Der Mensch als Wesen der Freiheit

Die Philosophie vor der Frage nach dem Menschen Der Mensch als Wesen der Freiheit Die Frage „Was ist der Mensch?“ kann nicht hinreichend von den Einz...
Author: Andrea Kruse
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Die Philosophie vor der Frage nach dem Menschen

Der Mensch als Wesen der Freiheit Die Frage „Was ist der Mensch?“ kann nicht hinreichend von den Einzelwissenschaften beantwortet werden, da es sich hier um eine Wesensfrage handelt, diese aber Gegenstand der Philosophie ist. Genetische Erklärungen, die einen letzten qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Tier leugnen, greifen zu kurz, da sie bei bestimmten Phänomenen in Erklärungsnot geraten und zu Selbstwidersprüchen führen. Eine philosophische Antwort auf diese Frage ist besonders gefordert, wird doch ansonsten dieses Feld dem Wissenschaftsaberglauben, der Pseudophilosophie oder der Ideologie überlassen.

Freiheit wovon?

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Das „Prinzip“ Mensch erodiert gegenwärtig in einem Maße wie nie zuvor. „Homo sapiens sapiens“, wie man den heute lebenden Menschen biologisch nennt, wird immer mehr wie eine „Sache“ behandelt. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier, ja selbst zwischen Mensch und Maschine (Computer) drohen zu verschwimmen. Es ist keine Frage: Der Mensch unterscheidet sich genetisch zwar kaum vom Affen, aber in dieser Hinsicht auch nicht wesentlich von einer Fliege. Aber darf man deshalb schon „Geist“ neurobiologisch auf Nervennetz und Synapsenfunktionen reduzieren?

Natürlich könnte hier auf unsere reichhaltige jüdisch-christliche Tradition verwiesen werden. Doch leben wir heute in einer säkularisierten Kultur, wo dieser Hinweis nicht notwendig zu einem gesellschaftlichen Konsens führt. Nicht nur aus diesem Grunde ist darum hier auch die Philosophie gefragt, geht es dieser doch entscheidend um die Wesensfrage, wohingegen die Einzelwissenschaften immer nur partikulare Erkenntnisse über den Menschen erwerben können, die sie allerdings nicht selten zu einem Gesamtbild erweitern, das dann reduktionistische Tendenzen aufweist. Gegenwärtig sind es drei solcher „Menschenbilder“, die problematisch, um nicht zu sagen gefährlich sind, weil sie das Menschsein bedrohen: Es handelt sich hierbei erstens um das Menschenbild des sog. reduktionistischen Naturalismus, wie es von Hirnforschern wie Gerhard Roth oder Wolf Singer vertreten wird. Hiernach ist Freiheit eine reine Illusion: Wir tun nicht das, was wir wollen, sondern wir wollen das, was wir tun. Man beruft sich dabei auf die sog. Libet-Experimente (1985), die angeblich gezeigt haben sollen, dass jeder Entscheidung, und halten wir sie noch so sehr für unseren eigenen Willen, zuvor wichtige Vorentscheidungen vorausgegangen sind, und zwar unbewusste, wovon wir überhaupt nichts mitbekommen. Wenn auch Benjamin Libet inzwischen (1999) eigens betont hat, dass damit noch nichts über Pro oder Contra menschlicher Freiheit ausgesagt sei, so scheint sich dieses Menschenbild doch relativ robust in der öffentlichen Diskussion zu halten. Mit dem Begriff der Freiheit stehen aber auch Begriffe wie Geistigkeit, Personalität und Verantwortlichkeit auf dem Spiel. Ein weiteres problematisches Menschbild vertreten bestimmte Lebenswissenschaftler wie beispielsweise Hubert Markl. Hiernach ist die befruchtete Eizelle noch lange kein Mensch. Der Begriff „Mensch“ sei vielmehr ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen. Dazu ist aber zu sagen, dass mit biologischen Mitteln kei-

