DIE FREIHEIT DER VERNUNFT ODER DAS LUZIDE DER EINBILDUNGSKRAFT

Die Philosophie Kants mache die Grundlage und den Ausgangspunkt der neueren deutschen Philosophie aus, und dies ihr Verdienst bliebe ihr ungeschmälert durch das, was an ihr ausgesetzt werden möge, erinnert Hegel seine Leser in der Allgemeinen Einteilung seiner 1812 erschienen Wissenschaft der Logik1. Hegels erste öffentliche Kritik an der Kantischen Philosophie erschien in dem Aufsatz Glauben und Wissen von 1802. Im Nachvollzug der Kantischen Argumente wollte Hegel nicht die Prämissen zu den Resultaten, sondern alternative Resultate finden, die nicht hinter Kant zurück, sondern über Kant hinaus gehen sollten und ihn zu seiner identitätsphilosophischen Konzeption einer absoluten Metaphysik führten. Hegel stellt sein Projekt einer „wahren“ Philosophie in Glauben und Wissen philosophiehistorisch im Rahmen der Aufhebungsfigur des Erneuerns durch Aufbewahren als die höhere Gestalt von objektiver und subjektiver Metaphysik vor. Mit ihr sollte die aus dem zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Skeptizismus hervorgegangene Spaltung zwischen den Erkenntnisvermögen des Menschen, die, als Werkzeuge gedacht, dem Menschen immer eine subjektiv verzerrte, bearbeitete Realität zeigen, und der Wirklichkeit in ihrer vom menschlichen Erkennen unabhängigen Seite überwunden werden, indem das Erkennen struktureller Moment der allem Wirklichen zugrundeliegenden absoluten Idee wurde. Diese Idee liegt nach Meinung Hegels eigentlich auch der Kantischen Philosophie zu Grunde, weil sie den notwendigen Zusammenhang von scheinbar Gegensätzlichem, von Anschauung und Begriff, zum Zweck des Erkennens fordert, was sich insbesondere an dem Begriff der produktiven Einbildungskraft zeige, auch wenn dieser Zusammenhang dann wieder nur zu einer bloß menschlichen Verstandeseinheit herabgestuft würde. Glauben und Wissen ist der einzige Text Hegels, in dem er sich ausführlicher mit Kants Begriff der produktiven Einbildungskraft auseinandersetzt.

I. Problemexposition Kant schien in der Kritik der reinen Vernunft die Unmöglichkeit der theoretischen Vernunft erwiesen zu haben, dass ihr immanentes Erkennen objektive Geltung beanspruchen könne. Das für Hegel im transzendentalen Prinzip der synthetischen Einheit der Apperzeption geforderte Identitätsverhältnis von Denken und Nichtdenken sei bei Kant nur als einseitige Identität des menschlichen Denkens verwirklicht, die kausal verursachte Erscheinung im Erkennen stehe dem Realen schroff gegenüber und bilde eine unvollkommen Synthese, in der 1

G.W.F. HEGEL, Wissenschaft der Logik, GW 11. 31 (Anmerkung)

