Amir D. Aczel

Der ganz normal verteilte Zufall Mathematische Glücksspiele und Orakel Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Gerl

Titel der Originalausgabe: Chance. A Guide to Gambling, Love, the Stock Market, & Just About Everything Else Die amerikanische Originalausgabe ist erschienen bei Thunder’s Mouth Press. An Imprint of Avalon Publishing Group Inc., New York. Copyright © 2004 by Amir D. Aczel Appendix Copyright © 2004 Avalon Publishing Group Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Gerl Wichtiger Hinweis für den Benutzer Der Verlag, der Herausgeber und die Autoren haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und akkurate Informationen in diesem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informationen, für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie Funktion für einen bestimmten Zweck. Der Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen Verfahren, Programme usw. frei von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar gezahlt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2010 Spektrum Akademischer Verlag ist ein Imprint von Springer 10

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Planung und Lektorat: Katharina Neuser-von Oettingen, Stefanie Adam Herstellung und Satz: Crest Premedia Solutions (P) Ltd, Pune, Maharashtra, India Umschlaggestaltung: wsp design Werbeagentur GmbH, Heidelberg ISBN 978-3-8274-2500-3

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 2 3 4 5

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IX

Was ist Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wahrscheinlichkeiten messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Gesetz der Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Unabhängigkeit von Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Blackjack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Subjektive Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Situationen, die nicht aus einer Menge von gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten stammen . . . . . . . . . . Ein Beispiel für eine Lotterie aus der Börse . . . . . . . . . . Das De-Finetti-Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 21 24

Das Komplement eines Ereignisses und die Vereinigung unabhängiger Ereignisse . . . . . . . . . .

31

Die Lösung des Bewerbungsproblems . . . . . . . . . . . . . . Die Erklärung des Spielproblems des Chevalier de Méré . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interessante Folgerungen aus dem Gesetz der Vereinigung unabhängiger Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . Affen tippen Hamlet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 37 41 44

VI

7 8 9 10 11 12 13

Der ganz normal verteilte Zufall

Random Walks und der Ruin des Spielers . . . . . . . . .

49

Gewagtes Spiel zahlt sich aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soll man die Einsätze verdoppeln, wenn man verliert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

Was ist Zufälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Warum sind aller guten Dinge drei? . . . . . . . . . . . . . .

67

Das Pascal’sche Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Das Inspektionsparadoxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Das Geburtstagsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Koinzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Wir kennen alle über sechs Ecken . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Wie man in der Liebe erfolgreich ist (die schönste Wohnung oder den niedlichsten Hund findet) . . . . .

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59

Ist das nicht romantisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

14

Wie man Entscheidungen trifft, wenn man nicht sicher sein kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Faire Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Wie man eine Geldanlage bewertet . . . . . . . . . . . . . . 105

15 16 17

Spielstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Das Theorem von Bayes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Wahrscheinlichkeiten der Normalverteilung . . . . . . . 123

18

Bundestagswahlen und andere Meinungsumfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Der Mittelwert und die Standardabweichung . . . . . . 128

19

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Inhalt

VII

Einige Fragestellungen, mit denen Sie Ihre neuen Fähigkeiten überprüfen können (in der Reihenfolge, in der die Themen im Buch erscheinen; Antworten folgen später) . . . . . . . . . . . . . 135 Einige Fragestellungen zur Wahrscheinlichkeit, mit der man bei verschiedenen Unfällen umkommen könnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 von Brad Johnson Mischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gewinnerwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chancen und Quoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roulette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie man beim Roulette gewinnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Topf-Wettchancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das grundlegende Theorem des Pokerspiels . . . . . . . . . . . . . . Bluffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pferderennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Pari-Mutuel-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit den Pferden gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manipulieren des Pari-Mutuel-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . Overlays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Wir haben der Fortuna Tausende von Tempeln gebaut, doch keinen einzigen der Vernunft Marcus Cornelius Fronto, Lehrer von Mark Aurel

Das Pärchen Glück und Unglück hat die Menschen schon immer an der Nase herumgeführt. Warum lächelt die Glücksgöttin manchen stets zu, während sie andere nur hämisch angrinst? Was ist Glück überhaupt, und warum haben es immer die, die es nicht verdienen? Wie können wir das Geschick, das uns betrifft, vorhersehen? Oder noch besser – wie können wir es beeinflussen? Es ist leicht, sich den Zufall als etwas vorzustellen, das über uns steht. Die alten Götter, Astrologie, Aberglaube: All das waren Versuche, das Unerklärliche zu erklären. Unser Dorf wurde von einer Dürre heimgesucht, weil die Göttin des Glücks sich von uns abgewandt hat. Ihr Kind wuchs geistig behindert auf, weil es unter einem unheilvollen Zeichen geboren wurde. Seine Sklaven lehnten