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Fotos: H&H Archiv

ne Norm – etwa in Bezug auf den Schutz des menschlichen Lebens – zu gewinnen ist, denn Normen verdanken sich philosophischer und/oder theologischer Nachdenklichkeit. Als Mensch ist vielmehr das Wesen anzusehen, das von Menschen abstammt, sei dies durch natürliche Zeugung, In-vitro-Fertilisation, Embryonentransfer oder Klonung. Für eine solche Position sprechen vier Argumente: die genetische Identität, die entwicklungsspezifische Kontinuität, die Artspezifität sowie die menschliche Potentialität, wonach sich der Embryo nicht „zum“ Menschen, sondern „als“ Mensch entwickelt. D.h. Menschenwürde wird nicht „attribuiert“ – von wem auch immer? –, sondern die Würde des Menschen „ist“ unteilbar. Ein drittes problematisches Menschenbild wird von bestimmten Vertretern der utilitaristischen Ethik, wie z.B. Peter Singer, vertreten. Diese sieht die Letztbegründung der ethischen Handlungsweise in einem außermoralischen Ziel, wie beispielsweise dem größten Glück einer größten Zahl von Menschen, der gesellschaftlichen Funktionalität oder der genetischen Gesundheit. Damit ist aber das Lebensrecht von behinderten und alten Menschen bedroht. Die Frage des Menschseins darf aber nicht dem Diskurs und dem Konsens überlassen werden. Denn „pragmatisch“ lässt sich alles Mögliche begründen. Demgegenüber muss betont werden, dass das Lebensrecht an keine Kriterien geknüpft ist, die erst noch festzulegen wären. Der Mensch ergreift seine Rechte, ohne sie anderen verdanken zu müssen, und er verliert diese Rechte auch nicht bis zu seinem Tod. Solche Menschenbilder wie die hier vorgestellten sind auch deshalb so gefährlich, weil der Mensch das wandelbare Wesen ist, das in gewissem Umfang über sich selbst bestimmen darf. Bei diesem Selbstbestimmungsprozess wird das Selbstbild des Menschen zu einem geradezu mitwirkenden Faktor. D.h. die menschliche Selbstdeutung hat einen entscheidenden Einfluss auf die menschliche Selbstgestaltung. In diesem Sinne schreibt der Existenzphilosoph Karl Jaspers: „Die Verwahrlosung des Menschenbildes führt zur Verwahrlosung des Menschen selber. Denn das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Es entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und mit den Mitmenschen.“ Historisch – so der heutige Stand der Forschung – trat der erste Mensch, Homo rudolfen-

sis, vor ca. 2,5 Mio. Jahren in Afrika auf; vor ca. 200.000 Jahren hat sich dann der Homo sapiens entwickelt, zu dem auch der heute lebende Mensch zu zählen ist. Diese Erkenntnisse der Paläontologen und Evolutionsbiologen sagen aber noch nichts darüber aus, was der Mensch seinem Wesen nach ist. Vielmehr setzen sie immer schon ein gewisses Vorverständnis dessen voraus, was Menschsein bedeutet, würde man doch ansonsten die anthropologische Relevanz einer empirisch-einzelwissenschaftlichen Erkenntnis gar nicht erkennen. Es ist heute keine Frage mehr, dass sich der Mensch biologisch aus dem Tierreich herausentwickelt hat. Wer das immer noch oder neuerdings wieder leugnet (s. Kreationismus, Intelligent Design), verkennt die einzelwissenschaftliche Forschung, hat diese doch notwendig hypothetischen Charakter. Aber es gibt kaum eine wissenschaftliche Hypothese, die inzwischen so gut belegt ist wie die Evolutionstheorie. Aber – und das ist das Entscheidende – damit ist noch nicht alles erklärt! Denn Freiheit, Geist, Verantwortung sind keine Kategorien naturwissenschaftlicher Forschung. Nicht wenige versuchen dieses Problem dadurch zu lösen, dass gesagt wird, Freiheit sei eine reine Illusion, oder: Geist sei ein reines Epiphänomen des Gehirns – die verschiedenen Spielarten des Reduktionismus. Es stellt sich hier aber die entscheidende Frage, ob man damit auch schon allen Phänomenen gerecht wird. Damit kommen wir zur Frage nach dem Wesensunterschied zwi-

Freiheit wofür?

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WORT Sprache konstituiert die für den Menschen entscheidende Symbolwelt.

