Die coniuncta, oder: Wie Johannes Tinctoris Halbtonschritte Zu beschreiben versucht

Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg CHRISTIAN BERGER Die coniuncta, oder: Wie Johannes Tinctoris Halbtonschritte Zu beschreiben ...
Author: Edith Müller
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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

CHRISTIAN BERGER Die coniuncta, oder: Wie Johannes Tinctoris Halbtonschritte Zu beschreiben versucht

Originalbeitrag erschienen in: Nova de veteribus : Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmnidt / Hrsg. von Andreas BIHRER und Elisabeth STEIN. München ; Leipzig : Saur, 2004, S. 787-798

Die Coniuncta, oder: Wie Johannes Tinctoris Halbtöne zu beschreiben versucht Christian Berger

Daß das lateinische eine lebende Sprache sei, wird kaum jemand behaupten wollen. Gleichwohl gibt es im Internet eine Fahrplanauskunft,1 die – möglicherweise dank der nicht allen Nutzern vertrauten Sprache – oftmals schneller arbeitet als die normale. Und da das Lateinische im Vatikan immer noch die offizielle Amtssprache ist, kann man auch für diesen eher profanen Zweck auf Wörterbücher zurückgreifen, die die notwendigen Begriffe für einen Eisenbahnfahrplan zur Verfügung stellen. Das ist nun keine neue Erscheinung, denn schon immer mußte das Lateinische den Erfordernissen derjenigen Zeit, während der von dieser Sprache Gebrauch wurde, angepaßt werden. Und es gehört zu den Stärken dieser Sprache, in großer Flexibilität solchen unterschiedlichsten Anforderungen gewachsen zu sein und so auch noch heute eine allgemeine, geradezu weltweite Verständigungsmöglichkeit zu schaffen. Als Johannes Tinctoris, humanistisch gebildeter Musikgelehrter und Komponist am Hof von Neapel, gegen Ende des 15. Jahrhunderts das musiktheoretische Wissen seiner Zeit zusammenzufassen suchte, konnte er fest damit rechnen, von seinen Zeitgenossen verstanden zu werden. Noch 1930 lobte Knud Jeppesen die „schlichten sachlichen Worte“ seiner Rede, die „wohltuend frei ist von der umständlichen Rhetorik der damaligen musiktheoretischen Werke.“2 Und auch Peter Gülke bescheinigte ihm: „Das Wort geht Tinctoris leicht von der Feder, den Verführungen einer blumigen Redeweise erliegt er nicht ungern.“3 So scheint es verwunderlich, daß es selbst bei diesem Autor im ‚Liber de natura et proprietate tonorum’4 von 1476 einen Abschnitt gibt, der uns heute auf den ersten Blick wie ein Beitrag zur mittelalterlichen obscuritas anmutet. Wir sind versucht zu bedauern, daß der Autor versäumt hat, eigene Glossen

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Adresse: http://62.154.206.91/cgi-bin/lefa_anf.pl. Knud Jeppesen, Kontrapunkt, Leipzig 1964 (1. Aufl. Kopenhagen 1930), S. 9. Peter Gülke, Nachwort zu Johannes Tinctoris, Terminorum musicae diffinitorium, hg. von Heinrich Bellermann und Peter Gülke (Documenta musicologica I, 37), Kassel 1983, S. 69. Johannes Tinctoris: Liber de natura et proprietate tonorum (1476), in: Johannes Tinctoris, Opera theoretica, hg. von Albert Seay (Corpus Scriptorum de Musica 22), AIM 1975, Bd. 1, S. 65-104.

