Kritik der holistischen Vernunft

Kech Inhalt: Ganzheitslehren haben Hochkonjunktur. Einer ihrer schärfsten Kritiker war Karl Popper. Das Buch erzählt die Geschichte eines Zerrissenen ...
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Kech Inhalt: Ganzheitslehren haben Hochkonjunktur. Einer ihrer schärfsten Kritiker war Karl Popper. Das Buch erzählt die Geschichte eines Zerrissenen und wirft ein neues Licht auf einen der einflussreichsten Philosophen der 20. Jahrhunderts. Als einer der letzten Aufklärer zog Popper in einen aussichtslosen Kampf gegen die holistische Verschwörung, bei dem er sich immer tiefer in Widersprüche verstrickte. Hier wird zum ersten Mal das Grunddilemma in Poppers Oeuvre umfassend dargelegt. Es ist ein herausfordernder, gut lesbarer Streifzug durch unsere Geistesgeschichte zurück zu den Wurzeln der Ganzheitslehren mit einem besonderen Augenmerk auf die holistische Wende um 1900, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft. Der Autor: Dr. Florian Kech, geb. 1979 in Donaueschingen, studierte Politikwissenschaft und Sozio­logie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. 2006 Magister Artium, 2011 Promotion. Er lebt in Freiburg und arbeitet als Journalist für Rundfunk, Fernsehen, Print- und Onlinemedien.

Kritik der holistischen Vernunft

Florian Kech

Kritik der holistischen Vernunft Karl Popper und die Frage nach dem Ganzen und seiner Teile

ISBN 978-3-8329-7505-0

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Florian Kech

Kritik der holistischen Vernunft Karl Popper und die Frage nach dem Ganzen und seiner Teile

Nomos

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zugl.: Freiburg i.Br., Univ., Diss., 2011 ISBN 978-3-8329-7505-0

1. Auflage 2012 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2012. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhatsverzeichnis

Vorwort 1. Einleitung

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2. Der Teil und das Ganze: Begriffliche und ideengeschichtliche Einordnung des Holismusproblems 18 2.1 Holismus: eine Begriffsbestimmung 2.2 Atomismus und Holismus: ein frühes Schisma 2.3 Die holistische Wende um 1900

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3. Ausgangspunkte

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3.1 Poppers Vita im Zeichen des Holismusproblems 3.1.1 Schlüsselerlebnisse 3.1.2 Studienjahre 3.1.3 Auf Umwegen zur Philosophie 3.1.4 Krise als Normalzustand 3.1.5 Emigration 3.2 Zirkeltraining: Das Umfeld des Wiener Kreises 3.2.1 Zur Entstehungsgeschichte des Neopositivismus 3.2.2 Logischer Atomismus 3.2.2.1 Der Namensgeber: Bertrand Russell 3.2.2.2 Der Ideengeber: Ludwig Wittgenstein 3.2.2.3 Der Wahr-Sager: Rudolf Carnap 3.2.3 Die Entdeckung des Holismusproblems: Otto Neurath und die Protokollsatzdebatte 3.3 Der Totengräber: Poppers Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis 3.3.1 Die Mär von der Induktion: Poppers Kritik am Logischen Atomismus 3.3.2 Sumpfgebiete: Zwischen offizieller Opposition und inoffiziellem Holismus

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4. Ganz oder gar nicht: Die holistische Herausforderung des Falsifikationismus 4.1 Gemäßigter Holismus 4.1.1 Das Dreigestirn des Konventionalismus 4.1.1.1 Verkleidete Definitionen: Henri Poincaré 4.1.1.2 Ganzheitliche Verwerfungen: Pierre Duhem 4.1.1.3 Klare Entscheidungen: Hugo Dingler 4.1.2 Zwischen Logik und Entschluss: Popper in der Konventionalismusfalle 4.1.2.1 Zaghafte Abgrenzungsversuche vom Konventionalismus 4.1.2.2 Antikonventionalistische Maßregeln 4.1.3 Empirismus ohne Dogmen: Willard van Orman Quine 4.1.4 Vom Nutzen der Isolation: Popper und Quine im Diskurs 4.2 Strenger Holismus 4.2.1 Der Geschichtenerzähler: Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 4.2.2 Der Mythos von der Inkommensurabilität: Popper und Kuhn im Diskurs 4.2.3 Exkurs: Lakatos’ holistischer Vermittlungsversuch – eine Tragödie in drei Akten 4.2.4 Der Anarchist: Feyerabends Kritik am Methodenzwang 4.2.5 Das Ende der Wissenschaft: Popper und Feyerabend im Diskurs 4.3 Wider eine fröhliche Wissenschaft: Ein erstes Teil-Resümee 5. Holistische Altlasten: Poppers Spätphilosophie im Zeichen des Holismusproblems

