Der deutsche Fernsehkrimi

Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute

Bearbeitet von Ingrid Brück, Andrea Guder, Reinhold Viehoff, Karin Wehn

1. Auflage 2003. Taschenbuch. XII, 367 S. Paperback ISBN 978 3 476 01803 8 Format (B x L): 15,5 x 23 cm Gewicht: 639 g

Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio > Filmgattungen, Filmgenre Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei

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3-476-01803-2 Brück/Guder/Viehoff/Wehn, Der deutsche Fernsehkrimi © 2003 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)

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Vorwort

Der Fernsehkrimi war schon immer für Schlagzeilen gut: In den 50er und 60er Jahren fegten STAHLNETZ-Folgen und DURBRIDGE-Mehrteiler mit Einschaltquoten von bis zu 80 Prozent die westdeutschen Straßen leer. „Millionen von dem ‚Halstuch’ gefesselt“ titelte die Frankfurter Rundschau am 17.1.1962, nachdem die letzte Folge des Mehrteilers DAS HALSTUCH über den Sender gegangen war. In der DDR wurden in den 60er Jahren das kriminologische Fernsehspiel DER STAATSANWALT HAT DAS WORT und in der 70er Jahren der Gegenwartskriminalfilm POLIZEIRUF 110 von der Staatsführung als wirksame Mittel erkannt, die eigenen Zuschauer an der allabendlichen Flucht ins Fernsehprogramm des kapitalistischen Gegners zu hindern. POLIZEIRUF 110 wird in der Rückschau von seinen Produzenten und von seinen Kritikern als „Refugium für Gegenwartsdramatik“ bezeichnet, dessen Geschichten einen Blick auf DDR-Alltag und mitunter subtile Sozialkritik ermöglichten. Die Krimireihe ist neben der Kindersendung SANDMÄNNCHEN die einzige fiktionale Sendung aus dem DDR-Fernsehen, die auch im bundesweiten Fernsehprogramm erfolgreich überlebt hat. In den 80er Jahren rüttelte ein ‚Ruhrpottprolet’ am Bild des Fernsehkommissars als Saubermann der Nation: der ‚Schmuddelkommissar’ Schimanski. Als SAT.1 im Winter 1995/96 mit seinen eigenproduzierten Krimis Quote machen wollte, wusste der Sender, wogegen es anzukämpfen galt: „Verlassen Sie den Tatort, jetzt kommt das Schwurgericht“, lautete die Parole einer Werbekampagne. Der Krimi machte Furore, schon zu Zeiten, in denen das Angebot noch vergleichsweise übersichtlich war. Der Boom kam jedoch erst in den 90er Jahren. An einem ganz normalen Wochentag, sagen wir dem 16. April 1998, um 20 Uhr 15 konnte zwischen etlichen Krimis gewählt werden: Im ZDF lief die Gerichtsserie DER LETZTE ZEUGE, bei RTL die Action-Serie ALARM FÜR COBRA 11, bei SAT.1. ZUGRIFF, ebenfalls Action, auf Kabel 1 der gute alte EDGAR WALLACE: DER MÖNCH MIT DER PEITSCHE, der WDR offerierte eine TATORT-Wiederholung und der Bayrische Rundfunk eine Folge des Dreiteilers DIE FRAU IN WEISS. In Einzelfällen konkurrierten fünf oder sechs televisuelle Kriminalsujets in Form von Erstausstrahlungen oder Wiederholungen zur gleichen Zeit um die Gunst der Zuschauer. Ungeachtet dieser Masse führen deutsche Fernsehkrimis die jährlichen Quoten-Hitparaden an, überrundet allenfalls von Nachrichtensendungen und der Übertragung von Fußballspielen. Für seltene Experimente wie den interaktiven Fernsehfilm MÖRDERISCHE ENTSCHEIDUNG – UMSCHALTEN ERWÜNSCHT, 1991 zeitgleich von ARD und ZDF ausgestrahlt, wurde nicht zufällig eine Krimihandlung gewählt. Die Ein-

