Der ferne Klang von Franz Schreker

Der ferne Klang von Franz Schreker Oper in drei Aufzügen Libretto vom Komponisten MATERIALMAPPE Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Kla...
Author: Bernt Vogt
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Der ferne Klang von Franz Schreker Oper in drei Aufzügen Libretto vom Komponisten

MATERIALMAPPE

Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“

LIEBE LEHRERINNEN UND LEHRER, LIEBES PUBLIKUM, im Mittelpunkt der Handlung von Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“, die 1912 in Frankfurt mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, stehen die beiden jungen Verliebten Fritz und Grete. Ihre gemeinsame Zeit ist kurz, denn Fritz, ein junger Komponist, ist auf der Suche nach dem „fernen, reinen Klang“. Er verlässt Grete, um ihn zu finden. Als die beiden sich Jahre später wieder begegnen, erkennen sie, dass sie seit ihrer Trennung das Glück und die Liebe vergebens gesucht haben – hatten sie es doch beim Anderen in jungen Jahren schon gefunden. Ein gemeinsames Leben bleibt ihnen verwehrt. Fritz stirbt in Gretes Armen. Mit vorliegender Materialmappe möchten wir Ihnen nun sowohl einen Eindruck von der Oper Schrekers als auch von der Inszenierung vermitteln. Dazu haben wir unter anderem einen Text von Kai Weßler, produktionsbetreuender Dramaturg, ein Interview mit Regisseurin Gabriele Rech sowie Fotos der Inszenierung und Pressestimmen zusammengestellt. Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung der Oper „Der ferne Klang“ sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops und Gespräche für Schülerinnen und Schüler an. Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie sich gerne an mich wenden.

Mit herzlichen Grüßen, Gudrun Bär Theaterpädagogin

Kontakt: Staatstheater Nürnberg u18plus: junges publikum Theaterpädagogin Gudrun Bär Telefon: 0911-231-6866 Email: [email protected]

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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“

EIN VERBOTENES MEISTERWERK GABRIELE RECH INSZENIERT FRANZ SCHREKERS „DER FERNE KLANG“ IM OPERNHAUS Ein Erfolgsstück von einst, ein Schlüsselwerk des modernen Musiktheaters: Im April hat mit Franz Schrekers „Der ferne Klang“ ein Werk Premiere im Opernhaus, das von einem besonderen Klang handelt – und selbst mit ganz eigenen Klängen aufwartet. Als die Oper „Der ferne Klang“ 1913 an der Oper Frankfurt uraufgeführt wurde, machte sie ihren Schöpfer, den 35-jährigen, völlig unbekannten Franz Schreker mit einem Schlag zum Star der deutschen Opernszene. Bereits zwischen 1901 und 1910 komponiert, bündelt „Der ferne Klang“ die Themen des ausklingenden „Fin de siècle“ und der anbrechenden Moderne: romantischer Aufbruch, Künstlerdrama, Märchenton und naturalistische Milieuschilderung – Schreker scheint mit seinem „Fernen Klang“ die Summe der Opern seiner Zeit zu ziehen. Zugleich stößt er mit seiner Musik weit in die Moderne vor. Er verbindet die Opulenz der Spätromantik mit den harmonischen Kühnheiten des befreundeten Arnold Schönberg und überträgt die Collagetechnik eines Gustav Mahler auf die Opernbühne. Kein Wunder, dass Schreker, weit stärker als der 14 Jahre ältere Richard Strauss, bald als der wichtigste Opernkomponist seiner Zeit galt. Einige Kritiker feierten Schreker sogar als den einzigen Komponisten, der den von Richard Wagner eingeschlagenen Weg des Musikdramas konsequent weiterdachte. Mit seinen Folgewerken „Die Gezeichneten“ und „Die Schatzgräber“ konnte Schreker an den Erfolg des „Fernen Klangs“ anknüpfen und seine Stellung als führender deutscher Opernkomponist weiter ausbauen. Doch Schrekers Popularität sank bereits Mitte der 1920er Jahre, als mit den Werken von Kurt Weill und anderen jüngeren Komponisten eine „Neue Sachlichkeit“ auch im Musiktheater Einzug hielt. Schlagartig endete Schrekers Karriere mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die den Komponisten jüdischer Herkunft aus seinem Amt als Direktor der Berliner Musikhochschule entfernten und seine Werke auf den Index unerwünschter Kompositionen setzten. Erst seit den 1970er Jahren wurden und werden Schrekers Opern als das wiederentdeckt, was sie sind: faszinierende Werke der Moderne. Zum Probenbeginn sprach Produktionsdramaturg Kai Weßler mit der Regisseurin Gabriele Rech. Franz Schrekers „Der ferne Klang“ ist ein Werk, das beinahe überquillt vor Themen. Die Geschichte zweier Menschen wird erzählt, trotzdem steht etwas sehr Abstraktes im Mittelpunkt: der geheimnisvolle und eben ferne Klang, nach dem der Komponist Fritz sucht wie die Romantiker nach der Blauen Blume. Was ist für Dich das zentrale Thema der Oper? Gabriele Rech: Ich glaube, es geht vor allem um gescheiterte Lebensentwürfe. In vielen Opern wird ja gezeigt, wie eine junge Liebe an den Bedingungen der Gesellschaft scheitert. Aber Fritz verlässt Grete aus ganz anderen Gründen, nämlich weil er glaubt, nur durch seinen Verzicht auf die Liebe zu seiner Kunst zu kommen. Das Stück erzählt davon, wie er zwar materiell erfolgreich wird, aber trotzdem als Künstler scheitert. Und auch alle anderen Figuren, die wir im ersten Akt kennenlernen, scheitern in dem, was sie sich vom Leben erhoffen. Diese Künstlerthematik, die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben, ist Thema von vielen Werken, speziell der Romantik: „Tannhäuser“, „Hoffmanns Erzählungen“, aber auch in den Erzählungen von Thomas Mann und anderen ... Ja, aber im „Fernen Klang“ stellt Fritz die Kunst komplett gegen das Leben. Frit z läuft geradezu vor dem Leben davon. Er merkt nicht, dass er in der Kunst nur Erfolg 3

