Die Abenteurer Europas

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Author: Linus Fried
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F U S S B A L L - E U R O PA M E I S T E R S C H A F T

Die Abenteurer Europas Das Turnier von Portugal war eine Offenbarung, weil das Spiel sich so entwickelt hat, wie niemand es vorhergesagt hatte: Der Fußballer des Jahres 2004 ist jung und schnell, er ist zugleich Stratege und Zocker – denn auch das neue Spiel gewinnen nicht immer die Besten. Von Klaus Brinkbäumer

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der Mitte stehen sie senkrecht, die Jungs in der Land-Disco und die Sänger von Boygroups haben solche Frisuren. Cristiano Ronaldo spricht nicht mit Reportern, denn er hört ihnen nicht zu und blickt sie nicht an, er wirft den Reportern Wortbrocken hin, nehmt, dies ist mein

wenn man für Portugal spielt – und dann schaut er wieder in die Ferne, denn er ist niemals hier, er ist immer schon weiter. So ist der Fußballprofi 2004, so ist Cristiano Ronaldo, so benimmt er sich hier unten, in den Kellerräumen des Estádio José Alvalade von Lissabon, und so hat er dort

MARKUS ULMER / ACTION PRESS

r sieht aus wie ein Kind, so glatt die Haut und so faltenlos. Er hat sich nicht rasiert, weil Fußballer das so machen: Fußballer gehen unrasiert in große Spiele, männlich und markant soll das wirken und unbedingt lässig. Aber Cristiano Ronaldo hat keinen Dreitagebart,

Portugals EM-Entdeckung Cristiano Ronaldo

Griechenlands Torschütze Traianos Dellas (5. v. l.) im Halbfinalspiel gegen

Stars der Europameisterschaft: Sie haben Portugal mit Zidane und Beckham tapeziert – was für ein Irrtum

er hat ganz weiche Härchen im Gesicht, einen Flaum wie ein Pubertierender. Schmuck trägt er. Einen silbernen Armreif links, einen rechts, silberne Ringe an den Fingern, Brillanten an beiden Ohren, natürlich eine Halskette. Seine Haare sind nass, weil Fußballer immer mit nassen Haaren vor die Kameras treten, auch das muss eine Art Kodex sein. Seine Haare sind kurz und braun, mit blonden Strähnen, er hat sie von den Seiten nach oben geschoben, in 158

Wort, ich bin ein Star, und wer seid ihr?, so spricht er. Er ist größer als die Reporter, er wirft die Brocken hinab. Ein Brocken ist: „Wir haben eine Mission.“ Ein anderer: „Es gibt keine Grenzen.“ Er schaut über die Mikrofone hinweg, über die Diktiergeräte, er schaut kurz auf sein Mobiltelefon, das summt und leuchtet, vielleicht ist das eine Model dran, das im Moment seine Freundin ist, vielleicht auch das andere, das mit den Mädchen ist kompliziert, d e r

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oben auf dem Rasen gerade noch Fußball gespielt. So arrogant. Und so dominant. Werden Adidas, Puma und Nike vor der Weltmeisterschaft 2006 Deutschlands Hauswände mit Cristiano Ronaldo tapezieren? Mit Arjen Robben, mit Milan Baro∆, mit Wayne Rooney? Mit Deco? Vor der Europameisterschaft 2004 haben sie Portugal mit Figo, Zidane und Beckham tapeziert, was für ein Irrtum: Figo hielt noch ein letztes Mal mit, aber Zidane und

ten Profigeneration, die mit der Champions League aufgewachsen ist. Kinder spielen ja nach, was sie beim Fernsehen entdecken. Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, 19 Jahre alt, 1,86 Meter lang, wurde in der Nähe von Funchal auf Madeira groß, er ist der Sohn eines Zeugwarts und „hungrig auf Siege, weil wir nie viel Geld hatten“, wie sein Vater erzählt. Cristiano Ronaldo sah Zidane und Figo im Fernsehen und kopierte sie auf Sand und auf Staub. Er wurde entdeckt, als er zehn war, und mit zwölf Jahren zog er ins Internat von Sporting Lissabon. Es war wie so oft im Leistungssport: Der Typ vom Land oder von der Insel wird von den Großstadtjungs verspottet, weil er anders redet und anders aussieht, und er prügelt sich, wehrt sich auf dem Spielfeld, irgendwann ist er der Beste. Cristiano Ronaldo war 18, als Manchester United ihn kaufte.