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5.1 Jetzt schlägt’s Tarski: Von der wundersamen Bekehrung zur Korrespondenztheorie 5.2 Die offene Sprache und ihre Feinde: Ausbruchversuche aus dem holistischen Sprachgefängnis 5.3 Der dritte Weg: Versuch einer antiholistischen Ontologie 5.4 Kants holistisches Erbe: Ein zweites Teil-Resümee

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6. Die politische Dimension des Holismusproblems

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6.1 Poppers Hang zur Schwarz-Weiß-Malerei 6.2 Zwei soziologische Erkenntnisprogramme 6.2.1 Gesellschaft als atomistische Beziehungskiste: das Erkenntnisprogramm des methodologischen Individualismus

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6.2.2 Gesellschaft als holistischer Organismus: das Erkenntnisprogramm des methodologischen Kollektivismus 6.3 Alles im Rahmen: Poppers Kritik am soziologischen Atomismus 6.4 Halbe Sachen: Poppers Kritik am soziologischen Holismus 6.4.1 Das Elend der Totalität: Warum Popper aus einer Mücke einen Elefanten machte

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6.4.2 Die Vertreibung aus dem holistischen Paradies: Poppers Regressionsthese des Totalitarismus 6.4.3 Holistische Schurken: Platon, Hegel und Marx als Wegbereiter des Totalitarismus 6.4.3.1 Der GröPhaZ: Platon und der organische Staat 6.4.3.2 Der Clown: Hegel und der nationalistische Zirkus 6.4.3.3 Der Klassen-Sprecher: Marx und die ungeheure Maschine 6.4.4 Wider den großen Wurf: Poppers Lob der kleinen Schritte 6.5 Über den Wolken: Ein drittes Teil-Resümee

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7. Primat der Verantwortung: Ein ganzheitliches Resümee

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Anmerkungen

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Literaturverzeichnis

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1. Einleitung

Das Wahre ist das Ganze. (Hegel 2000: 29) Man beachte, daß ich nicht die Existenz von Ganzheiten leugne; ich wende mich nur gegen die Oberflächlichkeit der meisten „holistischen Theorien“. (Popper 1993: 218)

Ganzheitslehren sind Modeerscheinungen, die in der langen abendländischen Ideengeschichte schon viele Hochs und Tiefs durchgemacht haben. Gegenwärtig erlebt der Begriff der „Ganzheitlichkeit“ eine beeindruckende Hochkonjunktur, der man sich selbst im Alltag nur schwer zu entziehen vermag. Erlaubt man sich den Zeitvertreib, das Wort „ganzheitlich“ bei der Suchmaschine Google einzugeben, landet man nicht weniger als 3 090 000 Treffer (Stand 27. Dezember 2011). Zu dem breit gefächerten Angebot zählen die ganzheitliche Zahnbehandlung (erklärtes Motto: „Gesundheit ist die Summe vieler Kleinigkeiten“), das ganzheitliche Lernen („mit Kopf, Herz und Hand“), ganzheitliches Reiten („Haben Sie schon mal einen Vollmondritt gemacht?“) sowie die ganzheitlich orientierte Tourismusentwicklung („klingt anmaßend und viel versprechend zugleich“). Im Fachjargon wird der ganzheitliche Ansatz häufig als Holismus bezeichnet. Sandkühlers philosophische Enzyklopädie übersetzt den Begriff mit „Lehren und Methoden mit dem Anspruch, Phänomene ganzheitlich zu betrachten und erklären“ (Haferkamp; Stöckler 1999: 563). Der Holismus wendet sich gegen solche Programme, die das Ganze lediglich als Mosaik seiner Teile auffassen und meinen, über die Untersuchung des Teils zum Verständnis des Ganzen gelangen zu können. Dieser Standpunkt wird in der Holismus-Literatur Atomismus genannt und als grundsätzliche Gegenposition zum Holismus definiert (vgl. Esfeld 2003: 9f). Holistische Ansätze wurden in allen Epochen der abendländischen Philosophiegeschichte vertreten und eine ebenso lange Tradition hat auch die Kritik an ihnen. Wenn es nun in meiner Absicht liegt, das Holismusproblem im Rahmen von Poppers Philosophie zu untersuchen, dann sei vorab darauf hingewiesen, dass dies als solches in seinen Schriften gar nicht benannt wurde. Dennoch behaupte ich, dass das Holismusproblem ein wesentliches Moment zum Verständnis des Popperschen Gesamtwerkes darstellt. Zeitlebens hat sich Popper alle Mühe gegeben, den Anschein eines lupenreinen Antiholisten zu erwecken. Sowohl in seinen wissenschaftstheoretischen als auch sozialphilosophischen Schriften un13