Dr. Dr. Werner Schüßler Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier  werner.schuessler@ uni-trier.de

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schen Mensch und Tier, also zu dem, was den Menschen qualitativ vom Tier unterscheidet und sein Proprium ausmacht. Die klassische Definition des Menschen lautet bekanntlich: Homo animal rationale – der Mensch ist ein vernünftiges Lebewesen. Das „rationalis“ darf aber hier nicht auf den Begriff der Rationalität eingeengt werden, denn diese lateinische Bestimmung ist eine Übersetzung des Griechischen: zoon logon echon – der Mensch ist das Lebewesen, das den Logos besitzt. Der griechische Begriff „Logos“ umfasst aber wesentlich mehr als Rationalität, er meint auch das Wort, den Sinn, den Wert, meint also nicht nur den diskursiven Verstand, sondern auch die Vernunft, und diese hat es – platonisch gesprochen – wesentlich mit dem Wahren, Guten und Schönen zu tun, was bedeutet, dass selbst die Liebe hier mit einbegriffen ist. Die moderne philosophische Anthropologie, die von Max Scheler begründet wurde, spricht von „Geist“ und „Personalität“ als dem, was den Menschen wesentlich vom Tier unterscheidet. Der Psychiater, Psychotherapeut und Philosoph Viktor E. Frankl hat das Entscheidende des Geistes – in Anlehnung an Max Scheler und Karl Jaspers – mit den beiden Begriffen der Selbst-Distanzierung und der Selbst-Transzendenz auf den Punkt gebracht. Als ein Geistwesen kann der Mensch aus der Ebene des Leib-Seelischen, das wir mit dem Tier gemeinsam haben, heraustreten und sich selbst als psychophysischem Organismus gegenübertreten. Frankl spricht in diesem Zusammenhang von der „Trotzmacht des Geistes“. Laufen psychische und physische Prozesse immer notwendig parallel – denken wir beispielsweise an einen plötzlichen Schweißausbruch aufgrund von Angst –, so ist die Trotzmacht des Geistes eine bloße Möglichkeit, keine Notwendigkeit: Der Mensch kann sich als Geistwesen zu sich selbst als leibliches Wesen (= Psychophysicum) verhalten und einstellen, muss es aber nicht. Scheler hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass der Geist dem Leben gegenüber prinzipiell „Nein“ sagen „kann“, wohingegen das Tier immer „Ja“ zur Wirklichkeit sagt. In diesem Können dokumentiert sich Freiheit. Diese ist zwar keine absolute, sondern immer eine bedingte: Ich bin frei immer nur inner-

halb bestimmter biologischer, psychologischer und soziologischer Bedingungen, kann aber selbst zu diesen immer noch Stellung nehmen. Machen wir uns das an einem Beispiel deutlich: Unter der Überschrift „Befreiung und Freiheit des Menschen heute“ kommt Jaspers in seiner letzten großen Schrift „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“ (1962) u.a. auch auf den Selbstmord zu sprechen. Und er schreibt dazu: „Dass der Mensch, nur der Mensch sich das Leben nehmen kann in hellem, reinem Entschluss, ohne Trübung durch Affekt, vielmehr sich selber treu, darin liegt eine Würde.“ Jaspers will also sagen, dass sich in der Möglichkeit des Menschen zum Selbstmord die genannte Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung dokumentiert, denn: „Ich töte mich.“ Aber Jaspers wertet den Weg Jesu noch wesentlich höher, obwohl er der Offenbarungsreligion grundsätzlich recht kritisch gegenübersteht. In Jesus begegnet uns nämlich nach Jaspers eine „andere Würde“, „die dem Menschen durch keine ihm zugefügte Schmach und Schande, durch kein noch so schreckliches Leiden verlorengeht“. „Diese andere ‚würdelose‘ Würde lässt offenbar werden, was wir Menschen eigentlich sind und sein können.“ Und Jaspers verweist hier auf „die Kraft der Liebe“, die in Jesus wirksam ist und in dieser „würdelosen Würde“ transparent wird. Hier wird nun auch der zweite von Frankl angesprochen Aspekt deutlich, nämlich die Fähigkeit zur Selbst-Transzendenz. Liebe im Sinne der christlichen Agape ist immer ein Akt der SelbstTranszendenz, ein Überschreiten meiner selbst auf anderes hin. Selbst-Transzendenz drückt sich u.a. auch in der Philosophie, in der Kunst und in der Religion aus. „Menschlich sein“, schreibt Frankl, „heißt immer schon ausgerichtet und hingeordnet sein auf etwas oder auf jemanden, hingegeben an ein Werk, dem sich der Mensch widmet, an einen Menschen, den er liebt, oder an Gott, dem er dient.“ D.h. letztlich, dass der Mensch das Wesen ist, das darauf aus ist, in seinem Leben einen Sinn zu finden und zu erfüllen. Ich möchte noch auf zwei weitere Aspekte hinweisen, an denen deutlich wird, dass sich der Mensch durch einen qualitativen Sprung vom Tier unterscheidet, nämlich in Bezug auf die Sprache und die Religion. – Die amerikanische Philosophin Susanne K. Langer hat einmal gesagt: „Unsere ursprüngliche Welt der Dinge ist ei-