der Ball ist, das Spielfeld wird eng dadurch. Ob man mit Dreier- oder Viererkette spielt, mit einem Angreifer oder mit mehreren, ist nicht das Entscheidende. Typen wie Ronaldo machten den Unterschied aus, sie knackten die Systeme. Rudi Völler sagte vor dem Turnier, dass „Kleinigkeiten“ die Spiele entscheiden würden, und meistens stimmte das, aber manchmal waren es nur noch Zufälle. Man kann ja vieles erklären, hinterher. Italien schied angeblich aus, weil Trainer Trapattoni zu vorsichtig war; „vercoacht“, das ist eines dieser neuen Fußballworte, es meint die Fehler eines Trainers. Aber war es wirklich so? Italien spielte gegen Schweden eine dieser berauschenden Partien, die weniger Wettstreit als Gesamtkunstwerk waren; Italien wäre ein würdiger Europameister, aber es schied in der Vorrunde mit fünf Punkten aus – Griechenland hatte vier

KAI PFAFFENBACH / REUTERS (L.); UWE SPECK / WITTERS (R.)

Beckham spielten wie alte Männer, und sie waren ja alte Männer – verglichen mit jenen neuen Spielern, die diese am Sonntag zu Ende gegangene Europameisterschaft zu ihrer Party gemacht haben. Es war eine Party, die niemand so erwartet hatte, kein Konzern, kein Trainer, kein Journalist. Dass 10 von 16 Mannschaften Tempofußball spielen würden und dass sie dabei ihren Jüngsten, Frechsten vertrauen würden, das war ja vorher nicht abzusehen gewesen, es ergab sich so. Rooney übernahm, als Beckham versagte. Und Luís Felipe Scolari, Trainer der Portugiesen, ließ Ronaldo im ersten Spiel zunächst auf der Bank, weil Portugal eine Menge großartiger Spieler hat, und weil dieser Ronaldo ein Risiko ist, ein Kerl, der den Ball verliert bei seinen Übersteigern und sinnfreien Streifzügen durch die gegnerische Hälfte, viel zu oft verliert er den Ball.

Tschechien

FRANK AUGSTEIN / AP

DAVID GRAY / REUTERS

Englands Stürmer Wayne Rooney (M.)

Portugals Spielmacher Deco (vorn)

Aber das alte Portugal verlor das erste Spiel, und dann kam Cristiano Ronaldo. Ein Spieler, der intuitiv die Seite wechselt wie ein Engländer. Einer, der nicht aufhört zu rennen, wie einer von Otto Rehhagels deutschen Griechen. Einer, der mit links und rechts schießt und vor allem dribbeln kann, wie ein Portugiese, natürlich. Einer, der ein taktisches Verständnis hat, ein Gefühl für den Raum wie die Niederländer. Denn dieser Cristiano Ronaldo ist ein europäischer Spieler, einer aus der ers-

Tschechiens Torjäger Milan Baro∆

Er war die auffälligste Figur dieser 23 Tage von Portugal, aber er steht für alle: für Rooney, für Ibrahimovic, für Baro∆ und Robben, sogar für Schweinsteiger, dessen Namen die „Times“ diesmal noch ins Englische übersetzte: „Pig climber“. Dass mit dem Turnier von Portugal eine Ära der jungen Individualisten zu beginnen scheint, das ist das schönste Resultat dieser drei Wochen. Neue Strategien gibt es nicht mehr: Alle Mannschaften beherrschen das direkte Spiel, sie schaffen Überzahl, wo d e r

