischöfe umfassende Schutzgarantien: Die Einwanderer genießen Handels- und Religionsfreiheit, können Eigentum erwerben, Acker- und Weinbau betreiben, sind den Christen rechtlich gleichgestellt und verfügen über eine autonome Gerichtsbarkeit in jüdischen Angelegenheiten. © Bayerischer Rundfunk

Pogrome und Gewalt gegen Juden

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lose jüdische Viertel „französischer“ und vor allem „deutscher“ Städte. Überall fordert der gewaltbereite Mob die Juden auf, sich taufen zu lassen. Wer sich der Zwangstaufe widersetzt, wird erschlagen. Viele wählen, vor diese Wahl gestellt, den als „Kiddusch ha-Schem“ bekannten kollektiven Freitod zur „Heiligung des Namens Gottes“. Die Kreuzzugspogrome treiben abertausende Juden in den Tod und löschen nahezu alle jüdischen Gemeinden aus.

reich und Oberitalien durch weitreichende Schutzgarantien. Die Einwanderer genießen Handels- und Religionsfreiheit, können Eigentum erwerben, Acker- und Weinbau betreiben, sind den Christen rechtlich gleichgestellt und verfügen über eine autonome Gerichtsbarkeit in jüdischen Angelegenheiten. Im Gegenzug leisten sie jährliche Abgaben zunächst in Höhe eines Zehntels, später eines Drittels ihres Vermögens. Als Siedlungsschwerpunkte schälen sich die Bischofssit-

Stigmatisierung und Diffamierung Die nach dem Ende des 12. Jahrhunderts zunehmende Ausgrenzung des Judentums äußert sich zum einen in Kleidervorschriften wie dem Tragen eines gelben Judenrings und vor allem im Abdrängen in eine zunächst wirtschaftliche und später auch soziale Randlage. Die durch kanonische und weltliche Vorschriften erzwungene Konzentration auf Geldgeschäfte führt zu einer nachhaltigen Stigmatisierung und Diffamierung des Judentums. Das Zerrbild des geld- und raffgierigen, böswilligen Juden, der mit Dieben und Mördern gemeinsame Sache macht, der mit finsteren Gesellen und sogar dem Teufel paktiert, nimmt erstmals Gestalt an und ist fortan nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die Ritualmord-Lüge Das Spott- und Zerrbild wird bekräftigt und ausgeweitet durch antisemitische Lügen- und Verleumdungsgeschichten, die das Judentum als verschlagenen, unversöhnlichen Feind und boshaften Schädiger des Christentums diffamieren. Der überall in Europa umgreifende Wahn, Juden würden sich durch Ritualmorde und Hostienfrevel an Gott und Menschen versündigen oder als Brunnenvergifter die Pest einschleppen, löst immer wieder mörderische Pogromwellen aus, denn die Juden schutzlos ausgeliefert sind.

Fakten 1. Die Juden im mittelalterlichen Kaiserreich Die jüdische Geschichte auf dem Boden des heutigen Deutschlands reicht in die Römerzeit zurück. Archäologische Funde belegen, dass bereits im 4. Jahrhundert entlang der Römerstraßen jüdische Siedlungen existierten. Die älteste nachweisbare Gemeinde ist seit dem Jahr 321 in Köln ansässig. Ab dem 9. Jahrhundert fördern die Karolinger den Zuzug jüdischer Familienverbände aus Frank© Bayerischer Rundfunk

ze des Rheinlands heraus, wo nach den Wirren der Völkerwanderungszeit erneut urbane Zentren entstehen. Förderer der Stadt- und Landesentwicklung Auslöser der aktiv betriebenen Ansiedlung sind handfeste wirtschaftliche Interessen: Im Frühund Hochmittelalter dominieren jüdische Kaufleute den Fernhandel. Gestützt auf ein weitgespanntes Kontaktnetz, das sie mit jüdischen Gemeinden im islamischen Teil Spaniens, in Sizilien, in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten verbindet, organisieren sie den Warenaustausch zwischen Asien und dem Abendland. Über die großen Handelsrouten des Orients, hauptsächlich über die Seidenstraße nach Indien und China sowie die vom Mittelmeer nach Südarabien führende Weihrauchstraße, importieren ihre Karawanen begehrte Luxuswaren wie Seide, Weihrauch und Gewürze. Dass Stadtherren, Bischöfe, Fürsten und Könige ein vitales Interesse am vermehrten Zuzug jüdischer Fernhandelskaufleute haben, liegt auf der Hand: Die privilegierten Umschlag- und Messplätze, an denen diese kostbaren Güter gehandelt werden, wachsen rapide. Zudem werfen die fälligen Zölle und Abgaben ein reiches Steuereinkommen ab. Das von den Juden erwirtschaftete Geld fließt in den Bau von Wehranlagen, Kirchen und beschleunigt die Kultivierung des Landes. Als die Nachfolger der Karolinger die Schutzgarantien bestätigen oder gar ausweiten, lassen sich im Rheinland, vor allem in Köln, Worms, Mainz, Koblenz, Trier und Speyer vermehrt jüdi2

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sche Gemeinden nieder. Dabei fächert sich das soziale und berufliche Spektrum der sesshaft gewordenen Zuwanderer aus. Neben Händlern und Kaufleuten finden sich jetzt auch jüdische Lehrer, Ärzte, Bäcker, Schlachter, Winzer und Handwerker in wachsender Zahl. Obwohl das Reich und die Kirche, insbesondere Heinrich IV. (geb. 1050, Kg. 1065, Ks. 1089, gest. 1108) die religiöse und persönliche Freiheit der Juden als Gegenleistung für Steuerabgaben schützen, obwohl Juden und Christen mehrheitlich friedlich zusammenleben, kommt es bereits im 11. Jahrhundert zu religiös motivierten Übergriffen. So lässt etwa Heinrich II. (geb. um 973, Kg. 1002, Ks. 1014, gest. 1024) im Jahr 1012 alle Juden aus Mainz vertreiben, die sich der Taufe widersetzen. 1066 beschließt auch Erzbischof Eberhard von Trier (geb. um 1010, gest. 1066), sämtliche Juden seines Einflussbereichs taufen zu lassen. Als er kurz nach der Absichtsverkündung eines plötzlichen Todes stirbt, stehen die Juden im Verdacht, ihn mithilfe magischer Praktiken ermordet zu haben. 2. Das Neue Jerusalem - Die Schum-Städte des Rheinlands Im ausgehenden 11. Jahrhundert steigt Mainz zur maßgeblichen Gemeinde auf. Von hier aus bilden