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hinzuzufügen. Dies wäre gar nicht einmal ungewöhnlich gewesen, denn „manche Dichter des lateinischen Mittelalters haben sich durch Selbstkommentierung in den Rang eines klassischen Autors erheben wollen.“ 5 Allerdings liegt dieser Eindruck eher an unserer Unkenntnis der historischen und sachlichen Zusammenhänge. Es gab nämlich damals keine Bezeichnung für diejenigen Töne des Tonraums, die nicht mit den Guidonischen Tonbuchstaben, den „septem litterae“ A bis G zu erfassen waren.6 Solche Töne, die als chromatische Erniedrigungen oder Erhöhungen eines Tones der diatonischen Leiter entstehen und die wir heute im Deutschen etwa mit „as“ oder „fis“, im Englischen und Französischen mit Zusätzen wie „a flat“ oder „fa dièse“ bezeichnen, hatten nicht nur bislang keinen Platz im System, es gab deshalb auch schlicht und einfach keinen Namen dafür, und so mußte die Musiktheorie im 15. Jahrhundert erst das sprachliche Werkzeug für ihre Beschreibung schaffen. Dabei waren es Phänomene, mit denen man gerade in jener Zeit dank der Errungenschaften einer ausgfeilteren kontrapunktischen Satztechnik immer selbstverständlicher umzugehen hatte. Angesichts der Probleme, die Wissenschaft wie Aufführungspraxis bis zum heutigen Tage mit diesen Tönen haben, ist es von besonderem Interesse und für das Verständnis dieser Phänomene höchst aufschlußreich, zu beobachten, mit welchen Hilfskonstruktionen man sich damals zu helfen suchte. Der ‚Liber de natura et proprietate tonorum‘ schließt an die Elementarlehre, die ‚Expositio manus‘ an, in der Johannes Tinctoris die Grundlagen des Tonsystems behandelt (vgl. Beispiel 1). Der Reihe nach stellt er dort die locae, die Verteilung der septem litterae auf die 20 Tonorte der Guidonischen Hand vor, ihre Einordnung in das System der Hexachorde mittels der sechs voces ut, re, mi, fa, sol, la, die qualitative

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Paul Gerhard Schmidt, Das Römische Jubeljahr 1300. Mit einer Übersetzung von Jacopo Gaetani Stefaneschis De anno iubileo, in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 38, Stuttgart 2000, S. 397. Die Guidonische Leiter beginnt mit dem griechischen Proslambanomenon , dann folgt die erste Oktave A, B, C, D, E, F, G, die kleine Oktace a, b/h, c, d, e, f, g und schließlich noch die Quarte aa , bb/hh , cc , dd. (Anstelle des eigentlich notwendigen Auflösungszeichen muß hier und im Folgenden ein h gesetzt werden, das allerdings erst im 16. Jahrhundert von deutschen Druckern verwendet wurde.) Ende des 13. Jahrhunderts kommt noch das hohe ee hinzu. In unserem System entspricht das kleine c dem eingestrichenen c‘. Diese Form geht zunächst auf den anonymen Autor des ‚Dialogus de musica‘ zurück (Ps.-Odo Dial.), in: Scriptores ecclesiastici de musica sacrea potissimum, hg. von Martin Gerbert, St. Blasien 1784, Nachdr. Hildesheim 1963 (im Folgenden GS), Bd. 1, S. 253. Guido von Arezzo systematisierte sie dann im Micrologus, hg. von Josef Smits van Waesberghe (CSM 4), Rom 1955, S. 93 ff.

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Unterscheidung der Hexachorde nach ihren proprietates, also die Hexachorde molle auf F (3. decductio) oder f (6), naturale auf C (2) oder c (5) und durum auf Γ (1), G (4) bzw. g (7). Weiterhin wird gezeigt, wie sich das Netz dieser Hexachorde in Form der 7 deductiones über das gesamte System der 20 Tonorte erstreckt und wie diese einzelnen Hexachorde durch die mutatio, den linearen Wechsel zwischen den Hexachorden, verbunden werden können. Am Schluß stehen die coniunctiones, die Verbindungen der einzelnen Tonorte zu Intervallen.7