der Gegensatz des Heteronomen verbliebe. Das Prinzip Selbstbewusstsein konstruiere unter dem Eindruck von seinen Empfindungen eine Verstandesidentität von Begriff und Anschauung und präge auf diese Weise dem Unbekannten ein Gesicht ein. Die im Kausalitätsverhältnis entstandene Einheit von Realität und Erkennen begreift Hegel als gewaltsames Herrschaftsverhältnis des Menschen über die Natur und des Menschen über den Menschen. Die von der Transzendentalphilosophie geforderte, aber verfehlte prinzipielle oder ´absolute` Identität des in der Erscheinung Heteronomen als Voraussetzung der Möglichkeit von Wissen, und, aufgrund der strukturellen Identität von Erkenntnisstruktur und Seinsordnung, als Voraussetzung einer modernen freiheitlichen Gesellschaftsordnung2, ist das, was Hegel in Glauben und Wissen unter ´Gott` oder ´dem Absoluten` versteht. Diese ursprüngliche Identität von Realität und Erkennen im Bewusstsein denkend inhaltlich bestimmt als Objektivität zu erkennen, bedeutet, die theoretischen Vernunft im Erkennen ihrer Objekte als alle Realität zu erweisen. In den traditionellen Termini der alten Metaphysik ausgedrückt meint das laut Hegel, die einzige Aufgabe der „wahren“ Philosophie sei der ontologische Beweis Gottes3, der denn auch ihr einziges ´Wissen` ausmache. Wissen beginnt im Begreifen der sinnlichen Anschauung und vollendet sich für Hegel im ´vernünftigen Erkennen`, dem Beziehen von Subjektivität und Objektivität auf ihren Grund in der absoluten Identität und ist damit ´wissenschaftliches Wissen` und ´Selbsterkenntnis` des Absoluten in einem. Der Kantische Begriff der produktiven Einbildungskraft weist Hegel den Weg, so meine These, auf dem er eine ´absoluten Identität` konstruieren kann, die nicht mehr die unterschiedslose Einheit von Allgemeinheit und Einzelheit im Sinne einer Anschauung4 meint, wie er sie in den Frankfurter Schriften und noch in der Jenaer Differenzschrift von 1801 vertreten hat, sondern eine Einheit, die die Differenzen in sich fasst. Kants Konstruktion einer inneren Einheit von sinnlicher Anschauung und Verstand als ursprüngliche synthetische Vgl. „...aber diese sich bewegende Welt ist ohne Bewußtseyn der Harmonie; sie ist nur im Geist des Philosophen ein harmonisches; sie selbst aber erkennt diese Einigkeit nicht; – es ist aber möglich, dass auch diese aüssere Uneinigkeit, von der bewusstlosen Identität zur bewussten gebracht werde. Es sind vorhin Beispiele Solons und anderer angeführt worden, welche die Identität in ihrer Welt hergestellt haben;...“ Aus: HEGEL, „Dass die Philosophie...“, in: Schriften und Entwürfe (1799 – 1808), GW 5. 269, 8 – 13 3 Vgl. „Wenn wir dem praktischen Glauben der Kantischen Philosophie (nemlich den Glauben an Gott, [...] ) etwas von dem unphilosophischen und unpopulären Kleide nehmen, womit er bedeckt ist, so ist darin nichts anderes ausgedrückt als die Idee, daß die Vernunft zugleich absolute Realität habe, daß in dieser Idee aller Gegensatz von Freyheit und Nothwendigkeit aufgehoben, daß das unendliche Denken zugleich absolute Realität ist oder die absolute Identität des Denkens und des Seyns.“ Aus: HEGEL, Glauben und Wissen, GW 4. 344, 30 – 345, 1 4 Vgl. „Die Entgegensetzung des Anschauenden und des Angeschauten, daß sie Subjekt und Objekt sind, fällt in der Anschauung selbst weg; ihre Verschiedenheit ist nur eine Möglichkeit der Trennung; ein Mensch, der ganz in der Anschauung der Sonne versunken wäre, wäre nur ein Gefühl des Lichts, ein Lichtgefühl als Wesen.“ Aus: HEGEL, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: Hegels theologische Jugendschriften, hrsg. von Herman Nohl, Tübingen 1907, S. 316 2

Einheit der Apperzeption oder das reine, objektbezogene Denken gibt Hegel dazu einen entscheidenden Anstoß. Er befindet sich in Glauben und Wissen im Übergang, in der die in den Frühschriften vertreten Anschauung als besondere Erkenntnisweise und Seinsweise des Absoluten depotenziert wird und der notwendige Zusammenhang Unterschiedener bei Beibehaltung ihrer Unterschiede als Totalität von logischen Denkbestimmungen entwickelt wird. Gestützt wird diese These durch Hegels erstmalige Erwähnung des Schlusses als Ausdruck der ursprünglichen absoluten Identität von Allgemeinem und Besonderem, die sich im Mittelbegriff des Schlusses darstelle.