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maisa (Worms) und Mem für Magenza (Mainz) als Schum-Städte bezeichnet. In diesen blühenden Metropolen jüdischer Geistigkeit entstehen Talmudschulen, die Gelehrte aus ganz Europa anziehen und das mitteleuropäische (aschkenasische) Judentum entscheidend prägen. Für lange Zeit gelten Talmudauslegungen, Rechtsgutachten, Zusammenstellungen lokaler Riten oder synagogaler Gesänge der Schum-Hochschulen in ganz Europa als tonangebend und mustergültig. Stichwort Aschkenasim Der hebräische Begriff „Aschkenas“ bezeichnete seit dem Mittelalter das Gebiet des heutigen Deutschland. Daraus leitet sich auch die Bezeichnung Aschkenasen oder Aschkenasim für Juden und ihre Nachkommen in West- und Osteuropa ab. Das aschkenasische Judentum entwickelte über die Jahrhunderte eine gemeinsame kulturelle Tradition. Ihre Sprache war das Jiddische, das sich aus dem Mittelhochdeutschen entwickelte und hebräische und slawische Elemente enthält, aber in hebräischen Buchstaben geschrieben wird. (Quelle: Jüdisches Museum Berlin) 3. Jüdisches Gemeindeleben im deutschen Mittelalter Das erste rechtlich erzwungene Ghetto auf deutschem Boden entsteht 1462 mit der Frankfurter Judengasse. Davor wohnen und leben die Juden zwar in eigenen Vierteln, aber nicht infolge obrigkeitlicher Anordnungen. Die Bildung jüdischer Quartiere folgt dem üblichen urbanen Muster und hat vorwiegend praktische Gründe: Sie zielt auf die bequeme Erreichbarkeit jener kultischen Einrichtungen, die für ein jüdisches Leben und vor allem für die Einhaltung der Speise- und Reinheitsgebote unerlässlich sind. Zum Kernbestand einer jüdischen Gemeinde gehören neben der Synagoge vor allem die Mikwe,

sich weitere Gemeinden in Trier (1066), Worms (1084) und Speyer (1090). Aufgrund personaler Verflechtungen und der großen räumlichen Nähe werden Speyer, Worms und Mainz als Dreiheit aufgefasst und nach den hebräischen Anfangsbuchstaben Shin für Spira (Speyer), Vav für War© Bayerischer Rundfunk

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das Tauchbad für kultische Reinigungen, sowie koschere Schlachtereien, Bäckereien, Brunnen und Backöfen. Dazu kommen Armen- und Gemeindehäuser und ein eigener Friedhof, der verstorbenen Gemeindemitgliedern eine dauerhafte Grabstelle garantiert. Die interne Rechtsprechung der Gemeinde liegt in den Händen der Rabbiner, die als Richter über Ehestreitigkeiten und andere Regelverstöße befinden und sowohl Geld- als auch Körperstrafen verhängen können.

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Wucher: Das päpstliche Zinsverbot stigmatisiert ein ganzes Volk Etwa zeitgleich mit den Kreuzzügen setzt ein Wandel des wirtschaftlichen Gefüges ein, der

Päpstlich verfügte Kleidervorschriften Dass manche der meist im Stadtzentrum gelegenen Quartiere von Mauern umschlossen oder durch Tore gesichert sind, dient nicht der Ausgrenzung, sondern dem Schutz des Eigentums und der Bewohner. Besondere Kleidervorschriften oder andere sichtbare Kennzeichen, wie sie später Vorschrift werden, sind im 11. und 12.

Jahrhundert noch unbekannt. Erst das 4. Laterankonzil des Jahres verpflichtet die Juden, sichtbare Symbole zu tragen, damit sie „zu allen Zeiten in den Augen der Öffentlichkeit durch die Art ihrer Kleidung von anderen Völkern unterschieden seien“. Das gebräuchlichste Kleiderkennzeichen ist ein gelber Ring (Judenring, Judenkreis). Beginn der Diffamierung Bis zum Beginn der ersten Pogromwelle am Ende des 11. Jahrhunderts sind die Juden – obschon „Fremde“, räumlich, rechtlich und wirtschaftlich gut in das Stadtleben integriert. Aus den ehemaligen Fernhändlern sind längst ortsansässige, auch von Christen geschätzte Kaufleute geworden, die mit alltäglichen Gebrauchsgütern wie Wein, Getreide, Salzfisch, Metallwaren und Textilien handeln. Im Rahmen ihrer geschäftlichen Tätigkeiten und ihrer Präsenz auf Messen haben sich Juden zudem als Geldwechsler etabliert. Sie tauschen fremde gegen lokale Währungen, sind aber noch nicht als Geldverleiher aktiv. © Bayerischer Rundfunk

das Leben der Juden dauerhaft verändert. Waren sie bis dahin in allen Berufen tätig, richten nun rigide Zunftverordnungen und Marktabschottungen immer höhere Hürden auf. Ohne Zugang zu Gilden, Zünften und anderen Kooperationen der mittelalterlichen Sozialordnung sind sie vermehrt auf den Handel mit Trödel und die Pfandleihe angewiesen. Das macht es leicht, sie als Handlanger von Dieben, Mördern und Ausgestoßenen zu schmähen. Da jüdische Grundbesitzer zudem keine Christen als Arbeitskräfte beschäftigen dürfen, wird die Bewirtschaftung des Bodens zunehmend schwieriger und unattraktiv. Um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu sichern, wenden sich die Juden verstärkt dem Geldhandel, vor allem dem Geldverleih zu. Diese allgemeine Tendenz erhält durch zwei päpstliche Verfügungen zusätzlichen Schub: 1179 gesteht Papst Alexander III. (geb. um 1100, PP 1159, gest. 1181) den Juden das Recht der Zinsnahme zu. 1215 erlässt Papst Innozenz III. (geb. 1166, PP 1198, gest. 1216) ein generelles „kanonisches Zinsverbot“ für Christen. Der Wucher, also die Zinsnahme, gilt als Sünde und als Kapitalverbrechen, das wie Raub oder Brandstiftung zu ahnden ist. Den weltlichen Aspekt des Geldverleihs regeln Rechtskodifizierungen wie der berühmte Sachsenspiegel des Eike von Repkow. Kapitalbedarf und Stigmatisierung Das von der Kirche ausgesprochene kanonische Zinsverbot steht in krasssem Widerspruch zur wirtschaftlichen Realität. Nach dem Übergang zur Geldwirtschaft ist der wachsende Kapitalbedarf der Städte ist nicht mehr durch den Natural- oder Tauschhandel zu stillen. Diese Investitionslücke schließen nun jüdische Finanziers, die dem päpstlichen Verbot nicht unterliegen und im Fernhandel das nötige Geld für Kapitalgeschäfte er4