Beispiel 1: Das mittelalterliche Tonsystem Darauf aufbauend geht es nun im ‚Liber de natura et proprietate tonorum‘ um die Einbindung dieser Elemente des Tonsystems in ein umfassenderes System der 8 Kirchentöne oder Modi, die Tinctoris hier als toni bezeichnet.8 Dabei führt er zunächst systematisch die Strukturierung der einzelnen Modi mit Hilfe der Quint- und Quartspezies vor, worauf die unterschiedlichsten Erscheinungsformen wie mixtio oder commixtio tonorum, der tonus imperfectus und vieles andere erklärt werden. Den letzten Abschnitt leitet das Kapitel 44 De fine tonorum

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Johannes Tinctoris, Expositio manus, in: Opera theoretica (wie Anm. 4), S. 31-57. Die Übersetzung „Tonart“ wird bewußt vermieden, da die Verwechslung mit dem völlig andersartigen Gedankengut der modernen Dur-Moll-Tonalität vermieden werden soll. Deshalb wird konsequent der Begriff „Modus“ verwendet. Vgl. schon Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius, De institutione musica libri quinque, hg. von Gottfried Friedlein, Leipzig 1867, Nachdr. Frankfurt 1966, IIII, xv (S. 341): Ex diapason igitur consonantiae speciebus existunt, qui appellantur modi, quos eodem tropos vel tonos nominant.

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ein, in dem es um dasjenige Bestimmungsmerkmal geht, das seit dem anonymen Autor des ‚Dialogus de musica‘ aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts das wichtigste Erkennungszeichen eines jeden Modus war: Tonus vel modus est regula, quae de omni cantu in fine diiudicat.9 Zugleich werden diejenigen vier Töne des Systems vorgestellt, auf denen normalerweise ein Stück endet, nämlich das Tetrachord D, E, F, G, für das seit Hucbald von Saint-Amand gilt: Vnde et eaedem finales appellatae, quod finem in ipsis cuncta quae canuntur, accipiunt.10 Aber die Musikpraxis des 15. Jahrhunderts begnügte sich offensichtlich nicht mit diesen vier Tönen, sondern erlaubte es, prinizipiell jeden Ton des Systems und darüber hinaus auch die Töne, die durch das Verfahren der musica ficta erzeugt wurden und somit außerhalb der Guidonischen Hand lagen, als finales zu benutzen.11 Bis hierhin ist der Text recht einfach übersetz- und verstehbar. Nun bennent Tinctoris aber im 46. Kapitel nicht nur die Töne selbst, auf denen ein Modus enden kann, sondern versucht auch die Hexachorde zu bestimmen, mit denen ein solcher irregulärer Modus ausgeführt werden soll. Damit knüpft er an den Beginn seines Traktates an. Im Kapitel 3 hatte er vorgeführt, wie ein Modus aus bestimmten Intervallspecies konstruiert wird (S. 72). Ein 1. Modus entsteht demnach aus einer 1. Quinten- und einer 1. Quartenspecies, deren Struktur er im vorangegangenen Kapitel erläutert hatte (S. 70-72). Das klingt recht formalistisch, bringt aber einen großen Vorteil mit sich (vgl. Beispiel 2): Eine Species enthält nämlich eine allgemeine qualitative Beschreibung eines Intervalls. So ist eine Quarte der ersten Species resol nicht nur ein Intervall D-G, das für die abstrakte Proportion 4:3 steht, sondern auch ein Skalenausschnitt, bei dem die Abfolge der Ganz- und Halbtöne durch das zugrundeliegende Hexachord genau vorgegeben ist. Die Quarte re-sol benennt also im Fall des Hexachord naturale den Skalenausschnitt d-re / e-mi / f-fa / g-sol mit dem Halbtonschritt e-mi / f-fa in der Mitte. Kombiniert Tinctoris nun eine Quint- und eine Quart-Species zu einer Oktave,