II. Der intuitive Verstand als Prinzip vernünftigen Erkennens Kant musste die immanente Erkenntnis des Absoluten aufgrund der Antinomien der theoretischen Vernunft in die praktische Vernunft verlagern. Damit wurde die absolute Identität des Heteronomen in Hegels Augen zum höchstgelegenen Punkt der Subjektivität, der uns nur im ´Glauben`, als „ein Jenseits für das Wissen“5, zugänglich sei. Dabei hatte gerade Kant in der Kritik der Urteilskraft in den Paragraphen 76 und 77 den Grundstein für ein neues Rationalitätskonzept gelegt, auf das er bei seinem Versuch, Natur zu erkennen, stieß und an das sich Hegel mit Kant gegen Kant anschloss, um sein Konzept einer Identitätsphilosophie herauszuarbeiten. Das diskursive Erkennen unterscheidet zwischen der Vorstellung eines Dinges in Bezug auf das begriffliche Denken, der Möglichkeit eines Gegenstandes, und der sinnlichen Anschauung von Objekten, der Wirklichkeit des Gegenstandes. Die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit des Gegenstandes wird von einem Denken unterlaufen, in dem die Form, das Denken, sich selbst zum Inhalt, zum Angeschauten, macht. Diejenigen Kategorien, die das Erkennen eines Gegenstandes ermöglichen, sind zugleich der Gegenstand selbst. Die theoretische Vernunft ist dann strukturell identisch und eins mit dem Gegenstand, den sie intellektuell anschaut. Hegel unterscheidet in dem Aufsatz Glauben und Wissen nur in der Hinsicht zwischen ´intellektueller Anschauung` und ´intuitivem Verstand`, als letzterer die Totalität der intellektuellen Anschauung6, welche die Differenzen in sich schließt, sei. Bei beiden ist der Gegensatz zwischen der Einheit des Denkens und der Differenz von Denken und Sinnlichkeit aufgehoben7. Eine solche nicht diskursive Rationalität eines intellektuell anschauenden, intuitiven Verstandes, bei dem Rezeption und Produktion identisch sind, wird von Kant im Paragraphen 5

HEGEL, Glauben und Wissen, GW 4. 325, 30 Vgl. Ders., Ebd., GW 4. 368, 32 – 33 7 Vgl. Ders., Ebd., GW 4. 354, 31 – 34 6

77 mit erkenntnistheoretischem Vorbehalt als Realgrund der Welt vorgeschlagen. Weil es nicht möglich sei, einen natürlichen Organismus aus beweglichen Kräften mithilfe kausalmechanischer Prinzipien erklären zu können, müsse von der theoretischen Vernunft eine andere Art von Naturkausalität angenommen werden, in der die Naturprodukte mit ihrer Ursache ursprünglich zusammenhingen, die von Kant als ´Idee eines Naturzwecks` bezeichnet wurde. Statt also aus den Teilen ein Ganzes zu bilden und die einzelnen Dinge durch Vergleiche nach ihnen gemeinsamen Merkmalen unter abstrakte Begriffe zu subsumieren, wird durch Anschauung des Ganzen als eines Synthetisch-Allgemeinen auf die Möglichkeit seiner Teile und deren Beziehungen geschlossen. Jedes der Teile steht in Beziehung auf das ihnen vorgängige Ganze. Die Natur erschafft sich durch sich selbst und in sich selbst als in sich organisierte Totalität von Denkbestimmungen, als ´Organismus`, in dem die angeschaute Erscheinung, das Besondere, strukturell identisch ist mit ihrem Wesen, dem Allgemeinen. Der Organismus oder die ´organische Idee` als Denkprinzip hat in der Hegelschen Philosophie die Funktion, Prinzip der reellen Vernunft zu sein. Die absolute Identität wird im Zusammenhang mit dem Organismusbegriff als absolute Totalität gedacht, das Einzelne soll intuitiv aus seiner Stellung und seinem Zusammenhang im Ganzen erschlossen werden. Hegel setzt im Gegensatz zu Kant intuitiven Verstand und Einbildungskraft zueinander ins Verhältnis. Das Prinzip vernünftigen Erkennens, der intuitive Verstand, erscheine im menschlichen Bewusstsein als ´produktive Einbildungskraft`. Abstrakte, in Gegensätzen fixierte Begriffe können verflüssigt und der lebendigen Wirklichkeit, die als das Werden einer natürlich-organischen Einheit gedacht wird, anverwandelt werden. Die gegensätzlichen Reflexionsbestimmungen des diskursiven Verstandes werden von der Vernunft synthetisiert und im Beziehen auf die Totalität aller Denkbestimmungen ´absolut identisch` gesetzt, die sinnliche Anschauung wird intellektuell. Dabei erkennt sich das verständige Erkennen als in sich organisierte Einheit, die sich selbst erzeugt, als „spekulative Idee“. Der nur vorausgesetzte intuitive Verstand als Weltursache wird im Durchgang durch den diskursiv – anschauenden Verstand, die produktive Einbildungskraft, als in sich konkrete Totalität für das Wissen rekonstruiert. Der intuitive, „urbildliche Verstand“ bildet das Interpretament, in dem Hegel alle Formen des Erkennens auslegt8. Das, was bei Kant starre Erkenntnisvermögen der transzendentalen Subjektivität sind, wird bei Hegel zu dynamischen Erkenntnisstufen innerhalb der Entwicklung der absoluten Idee in ihrer Realisierung.