Schwerpunkt 䢇 A d a m , w o b i s t d u ?

ne Wortwelt.“ D.h. wir leben nie in einer Welt der „reinen“ Tatsachen, sondern immer auch schon in einer Welt der Symbole. Und die Sprache konstituiert die für den Menschen entscheidende Symbolwelt; Mythos, Religion, Kunst bilden andere solcher Symbolwelten. Was ist damit gemeint? Im Unterschied zum Tier gebraucht der Mensch „Zeichen“ nicht nur, um Dinge anzuzeigen, sondern auch um sie zu repräsentieren. Und diese Funktion übernimmt das Symbol, indem es einen Begriff vermittelt. Dieser geht aus einem Abstraktionsprozess hervor, denn in dem Augenblick, in dem wir z.B. „Baum“ sagen, sind wir nicht mehr an diesen konkreten Baum gebunden, der in unserem Garten steht, sondern wir können „Baumheit“, wo immer sie uns begegnet, in einem einzelnen Baum wiedererkennen. D.h. der Mensch befreit sich durch die Sprache vom „Umweltbann“, in dem das Tier notwendig lebt, und wird so offen zum „Welt-Haben“, wie das Max Scheler genannt hat. Auch die „Nutzlosigkeit“ so mancher Symbole, wie sie in bestimmten Ritualen oder auch in der Kunst deutlich wird, weist hier auf einen qualitativen Sprung gegenüber dem Tierreich hin. Man hat den Menschen darum auch zu Recht als „animal symbolicum“ (Ernst Cassirer), als das symbolbildende Lebewesen bezeichnet. Der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich versteht den Menschen wesentlich als ein religiöses Wesen. Ist nämlich Religion „das, was uns unbedingt angeht“, so wird deutlich, dass jeder Mensch in diesem weiten, formalen Sinne religiös ist. Doch nicht selten ist das unbedingte Anliegen eines Menschen etwas Bedingtes, Endliches, also ein Götzenglaube. Die unausweichliche Folge einer solchen Verfälschung des Glaubens führt nach Tillich letztlich zum Verlust der Lebensmitte und zur Zerstörung der Person. Wir können das heute in den verschiedenen Spielarten des religiösen Fundamentalismus und Fanatismus beobachten. Nur das wahrhaft Unbedingte, das Göttliche, „erfüllt“ die menschliche Sehnsucht; etwas Endliches dagegen, das die Stelle des Unbedingten einnimmt – sei dies z.B. Erfolg im Leben oder die Nation –, führt letztlich zur existentiellen Enttäuschung. Und doch ist der Mensch immer notwendig auf etwas (für ihn) Unbedingtes bezogen. Ich hatte schon angedeutet, dass nicht nur die Vernunft den Menschen wesentlich auszeichnet, sondern auch die Liebe. Vielleicht leuchtet dieser Aspekt unseres Menschseins gerade an denjenigen auf, die in gewisser Weise „Außenseiter“ sind, nämlich an behinderten Menschen,