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Dialogus de musica (wie Anm. 6), S. 257.. Hucbald, Musica, hg. von Yves Chartier, L' oeuvre musicale d'Hucbald de Saint-Amand. Les compositions et le traité de musique (Cahiers d'études médiévales. Cahier spécial 5), Montréal 1995, S. 200 (GS I, 119a); vgl. Christian Berger, Cithara, cribrum und caprea. Wege zum Hexachord, in: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts, hg. von Martin Kintzinger, Sönke Lorenz und Michael Walter (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 42), Köln 1996, S. 97. Zum Terminus musica ficta vgl. Christian Berger, Hexachord, Mensur und Textstruktur. Studien zum französischen Lied im 14. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 35), Stuttgart 1992, S. 124-126.

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so erhält er mit einer solchen Modus-Definition zugleich eine eindeutige Ausführungsanweisung, die vorgibt, mit welcher Hexachordkombination diese Oktave und damit auch jedes Stück, das einen solchen Modus ausprägt, auszuführen ist. Im Falle des 1. Modus auf D-re ergibt das die Quinte D-re / a-la im Hexachord naturale, die mit der Quarte are / d-sol im Hexachord durum kombiniert wird.

Beispiel 2: Hexachordkombination für den 1. dorischen Modus Hier schließt das Kapitel 46 an, wobei Tinctoris nun keine Intervallspecies anführt, sondern gleich die Hexachorde benennt, mit denen ein solcher „irregulärer“ Modus auszuführen ist. Das erste Beispiel ist ein Modus, dessen finalis auf G sol re ut gravi liegt. Da dieser Ton noch innerhalb der Guidonischen Hand liegt, können wir die benötigten Hexachorde zunächst mit Hilfe der im Kapitel 3 genannten Intervallspecies konstruieren: Eine Quinte G-re / d-la verweist auf das Hexachord molle, das über die Quarte d-re / g-sol mit einem Hexachord naturale zu kombinieren ist (Beispiel 3). Und genau dies sagt Tinctoris: per b molle ac naturam – durch die Hexachorde molle und naturale.

Beispiel 3: Hexachordkombination für den g-dorischen Modus Mit der finalis C fa ut verläßt Tinctoris allerdings den Rahmen der vertrauten drei Hexachorde, und damit beginnen die Schwierigkeiten. Ein dorischer Modus auf C soll per coniunctas E la mi gravis ac h mi, et per b molle gesungen werden. Der zweite Teil des Satzes et per b molle weist darauf hin, daß das obere Hexachord ein Hexachord molle sein soll. Was aber bedeutet hier coniuncta? Bei Tinctoris finden wir eine Definition in seinem ‚Terminorum musicae diffinitorium‘ von 1495, dem ersten gedruckten Musiklexikon: Coniuncta est dum sit de tono regulari semitonium irregulare aut de semitonio regulari tonus irregula-