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worben haben. Da ihnen kaum andere Erwerbsmöglichkeiten offen stehen, nutzen sie die Chance auf lukrative Einkommensquellen, die allerdings ihre soziale Stigmatisierung beschleunigt und den Keim künftiger judenfeindlicher Exzesse in sich trägt. Denn obwohl weltliche wie auch geistliche Herren die Möglichkeit jüdischer Anleihen gerne in Anspruch nehmen, um Bauvorhaben oder militärische Aktionen zu finanzieren, geraten sie nicht selten mit der Rückzahlung in Verzug oder können schlicht und einfach den Kredit nicht ablösen. In diesen Fällen greifen manche Schuldner zu einem probaten Mittel: sie „sanieren“ sich durch die Anzettelung oder Unterstützung antisemitischer Machenschaften. 4. Kollektive Bedrohungsängste und die Kreuzzugspogrome des Jahres 1096 Der erste Kreuzzug des Jahres 1096 überzieht die abendländischen Juden mit Tod und Verder-

ben. Ein aufgehetzter, gewaltbereiter Tross von Bauern, Herumtreibern, Justizflüchtigen und Desparados aller Art eilt dem eigentlichen Ritterheer brandschatzend und plündernd voraus. Der entfesselte Mob stellt die Juden vor eine rigorose Wahl: Sie sollen sich taufen lassen und Christen werden oder sterben. Wer sich widersetzt, darf keine Gnade erwarten. Auf dem Boden des heutigen Deutschland wüten die Rotten des Bauernund Armenheeres besonders zügellos. Das Geschehen trägt ausgesprochen rauschhafte Züge, der Kontrollverlust ist total: Die Juden in Mainz, Speyer und Worms werden regelrecht abgeschlachtet, ihre Gemeinden ausgelöscht. Bischöfe und Städte, die sich schützend vor ihre jüdischen Nachbarn stellten, werden belagert, bedroht und geplündert. Die blutigen Ausschreitungen des Jahres 1096 haben eine lange Vorgeschichte und stehen in © Bayerischer Rundfunk

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unmittelbarem Zusammenhang mit der Expansion des Islam im Nahen Osten, entlang der nordafrikanischen Küste und im byzantinischen Reich. • Im September 1009 lässt der Fatimiden-Kalif Al-Hakim Bi Amr Allah (geb. um 985, gest. 1021), ein religiöser Fanatiker, die Grabeskirche plündern und das Felsengrab Christi sowie zahlreiche Kirchen und Klöster zerstören. Die in Palästina lebenden Christen und alle Pilger sind massiven Repressalien ausgesetzt. AlHakim zwingt die Christen, auffällige Gürtel und schwarze Kopfbedeckungen sowie Glöckchen zu tragen; christliche Symbole, das Begehen christlicher Feste und die offene Religionsausübung werden verboten. Sein Nachfolger, Kalif al-Zahir, lässt 1033 erneut Kirchen zerstören und eine Ringmauer um Jerusalem errichten. 1055 wird die wieder aufgebaute Grabeskirche abermals geplündert. • Entlang der afrikanischen Küste sind arabische Stämme unaufhaltsam vorgedrungen und haben den Islam ausgebreitet. Fast alle christlichen Bistümer sind untergegangen. Von den um das Jahr 1000 bezeugten 47 nordafrikanischen Bischofssitzen sind um die Mitte des 11. Jahrhunderts nur noch fünf übrig geblieben. • Von Osten her bedrängen die Seldschuken, ein turkstämmiges Krieger- und Nomadenvolk aus Innerasien, das byzantinische Reich. 1071 fügen sie den kaiserlichen Truppen eine verheerende Niederlage zu und bereiten so den Boden für weitere Invasionswellen. 1077 erobern die Seldschuken schließlich Jerusalem. Die Pilgerwege ins Heilige Land sind unterbrochen, zentrale Stätten des Christentums in die Hände der Ungläubigen geraten und von der Vernichtung bedroht. Gott will es! – Papst Urban ruft zum Kreuzzug In der christlichen Welt schüren die Vorgänge in Palästina, in Nordafrika sowie im byzantinischen Reich die Angst vor einem weiteren, aggressiven Vordringen des Islam. Auf dem Konzil von Clermont ruft Papst Urban II. (geb. um 1035, PP 1088, gest. 1099) am 27. November 1095 in einer flammenden Rede die Christenheit zur Gegenwehr auf. Er fordert die Sicherung der Pilgerwege, Beistand für das bedrängte byzantinische Reich und die Befreiung der Heiligen Stätten in Palästina. Der Kampf um das Heilige wird sakral verklärt: Wer in 5

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diesem „gottgewollten“ Streit fällt, erhält, so das Versprechen des Papstes, die vollständige Absolution. Der von zahllosen Predigern rasch im ganzen Land verbreitete Aufruf Urbans löst sowohl im

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Gemeiden in den Schum-Städten ein. Doch die Juden am Rhein schenken den Nachrichten keinen Glauben. Im Besitz kaiserlicher und städtischer Schutzbriefe wähnen sie sich vor Übergriffen sicher. Zudem deutet nichts darauf hin, dass sich die Menschen ihrer vertrauten Umgebung mit einem Mal gegen sie wenden konnten. „Gezerot Tatnu“ die blutigen Heimsuchungen des Jahres 1096

Adel als auch im Klerus und beim Volk große Begeisterung aus. Noch vor dem Ritterheer, das sich zum Kreuzzug sammelt, bricht zu Beginn des Jahres 1096 ein ungeordneter Zug von verarmten Bauern, Kleinkriminellen und Entwurzelten in Richtung Palästina auf. Die aufgestauten Aggressionen brechen sich in Hetzparolen gegen die Juden gewaltsam Bahn: Sie werden als Feinde Christi und Ungläubige im eigenen Land gebrandmarkt, die im Rahmen einer grundlegenden „Säuberung“ entweder bekehrt oder vernichtet werden müssen.