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sich auf und plünderten seine Villa, weil er letzte Nacht beim Festessen Salz verschüttet hat. Heute zweifeln wir vielleicht an diesen Erklärungen – und trotzdem verdienen ihre Urheber unsere Hochachtung, denn sie haben sich umgeschaut und sich geweigert, zu glauben, dass all das willkürlich sein sollte. Auf einer sehr grundlegenden Ebene wird der Zufall vermutlich immer ein Geheimnis bleiben, doch wenn wir die Sprache der Mathematik verwenden, können wir ihn in „Wahrscheinlichkeit ausdrücken und definieren und Gleichungen angeben, die ihn beschreiben. So wie die Seeleute auf einem Segelschiff zwar den Wind nicht beeinflussen können, aber gelernt haben, ihn gezielt zu nutzen, so können auch wir die Wahrscheinlichkeit in unseren Dienst stellen und sie auch tatsächlich verändern. Die Fragen, die sich Menschen von früher gestellt haben, stellen sich auch noch denen in unserer Zeit: Wird mich die Person, mit der ich mich verabrede, heiraten wollen? Werde ich mit meinen Investitionen Geld verdienen? Werde ich gesund von meiner Reise zurückkehren? Sie werden sehen, dass Sie mit den Möglichkeiten der Wahrscheinlichkeitstheorie und den Formeln in diesem Buch die Antworten auf diese Fragen abschätzen können. Die alten Griechen sahen in der Göttin Tyche die Verkörperung des Schicksals und der glücklichen oder schrecklichen Fügung. Die Römer nannten sie später Fortuna. Für sie wurden mehr Tempel gebaut als für alle anderen Götter. Die Inschrift oben, in der Fronto ironisch ihre Beliebtheit kommentiert, wurde

Einleitung

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ungefähr im 2. Jahrhundert nach Christus verfasst. Ich hoffe, dieses Buch wird sowohl als Tempel des Glücks als auch der Vernunft bestehen können.

Die Geschichte der Wahrscheinlichkeit beginnt vor der Geschichte Das Interesse an Wahrscheinlichkeit und Zufall reicht bis in vorgeschichtliche Zeit zurück. Es wurden Würfel aus Tierknochen aus der Steinzeit gefunden – mehr als 6 000 Jahre alt. Sie ähneln in ganz bemerkenswerter Weise den modernen Würfeln. Anders ausgedrückt: Zur gleichen Zeit, als sich die frühesten bäuerlichen Gesellschaften bildeten, begann der Mensch mit dem Würfelspiel.

Knöchelchen von Schafen oder Ziegen (Astragaloi), die von den alten Griechen als Würfel benutzt wurden. (Foto: AbleMedia.com)

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Diese frühen Würfel aus Tierknochen nennt man Astragaloi (sing. Astragalos), denn sie stammen aus bestimmten gleichnamigen Hufknochen von Schafen, die zwei abgerundete und vier beinahe gleiche quadratische Seiten haben. Das Spiel, das die Menschen seit der Steinzeit bis zur Zeit der Griechen und Römer mit diesen einfachen Würfeln spielten, bestand darin, auf eines der vier möglichen Ergebnisse zu wetten – die beiden abgerundeten Seiten blieben außen vor, denn der Würfel konnte nicht auf ihnen landen. Astragaloi wurden auch noch nach der Erfindung des sechsseitigen Würfels aus Holz oder Knochen benutzt. Das zeigt, wie gut sich mit ihnen spielen ließ und dass es sogar schon damals Nostalgiker gab.1 In der frühen Antike spielten die Ägypter und Babylonier genau wie die Römer mit Würfeln und Astragaloi. Die Etrusker, dieses geheimnisvolle Volk, das auf der italienischen Halbinsel wohnte, bevor die Römer sie übernahmen, spielten schon 1 000 vor Christus mit Dodekaedern (ein Würfel mit zwölf Seiten), dessen Seitenflächen fünf Ecken hatten. Glaubt man dem römischen Historiker Sueton (De vita Caesarum, Die Kaiserbiographien, verfasst etwa 100 n. Chr.), war der Kaiser Augustus (63 v. Chr. bis 14 n. Chr.) ein begeisterter Würfelspieler. Sueton beschreibt das Lieblingsspiel des Kaisers so, dass dabei vier Würfel geworfen wurden und der Gewinner derjenige war, der als Erster eine „Venus“ warf, das heißt, dass jeder der vier Würfel eine andere Zahl zeigte.