ja ganz besonders an geistig Behinderten. Jedenfalls ist das die Überzeugung von Jean Vanier, einem ehemaligen Philosophieprofessor in Canada, der die sog. „Arche“ begründet hat, ein weltumspannendes Netzwerk von Gemeinschaften, in denen nicht-behinderte und behinderte Menschen zusammenleben. In seinem Buch „Einfach Mensch sein“ (2001), das im englischen Original den Titel trägt Foto: H&H Archiv „Becoming Human“, heißt es unter der Überschrift „Mensch werden“: „Es mag paradox erscheinen, wenn ich sage, dass mich behinderte Menschen gelehrt haben, was Menschsein heißt, und dass sie mir eine neue Vision dafür eröffnet haben, wie unsere Gesellschaft sein könnte: eine menschlichere. Mit ihnen und durch sie habe ich die Freude am Feiern, an der Liebe, der Arbeit und der Kommunikation in gegenseitigem Respekt und mit viel Lachen entdeckt. Dadurch ist mir auch deutlicher aufgegangen, wie daraus Spiritualität erwächst, d.h. dass man ganz menschlich ist oder vielmehr dass Spiritualität darin besteht, ganz Mensch zu sein, was wiederum unser Leben und Menschsein prägt.“ Bleibt zum Schluss noch die Frage nach dem „Woher“ des Geistigen offen. Frankl antwortet hierauf mit einem bekannten Satz des Aristoteles: Der Geist kommt „zur Tür herein“. Das ist natürlich metaphorisch gemeint, und letztlich ist die Frage nach dem Woher des Geistes damit nicht beantwortet. Mit diesem Wort aber will Frankl – nicht anders als Aristoteles – sagen, dass das Geistige eben nicht aus den psychophysischen Bedingungen herleitbar, sondern eine Entität sui generis ist. Hier ist dann auch der Punkt erreicht, wo die philosophische Anthropologie auf die Theologie verweist, die auf die Frage „Was ist der Mensch?“ auch Wesentliches zu sagen hat. 䡲

Wenn wir z.B. „Baum“ sagen, sind wir nicht mehr an diesen konkreten Baum gebunden, der in unserem Garten steht, sondern wir können „Baumheit“, wo immer sie uns begegnet, in einem einzelnen Baum wiedererkennen.

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Peter Wust zur Frage: „Was ist der Mensch?“

„Menschwerdung“ Das Denken des christlichen Existenzphilosophen Peter Wust, 1884 in Rissenthal bei Losheim im Saarland geboren, 1940 als Professor für Christliche Philosophie in Münster gestorben, kreist letztlich um eine einzige Frage, nämlich um die Frage der „Menschwerdung“: „Wie aber wird man Mensch?“ Foto: Peter-Wust-Gesellschaft

Was den Menschen nach Wust wahrhaft zum Menschen macht – und ihn so vom Tier wie auch vom reinen Geist unterscheidet –, ist die Situation der „Insecuritas“, der Ungesichertheit. Denn sie allein macht Raum für das, was den Menschen wesentlich auszeichnet: die Freiheit, die aber keine absolute, sondern immer nur eine bedingte, und das heißt endliche ist.

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Dr. Dr. Werner Schüßler Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier  werner.schuessler@ uni-trier.de

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Von seinem Wesen her ist der Mensch somit „heimatlos“. „Es ist dem Menschen zugemutet“, schreibt Wust, „dauernd in einem dialektischen Schwebezustand zu existieren, indem sein Wesen stets nach zwei Seiten hin ponderiert, ohne dass jemals ein Gleichgewicht hergestellt werden kann.“ Und doch führt ihn das übernatürliche Wagnis der Glaubensweisheit in die übernatürliche Situation einer „Geborgenheit in der Ungeborgenheit“. So wird verständlich, weshalb Wust die Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) für einen Schlüsseltext zum Verständnis der grundsätzlich dialektischen Situation des Menschen ansieht. Wust kommentiert dies so: „Spontan stimmt man der Lebenshaltung des älteren Bruders bei,

Der Mensch lebt nicht in Sicherheit und sucht nach seinem Gleichgewicht.

Diese Situation einer grundsätzlichen Ungesichertheit begegnet dem Menschen, wie Wust in seinem Hauptwerk „Ungewissheit und Wagnis“ von 1937 deutlich macht, auf allen Ebenen seines Seins: Ist der Mensch objektiv ständig bedroht durch die Irrationalität und Unberechenbarkeit von Natur und Geschichte, so drückt sich die Insecuritas subjektiv in Form der Ungewissheit in allen Bereichen des menschlichen Lebens aus: im Bereich der Wissenschaft, der Philosophie und auch der Religion. In keinem dieser Bereiche kommt der Mensch zu einer letzten Gesichertheit bzw. Gewissheit.