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haben kann, wenn er die Kunst mit dem Leben versöhnt, das ist die Schlusspointe des Werkes. Das ist ein Stück, das ganz viel an Gedankengängen in mir freisetzt, das ganz viel auslöst. Es ist sogar eine Art von Künstlerpech zweiter Ordnung: Fritz hat vermutlich irgendwo gelesen, dass ein richtiger Künstler kein bürgerliches glückliches Leben finden kann und führt die Trennung von Grete ja bewusst herbei. Welche Rolle spielt überhaupt die Erfahrung der Moderne in dem Stück? Eine ganz große! Gerade im ersten Akt merken wir, das ist ein Stück über die Gegenwart, die ganz ungeschminkt in einem sozialen Milieu beginnt. Das verschärft diese Künstlerthematik: Es gibt hier keine heile Welt, nirgends. Und das wissen die Figuren des Stückes, und das wusste auch Schreker. Das Uneinheitliche des Stückes, diese Mischung von Erzählebenen, von Stilen, von Milieus, das ist nichts anderes als der Versuch, die Uneinheitlichkeit der Welt darzustellen. Die moderne Welt lässt sich nicht mehr vermitteln, nicht mehr über einen Leisten schlagen. Darin liegt die ganz große Modernität dieses Werkes. Du hast in Nürnberg zuletzt Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ inszeniert, auch das ein Werk der Zwischenkriegszeit von einem Komponisten, der dann ab 1933 als Jude in Deutschland nicht gespielt und der erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde. Gibt es Parallelen zwischen den beiden Stücken? Ja und nein. Es gibt in beiden Stücken ein Spiel mit der Realität, mit der Frage: Was ist real und was nicht. Bei der „Toten Stadt“ ist das ein Traum der männlichen Hauptfigur Paul, beim „Fernen Klang“ der Mittelakt im Bordell, bei dem wie in einem Albtraum ganz verschiedene Musikebenen übereinander laufen. Aber Korngold erzählt stringenter, seine „Tote Stadt“ ist eine Geschichte aus männlicher Sicht. Das Interessante am „Fernen Klang“ ist ja, dass die Geschichten von Fritz und Grete über weite Strecken nebeneinander herlaufen. Keiner von beiden ist die Ha uptfigur, das Stück hat ganz viele Perspektiven. Alle beide handeln von dem „Traum hinter dem Traum“. Grete unternimmt auch einen Aufbruch: Sie verlässt ihr Elternhaus, um sich im Wald das Leben zu nehmen. Dort hat sie eine seltsame Naturerfahrung – und landet schließlich in einem Luxusbordell. Ist das die Gegen-Erzählung zum Künstlerleben? Diese „Karriere“ als Prostituierte ist schon vorgeprägt, wenn Gretes Vater sie an den Wirt verkauft, um seine Spielschulden zu bezahlen. In einer psychologischen Übertragung erfüllt sie also genau das, wovor sie wegläuft. Ich glaube, diese Naturerfahrung ist der Beginn einer Traum-Albtraum-Handlung, die fast ins Märchenhafte kippt. Schreker kannte sehr genau die Aufsätze zur weiblichen Hysterieforschung, die Sigmund Freud und Josef Breuer einige Jahre zuvor veröffentlicht hatten. Er hat ganz bewusst die Geschichte Gretes nach dem Muster einer solchen Hysterieerkrankung gestaltet. Was heißt denn das für die Oper? Wie erfährt das der Zuschauer? Wir erleben, wie eine Figur, Grete, unter dem Eindruck des traumatischen Erlebnisses dieses Verrats durch ihren Vater vor unseren Augen zerfällt. Sie geht in den Wald, will sich umbringen, trifft dort aber eine merkwürdige alte Frau – und wenn wir sie in dem Bordell des zweiten Aktes wiedertreffen, ist sie nicht mehr sie selbst. Wir sehen sie als eine Person, die nur noch die Erwartungen anderer, nämlich die der Männer, erfüllt und sich nur noch in Klischees äußert. Das ändert sich aber im dritten Akt noch einmal: Grete ist sozial noch weiter abgestiegen, ist aber wieder zu eigenem Handeln fähig. Ja, und das ist vielleicht das Spannendste und Ungewöhnliche an diesem Stück: 4