Einleitung

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Sueton beschreibt den Kaiser Claudius (10 v. Chr. bis 54 n. Chr.) als so besessen vom Würfelspiel, dass er sogar ein Buch über Würfelspiele verfasst habe. Claudius hatte ein spezielles Würfelbrett, das fest in seinen Wagen eingebaut war, sodass er sogar würfeln konnte, während er durch Rom fuhr. Auch im alten China und in Indien waren Würfelspiele sehr beliebt. Die Geschichten und Überlieferungen über die Wahrscheinlichkeit sind durchdrungen von romantischen Mythen über das Spiel; dies wird vor allem durch eine Geschichte deutlich: Im dritten Buch des großen indischen Epos Mahabharata, das 400 v. Chr. verfasst worden ist, diskutiert der König Rituparna mit Nala, der vom Halbgott des Würfelspiels besessen ist, über Wahrscheinlichkeit und Statistik. Rituparna wird als ein Mann beschrieben, der aus der Zahl der Blätter an einem Ast die Zahl der Blätter am ganzen Baum schätzen kann (eine Vorgehensweise, die sehr den modernen Methoden der Statistik ähnelt). Rituparna sagt: Ich kenne das Geheimnis des Würfels, und mit Zahlen weiß ich daher umzugehen.

Man kann aus dem Vers schließen, dass Rituparna Kenntnisse in Wahrscheinlichkeitstheorie besaß, weil er zwischen dem Würfel und den Zahlen bewusst eine Beziehung herstellt. Auch die Rabbiner in den ersten Jahrhunderten nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem 70

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n. Chr. wussten einiges über Wahrscheinlichkeiten. Dies lässt sich aus dem Talmud belegen, der ungefähr zur gleichen Zeit wie die Mahabharata entstand. Im Talmud werden häufig Wahrscheinlichkeitsargumente verwendet, wenn es um Vorschriften für die korrekte Ernährung geht oder um die Vaterschaft bei Ehebruch, Steuerverteilung und andere Angelegenheiten, bei denen Unbestimmtheiten eine Rolle spielten. Alte hebräische Texte liefern auch Informationen darüber, dass die Pflichten der Priester im Tempel – als er noch stand – durch das Zufallsprinzip entschieden wurden: Die Priester warfen das Los, wenn es um Hausarbeiten ging, wie Putzen, Kochen oder Wachdienste. Jüngste Forschungen haben ergeben, dass Talmudexperten offensichtlich Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie für die Addition und Multiplikation kannten, und dass sie die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Ereignisse vergleichen konnten, auch wenn die Daten auf unterschiedlich großen Datenmengen beruhten.2 Überraschenderweise haben die Mathematiker des antiken Griechenlands, wie Pythagoras, Euklid und andere, keinen Gedanken an Wahrscheinlichkeitstheorie verschwendet. Vielleicht haben sie keine Möglichkeit gesehen, mit mathematischen Methoden Chancen abzuschätzen – in den mathematischen Schriften der Griechen wurde der Würfel nur als Hilfsmittel erwähnt, um jungen Leuten das Rechnen beizubringen, indem sie die Punkte zusammenzählen. Eine Diskussion des Zufalls findet man aber nirgends.3

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Sowohl im Westen als auch im Osten wurden in der Antike Würfel und Astragaloi nicht nur als Zufallsgeräte in Spielen verwendet, sondern auch, um die Zukunft vorherzusagen. Wenn jemand Hilfe für die Entscheidungen des täglichen Lebens benötigte, wenn Heerführer herausfinden wollten, ob es der richtige Zeitpunkt für einen Angriff war oder wenn Herrscher einen göttlichen Rat für ihre Regierungsgeschäfte brauchten, konsultierten sie ein Orakel. Diese Orakel verwendeten oft Würfel, um die Antworten der Götter zu erhalten. Eine „Venus“ auf den Würfeln bedeutete dann etwa ein „Ja“ auf die gestellte Frage, während ein „Hund“ – nur Einsen – „Nein“ bedeutete. Doch es gab noch viele andere Bräuche und Möglichkeiten. Auch noch in der Zeit der Christen wurden Zufallsgeräte als Quelle für göttlichen Rat verwendet. Es gibt bis in unsere Zeit hinein Aufzeichnungen, dass Menschen auf diese Weise nach Antworten gesucht haben, wenn sie wissen wollten, ob sie heiraten sollten, eine Anstellung annehmen oder wenn sie andere Angelegenheiten entscheiden mussten. Die Grundelemente der Wahrscheinlichkeitstheorie, so wie wir sie heute kennen, wurden formal im 17. Jahrhundert von mehreren europäischen Mathematikern entwickelt, darunter Galileo Galilei (1564– 1642), Blaise Pascal (1623–1662), Pierre de Fermat (1601–1665) und Abraham de Moivre (1667–1754) sowie Jakob I. Bernoulli (1655–1705) und mehreren