Vgl. „...– um aber den Verstand als nachahmend zu erkennen, müssen wir uns zugleich das Urbild, das er kopirt, den Ausdruck der Vernunft selbst immer vorhalten.“ Aus: HEGEL, „Dass die Philosophie...“, in: Schriften und Entwürfe (1799 – 1808), GW 5. 272, 20 – 21 8

III. Die produktive Einbildungskraft als Erscheinung des intuitiven Verstandes Vorausschickend soll an dieser Stelle angemerkt werden, dass Hegel in Glauben und Wissen überwiegend den Begriff ´produktive Einbildungskraft` benutzt, aber die Termini ´Einbildungskraft`, ´produktive Einbildungskraft` und ´transzendentale Einbildungskraft` scheinbar bedeutungsgleich verwendet. Die produktive Einbildungskraft ist für Hegel eine „organische Idee“. Eine wesentliche Stelle in Glauben und Wissen, die Hegels Verständnis dieses Kantischen Begriffes zusammenfassend umreißt, soll im folgenden ganz zitiert werden: „Diese Einbildungskraft als die ursprüngliche zweyseitige Identität, die nach einer Seite Subject überhaupt wird, nach der anderen aber Object und ursprünglich beydes ist, ist nichts anderes als die Vernunft selbst, deren Idee vorhin bestimmt worden ist; nur Vernunft als erscheinend in der Sphäre des empirischen Bewußtseyns. Daß das Ansich des empirischen Bewusstseins die Vernunft selbst ist und productive Einbildungskraft, sowohl als anschauend als auch als erfahrend nicht besondere von der Vernunft abgesonderte Vermögen sind, und daß diese productive Einbildungskraft nur Verstand heißt, insofern die Kategorien als die bestimmten Formen der erfahrenden Einbildungskraft unter der Form des Unendlichen gesetzt und als Begriffe fixirt werden, welche gleichfalls in ihrer Sphäre ein vollständiges System bilden, dieß muß vorzüglich von denjenigen aufgefaßt werden, welche, wenn sie von Einbildungskraft sprechen hören, weder an Verstand, noch vielweniger aber an Vernunft, sondern nur an Ungesetzmäßigkeit, Willkür und Erdichtung denken, und sich von der Vorstellung einer qualitativen Mannichfaltigkeit von Vermögen und Fähigkeiten des Geistes nicht losmachen können;...“9

An dem Erkenntnisvermögen der produktiven Einbildungskraft tritt die absolute Idee für Hegel in der Kantischen Philosophie am lebhaftesten hervor. Die isolierten Vermögen des Denkens und der Anschauung stellen sich als unterschiedliche synthetische Einheiten eines sie durchherrschenden Prinzips heraus, der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption. Da Kant selber zwischen dem ´Ich` der absoluten Synthesis als Vernunftprinzip und „der leeren Identität“, dem Ich des Selbstbewusstseins, sowie der Welt als Totalität der Erscheinungen unterscheide, sieht sich Hegel berechtigt, die transzendentale Synthesis Kants als spekulative Idee oder Subjektobjekt zu interpretieren, in der sich das personale Ich und die Natur erst entwickeln. In der zweiten Auflage der Deduktion der Kategorien der Kritik der reinen Vernunft ist es die transzendentale Synthesis selbst, die zugleich das aktive und passive Prinzip der figürlichen, raum-zeitlichen, und intellektuellen Synthesis ist. Das Prinzip der Sinnlichkeit, die produktive Einbildungskraft, ist in ihrer Struktur gedoppelt, sowohl produktives Denken („Anschauung“), als auch rezipierendes Erkennen („Begreifen der Anschauung“ oder Verstand), und kommt daher Hegels Vorstellung des Absoluten als intuitivem Verstand nahe. Die produktive Einbildungskraft wird auch blind genannt, weil die Einheit in der niedrigeren Potenz, der unmittelbaren Anschauung, ganz von der Differenz absorbiert („versenkt“) ist. Indem das Wesen des Absoluten im unmittelbaren Anschauen vermittelst der produktiven Einbildungskraft als ein in sich konkreter 9