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Fritz hat eine Oper geschrieben, die „Die Harfe“ heißt, und die nichts anderes ist als der Versuch, sein eigenes Leben und das Gretes als Kunstprodukt zu verarbeiten. Fritz versucht, den fernen Klang zu finden, indem er sein eigenes Leben komponiert hat. Die Oper wird ein Misserfolg, aber Grete erlebt die Aufführung und sieht ihr eigenes Leben. Das bewirkt ihre totale Veränderung, ihre „Heilung“. Oper als Therapeutikum? Kann Theater unsere psychischen Wunden heilen? (lacht) Ich glaube fest daran, dass in der Kunst etwas Kathartisches liegt.

„DER FERNE KLANG“ IN KÜRZE Den jungen Komponisten Fritz drängt es in die Welt hinaus, um den besonderen, den fernen Klang zu finden. Dafür lässt er seine Geliebte Grete in ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus zurück, wo ihr Vater sie bei einer Kegelpartie als Wetteinsatz vergibt. Grete flieht und will sich umbringen, wird aber von einer geheimnisvollen Alten daran gehindert. Diese bringt sie in das Luxusbordell „Casa di maschere“, wo Grete schnell zum Star aufsteigt. Hier begegnet sie Fritz wieder, der sich angewidert von ihr abwendet. Anschließend verarbeitet Fritz seine und ihre Geschichte zu einer Oper. Deren Uraufführung, die Grete, mittlerweile zum Straßenmädchen abgesunken, miterlebt, endet in einem Misserfolg. Grete besucht Fritz noch einmal. Der erkennt, dass er ohne die Liebe seines Lebens seinen „Fernen Klang“ nie finden wird. In ihren Armen stirbt er.