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terzog er die holistischen Theorien einer betont scharfen Kritik. Die Frage, die im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht, ist die nach Poppers tatsächlichem Verhältnis zum Holismus. Dabei gilt es zu klären: Wenn Popper den Holismus kritisierte, vertrat er dann eine konsequente Gegenposition, also einen Atomismus? Für die Holismus-Kritiker Jerry Fodor und Ernest Lepore wäre das eine zwangsläufige Folge, denn zwischen Holismus und Atomismus sehen die beiden keinerlei Spielraum (vgl. Fodor; Lepore 1992). Ich versuche dagegen nachzuweisen, dass dieser radikale Gegensatz im Hinblick auf Popper zu kurz greift. In den folgenden Kapiteln werde ich seine Zwischenposition möglichst präzise herausarbeiten. Auf diese Weise soll meine Hauptthese bestätigt werden, dass Poppers antiholistische Fassade trügt und sich dahinter etliche holistische Zugeständnisse verbergen. Der Philosoph Karl Raimund Popper passt in keine Schublade. Dementsprechend widersprüchlich sind auch die Vorwürfe, denen er bis zuletzt ausgesetzt war. So sah Jürgen Nordmann im Sozialphilosophen Popper die Verkörperung eines zynischen Neoliberalismus (vgl. Nordmann 2005); im krassen Gegensatz dazu äußerte sich der liberale Ökonom Friedrich August von Hayek irritiert über die staatsinterventionistischen Anflüge seines Wiener Weggefährten (vgl. Popper 2003: 56f); auf dem Feld der Wissenschaftstheorie titulierten ihn seine abtrünnigen Schüler Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend als verkappten Neopositivisten (vgl. Kuhn 1974; Feyerabend 1986); andere Popperianer, wie Imre Lakatos und Helmut Spinner, hielten ihrem Mentor hingegen vor, den Falsifikationismus in eine konventionalistische Sackgasse manövriert zu haben (vgl. Spinner 1974; Lakatos 1974b). All diese scheinbar autonomen Diskussionsfelder, so werde ich später nachweisen, enthüllen sich bei genauerer Betrachtung als Nebenkriegsschauplätze, in deren Zentrum das Holismusproblem schwelt. Der erfahrene Popper-Leser wird an dieser Stelle womöglich den Seufzer ausstoßen, ob der Kritische Rationalismus denn nicht schon derlei Probleme genug habe. Man denke in diesem Zusammenhang an das Induktions-, Abgrenzungsoder Basisproblem. In der Tat weist das Holismusproblem eine gewisse Schnittmenge mit dem Basisproblem auf, also der Frage nach dem empirischen Fundament wissenschaftlicher Theorien, aber es geht eben weit über dieses hinaus. In der bisherigen Popper-Rezeption ist das Holismusproblem viel zu kurz gekommen. Als einzige Ausnahmen, die den Falsifikationismus systematisch in den Holismus-Diskurs einbezogen haben, lassen sich Imre Lakatos und Wolfgang Stegmüller hervorheben (vgl. Lakatos 1974a; Stegmüller 1973). Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass das Holismusproblem von zentraler Bedeutung zum Verständnis des Kritischen Rationalismus ist. Ich behaupte sogar, dass die Art und Weise, wie Popper seine Theorien ergänzt, korrigiert und fortentwickelt hat, nur vor dem Hintergrund der holistischen Herausforderung hinreichend erklärt werden kann. Um diese These zu beweisen, habe ich mich in meinen Untersu14