HEGEL, Glauben und Wissen, GW 4. 329, 22 – 37

Gestaltungsprozess von raumzeitlichen, konkreten Differenzen auftritt, zerreißt es das Kontinuum seines unendlichen Beziehungsfeldes in natürliche Einzelne. Zugleich scheidet sich aus der unmittelbaren Anschauung das Denken rein ab in die höhere Potenz eines sich als Allgemeinheit konstituierenden Verstandes. Die Vernunft wird in der Funktion des Verstandes sehend, weil sich in ihm die spekulative Idee in sinnliche Anschauung und die intellektuelle Anschauung des reinen Verstandes gespalten hat. Unter ´Sehen` versteht Hegel das räumliche und zeitliche Bewusstsein, in dem die Identität des Denkens und die Differenz von Denken und raumzeitlichem Sein im Verhältnis von relativer Identität und relativer Differenz zueinander stehen. Der Gegensatz zwischen Sein und Denken tritt im sinnlich-empirischen Anschauen als zwei Formen des Anschauens am deutlichsten hervor. Die Bilder werden im folgenden durch den ihnen entgegengesetzten reinen Verstand oder der Funktion des Urteilens durch Kategorien in die Allgemeinheit des Denkens gehoben. Im Begreifen der Anschauung wird das sinnlich-dynamische Beziehungsfeld als Einheit von figürlicher und intellektueller Synthese unter sich einander ausschließenden Verstandesbegriffen subsumiert und

fixiert, die aufgrund der Abstraktion in einer

bewusstlosen Beziehung auf die getilgten Vorstellungsbilder bleiben. Die produktive Einbildungskraft bildet als Verstand ein vollständiges System von Begriffen aus. Das Absolute wird im Verstand in der diskursiven Form des propositionalen Wissens, des Satzes, ausgedrückt, die dem unendlichen Beziehungsfeld des Absoluten eigentlich unangemessen ist10. Die Einheit von Realität und Erkennen erscheine im Urteil in der einseitigen, „relativen“ Identität des Begriffs, als abstrakte Allgemeinheit, in der die Unterschiede von einfacher Identität (A=A) und in sich organisierter Erscheinung (A=B) getilgt wurden. Die kategorielle Identität des Selbstbewusstseins, der Begriff, trete dann der Einheit des Begriffs und der Anschauung im Urteil als „relativer Dublicität“ gegenüber, die dadurch erst zum Besonderen und Empirischen, ja zum Fremden, würde. Die Identität des Verstandes und des Empirischen, also die strukturelle Identität mit dem Absoluten, präsentiere sich in bewusstloser Form als Kopula des Satzes. Sein und Erkennen scheinen zu unversöhnlichen Heteronomen geworden zu sein. Aber die apriorische Urteilsstruktur drücke an sich selbst die Einheit von Identität der Identität und Dualität oder die Einheit des Empirischen und der theoretischen Vernunft aus, wodurch erwiesen sei, dass der Verstand formelle, weil anschauungslose, spekulative „Triplicität“ sei, also die strukturelle Einheit von reiner Identität, Dualität und absoluter Identität. Es gelte, anzuerkennen, dass das Urteil Erscheinung der Vernunft sei, und im 10

Das Problem, wie man eine nicht diskursive Realität im Medium der Sprache als diskursiver Rationalität darstellt, wird Hegel in den folgenden Jahren zur Theorie des spekulativen Satzes führen.