GABRIELE RECH Die in Duisburg geborene Regisseurin erarbeitete in den letzten Jahren über 50 Musiktheaterinszenierungen an Bühnen des In- und Auslands, u. a. in Köln, Nürnberg, Münster, Wiesbaden, Mannheim, Bremen, Weimar, Dortmund, Linz, Graz, Antwerpen und Kassel. Für ihre Inszenierung von „Madame Butterfly“ am Musiktheater im Revier erhielt sie den Gelsenkirchener Theaterpreis, ihre Inszenierungen von „Die Zauberflöte“ in Weimar, „Winterreise“ in Bielefeld und „Hoffmanns Erzählungen“ in Kassel wurden von der Zeitschrift Opernwelt im Vergleich mit anderen Inszenierungen dieser Werke zur jeweils besten gewählt. Außerdem erhielt sie zahlreiche Nominierungen zur Inszenierung des Jahres. Im April 2010 übernahm sie eine Professur für szenischen Unterricht und Projektkoordination an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Standort Aachen. Jüngste Regiearbeiten sind „Elektra“ am Teatro Massimo Bellini in Catania und an der Oper Köln (2010), „Carmen“ am Nationaltheater Mannheim (2010) sowie Antonio Gnecchis „Cassandra“ in Catania (Januar 2011).

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PREMIERE : 30. APRIL, 19.30 UHR, OPERNHAUS

DER FERNE KLANG Franz Schreker OPER IN DREI AKTEN Text vom Komponisten Musikalische Leitung: Philipp Pointner Inszenierung: Gabriele Rech Bühne: Dirk Becker Kostüme: Gabriele Heimann Chor: Edgar Hykel Dramaturgie: Kai Weßler Mit: Isabel Blechschmidt (Mizzi), Esen Demirci (Milli), Teresa Erbe (Ein altes Weib/Eine Spanierin/Eine Kellnerin), Melanie Hirsch (Mary), Angelika Straube (Frau des alten Graumann), Astrid Weber (Grete), Klaus Brummer (1. Chorist), Guido Jentjens (Dr. Vigelius/Der Baron), Rüdiger Krehbiel (Der alte Graumann/Ein Polizeimann), Michael Kunze (Gesang des Baritons), Jochen Kupfer (Der Graf/Rudolf/Ein Schmierenschauspieler), Martin Nyvall (Der Chevalier/Ein zweifelhaftes Individuum), Michael Putsch (Fritz), Darius Siedlik (Wirt) Mit freundlicher Unterstützung des Damenclubs zur Förderung der Oper Nürnberg e.V. Kai Weßler (aus „Impuls“, Magazin des Staatstheaters, Ausgabe April 2011)

DER FERNE KLANG 1. AKT, 1. SZENE Ein hohes, hehres Ziel schwebt mir vor Augen, doch frei muss ich sein – frei! Denn nicht Ruhe find´ ich – zu Glück und Genuss, nicht Ruhe zu Liebe und Seligkeit – eh´ ich ihn nicht habe und halte, den rätselhaft weltfernen Klang, der zu mir herübertönt – so eigen – weißt du, Gretel – wie wenn der Wind mit Geisterhand über Harfen streicht. – Weit – Weit –