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seiner Nachkommen. Wie in Indien war die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie eng mit dem Spielen verquickt und motiviert vom Verlangen, die Gesetze des Zufalls zu verstehen, um Geld zu gewinnen, wenn man gegen eine Bank spielte.

Briefe an einen jungen Spielsüchtigen Die wesentlichen Elemente der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie entstanden im 17. Jahrhundert in Frankreich und waren das Ergebnis der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem Spieler und einem Mathematiker. Der Spieler war der Chevalier de Méré, der herausfinden wollte, wie er in den europäischen Kasinos gewinnen konnte. Der Mathematiker war kein anderer als der berühmte Philosoph, Physiker und Mathematiker Blaise Pascal. De Méré kam zu Pascal und fragte ihn nach den Gewinnwahrscheinlichkeiten in zwei verschiedenen komplizierten Spielen, die zu dieser Zeit in Europa sehr beliebt waren (wir werden sie später kennenlernen). Pascal schrieb an einen älteren Mathematiker, den berühmten Pierre de Fermat, und durch ihren Briefverkehr wurden die mathematischen Regeln der Wahrscheinlichkeit hergeleitet. Diese Regeln und die Ergänzungen, die sie im Laufe der Jahrhunderte erfahren haben, sind das Thema dieses Buches.

1 Was ist Wahrscheinlichkeit

Wahrscheinlichkeit ist ein Erklärungsansatz der Menschheit, um die Unsicherheit des Universums zu verstehen und dem Unfassbaren Substanz zu geben. Eine Wahrscheinlichkeit ist ein quantitatives Maß dafür, wie gewiss ein bestimmtes Ereignis eintreten wird. Wenn wir uns sicher sein können, dass es eintritt, ordnen wir ihm eine Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent zu. Wenn wir uns sicher sein können, dass es nicht eintreten wird, die Wahrscheinlichkeit von 0 Prozent. Anderen Vorkommnissen, von denen wir weder wissen, dass sie sicher, noch dass sie bestimmt nicht eintreten werden, werden Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 100 Prozent zugeordnet (oder, was das Gleiche, nur streng mathematisch ausgedrückt, ist, zwischen 0,00 und 1,00). Wenn ein bestimmtes Ereignis eine Wahrscheinlichkeit von 0,5 (das heißt 50 Prozent) hat, dann wird es genauso gewiss eintreten wie nicht eintreten. Ein Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,1 (10 Prozent) wird eher (in 9 von 10 Fällen) nicht passieren, eines mit

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Der ganz normal verteilte Zufall

0,9 (90 Prozent) eher schon. Natürlich kann man dieselben Zahlen auch als Brüche schreiben, sodass 0,1 als 1/10 und 0,5 als ½ dasteht usw. Die folgende Abbildung veranschaulicht, wie man Wahrscheinlichkeiten interpretiert. Interpretation von Wahrscheinlichkeiten

0

0.25

0.5

0.75

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Ereignis wird vermutlich Ereignis wird genauso Ereignis wird nicht eintreten. wahrscheinlich vermutlich eintreten. eintreten wie nicht eintreten. Ereignis wird mit höherer Ereignis wird mit höherer Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit nicht eintreten. eintreten.

Diese Zuweisung einer Wahrscheinlichkeit, also einer Zahl zwischen 0 und 100 Prozent (oder 0,00 und 1,00) muss natürlich entsprechend bestimmter Gesetze der Logik und der Mathematik – die von Pascal, Fermat und anderen hergeleitet wurden – geschehen, damit sie Sinn macht. Wir möchten ja, dass wir einem Ereignis die richtige Zahl zuordnen; das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit auf lange Sicht, wenn wir sehr viele Versuche machen, mit den Ergebnissen übereinstimmt. Wir weisen also zum Beispiel der Wahrscheinlichkeit, dass ein Würfel auf die Fünf fallen wird, die Zahl 1/6 zu. Und wirklich werden,