Die scheinbare Sicherheit trügt. Am 10. April 1096 steht eine deutsche Abspaltung des Bauernheers vor den Toren Triers. Der Mob bedroht jeden, der sich ihm in den Weg stellt, fordert Nahrungsmittel, Geld und Zwangskonversion. Zunächst deckt der Bischof die jüdische Gemeinde. Doch als der Druck steigt, gibt er seine Schutzbefohlenen preis. Angesichts der drohenden Todesgefahr lassen sich viele Trierer Juden taufen. Die blutige Heiligung Gottes Am 3. Mai 1096 fällt der „Deutsche Kreuzzug“ in Speyer ein. Auch hier hetzten die Horden gegen

Entfesselte Mordgier, schiere Gewalt Der als Bauern-, Volks- oder Armenkreuzzug bezeichnete Tross fällt in die Judenviertel ein, fordert Geld, erpresst Lebensmittel und drängt, unter anderem in Rouen und Metz, die Bewohner gewaltsam zur Taufe. Entlang seines Weges

schließen sich immer mehr Tagelöhner und Bettler dem Bauernheer an. Schätzungen zufolge wächst der marodierende Zug auf 50.000 Mann ab. Anfang April des Jahres 1096 treffen die ersten Schreckensmeldungen und Hilferufe überfallener © Bayerischer Rundfunk

die vermeintlichen „Christusmörder“ im eigenen Land und fordern die Zwangstaufe. Anfangs bietet Bischof Johann I. von Speyer dem Mob entschlossen die Stirn. Er gewährt den Juden Zuflucht in seinen Mauern und befiehlt, sie zu verteidigen. Vergebens: Nach einer Woche stürmen die Belagerer den Bischofspalast und bekräftigen die Aufforderung zur Zwangstaufe. Einige Juden, unter ihnen auch Frauen, entschließen sich zum kollektiven Selbstmord, um dem Abfall vom Glauben zu entrinnen. Sie schließen sich in ihren Häusern ein, setzen sie in Brand und sterben den Flammentod. Auf hebräisch heißt dieses grausame, verzweifelte Ritual "Kiddusch ha-Schem", die Heiligung Gottes. Zwei Wochen darauf, am Sonntag, dem 18. Mai, belagert das Heer die Stadt Worms. Während sich ein Teil der jüdischen Gemeinde in den Häusern verbarrikadiert, suchen andere Schutz im 6

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Palast des Bischofs. Wer sich nicht rasch genug in Sicherheit bringt, wird auf den Straßen ergriffen und erschlagen. Schließlich überrennen die Kreuzfahrer die Mauern des Bischofspalastes und stellten die Juden vor die Wahl Tod oder Taufe. Wer die Taufe verweigert, und das sind die meisten, wird erstochen, zerhackt, zu Tode geprügelt. Auch in Worms begehen viele Juden Kiddusch ha-Schem. Sie schließen sich in ihre Häuser ein und verbrennen sich selbst. Schätzungsweise 800 Juden fallen dem Pogrom zum Opfer. Kreuzfahrer und Teile der Wormser Bürger plündern das ausgebrannte Judenviertel. Der Hilferuf an den Kaiser verhallt ungehört Am 25. Mai 1096 erreicht der deutsche Ast des Armenkreuzzugs die Stadt Mainz, wo mehr 1000 Juden unter dem Schutz Erzbischof Ruthards II. leben. Angesichts der drohenden Gefahr schickt Rabbi Kalonymos ben Meschullam (gest. 1096) im Namen der rheinischen Juden einen Hilferuf an Heinrich IV. Aber der Kaiser hält sich in Italien auf und kann die Gewalttätigkeiten nicht unterbinden. Daher rüstet sich die Stadt zum Widerstand. Bischof Ruthard lässt die Stadttore sperren und die Mauern besetzen. Nach zweitägiger Belagerung, am 27. Mai 1096, öffnen verängstigte Bürger die Tore, um eine mordgierige Bande, bewaffnet mit Stöcken, Sicheln, Spießen und Schwertern, einzulassen. Aber die Juden sind bereit zum Kampf. Unter Führung Rabbi Kalonymos bar Meschullams verteidigen sie die Stadt und die Bischofsresidenz. Doch die Übermacht ist zu groß. Die Kreuzfahrer brechen den Widerstand und stürmen den Bischofssitz, der Oberhirte muss fliehen und rettet nur mit knapper Not sein Leben. Das Rasen kennt keine Grenzen. Da sich alle Juden der Zwangstaufe widersetzen, wird die gesamte Gemeinde ausgelöscht. Die Überlebenden des Blutbades zünden das Viertel an und begehen Kiddusch ha-Schem. Schätzungen zufolge sterben alleine in Mainz insgesamt 1100 Juden. Gewaltaktionen überrollen das Reich In Köln, Trier, Neuss, Xanten und Regensburg wiederholen sich die Gräuel. Vor dir Wahl gestellt, sich taufen zu lassen oder zu sterben, entscheiden sich die meisten für den Tod durch eigene Hand. Nach seiner Rückkehr aus Italien gestattet Heinrich IV. gestattet allen Zwangsgetauften gegen den erklärten Willen des Papstes die Rückkehr zum Judentum. Im Judentum sind die Gräuel des Jahres 1096 unvergessen. Noch heute gedenkt die jüdische Liturgie der Opfer von Speyer, Worms und Mainz. Die Bluttaten sind als "Gezerot Tatnu" (die Verfol© Bayerischer Rundfunk

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gungen des Jahres 4856) in die Geschichte der Juden eingegangen. Bericht des Salomo bar Simeon über die Verfolgungen des Jahres 1096 Bevor er nochmals zum Bischof zurückkehrte, nahm Kalonymos, der Fromme, als erster seinen Sohn Mar Josef, küsste ihn und schlachtete ihn. Als der Bischof hörte, dass er seinen Sohn geschlachtet hatte, war er aufs äußerste erzürnt und sagte: „Von nun an will ich euch gewiss nicht mehr helfen!“ Als die Dorfbewohner hörten, was der Bischof gesagt hatte, versammelten sie sich mit den ‚Irrenden‘ gegen die Juden, um sie zu töten. Kalonymos jedenfalls kehrte am selben Tage wieder zum Bischof zurück, erfuhr unterwegs, was der Bischof gesagt hatte. Sobald er zu ihm zurückkehrt war, ergriff er ein Messer, trat vor ihn, willens ihn zu töten. Aber die Männer des Bischofs und auch dieser selbst, hatten die Absicht bemerkt und er befahl, ihn hinweg zu führen. Da

erhoben sich die Knechte des Bischofs gegen ihn und töteten ihn mit einem Zeichen aus Holz [einem Kruzifix ?]. Andere sagen, er sei nicht zum zweiten Mal zum Bischof zurückgekehrt, sondern habe sofort, nachdem er seinen Sohn geschlachtet hatte, sein Schwert genommen, es in die Erde gerammt und sich hineinfallen lassen, dass es in seinen Leib eindrang. Wieder andere sagen, die Feinde hätten ihn unterwegs getötet. Jedenfalls wurde der Erhabene getötet um der Einheit des Namens willen, des Königs der Könige der Könige, des Geheiligten, er sei gesegnet. Möge er ewig und vollkommen leben mit dem Herrn, dem Gott Israels. Dort fiel und wurde getötet der Gerechte mit seiner Gemeinde. (Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge, Berlin 1892, S. 15f.) 7