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IM IRRGARTEN DER ZERBROCHENEN TRÄUME Ein junger Künstler will in die Welt hinaus. Er ist Komponist und hört auf den prosaischen Namen Fritz. Berühmt will er werden, auch reich, die Kunst soll ihm einen arrivierten Platz in der Gesellschaft verschaffen. Ziel seiner künstlerischen Sehnsüchte ist der von ihm selbst nur vage erahnte „rätselhaft weltferne Klang“, der zugleich Antrieb zu einem künstlerischen Aufbruch ist. Fritz sucht die sphärische Musik, die der Wind durch das Streichen der Äolsharfe erzeugt. Für jenes Windspiel hatten bereits Goethe und die Romantiker geschwärmt. Der ferne Klang ist nichts anderes als der Traum von einer Kunst, die aus der Natur selbst entsteht und die zugleich die als schmerzlich empfundene Trennung des Menschen von der Natur aufzuheben imstande ist. Es ist ein romantischer Aufbruch, den Fritz zu Beginn von Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“ zelebriert, ein Aufbruch ins Unendliche, in eine Land der Sehnsucht, in die Utopie. Doch „wer das Unendliche sucht, der weiß nicht, was er will“, hatte einst schon der Erzromantiker Novalis spöttisch bemerkt. Nicht ohne Grund ist es ein Klang, nach dem Fritz sich sehnt, also das Flüchtigste an der ohnehin flüchtigen Kunst der Musik, das, was sich der Fixierung in den Noten wiedersetzt, was man eben nicht „haben und halten“ kann, wie Fritz es sich wünscht. Und Fritz scheint die Erzählungen der Romantik zu kennen, die Suche nach der blauen Blume, die Sehnsucht nach der Ferne. Immerhin hat er von der romantischen Kunstphilosophie soviel verstanden, dass sein Ziel als Künstler die Synthese von Kunst und Leben, von Geist und sinnlichem Genuss sein muss. Und ihm ist wohl klar, dass er dies in der biederen Wohnküche der Familie Graumann, deren Name ein nur zu deutlicher Hinweis auf den „grauen Alltag“ ist, nicht finden wird. Mit anderen Worten: Fritz muss seine Geliebte verlassen, um seine Kunst zu finden. Kaum ist Fritz gegangen, wandelt sich Schrekers Oper vom romantischen Künstlerdrama zur naturalistischen Sozialstudie. Das Milieu, dem Grete (und wohl auch Fritz) entstammen, ist das des abgesunkenen Kleinbürgertums. Vater Graumann vertrink t das Geld der Familie im Wirtshaus, der gesamte Besitz der Familie ist dem Wirt bereits verpfändet. Die Mutter sieht der Entwicklung ohnmächtig zu, denn der Widerstand einer Frau gegen den gewalttätigen Vater ist für sie ebensowenig möglich wie eine beruf liche Tätigkeit der Tochter Grete. Völlig schamlos geht dagegen der Vater vor, indem er seine eigene Tochter beim Kegeln verspielt. Hatte etwa in Wagners „Der fliegende Holländer“ Vater Daland für Senta immerhin noch maßlose Schätze erhalten, so geschieht der Verkauf dieser Braut zur bloßen Suchtbefriedigung: Der Vater vergibt seine Tochter an den Wirt zum Erlass seiner Schulden, und damit er künftig umsonst trinken darf. Die Brutalität, mit der Grete zur Gaudi einer betrunkenen Meute ehrenwerter Bürgern gedemütigt wird, zeigt Schreker als einen Zeitgenossen des literarischen Naturalismus und weist in der Genauigkeit des sozialen Milieus auf Horváth voraus. Von nun an ist es Gretes Geschichte, die die Oper erzählt. Mit deren Flucht aus dem Elternhaus ändert sich erneut der Ton. Zwar will Grete Fritz suchen, tatsächlich aber gelangt sie in einen Wald, den Ort des Unheimlichen, des Unbestimmten, der Natur. Es ist die einzige Szene in dieser Oper, die nicht im sozial und zivilisatorisch bestimmten Raum der Stadt spielt. Und die Erfahrung der Natur ist es auch, die Grete von ihrem Selbstmord abhält. Ganz im Sinne der Zivilisationskritik des frühen 20. Jahrhunderts zeigt Schreker die Natur als Heilmittel gegen die schmerzlichen Verluste der Zivilisation. Er hat hier eine Musik komponiert, die mit allen Mitteln einer raffiniert ausdifferenzierten Instrumentation die Natur zur schillernden, verführerischen Gegenwelt zu der urbanen Realität des bisherigen Aktes macht. Die von dem Verlust von Geliebtem und Elternhaus verstörte Grete findet in der scheinbar heilen Natur Rettung und Unheil zugleich. Plötzlich nämlich erscheint, wie die Knusperhexe aus dem Märchen, in der Naturidylle die alte Frau vom Beginn des Aktes. Schreker zitiert Märchenton und