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Punkte und kam weiter und dann ins Finale. Es war Pech oder Glück, es war ein Fehler, ein Geniestreich, mehr nicht. Denn dieser neue Fußball ist nicht mehr Rasenschach, er ist Roulette. Ballack schießt gegen Tschechien an den Pfosten – und alle müssen weg, Spieler, Funktionäre, fort mit ihnen! Fordert „Bild“, fordert Udo Lattek, selbst die „FAZ“ wird nach einem Schuss an den Pfosten zum Kampagnenblatt. Griechenland dagegen bekommt einen Eckball in der 105. Minute, 159

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Rosen aus Löwenzahn Warum Ottmar Hitzfeld auf das Amt des deutschen Bundestrainers verzichtete

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LACKOVIC / IMAGO

MARKUS GILLIAR / GES

n seiner Ferienwohnung im schwei- richtig los. „MV“, von Kritikern aus Einige Nationalspieler sollen den bei zerischen Engelberg empfing der der Bundesliga wie Bayer Leverkusens Fenerbahçe Istanbul angestellten TraiUrlauber Ottmar Hitzfeld, 55, am Manager Wolfgang Holzhäuser des ner per Telefon ermuntert haben, Bevorvergangenen Samstag Besuch für „patriarchalen Populismus“ geziehen reitschaft zu zeigen. Auch Beckenbauein vertrauliches Beratungsgespräch. und wegen seiner ungeschickten Al- er, oberster WM-Organisator und graue Aus dem 94 Kilometer entfernten leingänge in der Personalpolitik auch Eminenz bei der Trainerfindung, ist Oberentfelden reiste der Pfarrer Josef bei Präsidiumskollegen im DFB unten längst von seinem eigenen AusschließHochstrasser an, seit Hitzfelds Schwei- durch, hatte gut eine Woche nach Völ- lichkeitstheorem abgerückt, wonach zer Trainertagen ein verlässlicher lers Rücktritt „keinen Plan B“ parat. „nur der Ottmar“ für das bedeutende Dass der DFB sich bei Kandidaten Amt in Frage komme. Öffentlich hielt Freund in allen Lebenslagen, dazu Autor der vor eineinhalb Jahren erschie- für seinen vermeintlichen Traumjob ei- er plötzlich Daum für denkbar, denn irnen Korb holt, ist nicht neu. Wann im- gendeinen „Makel“ habe – außer „Jenenen Hitzfeld-Biografie. Dem in Fußballfragen sachkundigen mer das Traineramt nicht planmäßig sus vielleicht“ – jeder. Theologen fiel bei diesem Wiederse- vererbt wurde (so kamen Helmut Ein Sinneswandel, der Mayer-Vorfelhen sofort Hitzfelds ungewöhnliche Schön, Jupp Derwall und Berti Vogts der nach Einschätzung von DFB-InsiUnruhe auf – „so als säße er schon zu ihrem Job), sondern nach sportli- dern zupass kommt. Womöglich hatte wieder auf der Bank“. Der vor sieben Wochen bei Bayern München entlassene Coach hatte eine schwierige Entscheidung zu besprechen, denn anderntags wollte er Deutschlands obersten Fußballfunktionär Gerhard Mayer-Vorfelder in Sevilla treffen – der hatte ihm das Bundestraineramt angetragen. Hochstrasser merkte nach wenigen Stunden: „Ottmar war innerlich nicht bereit.