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5. Ritualmord und Hostienfrevel: Verleumdungen und Lügenmärchen machen Karriere Am 25. März 1144, einem Karsamstag, wird in einem Wäldchen bei Norwich die verstümmelte Leiche des zwölfjährigen Gerberlehrlings William aufgefunden. Die V e r wu n d u n g e n lassen auf einen gewaltsamen Tod schließen. Zwei Tage nach seiner Entdeckung wird der Körper am Fundort begraben. Wenig später machen böse Gerüchte die Runde: Juden sollen William erschlagen und den Leichnam für rituelle Handlungen missbraucht haben. Nachdem die Vorwürfe nicht verstummen, lässt der Bischof von Norwich das Grab öffnen und die Leiche nochmals untersuchen. Im Anschluss an die Leichenschau bezichtigt er die Juden des Mordes an William. Da die Juden unter die Rechtssprechung des Königs fallen, kommt es jedoch weder zur erstrebten Anklage noch zum Prozess. Eine Geschäftsidee keimt Am 25. April ordnet der Bischof die Beisetzung Williams auf dem Mönchsfriedhof in Norwich an. Hinter dieser Übertragung des Leichnams steckt möglicherweise ein zynisches Kalkül: Denn bislang „besitzt“ Norwich keinen eigenen Heiligen. William, so steht zu vermuten, soll diese kultische Lücke schließen und als Märtyrer sowohl die Attraktivität der Kathedrale als auch den Zustrom spendabler Pilger steigern. Denn die Durchsetzung und Verbreitung eines Heiligenkultes ist im 12. Jahrhundert eine finanziell überaus lukrative Angelegenheit mit handfesten wirtschaftlichen Vorteilen: Die fromme Schaulust lässt sich trefflich ausmünzen. Schließlich lassen die Wallfahrer für Unterkunft und Verpflegung, für Messen und Pilgerzeichen gutes Geld in den Städten. Mehr Marketing muss her Obwohl sich schon bald einige Wunder ereignen, bleibt die erhoffte Verehrung zunächst aus. Das soll sich sechs Jahre später durch die Aktivitäten des Benediktinermönchs Thomas von Monmouth schlagartig ändern. Zwischen 1150 und 1173, also mehrere Jahre nach dem Geschehen, schreibt er eine sieben Bände um© Bayerischer Rundfunk

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fassende Geschichte „Über das Leben und Tod des jungen Märtyrers William von Norwich“. Mit diesem Werk, für das Thomas tatsächlich Zeugen des Geschehens befragt und so den Anschein verbürgter Realität erzeugt, begründet er eine der verheerendsten Lügen der Geschichte. Sie wird zum Muster, zur Folie für hunderte gleichlautende Ritualmordverleumdungen. Der hl. William: Ein Märtyrer kurbelt die Wallfahrt an Thomas zufolge bedienten sich die Juden in Norwich wiederholt der Hilfe Williams bei der Ausbesserung von Pelzen, die in Pfandleihe gegeben wurden. Am Dienstag der Karwoche gibt die Mutter Wilhelms einem Boten der Juden, der sich als Koch des Archidiakons ausgibt, ihren Sohn gegen Zahlung von drei Schilling als Gehilfen mit. Die kleine Tochter von Wilhelms Onkel, dem Priester Godwin Sturt, sieht, wie der Knabe mit dem angeblichen Koch (höchstwahrscheinlich der tatsächliche Mörder) im Hause eines Juden verschwindet. Am folgenden Tag ergreifen die Juden den zunächst freundlich aufgenommenen Knaben, unterziehen ihn - wie von Anfang an geplant - zur Verspottung der Passion Christi grausamsten Martern, befestigen ihn mit ausge-

spannten Gliedmaßen an einem Holzgerüst und töten den derart Gekreuzigten schließlich durch einen Stich in die Seite. Am Karfreitag bringen zwei der Juden den Leichnam in den nahegelegenen Wald (Thorpe Wood), werden dabei jedoch von dem angesehenen Bürger Aelward Ded beobachtet. Aus Furcht vor der Aufdeckung des Verbrechens bringen die beiden Juden den Sheriff von Norfolk durch Bestechung dazu, Aelward eidlich zum Schweigen zu verpflichten. Noch in derselben Nacht zeigen sich Lichtwunder bei der Leiche, die hierauf gefunden, als Wilhelm identifiziert und an Ort und Stelle begraben wird. Sofort fällt der Verdacht auf die Juden von Norwich, welche Godwin wenige Wochen später auf einer Diözesansynode des Mordes an seinem Neffen anklagt. Der Sheriff schützt die Juden, die sich ge8

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genüber dem Bischof auf das Königsgericht berufen, vor der Wut des Volkes und nimmt sie in seine Burg auf, bis ihnen ein königliches Edikt Frieden und Sicherheit gewährleistet. Ein Märtyrer wird heimgeholt Durch die Bitte des anlässlich der Synode nach Norwich gekommenen Priors Aimar von Lewes (Sussex), den Leichnam des „Märtyrers“ in sein Kloster mitnehmen zu dürfen, wird dem Bischof erst dessen Wert bewusst; so lässt er ihn am 24.4.1144 auf den Friedhof des Domklosters überführen, wobei „himmlischer Wohlgeruch“ und völlige Unversehrtheit des Körpers Wilhelms Heiligkeit offenbaren. Im zweiten Buch berichtet Thomas von Monmouth von den ersten fünf „Wundern“ am Grabe Wilhelms (verteilt auf 6 Jahre!) und versucht, die verbreiteten Zweifel bzgl. der Schuld der Juden und der Heiligkeit des jungen »Märtyrers« durch nachgeschobene Indizien zu zerstreuen. Hierbei beruft er sich auch auf die von da an immer wieder kolportierte Fabel des Mönchs Theobald von Cambridge, eines damals in Norwich anwesenden jüdischen Konvertiten, wonach die Juden Spaniens alljährlich einen Christen opferten, da sie gemäß alter Schriften nur durch solches Blutvergießen Freiheit und Heimat wiedergewinnen könnten. In Narbonne werde jeweils der Ort hierfür durch das Los ermittelt, das 1144 auf Norwich gefallen sei. Die Saat des Bösen geht auf: Ein kollektiver Wahn breitet sich aus Obwohl William niemals offiziell heiliggesprochen wurde und viele Kleriker massive Zweifel äußern, nimmt die Verehrung des vermeintlichen Märtyrers und Ritualmordopfers im 13. Jahrhundert rasch zu. Nach dem Muster der von Thomas von Monmouth geschaffenen Legende kommt es