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Naturromantik, doch er weiß genau, dass beides in der Moderne des 20. Jahrhunderts kaum mehr als künstliche Paradiese sind, romantische Fluchtorte einer illusionslosen Wirklichkeit. Hatte die Natur Rettung versprochen, so führt die alte Frau Grete geradewegs in die Prostitution. Zehn Jahre später spielt der zweite Akt. „La casa di maschere, ein Tanzetablissement auf einem Eiland im Golf von Venedig“ steht als Handlungsort im Libretto. Venedig, das „Las Vegas des 18. und 19. Jahrhunderts“, wird hier zur Chiffre des Vergnügens. Eigenartigerweise tragen die Frauen, die diesen Ort bevölkern, alle Namen der Wiener Prostituiertenszene: Mizi, Milli, Mary. Schreker selbst hat in einem kurzen autobiographischen Abriss mit „Casa di maschere“ seine Besuche in Lokalen der Wiener Halbwelt umschrieben, und tatsächlich ist für die Zeit um die Jahrhundertwende in Wien ein Lokal belegt, das die männlichen Kunden in ein kulissenhaftes Venedig entführt. Konsequenterweise benutzt Schreker in der Musik dieses Aktes keine der gängigen musikalischen Zeichen für Venedig, wie sie dem Opernbesucher etwa aus Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ geläufig sind. Stattdessen eröffnet er ein wahrhaft atemberaubendes Panorama verschiedener Musikstile. Neben dem Hauptorchester sieht man auf der Bühne eine Zigeunerkapelle und hört aus der Ferne venezianische Musik. Wenn der Vorhang aufgeht, singen unsichtbare Fernchöre, zugleich erklingt ein sentimentales Lied, das von einer schmachtenden Serenade abgelöst wird. Später kommt noch ein Frauenchor mit einem schmissigen Walzer dazu. Diese Trivialmusiken des Wiener Heurigen sind nicht etwa musikalische Einlagen, sondern sie erklingen gleichzeitig, bruchstückhaft, werden in den Gang der Handlung ein- und ausgeblendet. Sie schaffen so eine dichte, aber disparate Klangcollage, die dem ganzen Akt eine merkwürdig alptraumhafte Atmosphäre zwischen Irrgarten und Zirkus gibt. Wenn wir Grete wiedertreffen, hat sie sich verändert. Sie erscheint als „schöne Greta“ als Projektionsfläche männlicher Wünsche. Entgegen allen Beschreibungen der männlichen Besucher in der „Casa di maschere“ führt Schreker sie jedoch nicht als große Kurtisane vor, sondern als eine Frau, die ihre Persönlichkeit nur im Spiegel der Männer finden kann. „Bin ich denn wirklich so schön?“ ist der keineswegs kokett gem einte Eingangssatz dieser Greta. Ihr Auftrittslied ist eine Traumerzählung, in der Greta ihren Lebensweg seit der Naturerfahrung als Abfolge alptraumhafter Bilder neu durchlebt. Der Zerfall von Grete/Gretas Persönlichkeit wird offenkundig in der Begegnung mit Fritz, der in einer vagen Reminiszenz an „Lohengrin“ völlig unerwartet mit einem Schiff die Vergnügungsinsel erreicht. Er verkennt zwar, dass er sich in einem Bordell befindet, erkennt Grete jedoch. Sie aber erkennt ihn nur mit Mühe, ihre Rede ist scha blonenhaft, ihre Reaktionen auf ihn sind unangemessen. Die Wiedererkennung zweier sich liebender Menschen findet nicht statt. Vielmehr muss Fritz erkennen, dass das Mädchen Grete nicht mehr existiert, sondern sich zu einer zersplitterten, von den Wünschen anderer definierten Persönlichkeit verwandelt hat. Schreker, der Sigmund Freuds zu seiner Zeit neuartigen Studien zur (weiblichen) Hysterie und Traumatisierung kannte, beschreibt auch musikalisch den Zerfall einer Persönlichkeit. Mehr noch, die musikalisch zersplitterte Welt des Venedig-Bildes wird zu einem Abbild der zerstörten Persönlichkeit seiner Protagonistin. Heilung von dieser Persönlichkeitsstörung sucht Grete ausgerechnet in der Kunst. Im dritten Akt erlebt der Zuschauer aus der Backstage-Perspektive die Uraufführung der Oper „Die Harfe“, die Fritz komponiert hat. Die Bruchstücke des Werkes, die man zu Beginn des Aktes erlebt, sind alle musikalische Zitate aus dem „Fernen Klang“ selbst. Die titelgebende Harfe ist jene Windharfe, deren Klang Fritz nachhört, die Geschichte die seines eigenen Lebens und das der Grete. Kein Wunder, dass diese, die trotz ihres sozialen Abstiegs zur Straßenprostituierten im Publikum sitzt, mit einem Schwächeanfall reagiert. Diese Schwäche jedoch führt zu einer neuen Stärke: Grete sucht bewusst den mittlerweile schwer kranken Fritz auf. Hier schließt Schreker den Bogen zum Beginn: In der Erkenntnis, dass Kunst und Leben zusammengehören, dass Fritz seinen fernen 8