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Was ist Wahrscheinlichkeit

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wenn wir es nur oft genug machen, 1/6tel der Würfe die Fünf zeigen. Als die Steinzeitmenschen in vorgeschichtlicher Zeit ihre vierseitigen Knochenwürfel warfen, bemerkten sie, dass ungefähr ein Viertel der Zeit eine bestimmte Seite oben lag – oder sie hätten es bemerken können, wenn sie nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen wären, vor struppigen wolligen Mammuts wegzulaufen. All das gilt natürlich auch für die anderen Zahlen auf dem Würfel, doch wir bestimmen die Wahrscheinlichkeiten nicht dadurch, dass wir einen Würfel eine Million Mal werfen, sondern mit anderen Methoden. So weit sind wir schon gekommen. Sie werden merken, dass es sehr nützlich ist, wenn man die Wahrscheinlichkeitstheorie verstanden hat. Eigentlich verwenden Sie sie schon längst im täglichen Leben (Sollen Sie für ein Taxi zahlen oder die Straßenbahn nehmen? Sollen Sie den Stau umfahren? Sollen Sie jetzt oder später tanken, wenn es wieder billiger wird?), doch ein tieferes Verständnis wird Ihnen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, sei es nun im Beruf, in der Liebe oder in anderen Bereichen des Lebens. Der Wahrscheinlichkeitsexperte I. J. Good vertritt die Auffassung, dass die Wahrscheinlichkeitstheorie das Leben der menschlichen Rasse bestimmt.4 Er behauptet, dass auch Tiere ein Gespür für Wahrscheinlichkeiten haben – ein Raubtier schätzt vielleicht instinktiv ab, welche Fluchtroute sein Opfer

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aus mehreren Möglichkeiten wählen wird, und dann selbst entlang der Strecke jagen, die es für am wahrscheinlichsten hält. Dieses Buch soll Ihnen einiges über die Wahrscheinlichkeitstheorie beibringen, damit Sie das Unfassbare greifbar machen können, damit die Welt um Sie herum Sinn ergibt und Sie in Ihrem Leben bessere Entscheidungen treffen können.

2 Wahrscheinlichkeiten messen Ich möchte Ihnen ein Geheimnis verraten: Wahrscheinlichkeiten zu messen ist genauso leicht wie zählen. Zählen Sie einfach die Möglichkeiten eines Ereignisses und teilen Sie dies durch die Zahl aller Möglichkeiten. (Natürlich müssen alle Möglichkeiten, die wir zählen, gleich wahrscheinlich sein – wenn eine leichter eintreten kann, muss sie entsprechend gewichtet werden, doch damit beschäftigen wir uns später.) Zum Beispiel gibt es sechs gleich wahrscheinliche Ergebnisse, wenn ein ungezinkter Würfel geworfen wird: eins, zwei, drei, vier, fünf und sechs. Woher wissen wir das? Na, das ist doch intuitiv klar, und vermutlich hatten die Menschen früher, die mit Knochenwürfel spielten, das gleiche Gefühl. Der Würfel ist ideal symmetrisch (oder er ist es wenigstens idealerweise); er hat sechs Seitenflächen, deshalb wird jede davon gleich wahrscheinlich oben liegen. Immer wenn wir eine Situation haben, bei der Ereignisse mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eintreten, ist die Wahrscheinlichkeit jedes Ereignisses das Verhältnis

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der Zahl aller Möglichkeiten, die dieses Ereignis hat einzutreten, geteilt durch die Gesamtzahl aller möglichen Ereignisse.

Was ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, eine gerade Zahl zu würfeln? Es gibt drei gerade Zahlen (zwei, vier, sechs) unter den sechs gleich wahrscheinlichen Zahlen (eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs). Deshalb ist die Antwort: 3/6 = ½, also 50 Prozent. „Gerade Wettquoten“ (engl. even odds) sagen sie dazu in Las Vegas. Wir wollen uns nun einmal Spielkarten ansehen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, ein Ass zu ziehen, wenn ich einen Stapel aus 52 gut gemischten Der Wahrscheinlichkeitsraum für das Ziehen einer Karte

Ereignis „A“ ist: „Ein Ass wird gezogen.“

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A K D

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Wahrscheinlichkeiten messen

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Karten habe? Gut gemischt bedeutet, dass ich jede der 52 Karten mit der gleichen Wahrscheinlichkeit ziehen werde.5 Weil es vier Asse (Herz, Pik, Karo und Kreuz) im Stapel gibt, die jeweils gleich wahrscheinlich gezogen werden, ist die Wahrscheinlichkeit für ein Ass 4/52 = 1/13 = 0,0769 oder etwa 8 Prozent. Dies wird in der Abbildung auf Seite 6 gezeigt.