“ Die Männerfreunde sprachen über „die Substanz“, die die sechs Münchner Jahre gekostet hatten, über Lebensqualität und über den Plan des DFB-Präsident Mayer-Vorfelder (M.), Aussteiger Hitzfeld*: Veritable Führungskrise Fußball-Lehrers, einige Monate „Abstand zu gewinnen“ vom aufreibenden chen Unglücken schnell gehandelt wer- auch Hitzfeld früh bemerkt, dass er gar Beruf. Zum Essen gingen sie mit ihren den musste, war der zunächst auser- nicht die alleinige Wunschlösung der Ehefrauen ins Restaurant, dort redeten korene Anwärter nicht verfügbar: 1984 gesamtdeutschen Fußballkonklave von sie weiter. Bevor sie anschließend ge- Helmut Benthaus, 1998 Jupp Heynckes, „Bild“ bis Mayer-Vorfelder war. Vor meinsam das EM-Viertelfinale der 2000 Christoph Daum und nun Hitz- dem Treffen mit dem DFB-Präsidenten, Holländer und Schweden im Fernse- feld. weiß der Vertraute Hochstrasser, überÜber wen, so fragten sich vorige Wo- wog bei dem Badener die Skepsis. hen betrachteten, ging es dann auch um die Qualitäten jener National- che die zwölf DFB-PräsidiumsmitglieEin Grund dafür war wohl eine Ermannschaft, die der Kandidat für Rudi der, die sich für Montagabend in Frank- fahrung aus dem Sommer 1987. Damals Völlers Nachfolge für die WM 2006 hät- furt verabredet haben, lohnt es sich, stand Hitzfeld beim FC Aarau unter te präparieren sollen: „Man kann“, so als möglichen Bundestrainer nachzu- Vertrag, gegen 500 000 Franken Ablöse fasst der Schweizer die Erkenntnisse denken? Über Altmeister Otto Reh- hätte er vorzeitig wechseln dürfen. Doch des Abends zusammen, „halt aus hagel, der es nach dem Einzug seiner Mayer-Vorfelder, seinerzeit Präsident Griechen ins EM-Finale wortreich un- des VfB Stuttgart, verhinderte Hitzfelds Löwenzahn keine Rosen zaubern.“ Vier Tage später sagte Hitzfeld dem terließ, sein Interesse zu leugnen („Ich Anstellung als Trainer. DFB-Chef Mayer-Vorfelder („MV“) ab, habe die Verpflichtung, nur mit meiSo schildert es jedenfalls Hochstrasselbst die eiligen Interventionen diver- ner Mannschaft zu sprechen und über ser in der von Hitzfeld autorisierten ser Autoritäten wie Franz Beckenbau- deren Probleme“). Über Trainernovize Biografie: Der VfB-Boss habe den treu er konnten ihn nicht mehr umstimmen, Lothar Matthäus? Oder am Ende doch sorgenden Präsidenten markiert und „der Verstand siegte über das Herz“, über den schon einmal an sich selbst ge- erklärt, der junge Trainer würde mit scheiterten Christoph Daum? bedauerte Hitzfeld. dieser Ablösesumme „zweifellos einem Die Nationaltrainersuche, die Anübermächtigen Druck ausgesetzt und fang vergangener Woche bereits eine * Links: mit Ehefrau Margit beim EM-Viertelfinalspiel mit einer persönlichen Bürde beladen, veritable Führungskrise im deutschen am 26. Juni in Faro; rechts: am letzten Bundesliga- die man ihm einfach nicht zumuten Fußball ausgelöst hatte, ging damit erst spieltag am 22. Mai im Münchner Olympiastadion. dürfe“. Jörg Kramer