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Klang nur finden kann, wenn er sich mit Grete versöhnt, liegt die romantische Schlusspointe des Werkes. Tatsächlich aber geht Schreker noch einen Schritt weiter: Im Moment der Versöhnung, im Einswerden von Sehnsucht und Erfüllung verlässt Fritz Grete zum dritten Mal, und diesmal endgültig: er stirbt. Am Ende seines rom antischen Aufbruchs ist Fritz am Leben gescheitert, ohne dieses Scheitern in der Kunst sublimiert zu haben. Schreker führt ein großes Künstlerdrama des 19. Jahrhunderts vor – und demonstriert zugleich, wie sich diese Künstlerthematik in der modernen Welt ü berlebt hat. Er erinnert an die romantische Idee der Einheit von Kunst und Leben, von Mensch und Natur, von Utopie und Wirklichkeit – und lässt deren Widersprüche ungelöst. Kai Weßler (aus dem Programmheft zu „Der ferne Klang“)

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PRESSESTIMMEN "Der ferne Klang" - Bayerischer Rundfunk, B5 Kultur - 01.05.2011 Regisseurin Gabriele Rech siedelt das Stück genau an, wo es seine Stärken voll entfalten kann: Zwischen Psychoanalyse, Traumdeutung und Gewaltfantasien, geht es doch im "Fernen Klang" um Menschen, die ihre Ideale verlieren, die vom Leben furchtbar enttäuscht werden und daran zugrunde gehen. Die grelle, lodernde Musik von Franz Schreker und die auf den ersten Blick banale Handlung können den "Fernen Klang" heutzutage schnell in den Kitsch abgleiten lassen. Doch Gabriele Rech und ihr Bühnenbildner Dirk Becker beeindruckten mit ungemein intensiven, düsteren Bildern, die zwischen Märchen und Alptraum schwanken, so dass Figuren wie Rotkäppchen und Sterntaler sich im Bordell wiederfinden, wo sie auf einem Spielzeugpferd mit sadomasochistischem Zaumzeug reiten. [...] Am Ende ist er tot und sie in der Gosse, im Expressionismus gibt es keine Halbheiten. Um das glaubwürdig darzustellen, braucht es Sängerinnen wie Astrid Weber [...] Ein großer Abend am Nürnberger Staatstheater. Peter Jungblut