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chen Vorwürfe bekräftigen und bestätigen, mobilisiert europaweit hochvirulente, antisemistische Affekte. • Bereits 1171 üben die Einwohner von Blois in Frankreich Lynchjustiz gegen Juden wegen eines ähnlichen Vorwurfs. Obwohl sich Päpste, Bischöfe und Könige ausdrücklich gegen den Aberglauben stemmen, breitet sich die Legende vom Ritualmord wie ein Lauffeuer aus. • 1199 werden Juden in Erfurt und 1235 in Fulda beschuldigt, Christen getötet und deren Blut für rituelle Zwecke verwendet zu haben. • In Koblenz und in anderen Rheinorten wird im 13.Jahrhundert die "Ritualmordlegende" um den "Guten Werner von Bacharach" kolportiert. Die Verleumdung löst ein Pogrom aus, 26 Juden aus Bacharach werden ohne Gerichtsverfahren ermordet, das Grab des „Hl. Werner“ zieht Scharen von Pilgern an. In ihrer Not wenden sich die jüdischen Gemeinden an Kaiser Rudolf von Habsburg (1218 - 1291). Von der Schuldlosigkeit der Juden überzeugt, ordnet Rudolf die Verbrennung der Leiche Werners und die Bestrafung der Judenmörder an. Bischof und Bürger widersetzen sich der kaiserlichen Anordnung. Sie errichten eine Kapelle zu Ehren ihres Märtyrers und feiern bis 1963 weiterhin das „Wernerfest“. Hostienfrevel: Die Mär vom geschändeten Leib Christi Nach demselben Muster breitet sich ab der Mitte des 13. Jahrhunderts die Mär vom angeblichen Hostienfrevel aus. Danach missbrauchen Juden das geweihte Brot, um als unverbesserliche Gottesmörder nach dem körperlichen auch den eucharistischen Leib Christi zu schänden und zu martern. Der durch Prediger, unter der Folter erzwungene Geständnisse und Gräuelpropaganda geschürte Volkszorn über vermeintliche jüdische Lästerungen mündet in zahllose Pogrome und Gewaltexzesse. Cui bono: Pogrome steigern den Profit

schon bald in ganz Europa zu Ritualmordverleumdungen, die ungezählten Juden das Leben kostete. Dass konvertierte Juden die unglaubli© Bayerischer Rundfunk

Dazu gesellte sich häufig ein ganz praktischer Nutzen: Nach der Ermordung der „überführten“ Hostienschänder konnten die frommen Eiferer den Besitz der Erschlagenen übernehmen und ihre Schulden bei jüdischen Geldverleihern als erloschen betrachten. In etlichen Fällen diente die Legende vom Hostienfrevel auch dazu, judenfeindliche Ausschreitungen nachträglich als Tat heiliger Entrüstung zu kaschieren. Der Kult um die so genannte „Deggendorfer Gnad“ ist eines der unrühmlichsten Beispiele für die bigotte Verbrämung niederster Instinkte. 9

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Ein ewiges Denkmal der Schande: Die Deggendorfer Gnad Drückende Schulden christlicher Darlehensnehmer führten um 1338 in Deggendorf zu einem Pogrom, dem die jüdischen Gläubiger zum Opfer fielen. Um die wahre Ursache zu verschleiern und ihr Tun zu rechtfertigen, konstruierten die Täter anschließend die Legende eines Hostienfrevels. Danach hatten Deggendorfer Juden eine Magd zum Hostienraub angestiftet und den eucharistischen Leib Christi auf alle erdenkliche Weise gemartert, besudelt und geschändet. Als sie sahen, dass sie den Leib des Herrn trotz allem nicht zerstören konnten, verfielen die Juden auf eine teuflische Idee. Sie packten die Hostien in einen vergifteten Beutel, den sie dann in einem Brunnen versenkten. Nachdem mehrere Deggendorfer an vergiftetem Wasser gestorben waren, sah ein Nachtwächter einen hellen Schein über dem Brunnen. Darauf wurden die Hostien unversehrt aus dem Brunnen geborgen und in die Kirche gebracht. Einer anderen Version zufolge stiegen sie von selbst aus der Tiefe in einen vorgehaltenen Kelch. Nachdem sie den Hergang „erkannt“ hatten, entschlossen sich Bürger und Rat dazu, die Juden zu vertreiben, um den Frevel zu rächen. Wer sich widersetzte, wurde erschlagen. Einige Juden zündeten selbst ihre Häuser an und verbrannten sich und ihre Angehörigen, um nicht in die Hände der Christen zu fallen. Endlich Gerechtigkeit Auf dem Fundament dieser verleumderischen Legende entwickelt sich eine florierende Wallfahrt zur „Deggendorfer Gnad“, die bis in unsere unmittelbare Gegenwart unvermindert besteht. Anfang der 1990er Jahre gelingt es dem Deggendorfer Manfred Eders in einer Doktorarbeit, die tatsächlichen Hintergründe stichhaltig offen zu legen. Da die Aufsehen erregende Untersuchung nicht den geringsten Zweifel an der Haltlosigkeit des Hostienfrevels und dem wahren Hergang gestattet, stellt der Regensburger Bischof die Wallfahrt 1992 ein. 6. Die Schwarze Tod hält reiche Ernte: Die Pestpogrome der Jahre 1348 und 1349 1347 wird ganz Europa von einer katastrophalen Pestepedemie heimgesucht. Innerhalb von fünf Jahren rafft der „Schwarze Tod“ ein Drittel der Bevölkerung hin. Dem Denken der Zeit gemäß versucht man, das Unbegreifliche als Botschaft Gottes an die Menschen zu deuten. So erklären © Bayerischer Rundfunk