Fortgang zum spekulativen Schluss zu erkennen, dass die Vernunft im Mittelbegriff die „absolute Mitte“ oder die Einheit von Erkennen und Objektivität sei. Die negative Seite der Vernunft erweise in den Kantischen Antinomien die Ungültigkeit der isolierten Reflexionsbestimmungen des reinen Verstandes. Die positive Seite jener Antinomien zeigt sich für Hegel, gemäß dem transzendentalen Prinzip der Einheit von Begriff und Anschauung, an dem von ihm konstruierten spekulativen Zusammenhang von ästhetischer Idee, in der Anschauung und Begriff zusammenfallen, und Vernunftidee. Die ästhetische Idee, bei Kant eine Vorstellung der autonomen Einbildungskraft, die durch keine Sprache völlig adäquat wiedergegeben werden kann, sei analog von Kants „Darstellung des Begriffs in der Anschauung“ als Darstellung der Idee im Schönen zu verstehen, und die ästhetische Idee finde ihre Exposition in der Vernunftidee. Damit hat Hegel gezeigt, dass die sinnlich-empirische Anschauung mithilfe der Kantischen Philosophie als Funktion des anschauenden Verstandes interpretiert werden kann, dessen innere Einheit von Erkennen und Objektivität die des Verstandes ist. Und dass eben dieser innere Verstand als Grund der ´empirische Anschauung` und ´Erfahrung` ausgelegt werden kann. Die Kategorie sei in die Ausdehnung versenkt, „die erst Verstand und Kategorie wird, insofern sie sich von der Ausdehnung absondert; die transcendentale Einbildungskraft ist also selbst anschauender Verstand.“11 Der reine Verstand wiederum erweist sich in der entgrenzenden Tätigkeit der transzendentalen Synthesis als formelle Vernunft. In der anschauenden Vernunft findet das philosophische System in der absoluten Identität von angeschauter Idee und Vernunftidee seinen Abschluss. Die in Hegels Kant-Kritik aufscheinende mögliche Systemvorstellung ist also durch das Kantische transzendentale Prinzip, dass die Anschauung ohne Begriff leer sei und der Begriff ohne Anschauung blind, systematisch binär durchkomponiert. Erscheinung und Absolutes lassen sich nur in Beziehung aufeinander erkennen. Die Einbildungskraft ist die Bedingung der Möglichkeit von realem Wissen vom Absoluten. Sie bildet mit der theoretischen Vernunft ein organisches Ganzes, das „die Idee der Totalität erschafft und construirt als absolute und ursprüngliche Identität des Allgemeinen und Besonderen, welche Identität Kant synthetische genannt hat, [ ...] weil sie selbst in sich differenzirt, zweyendig ist, so daß die Einheit und Mannichfaltigkeit in ihr nicht zu einander hinzutreten, sondern in ihr sich abscheiden und mit Gewalt , wie Plato sagt, von der Mitte zusammengehalten werden.“12 In der Auseinandersetzung mit Objektivität realisiert sich also

11 12

HEGEL, Glauben und Wissen, GW 4. 341, 6 – 8 HEGEL, Ebd., GW 4. 372, 12 – 17

für Hegel das vernünftige Erkennen als alle Realität oder als Absolutes, indem das, was Nichtdenken zu sein scheint, zum Denken wird.

IV. Kritisches Resümee Die produktive Einbildungskraft bildet das Zentrum des Selbstbewusstseins. Das Denken als Produktion bringt in ihm das Wesen zur Erscheinung, in der Begriff und Reelles eins sind. Die sinnliche Gewissheit, der Glaube an die Realität der Außenwelt wird insofern gegen die Skepsis und die „wesenlosen“ Erscheinungen Kants verteidigt, als die sinnliche Anschauung bereits von der Vernunft begleitet wird, ohne dass diese sich im natürlichen Bewusstsein schon in ihr erkennt. Weil die absolute Identität aus der Perspektive Hegels der Grund der produktiven Einbildungskraft sowohl als bilderzeugendes als auch begriffliches Vermögen ist, kann auch die immanente Vernunfterkenntnis selbst objektive Geltung beanspruchen. Hegels Konzept einer identitätsphilosophischen, postkantianischen Metaphysik, die Rationalitätsform der abstrakten Allgemeinheit in eine erweiterte, am Denken von Natur entwickelten Rationalität zu transformieren, die der „lebendigen“ Wirklichkeit angemessener sei, aber nicht von äußerem Dasein determiniert ist, sondern frei und autonom, scheint also aufzugehen. Aber der Abriss skeptischer Gefängnismauern, die das Denken von der Außenwelt ausschließen und es in sich einschließen, schlug um in den Aufbau um so dickerer Mauern, als dem Nichtdenken nur dann substantielle Bedeutung zukam, wenn es sich ausschließlich in Denken auflösen ließ. In die Spekulation gelange man nur „à corps perdu“ 13, schreibt Hegel in der Differenzschrift. Das Denken läuft in sich zurück und haust sich in sich ein, weil außer den Denkformen keine weiteren Äußerungsformen des Absoluten mehr im vernünftigen Erkennen zugelassen werden. In dem Versuch einer methodischen Ausführung der von Kant geforderten gegenseitigen Ergänzungsnotwendigkeit von Begriff und Anschauung zum Zweck der Erkenntnis interpretiert Hegel die innere Einheit des anschauenden Verstandes als reines Denken, das die menschliche, transzendentale Subjektivität übergreift und wendet sich damit tendenziell gegen die alle Unterschiede ausschließende Anschauung als besondere Erkenntnisweise. (Sinnliche) Anschauung und Verstand verlieren ihren Gegensatz und werden zu kategorialen Konfigurationen unterschiedlicher Erkenntnisstufen des vernünftigen Erkennens des in sich organisierten, absoluten Denkens. Die Subjektwerdung der Substanz vollzieht sich somit durch