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FILIPPO MONTEFORTE / DPA

Hollands Torwart van der Sar: Im Grunde eine permanente Überforderung

und der Libero bekommt den Ball an den Kopf, 1:0, Schlusspfiff, und dadurch wird Rehhagel, 65, wieder zum Über-Trainer. Natürlich, die Trainer können einen zweiten Stürmer einwechseln, die Viererkette auflösen, aber ist das Kontrolle? Dann spielt Deco oder sonst wer einen schlauen Pass, und alles ist anders. Denn der Fußballer von 2004 geht zwar mit einer Strategie auf den Platz, aber er hat vor allem die Aufgabe, immer wieder aus diesem Schema auszubrechen, um mit einem Spielzug alles zu drehen. Der Fußballer von 2004 bewegt sich wie ein Basketballer der Detroit Pistons, er ist entweder in Bestform oder chancenlos, und er ist wendig: Es geht nicht nur um schnelle Beine, sondern längst auch um eine „Schnellkraft des Denkens“ („Süddeutsche Zeitung“). Dieser Fußball ist ständiges Risiko und darum ein Abenteuer. Es scheint, als wirkten sich erst jetzt zwei Regeländerungen der letzten Jahre aus. Der Torwart darf bei Rückgaben den Ball nicht mehr in die Hand nehmen, klar, das ist schon seit 1992 so. Aber erst hier in Portugal leiteten die meisten Mannschaften daraus das so genannte Offensiv-Pressing ab; erst hier beherrschten sie jene kollektive Attacke auf den Spielaufbau, so flächendeckend und forsch, dass die aufbauende Elf nur eine Möglichkeit hatte: Ihre Verteidiger mussten so geschickt am Ball sein wie einstmals nur die Spielmacher. Das steigerte das Niveau. Und weil überall an den Seitenlinien Bälle bereitlagen, gab es keine Unterbrechungen, es ging sofort weiter, und die Richtung des Spiels änderte sich ständig. Das steigerte die Geschwindigkeit. Es sah ja jahrelang so aus, als könnten Fußballer das Tempo des modernen Basketballs niemals erreichen. Jedoch: Sie können. Was sich da verändert hat, kann man vielleicht am besten verstehen, wenn man das neue Spiel aus der Perspektive der Torhüter sieht. Der Niederländer Edwin van der Sar stand einmal in den Katakomben des Stadions von Faro und erzählte davon, „dass man dort hinten lauert und wartet, es geht d e r

hin und her, es kann jederzeit kippen, und deshalb musst du so viel konzentrierter sein als noch vor zehn Jahren“. Der Schweizer Jörg Stiel lehnte nach dem 1:3 gegen Frankreich an einem Gitter und sagte: „Du kannst heute nicht mehr reagieren, dann kommst du zu spät. Im Grunde ist es eine permanente Überforderung. Du musst vorausahnen und spekulieren, du kannst großartig dabei aussehen oder wie der letzte Trottel.“ Und Jens Lehmann, die Nummer zwei im deutschen Tor, erzählte nach einem Training davon, dass es beim modernen Torwartspiel um „ein gutes Auge und um Mut geht. Das Spiel ist so schnell, dass es nicht mehr reicht, auf der Linie gut zu sein oder beim Herauslaufen. Ich muss die Abwehr dirigieren, die Gegner auf beiden Flügeln im Blick haben und gleichzeitig die Rolle des alten Liberos übernehmen“. Und dann genügt doch ein Moment, um zum Helden zu werden: Wahrscheinlich war der Schwede Andreas Isaksson der beste Torwart des Turniers, aber was half es ihm? Der mittelmäßige Ricardo hielt einen Elfmeter mit bloßen Händen – nun verehrt Portugal seinen Ricardo, und Isaksson ist vergessen. Denn auch dieser neue Fußball ist ja noch so ungerecht, dass Rehhagels Griechen die Spanier hinausbefördern konnten. Und dann Frankreich. Sogar Tschechien. Auch der moderne Fußball ist so gemein, dass die Griechen mit 20 Torschüssen in fünf Spielen ausgerechnet bei diesem Turnier ins Finale kommen konnten. Das Turnier hieß „EURO“, und sein Symbol war ein Herz; es war das erste Turnier des großen, des vereinten Europa. Die vier Nationen, die die vier besten Ligen des Kontinents beherbergen – Italien, England, Spanien, Frankreich –, schieden früh aus, aber auch das war Zufall. Die Logik dieses Turniers lag nicht im Scheitern der Großen oder im Versagen der angeblich „Galaktischen“ von Real Madrid, die zu „Weltraumschrott“ („Marca“) wurden; die Logik lag darin, dass all die einstmals Kleinen inzwischen das gleiche Spiel spie-

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