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Theologen und Prediger die Pest als Strafe für die Sünden der Menschheit oder als Zorn Gottes über die ausgebliebene Vertreibung der Juden. Bald machen auch andere Gerüchte die Runde: Juden sollen die Krankheit eingeschleppt oder durch vergiftete Brunnen ausgelöst haben. Verblendung, Hass und Hetze Diese Erklärungsmuster fallen auf fruchtbaren, wohl bereiteten Boden. Dort wo die Seuche am schlimmsten wütet, in Katalonien und in der Pro-

vence, werden die Juden zuerst als vermeintlich Schuldige verleumdet, verfolgt und angegriffen. Schon bald wüten die Pestpogrome schlimmer als die Seuche selbst. Abertausend Juden werden angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Manche diese Gewaltaktionen brechen spontan aus, oft im Anschluss an Hetzpredigten, die den Vorwurf der Brunnenvergiftung verbreiten. Andere Pogrome werden durch städtische Institutionen vorbereitet und planvoll exekutiert. Geständnis unter der Folter Als 1348 in der Burg von Chillon am Genfer See etliche Juden unter der Folter gestehen, die Brunnen Venedigs vergiftet und so die Pest ausgelöst zu haben, sind alle Dämme gebrochen. Die erzwungenen Geständnisse verbreiteten sich rasch in ganz in ganz Europa. Von Savoyen ausgehend grassiert der mörderische Wahn im Elsass, in der Schweiz und in Deutschland. Im Januar 1349 werden hunderte Juden in Genf und Basel verbrannt, in Straßburg fallen im selben Jahr fallen an die 1000 einem Pestpogrom zum Opfer. Der Irrsinn grassiert In Erfurt verbrennt eine aufgebrachte Menge 3000 Juden in ihren Häusern, mehr als hundert werden auf den Straßen totgeschlagen. Um der Folter und Ermordung zu entgehen, wählen etli10

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che jüdische Gemeinden den Freitod. In Worms begehen vierhundert Juden Selbstmord – sie verbrennen sich in ihren Häusern – in Frankfurt wählt die gesamte Gemeinde den Freitod. Auch in Mainz, wo sich die Juden zunächst wehren, sterben viele Menschen in den selbst angezündeten Häusern, insgesamt 6000 Juden finden hier den Tod. Auch in Bayern und Österreich werden die Juden als Auslöser der Seuche diffamiert, verfolgt und erschlagen.1348 und 1349 löschen Pestpogrome die jüdischen Gemeinden in München, Landsberg, Salzburg, Braunau, Ingolstadt, Sulzbach, Neumarkt, Nürnberg, Würzburg, Bamberg, Nördlingen, Augsburg und Kempten aus. Der Papst spricht ein Machtwort Am 20. Oktober 1349 macht Papst Clemens VI. Erst Papst Clemens VI. (geb. um 1290, PP 1342, gest. 1352) der Raserei ein Ende. In einem Edikt, das die Verfolgungen als Ausbruch von Niedertracht und Folge teuflischer Einflüsterungen geißelt, spricht Clemens die Juden von jeder Schuld an der Seuche frei. .Der Pontifex droht den Judenverfolgern harte Strafen an und erklärt insbesondere die vehement antisemitischen Geißlerbanden zu Häretikern. Die Foltergeständnisse von Chateau Chillon „Die paradiesische Gegend am Genfersee wurde zunächst der Schauplatz der blutigsten Verfol-

gung. Auf Befehl des damaligen Herzogs Amadeus von Savoyen wurden mehrere Juden, auf welche der Vergiftungsverdacht gefallen war, verhaftet und in zwei Städtchen am Genfersee, in Chillon und Chatel (Chatelard, beide zwischen Vevey und Ville-Neuve im Waadtlande) eingekerkert. Eine Gerichtskommission wurde ernannt, um mit

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den Verhafteten ein Verhör anzustellen und sie, wenn sie überführt würden, zu bestrafen. Am Versöhnungstage (15. September) wurden drei Juden und eine Jüdin in Chillon auf die Folter gespannt, ein Wundarzt Valavigny aus Thonon, ferner Bandito und Mamson aus Ville-Neuve und drei Wochen später eine Mutter Bellieta und ihr Sohn Aquet. Sie gestanden im Schmerz und in der Verzweiflung alles ein, was man von ihnen herauspressen wollte, daß sie von dem und dem Gift bekommen und es hier und da in der Nähe von Quellen und Brunnen niedergelegt hätten. Sie gaben sich, ihre Glaubensgenossen, ihre Eltern und Kinder an. Die schwache Frau und ihren Sohn legten die herzlosen Richter zehn Tage später wieder auf die Folter und die Gemarterten überboten sich an Enthüllungen. Aquet sagte aus, sämtliche Juden der Gegend, angesehene und gemeine, hätten eine förmliche Beratung vor den Toren von Ville-Neuve gehalten, wie sie die Christen vergiften wollten. In Chatelard wurden fünf Juden beim Verhör gefoltert, und auch sie machten umfassende Geständnisse, die an Glaubwürdigkeit mit jenen auf gleicher Stufe stehen. Einer von ihnen, Aquet, übertrieb seine Aussagen ins Ungeheuerliche; er habe Gift gelegt in Venedig, Gift in Apulien und Kalabrien, Gift in Toulouse in Frankreich. Alle diese Aussagen schrieben die Sekretäre nieder, und sie wurden durch Unterschriften beurkundet. Um die Glaubwürdigkeit nicht zu schmälern, fügten die verschmitzten Richter hinzu, die Schlachtopfer seien nur einwenig gefoltert worden. Auf diese Aussagen hin wurden nicht bloß die Angeklagten und sozusagen Geständigen, sondern sämtliche Juden in der Gegend des Genfersees und wohl von ganz Savoyen verbrannt.Von der Genfer Gegend hatte sich das geflügelte Gerücht von der erwiesenen Schuld der Juden nach der Schweiz verbreitet, und alsbald wiederholten sich auch da dieselben Blutszenen. Die Konsuln von Bern ließen sich die Gerichtsverhandlungen aus Chillon und Chatelard kommen, brachten auch ihrerseits einige Juden auf die Folter, erpreßten ebenfalls Geständnisse von ihnen und zündeten ebenfalls einen ebenfalls Geständnisse von ihnen und zündeten ebenfalls einen Scheiterhaufen für sämtliche Juden an.“ (Heinrich Grätz: Geschichte der Juden. Dritter Zeitraum, Dritte Periode, 10. Kapitel. Der schwarze Tod. Nachdruck: Arani Verlag, 1998)