"Der ferne Klang" - Nürnberger Zeitung - 02.05.2011 Rauschende Klangpracht, intime kammermusikalische Momente und ein psychologisch vielschichtiger Stoff, der mitten ins Herz der deutschen Romantik zielt: Mit diesen Qualitäten punktet im Nürnberger Opernhaus Franz Schrekers Oper "Der ferne Klang", die am Samstag Premiere feierte. [...] Noch einmal eine andere Herausforderung ist es, so eine ursprünglich sehr erfolgreiche, dann lange ins Vergessen gedrängte Oper, die im Schnittpunkt von Spätromantik, Moderne und einer jung vollendeten, exotisch eigenwilligen Klangsprache steht, für die Bühnenpraxis eines mittleren Hauses wie dem Nürnberger Staatstheater tauglich zu machen. Die jüngste Produktion des Opernhauses, die am Samstagabend Premiere hatte, leistet hier Vorbildliches. Gabriele Rech, die vor zwei Jahren schon für Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ eine psychologisch fesselnde Deutung fand, und der damals ebenfalls am Pult stehende Dirigent Philipp Pointner fächern beide die in diesem Werk enthaltene kreative Substanz facettenreich auf. [...] In diesem [2.] Akt, der in einem venezianischen Bordell spielt, entfalten Philipp Pointner, die Philharmoniker, aber auch die in die sphärischen Höhen der obersten Proszeniumsloge entrückten Chöre die hypertrophe Pracht von Schrekers Partitur. Das orchestrale Aufrauschen rückt ins Zentrum, die Motivarchitektur ist kompliziert geschichtet, sogar eine Bühnenmusik ist integriert, die reichlich bestückten Perkussionisten steuern exotische Akzente bei, das schwere Blech leistet wagner-schwere Basisarbeit, das Orchester spielt auf höchstem Niveau und nahe an jenem Ideal, das Nürnbergs Ex-GMD Christian Thielemann neulich in gewohnter Eigenwilligkeit als „deutschen Klang“ definiert hat: „Dunkel mit Leichtigkeit“. [...] Hervorragend bewältigt Astrid Weber als Gastsängerin die Anforderungen der Partie der Grete: Kindliche Verletzlichkeit, hinter expressiven Provokationen und überdrehter Feierlaune sich versteckende Seelennöte und das Zurückgeworfensein auf die gottverlassene Einsamkeit der alten, gefallenen Frau: All das vermittelt die Sopranistin, die diese Partie schon seit Peter Mussbachs Lindenoper-Inszenierung beherrscht, eindrücklich und mit großer stimmlicher Souveränität. Das Ende, das Alter, die Erkenntnis einer vergeudeten Liebe und eines vergeudeten Lebens: Gabriele Rech findet auf einem Bahnhof ohne Namen zu einem existenzialistisch kargen 10

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Finale. Als Fritz in Gretes Armen stirbt und das Licht verlöscht, erheben sich ein paar einzelne, aber markante Buhs. Sie treffen eine Produktion, die die bislang beste und fruchtbarste der Saison ist. Der deutliche Applaus drängt die Buhs bald zurück – doch zeigt dieser Moment, dass eine über 80-jährige Lücke in der Rezeptionsgeschichte eines Werks – „Der ferne Klang“ hatte 1924 in Nürnberg Premiere – sich nicht so einfach schließen lässt. Thomas Heinold "Der ferne Klang" - Donaukurier-online - 01.05.2011 Hier also endet die Suche nach einem erfüllten Dasein: An einem trostlosen Bahnsteig sitzt man zusammen und kommentiert die beiden Lebensakte, die man zuvor gesehen hat und deren Personal man gleichzeitig gewesen ist. Regisseurin Gabriel Rech hat ein ebenso einfaches wie verblüffendes Mittel gefunden, um das Spiel im Spiel auf die Spitze zu treiben, das Franz Schreker in seinem Sensationserfolg "Der ferne Klang" von 1912 ersonnen hat. Durch Doppelbesetzungen einiger Partien drehen wir uns im Laufe der drei Opernakte im Kreis. [...] Astrid Weber (Grete) überwältigt endgültig mit ihrer szenischen und vokalen Präsenz [...] Jochen Kupfer (im ersten Akt gibt er den Schauspieler, im letzten den Rudolf) hat Recht, wenn er die Ballade des Grafen nicht herausbrüllt,[...] Guido Jentjens (Vigelius, Baron), Teresa Erbe (Altes Weib u.a.) und viele weitere Sänger sowie der von Edgar Hykel gewohnt zuverlässig einstudierte Chor geben dieser musikalisch bis auf die dynamische Abstimmung gelungenen, szenisch überzeugend pointierten Produktion zusätzlich Kontur. Juan Martin Koch

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