aber die Symbolik weist hin auf die Dialektik zwischen der Gesichertheit und der Ungesichertheit. Denn der Umweg des jüngeren Bruders über die Ungesichertheit der Fremde lässt ihn schließlich tiefer in der Geborgenheit des Vaterhauses ausruhen als der ältere in seiner alltäglichen und oberflächlichen Lebensgesichertheit.“ Damit wird deutlich, dass der Mensch letztlich ein „homo viator“ ist, immer unterwegs – unterwegs zu sich selbst. 䡲

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AUF EMPFANG Helle Schalen auf dunklem Grund Umrisse eines Menschen, unbestimmt Frau, Mann, jung, alt, ich selbst Ruhend in Bewegung, zum Aufstehen bereit Wohin? Leere Schalen, auf der Sternenbahn Sich öffnen, Neues erspüren Zu sich kommen, über sich hinauswachsen Entlasten, entsorgen Dem Einfall, der Liebe Raum geben Helle Schalen, Licht im Dunkel Auf-klaren, Dunkelheit durchbrechen Angst überwinden, dem Licht entgegen Übersicht gewinnen, einsichtig werden Dem Leben trauen Leere Schalen, Gottes Geist Raum geben Loswerden, was atemlos macht Die Stille suchen, auf Empfang gehen Wer sich nicht hinsetzt, dem kann nichts in den Schoß fallen Selig die Empfänglichen Helle Schalen, das Empfangene mitteilen Auf Sendung gehen, Licht verbreiten Blinde sehen, Tote stehen auf Erfülltes Leben, mehr als ausgefüllt Neue Horizonte entdecken, Mensch werden Leere Schalen, schwebend, offen „Du hast uns auf dich hin geschaffen …“ Zu Hause und doch fremd Verstanden und unverstanden zugleich Unstillbare Sehnsucht, auf dem Weg zu Dir Meike Porz, 2003, 120 x 100 cm

Herbert Hoffmann

FÜR DEN UNTERRICHT

„Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit; das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten!“ Shaw

„Frei ist, wer will, was er muss.“ Goethe

„Vollendet wird die sittliche Freiheit darin, dass der Mensch das Gute nicht nur von Fall zu Fall tut, sondern dass es ihm zur Haltung wird; wenn er das Sittliche nicht tut, sondern sittlich ist!“ Guardini

„Das Freisein von etwas erfährt seine Erfüllung erst in dem Freisein für etwas. Freisein allein um des Freiseins willen aber führt zur Anarchie.“ Bonhoeffer

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Zur Relevanz des Schwerpunktthemas im Religionsunterricht

Weder Freiheit noch Verantwortung? Das anthropologische Thema „Freiheit und Verantwortung“ wird ausdrücklich in den Lehrplänen der Sekundarstufen I und II benannt. Aber auch der neue Teilrahmenplan Katholische Religion für die Grundschule in Rheinland-Pfalz (2009) greift es auf, wenn er z.B. im Gegenstandsbereich „Mensch und Welt“ dazu auffordert, die Einmaligkeit jedes Menschen wahrzunehmen, Grundregeln eines gelingenden Miteinanders zu bedenken und der Gleichgültigkeit gegenüber Ungerechtigkeit, Not und Leid in der Welt und in unserer nächsten Umgebung mit Entschiedenheit entgegenzutreten.

Dr. Carola Fleck  [email protected]

Literatur: Michael Winterhoff, Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit,Gütersloh 2008 (und Folgebände).

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Kinder und Jugendliche suchen nach Halt und ringen um Orientierung in einer Umwelt, die tendenziell unübersichtlicher wird. Sie haben heute nicht selten Freiheiten und Möglichkeiten in der persönlichen Lebensgestaltung, von denen frühere Generationen nur träumen konnten. Sie können sie aber nur zum Teil genießen, weil sie sich gleichzeitig unter Umständen gefangen und gelähmt fühlen durch endlose Auswahlmöglichkeiten, die beständige Entscheidungen erfordern. So greifen sie möglicherweise zu schnellen Lösungen und orientieren sich an starken Führungspersönlichkeiten, selbst wenn diese ihre Freiheit einschränken. Oftmals werden sie dabei von der Werbung manipuliert und den Massenmedien gelenkt und beeinflusst, ohne sich dessen bewusst zu sein. Viele von ihnen haben es schwer, verantwortungsvolles Handeln zu lernen, weil sie sich häufig als ohnmächtig (gegenüber Strukturen, Institutionen, Entwicklungen) oder als nicht zuständig und auch nicht gefragt erleben. Desinteresse bis zur Dumpfheit oder Aggressivität können die Folgen sein, vor denen viele Erwachsenen hilflos oder ohne Verständnis stehen. Die Wurzeln dieser auffälligen Verhaltensweisen, so der Kinderund Jugendpsychiater Michael Winterhoff, liegen