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Didaktische Hinweise Die Sendung kann ab der 8. Jahrgangsstufe im Religions- und Ethikunterricht eingesetzt werden. Lehrplanbezüge (Bayern) Hauptschule 8. Jgst. Katholische Religionslehre 8.4 „Höre Israel, der Herr unser Gott ist einzig“– die Religion der Juden 8.4.1 Jüdisches Glaubensleben – Frömmigkeit, Feste und Brauchtum 8.4.2 Miteinander zutiefst verbunden – jüdischer und christlicher Glaube Evangelische Religionslehre 8.3 Einander besser verstehen - Glaube und Leben der Juden 8.3.1 Jüdischer Glaube - Leben und Überlieferung 8.3.2 Miteinander verbunden – Gemeinsamkeiten im jüdischen und christlichen Glauben Ethik 8.5 Weltreligionen: Glaube und Leben im Judentum 8.5.1 Jüdische Zeugnisse, jüdisches Leben 8.5.2 Der jüdische Glaube 8.5.3 Zeiten der Verfolgung, Zeit der Verständigung und Befriedung - Leben in der Diaspora, Leben in ständiger Bedrohung Realschule 9. Jgst. Evangelische Religionslehre 9.3 Judentum: Achtung vor dem Verwandten und doch Anderen Ethik 9.4 Religionen und Lebensperspektiven Gymnasium 9. Jgst. Katholische Religionslehre 9.2 Das Judentum: Weltreligion und Wurzel des Christentums Evangelische Religionslehre 9.1 Judentum Lernziele Die Schülerinnen und Schüler sollen: die Geschichte des deutschen Judentums im Mittelalter in Grundzügen kennen; die wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen des aschkenasischen Judentums würdigen können, wissen, welchen Verfolgungen die Juden im Lauf der Jahrhunderte ausgesetzt waren, die Ursachen und die Haltlosigkeit antisemitischer Exzesse erkennen; die Vorwürfe des Hostienfrevels, des Ritualmordes und der Brunnenvergiften als böswillige Legenden durchschauen, • die antisemitische Propaganda des Mittelalters als Teil einer kollektiven Stigmatisierung begreifen. • • • • •

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Anregungen Die Sendereihe dokumentiert – und inszeniert – eindrucksvoll die Geschichte des jüdischen Volkes von den Anfängen bis zur Gegenwart. Dabei setzt sie gezielt auf die Methode des Reenactments - bedeutende Ereignisse werden, damit die Zuschauer sie besser verstehen, nachgestellt. Zudem erzählt die „Geschichte der Juden“, geschickt eingebettet in ein Gerüst von Fakteninformationen, Schicksale von Menschen, und bringt damit die Thematik der jeweiligen Folge näher an die Schülerinnen und Schüler heran. Die Folge „Tod oder Taufe“ beschreibt das Entstehen und die Geschichte des aschkenasischen Judentums vom Beginn des 9. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Pestpogrome des Jahres 1349. Ein Ziel des Unterrichts könnte sein, diese deutsch-jüdische Epoche kennenzulernen und die Frage zu behandeln, wie sehr und in welcher Weise an dieses jüdische Leben an den historischen Orten Worms, Mainz und Speyer erinnert wird. Der als Kiddusch ha-Schem ("Zur Heiligung des göttlichen Namens“) verübte kollektive Selbstmord vieler Juden kann die verzweifelten Lage der Juden in dieser Zeit bewusst machen. Ausgehend von den historischen Ereignissen im Rheinland sollten die Schülerinnen und Schüler angeregt werden, die lokale Geschichte der Juden zu erkunden. Arbeitsaufträge / Beobachtungsaufträge • Warum profitieren Kaiser, Bischöfe, Lehnsherren und Städte vom Zuzug jüdischer Händler? • Warum siedelten sich jüdische Gemeinden zuerst im Rheinland an? • Wie gestaltet sich das Zusammenleben von Juden und Christen zur Zeit der Karolinger und Sachsenkaiser? • Was ist unter den Schum-Städten zu verstehen? • Was bedeutet Askenasische Juden? • Welche Einrichtungen gehören zu einem jüdischen Viertel? • Welche Vorwürfe stehen im Zentrum der Ritualmord- und Hostienfrevellegenden? • Welche Forderungen erheben die Kreuzfahrer gegen die Juden? • Informiert euch im Internet über die Geschichte der „Deggendorfer Gnad“? Welche Gründe stecken hinter dem Pogrom? • Informiert euch über die jüdische Geschichte eurer Heimat. Literaturhinweise Haim Hillel Ben-Sasson (Hg.): Geschichte des jüdischen Volkes. München [C.H. Beck] 2007. ISBN: 978-3-406-55918-1. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band XIII (1998) Spalten 1255-1259, Wilhelm von Norwich, Autor: Manfred Eder (www.bautz.de/bbkl) Michael Brenner: Kleine jüdische Geschichte. München [C. H. Beck] 2008. ISBN: 978-3-406-57668-3. Hier besonders S. 101-120 Ulrich Harbecke: Die Juden. Geschichte eines Volkes. Düsseldorf [Grupello] 2007. ISBN: 978-389978-076-5. Kurt Schubert: Jüdische Geschichte. München [C. H. Beck] 52002. ISBN: 978-3-406-44918-5. Jüdisches Leben in Deutschland. Informationen zur politischen Bildung (Heft 307). Download und Bestellung unter: http://www.bpb.de/publikationen/XXU88N,0,J%FCdisches_Leben_in_Deutschland.htm

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Links http://www.steinheim-institut.org/juden_im_mittelalter.pdf Die rheinischen Juden im Mittelalter. Ein Online-Handbuch für Lehrer und Dozenten in Schule, Hochschule und kultureller Bildungsarbeit - Eine Publikation des Salomon Ludwig Steinheim.Instituts. http://www.juedischegeschichte.de/html/mittelalter-start.html AG Deutsch-Jüdische Geschichte im Verband der Geschichtslehrer Deutschlands. Reichhaltiges, für den Unterricht aufbereitetes Quellen- und Hintergrundmaterial zur jüdischen Geschichte im Mittelalter. http://www.ufuq.de/pdf/lehrerhandreichung.pdf Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart. Eine Lehrerhandreichung des Zentrums für Antisemitismusforschung http://www.zeno.org/Geschichte/M/Graetz, +Heinrich/Geschichte+der+Juden/Dritter+Zeitraum/Dritte+Periode+des+dritten+Zeitraumes.+Die+Periode+des+allm%C3%A4hlichen+Verfalls/10.+Kapitel.+Der+schwarze+Tod Heinrich Grätz: Geschichte der Juden. Dritter Zeitraum, Dritte Periode, 10. Kapitel. Der schwarze Tod. Nachdruck: Arani Verlag, 1998, ISBN-10: 3760586732, ISBN-13: 978-3760586731] Zur Geschichte der Deggendorfer Gnad und anderer vermeintlicher Hostienfrevel http://www.judentum.org/judenmission/antijudaismus/hostie-0.htm http://de.wikipedia.org/wiki/Grabkirche_%28Deggendorf%29

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