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ris.12 Wie ein solcher Halbtonschritt gebildet werden kann, darüber gibt uns aber erst die Bedeutungsgeschichte des Wortes Auskunft.13 Dieser Begriff geht zunächst auf den Terminus coniunctio zurück, der seit Boethius die Übersetzung des griechischen Terminus synemmenon ist: ... dicitur synemmenon, quod est coniunctum.14 Mit synemmenon ist das Tetrachord synemmenon angesprochen. Nach den beiden ersten Tetrachorden h-e und e-a, die das griechische Tonsystem aufspannen,15 folgt normalerweise ein Tetrachord, das durch Diazeuxis, also durch einen Ganztonabstand vom letzten Tetrachord d-a getrennt ist, also wieder h‘-e‘. Mit Hilfe der Synaphe auf a wird nun ein weiteres Tetrachord a-d gleicher Struktur angeschlossen, das den neuen Halbtonschritt a-b hinzufügt. Das Mittelalter übernimmt diesen Tetrachord-Aufbau, wobei es ihn nicht mehr um die Mese mit der Quarte e-a, sondern um das zentrale Tetrachord der die neuen „Kirchentonarten“ prägenden finales d-g gruppiert. Über diesem Tetrachord entstehen nun zwei unterschiedliche Tetrachorde: Einmal mit dem Ganztonabstand, der Diazeuxis, das Tetrachord a-d‘, und über das Synemmenon, den gemeinsamen Ton g, das Tetrachord g-c‘, das den Halbtonschritt a-b enthält. Synemmenon bezeichnet dabei vor allem die Schnittstelle der beiden Tetrachorde, wie es um 1070 Aribo sehr deutlich formulierte: Omnis chorda, quae duorum synemmesis, id est coniunctio, est tetrachordorum, alterius est finis, alteriusque est principium.16 Mit Hilfe dieses Konstruktionsverfahrens führt nun der Anonymus Ellsworth um 1375 nicht nur das b-molle, sondern weitere chromatische Zwischentöne in das System ein. Zunächst findet sich bei ihm der

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Johannes Tinctoris, Terminorum musicae diffinitorium (wie Anm. 2), f. aiii verso. Bislang wurde diese Definition in dem Sinne der Definition Tinctois‘ wörtlich genommen, als man sich auf den Wechsel von Ganz- und Halbton beschränkte, die Konstruktion, die dahinter steht, aber außer acht ließ: Albert Seay, The 15th-Century Coniuncta. A Preliminary Study, in: Aspects of Medieval and Renaissance Music. A Birthday Offering to Gustave Reese, hg. von Jean LaRue, New York 1966, S. 723-737; ders., The Beginnings of the coniuncta and Lorenzo Masini's L'Antefana, in: L'ars nova del trecento 3, hg. von F.A.Gallo, Certaldo 1970, S. 51-65; Oliver Ellsworth, The Origin of the Conjuncta: A Reappraisal, in: Journal of Music Theory 17 (1973), S. 86-109; Theodore Karp, From Aural to the Written Tradition. The Coniunctae of the Anonymous Berkeley Theory MS, in: Aspects of orality and formularity in Gregorian chant, Evanston, Ill. 1998, S. 181-224. Boethius (wie Anm. 8) I, 20 (S. 207). Vgl. Art. Systema teleion, in: Riemann Musiklexikon, Sachteil, hg. von Wiilibald Gurlitt und Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 1967, S. 929-930. Die Tonbuchstaben dienen der Verdeutlichung und ersetzen nur unvollkommen die griechischen Termini wie Mese u.a. Aribo, De musica, hg. von Josef Smits van Waesberghe (CSM 2), Rom 1951, S. 31.