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chungen nicht auf ein Teilgebiet beschränkt, sondern weitgehend Poppers gesamtes Werk berücksichtigt. Kommen wir nun zur Gliederung: Zu Beginn des Hauptteils (Kapitel 2) werde ich das Holismusproblem zunächst begrifflich einordnen und seinen ideengeschichtlichen Hintergrund skizzieren. Von welchem Zeitgeist wurde der junge Popper beeinflusst? Welche Vorbilder oder philosophischen Debatten prägten seinen intellektuellen Werdegang? Diese Fragen werde ich in Kapitel 3 untersuchen, wobei ein besonderes Augenmerk auf das Umfeld des Wiener Kreises gerichtet werden soll. Mit den Vertretern dieser einflussreichen philosophischen Gruppierung hat Popper zumindest in dem Vorhaben übereingestimmt, die Philosophie zur metaphysikfreien Zone zu erklären. Ansonsten wahrte er zum Zirkel allerdings eine kritische Distanz. Der Wiener Kreis hatte sich schon früh in zwei Lager gespaltet: auf der einen Seite waren die Logischen Atomisten, die in Anlehnung an Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein die Welt aus voneinander unabhängigen Einzelbausteinen zusammensetzten; auf der anderen Seite behauptete eine Gruppe um Otto Neurath die Theorienabhängigkeit aller Erfahrung und entzog damit einer empirischen Überprüfung von Hypothesen das Fundament. Popper blieb trotz reger Kontakte zu manchen Mitgliedern des Wiener Kreises zeitlebens ein Außenseiter und positionierte sich zwischen den beiden entgegen gesetzten Lagern. Er kritisierte einerseits den Logischen Atomismus für dessen naive Auffassung einer empirischen Basis und warf andererseits dem Holisten Neurath vor, den Empirismus komplett aufgegeben zu haben. Neurath kommt das Verdienst zu, das Holismusproblem in der analytischen Philosophie entdeckt zu haben. Eine holistische Schule vermochte er gleichwohl nicht zu begründen. Dementsprechend mutet das Lager der Holisten auf den ersten Blick recht diffus an. Bei genauerer Betrachtung lassen sich aber zwei ideengeschichtliche Strömungen identifizieren, die ich in Kapitel 4 als die holistische Herausforderung des Falsifikationismus zusammenfasse. Zum sogenannten „gemäßigten Holismus“ zähle ich den US-amerikanischen Philosophen Willard van Orman Quine, der von Otto Neurath und Pierre Duhem maßgeblich beeinflusst worden ist. Ihnen gemeinsam ist die Behauptung, dass sich wissenschaftliche Hypothesen niemals einzeln, sondern immer nur als theoretisches Gesamtpaket widerlegen ließen. Der „strenge Holismus“ geht noch einen Schritt weiter, indem er eine empirische Basis in den Wissenschaften kategorisch ablehnt. Seine Hauptvertreter, die einstigen Popper-Schüler Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend, fielen damit einem wissenschaftstheoretischen Relativismus anheim. Mit ihren Thesen haben die strengen Holisten unmittelbar an den späten Wittgenstein angedockt. Die Typologisierung eines gemäßigten und eines strengen Holismus habe ich von Wolfgang Stegmüller übernommen (vgl. Stegmüller 1973: 266ff). Um die ideengeschichtlichen Verflechtungen möglichst lückenlos nachzuzeichnen, sah ich mich allerdings dazu veranlasst, Stegmüllers Konzept zu erweitern und 15

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schloss auch die Vertreter des Konventionalismus, mit denen sich Popper bereits in der „Logik der Forschung“ auseinandergesetzt hat, in meine Untersuchungen mit ein. Die Konventionalisten um Henri Poincaré, Pierre Duhem und Helmut Dingler können so gesehen als Vorläufer der holistischen Herausforderung betrachtet werden, denn auch für sie basierten wissenschaftliche Theorien nicht auf Beobachtungen, wie dies der klassische Empirismus behauptet hatte, sondern auf mehr oder weniger willkürlichen Festsetzungen. Poppers allzu zaghafte Abgrenzungsversuche vom konventionalistischen Ansatz haben bei seinen Anhängern immer wieder Irritationen ausgelöst. Nach einem ersten vorläufigen Resümee wende ich mich in Kapitel 5 Poppers Spätphilosophie zu. Hatte Popper das Holismusproblem in seiner frühen Wissenschaftstheorie noch mehr oder weniger geschickt verdrängt, so schien er nun die Flucht nach vorn zu ergreifen. So lesen sich seine späteren Schriften wie eine Art Vergangenheitsbewältigung. Unter Berufung auf den Logiker Alfred Tarski bekannte er sich überraschend zur althergebrachten Korrespondenztheorie der Wahrheit, um sich mit deren Hilfe brutalst möglich von der holistischen Kohärenztheorie abzugrenzen, die in der Tradition Neuraths Wahrheit lediglich als Übereinstimmung von Aussagen innerhalb eines geschlossenen Aussagensystems definierte. In dieser klaren Positionierung spiegelt sich bereits Poppers Aversion gegen die Sprachphilosophie und ihre zunehmende Bedeutung innerhalb fast aller intellektuellen Milieus. Laut Wittgenstein und Co sind wir gefangen in einem holistischen Sprachgefängnis und somit nicht in der Lage, einen direkten Kontakt zur Wirklichkeit herzustellen. Gegen diesen linguistic turn hatte sich Popper ausdrücklich verwahrt und forderte für die Philosophie immer wieder aufs Neue einen Wirklichkeitsbezug ein. Am Ende blieb Popper jedoch ein Philosoph des Mittelweges. Sein Drei-Welten-Modell kann zwar als Versuch einer antiholistischen Ontologie aufgefasst werden, in der Popper allerdings erneut zu etlichen holistischen Konzessionen bereit war. Ich werde das DreiWelten-Modell der naturalistischen Erkenntnistheorie Quines gegenüberstellen. Die beiden Philosophen sind in der bisherigen Literatur kaum miteinander konfrontiert worden – und wenn, bezog sich der Vergleich hauptsächlich auf die Duhem-Quine-These und deren Implikationen für den Popperschen Falsifikationismus (vgl. Keuth 2000: 88ff). Dabei ist eine vergleichende Untersuchung der ontologischen Lehren Poppers und Quines für die Klärung des Holismusproblems äußerst aufschlussreich. Poppers ambivalenter Umgang mit dem Holismus hat auch eine politische Dimension, die ich in Kapitel 6 beleuchten werde. In seinen soziaphilosophischen Schriften ließ er sich zu einer teilweise polemisch anmutenden SchwarzWeiß-Malerei hinreißen. In Auseinandersetzung mit den kollektivistischen Sozialtheorien bekannte er sich ausdrücklich zu einem methodologischen Individualismus und verteidigte das Individuum als das Maß aller Dinge. Die antiholisti16