jedoch tiefer. Sie leiten sich nicht allein aus dem Erleben von Ohnmacht und Desorientierung ab. Nach Winterhoff entstehen viele psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter durch das Auseinanderklaffen von körperlichem und psychischem Alter. Dazu kommt es, wenn die psychische Reifung an einem bestimmten Punkt durch Fehlentwicklung stagniert. Irrtümlicherweise, so Winterhoff, gehen viele Eltern und Pädagogen/-innen davon aus, dass sich die Psyche von alleine entwickelt, ohne Hilfestellung und gezielte Förderung und beständiges Einüben von Verhaltensweisen, wie z.B. Rücksichtnahme oder Wege der Konfliktbewältigung. Fehlentwicklungen in diesem Bereich werden von ihnen auf äußere Einflüsse zurückgeführt und für reversibel gehalten, sofern nur die „richtige Pädagogik“ bei den Kindern und Jugendlichen zum Tragen komme. Nach Winterhoff bleiben immer neue pädagogisch-didaktische Modelle aber wirkungslos ohne den entsprechenden Reifegrad derer, für die sie entwickelt werden. Um den altersangemessenen Reifegrad zu erreichen und die verschiedenen Phasen der psychischen Reifung zu durchlaufen, ist es notwendig, dass Kinder und Jugendliche erwachsene Personen als Begrenzung ihres eigenen Individuums und als Vorbilder wahrnehmen können. Damit es nicht zu Beziehungsstörungen zwischen Kindern / Jugendlichen und Erwachsenen kommt, plädiert Winterhoff für klare Rollenverhältnisse und eine zugewandte, führende und strukturierte Pädagogik, die dem Schutz und der Persönlichkeitsentwicklung der Anvertrauten dient. In Kindergärten und Schulen sieht er die Möglichkeit, dass Chancen zur psychischen Nachreifung geboten und genutzt werden. Daher hält er ein breites Versorgungsangebot der Institutionen für sinnvoll. Die besondere Chance des Religionsunterrichts, durch religiöse Erziehung und Bildung zu einer psychischen Reife beizutragen, die es er-

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Auch junge Menschen lernen früh, wie sie in schwierigen Situationen verantwortlich handeln können.

laubt, die eigene Freiheit sinnvoll zu nutzen und Verantwortung wahrzunehmen, liegt auf der Hand. Hier werden, wie oben benannt, Themen angesprochen, die zu einer Positionsbestimmung herausfordern. Die Person des Religionslehrers/der Religionslehrerin ist gefragt – zugewandt, führend und strukturierend; nicht als „leuchtendes“ und damit unerreichbares Vorbild, sondern als authentischer Mensch, der vorbildhaft gemeinsam mit den Schülern/-innen Antworten sucht, erprobt und gibt. Abschließend ein bibeldidaktisches Schlaglicht auf das Thema „Freiheit und Verantwortung“ im RU, das hoffentlich dazu anregt, noch weitere Beispiele zu finden: In biblischen Geschichten geht es oft darum, dass Menschen vom Glauben her Zuspruch und Zuwendung erfahren, die ihnen helfen, zu eigenen Versäumnissen zu stehen

Foto: H&H Archiv

und Neues zu beginnen: Menschen trauen sich, nach selbst verschuldetem Streit wieder aufeinander zuzugehen (Jakob und Esau, Gen 33); sie erleben mit, wie Bezugspersonen einen Strich unter missliche Resultate setzen (Der verlorene Sohn/Der barmherzige Vater, Lk 15) und sich nach dem ersten Misslingen einer neuen Aufgabe stellen (erneuerte Berufung des Petrus, Joh 䡲 21).

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