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Begriff coniunctio in ganz allgemeinen Sinn für die Verbindung zweier oder dreier voces auf einem Tonort, also für die mutatio: … in manu sunt 14 loca in quibus sunt coniuncciones, seu composiciones duarum vel plurium vocum.17 Damit meint er die Töne C-fa-ut bis dd-la-sol, die mehr als eine vox aufweisen, also mehr als einem Hexachord angehören, natürlich unter Ausschluß der beiden b-fa/h-mi, die keine Mutation erlauben. Dann kommt er aber auf aliquis inusitatus cantus zu sprechen, die offensichtlich andere, irreguläre Töne verwenden, quem aliqui sed male falsam musicam appellant, alii fictam musicam, alii vero coniunctas eum nominant et bene. (S. 50) Und nun definiert er coniuncta18 nicht nur wie später Tinctoris als einen Wechsel von Ganz- und Halbtonschritt (in qua licet facere de tono semitonum, et e converso [S. 52]), sondern gibt noch einen weiteren wichtigen Hinweis: Est enim quasi coniunctus proprietatibus regularibus supradictis. Die coniuncta ist also über die oben genannten Regeln mit den proprietates, also den konstruktiven Eigenschaften der drei normalen Hexachorde verbunden. Über die „assoziativen Konnotationen“19 des neugebildeten Begriff konnte der Autor offensichtlich darauf vertrauen, daß der Leser den richtigen Weg zum Verständnis fand. Offensichtlich ist die moderne coniuncta genauso wie das antike synemmenon eine Konstruktionsanweisung. Dabei geht es nun nicht mehr um Tetrachorde, wie sie um die finales herum gebildet wurden, sondern es geht nun um die Grundquarten der drei Hexachorde, die seit Guido von Arezzo die bisherigen Tetrachorde umfassen: G-C, C-F, F-b (vgl. Beispiel 2). Wenn diese drei Grund-Hexachorde durch die Quarten ut-fa eng miteinander verbunden sind, läßt sich das System sehr einfach in beiden Richtungen weiterführen. So wie das Hexachord molle mit seiner Grundquarte F-ut / b-fa über den gemeinsamen Ton F fa ut mit dem Hexachord naturale verbunden ist, läßt sich über der Quarte F-ut / b-fa über den gemeinsamen Ausgangspunkt b-fa-ut ein weiteres Hexachord, nun mit der Quarte b-ut / es-fa bilden, genauso wie über es wiederum ein weiteres Hexachord angeschlossenen werden kann, das nach as-fa führt. Und auch nach unten hin kann an das Gut über G fa ut eine Quarte D-ut / G-fa anschließen (Beispiel 4). So plausibel diese Konstruktion mit heutigen Mitteln zu beschreiben ist, so wenig war dies den damaligen Theoretikern möglich; denn für

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Anon. Ellsworth, [Tractatus primus], hg.von Oliver Ellsworth, The Berkeley Manuscript (Greek and Latin Music Theory [2]), Lincoln 1984, S. 48. Diese Form ist eine substantivierte Form des femininen Partizips und nicht die reguläre Form des Plurale tantum „coniuncta, -orum“. Vgl. Fritz Reckow, Aspekte der Ausbildung einer lateinischen musikalischen Fachsprache im Mittelalter, in: Kgr.-Ber. Kopenhagen 1972, hg. von H. Glahn u.a., Kopenhagen 1974, S. 612.

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den Ton es-fa gab es keinen Namen. Er konnte nur als Konstruktionsanweisung beschrieben werden, etwa in der Form: Bilde über b-fa eine Quarte fa-fa, die dann zum Ton e-la-mi führt, der nun ein fa zu b-fa bildet. Und genau das leistet hier der Begriff der coniuncta. Sie bezeichnet den konjunkten Punkt bei der Aneinanderreihung der Quarten, also den irregulären Ton es.

Beispiel 4 Der fragliche Passus in Tinctoris‘ „Libellus“ wäre also folgendermaßen zu übertragen: Ein Modus, der auf C fa ut endet, wird einmal durch ein Hexachord ausgeführt, das aus den beiden neu gewonnenen Quarttönen (Akkusativ Plural: coniunctas) B-fa-ut und Es-fa konstruiert wird, also ein Hexachord über dem ut des tiefen B-molle, ein Ton, der seinerseits außerhalb der Guidonischen Hand liegt, das nun verbunden wird mit dem regulären Hexachord molle (Beispiel 5).

Beispiel 5: Hexachordkombination für den 1. c-dorischen Modus Und auch der nächste Satz läßt sich nun erschließen. Außerhalb der Guidonischen Hand kann ein Modus eine Quinte unter Γ ut enden, also auf einem auch nach heutigen Vorstellungen sehr tiefen C. Dieser Modus wird dann durch ein Hexachord ausgeführt, das die coniuncta b mi enthält.20 Damit ist offensichtlich eine Quarte gemeint, die zum tiefen B-mi führt, als coniuncta aber zum B-fa erniedrigt wird und so eine

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Die Handschrift Brüssel schreibt hier ausdrücklich „b mi“, also eine Mischung von b-molle, das es unterhalb des Tones b-fa gar nicht gibt, und h-mi.