13

HEGEL, Differenz des Fichte`schen und Schelling`schen Systems der Philosophie, GW 4. 11, 32

Identifikation14 der Totalität der Ordnung des Wissens mit dem Idealbild der absoluten Idee als ein sich selbst erkennendes Erkennen. Die Vernunft als ganze ist also frei, weil sie im Anderen sich selbst erkennt, und damit liegt

Hegels

identitätsphilosophischem

Metaphysikkonzept

wohl

ein

epistemischer

Freiheitsbegriff zu Grunde. Sie kann sich aber nur deshalb im Anderen selbst erkennen, weil schon in Kants Formulierung der produktiven Einbildungskraft entgegen seinem eigenen Erkenntnisprogramm die zwei Stämme der Erkenntnis gleichsam unter der Hand zu einer Identität des Erkennens im Denken umgewandelt wurden und der Kantische Platzhalter für das Heteronome, die Dinge an sich, aufgrund der Voraussetzung der Hegelschen Philosophie wegfallen muss. Die Zweiendigkeit der absoluten Identität resultiert in einer bei sich selbst bleibenden, alles übergreifenden Einheit objektkonstitutiver, logischer Denkbestimmungen. Im Einzelnen jedoch wirkt die Vernunft, sein Ansich, als verinnerlichter Zwang zur Integration in das Ganze15. Es führt kein Weg zurück vom Erleben Einzelner zur Idee. Unbeeindruckt von ihren Realisationen bleibt die Vernunft in ihrem Idealbild16 als spekulative Idee ewig unveränderlich und wird zur fixen Idee.

Literatur G.W.F.HEGEL, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, hrg. von Herman Nohl, Tübingen 1907 Ders., Differenz des Fichte`schen und Schelling`schen Systems der Philosophie, in: Gesammelte Werke 4, Hamburg 1968 Ders., Glauben und Wissens, in: Gesammelte Werke 4, Hamburg, 1968 Ders., Schriften und Entwürfe (1799 – 1808), in: Gesammelte Werke 5, Hamburg, 1998 M. BAUM, Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, Bonn 1989

Sabina Hoth Rheinstr.32/33 D-12161 Berlin [email protected]

Vgl. „Die äussere und seine innere Welt der Philosophie sind wohl nicht getrennte Welten, aber die äussere mag getrennt und in Feindschaft begriffen seyn; die Disharmonie derselben lößt sich wohl für den Philosophen in Harmonie auf;...“ Aus: HEGEL, „Dass die Philosophie...“, in: Schriften und Entwürfe (1799 – 1808), GW 5. 269, 5 – 7 15 Vgl. „Was der einzelne im Verhältniß zum Ganzen ist, findet sich festgesetzt, und durch die Natur ist das Leben jedes Einzelnen ein Seyn in diesem Allgemeinen, was als Gesetz und Recht aufgestellt ist, ist zugleich eigene Maxime eines jeden, was er will, ist allgemeiner Willen, und seine Einzelnheit ist mit ihr vollkommen eins;...“ Aus: HEGEL, „Ist das Allgemeine...“, in: a.a.O., GW 5. 368, 6 – 10 16 Vgl. „Wie das absolute Wesen selbst in der Idee sein Bild gleichsam entwirft,...“ Aus: HEGEL, „Die Idee des absoluten Wesens...“, in: a.a.O., GW 5. 262, 7 14