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sche Aufrüstung lässt sich darauf zurückführen, dass Popper den sozialen Holismus weitgehend mit dem Totalitarismus identifizierte. Ich werde allerdings belegen, dass selbst Poppers Sozialphilosophie nicht frei von holistischen Tendenzen ist; diese kommen recht unverhohlen in seiner Kritik am atomistischen Psychologismus und seinem Konzept der Situationslogik zum Vorschein. In der Diskussion um Poppers sozialphilosophischen Ansatz war dementsprechend auch von einem „holistischen Individualismus“ (Heine 1983: 34) die Rede. Abgerundet wird meine Arbeit durch ein ganzheitliches Resümee, in dem ich den „Primat der Verantwortung“ als Poppers eigentlichen theoretischen Kompass auf seinem kurvenreichen und von etlichen Stolpersteinen geprägten Holismus-Parcours herauszuarbeiten suche. Bevor ich nun zum Hauptteil übergehe, seien noch einige Bemerkungen zur Methode erlaubt. Meine Arbeit gehört zum Fach der politischen Ideengeschichte. Die methodische Herangehensweise lässt sich wohl am ehesten als ideengeschichtliche Hermeneutik bezeichnen. Dem Holismusproblem kommt dabei die Funktion einer heuristischen Schablone zu, d.h. ich zwinge dem Kritischen Rationalismus die Thematik des Holismus gleichsam auf. Dabei besteht bekanntlich immer die Gefahr, den ursprünglich gemeinten Sinn von Poppers Texten zu verfälschen, werden sie doch in einen fremden Kontext eingebettet. Um dieses Risiko zu minimieren, habe ich mich in heiklen Fragen vorwiegend an Primärliteratur orientiert. Bei einer ideengeschichtlichen Untersuchung handelt es sich immer um eine Art interdisziplinäres Unternehmen. So ist auch meine Arbeit von den drei großen Fragen geprägt, die für die politische Ideengeschichte von zentraler Bedeutung sind: die Frage nach der Entstehung einer politischen Idee, nach der Durchsetzung gegenüber konkurrierender Vorstellungen und nach ihrem Wirksamwerden bzw. ihrer Rezeption (vgl. Pfetsch 1995: 31ff). Am Ende der Lektüre soll sich dem Leser möglichst die anhaltende Relevanz des Themas erschließen, denn „[d]er Mehrwert, den die politische Ideengeschichte über die Protokollierung des intellektuellen Handgemenges einer Epoche hinaus zu bieten hat, besteht in der Bereitstellung von Antworten, die nicht mit den Konstellationen der Zeit, in der sie formuliert wurden, obsolet geworden sind“ (Münkler 2003: 109). In diesem Sinne werde ich versuchen, die angestaubten Debatten im Kritischen Rationalismus aufzupolieren und in einen neuen Diskurs einfließen zu lassen, der um die Botschaften und Nebenwirkungen des Holismus zirkuliert. Wenn die Lektüre einen differenzierteren Blick auf Poppers Gesamtwerk im Allgemeinen und sein Verhältnis zum Holismus im Speziellen ermöglicht, dann hat meine Arbeit ihr Ziel erreicht.

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