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Quarte über dem tiefen F ergibt. Kurz gesagt, es handelt sich um eine Oktavtransposition des Hexachord molle. Das zweite Hexachord entsteht wie bei der finalis C fa ut aus den beiden coniunctae B-fa und Es. Insgesamt wird der Modus also aus zwei Hexachorden gebildet, die eine Oktave unter denen liegen, wie die, aus denen der Modus über C-fa ut gebildet wurde (Beispiel 6).

Beispiel 6: Hexachordkombination für den tiefen 1. C-dorischen Modus Dabei betont Joannes Tinctoris im Nachsatz, daß nicht nur die coniunctae nach den Regeln der normalen proprietates gebildet werden, sondern auch der irreguläre Modus selbst. So fern seine Bestandteile, wie die finalis auf dem tiefen C, auch den Tönen der Hand sein mögen, auch ein solcher Modus wird genauso strukturiert wie der reguläre auf D sol re, nämlich durch Quinten und Quarten der ersten Species. So rätselhaft manche Erklärungen zur Musiktheorie des 15.Jahrhunderts uns heute anmuten, ihr Sinn erschließt sich nicht über eine wörtliche Übersetzung der Begriffe. Erst die Geschichte, die in seiner Verwendung lebendig wird, aber heute immer wieder neu erschlossen werden muß, verrät uns etwas über seine Verwendungsmöglichkeiten. So wie wir heute den lateinischen Fahrplan ohne große Mühe verstehen und damit nutzen können, nicht weil wir das heutige Neu-Latein beherrschen, sondern weil wir wissen, wie grundsätzlich eine Fahrplanauskunft funktioniert, so können wir den die Musik des 15. Jahrhundert nur dann sinnvoll gestalten und zum Erklingen bringen, wenn wir den systematischen Zusammenhang, der in den Termini der zeitgenössischen Musiktheorie anklingt, nachvollziehen können. Erst dann können wir auch einen solchen Musiktraktat „in der Form lesen, wie der Autor ihn geschrieben und gemeint hat,“ erst dann können wir feststellen, „was er mit diesem Text sagen wollte, welche Funktion seiner Aussage zukam“, und Paul Gerhard Schmidts Versicherung wird sich nicht nur für die prosaische, sondern auch für die Fachliteratur erfüllen: „Das Interesse, das man ihr entgegenbringt, ist nicht umsonst aufgewendet.“21

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Paul Gerhard Schmidt, Das Interesse an mittellateinischer Literatur (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie 3), Freiburg, Schweiz 1995, S. 37.

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Johannes Tinctoris, ‚Liber de natura et proprietate tonorum‘ (1476), Kap. 45 und 4622

Beispiel 63a-b23

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Der lateinische Text gibt den Text und die Notenbeispiele der Handschrift Brüssel, Bibliothèque Royale, Ms. II 4147 (im Folgenden B-Br 4147), f. 24v-25v wieder und stützt sich dabei auf die Edition Johannes Tinctoris, Opera theoretica, hrsg. von Albert Seay (= Corpus Scriptorum de Musica 22), 1975, Bd. 1, S. 9899. Nach B-Br 4147, f. 25v. Hier sind nur die ersten beiden Beispiel für den 1. und 2. Modus übertragen, wobei die mensurale Schreibweise der Ligaturen ohne nähere rhythmische Umsetzung gekennzeichnet wird: Eine Anfangs- oder Schlußlonga wird durch eine hohle Note, eine Ligatur cum opposita proprietate durch einen entsprechenden Vermerk (c.o.p.) dargestellt.

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Beispiel 6424

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Nach Brüssel, Bibliothèque Royale, Ms. II 4147, f. 25-25v; auch hier gilt die Anmerkung zu Beispiel 63.

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