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Vorwort

stellung von DERRICK – einer „Leidenschaft für das Mittelmaß“, wie Umberto Eco meint – löste 1998 europaweit volkstrauerähnliche Zustände aus. Sprichwörtlich ist die angeblich nie gefallene Aufforderung des Oberinspektors geworden: „Harry, hol schon mal den Wagen“. Egal, DERRICK ist Kult – sogar bei den jüngeren Zuschauern. Ganz handfest sind dagegen die Auswirkungen der Serie KOMMISSAR REX: Hundehütten und Hundekrankenversicherungen als Merchandising-Produkte. Das Verdienst, ein Familien zusammenführendes und Generationen übergreifendes Sonntagabend-Ritual evoziert zu haben, gebührt dagegen dem TATORT und seiner über 30-jährigen Geschichte. Zum erklärten Vorbild der LesbenSzene avancierte gar Ulrike Folkerts, Darstellerin der TATORT-Kommissarin Lena Odenthal. Ob Kalter Krieg oder postmodernes „anything goes“ - Fernsehkrimis spiegelten zu allen Zeiten das gesellschaftliche Klima wider, in dem sie entstanden. Sie trugen dazu bei, das Vertrauen in den Staat zu stärken oder jenes zu untergraben. Mit dem Etikett ‚Realismus’ versehen, wog umso schwerer, was sie zeigten. Das Behältnis Krimi war zwar höchst unterschiedlich gefüllt – das Potenzial, Politiker, Lehrer, Polizisten oder einfach Durchschnittszuschauer zu empören, hat es nahezu immer. Wütende Proteste gehören streckenweise zum Alltag der zuständigen Redaktionen. Beschwerden über unsachgemäße Darstellung polizeilichen Alltags offenbaren das grundlegende Missverständnis ebenso wie gut gemeinte Empörung über die Rolle eines geistig behinderten Verdächtigen. Das Missverständnis nämlich, dass der Krimi das wirkliche Leben abbilde. Das hat er nie getan, allerdings hat er oft so getan, also ob er es tue. Solche und viele weitere Gründe waren der Motor für uns, die Geschichte des Fernsehkrimis in Ost-, West- und Gesamtdeutschland im Kontext seiner jeweils systemspezifischen Rahmenbedingungen einmal ausführlich darzustellen. Dabei haben wir uns auf den Teil des Programms beschränkt, den man als Mehrteiler, Reihe oder Serie ansehen kann und der entsprechend produziert, ausgestrahlt und angeschaut wurde. Wir hoffen, dass wir alle übergreifenden Traditionen so gut berücksichtigt haben, dass unsere „Geschichte des deutschen Fernsehkrimis“ für alle connaisseurs damit vereinbar und für alle anderen Leser informativ, aufklärend und – im besten Fall – sogar spannend ist. Das Buch ist für alle gedacht, die gerne Krimis im Fernsehen anschauen, besonders natürlich für diejenigen, die nicht nur wissen wollen, wer der Mörder ist. Für Medien- und Kommunikationswissenschaftler sollte das Buch ebenso interessant sein, wie für diejenigen in den Rundfunksendern, Firmen und Studios, die täglich aufs Neue Krimis produzieren. Auf der website (http://www.medienkomm.uni-halle.de/krimi/), die wir schon lange vor diesem Buch eingerichtet haben, um den Fernsehkrimi als Thema im Netz zu verankern, möchten wir gerne mit interessierten Lesern in einen Dialog eintreten und da weitermachen, wo dieses Buch erst einmal aufhört. Dort kön-

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nen Sie neue Fälle aufwerfen, alte Fälle wieder neu aufrollen, neue Fäden spinnen, Indizien zusammentragen… Wir freuen uns, mit diesem Buch auch unserem Förderer Dank sagen zu können: der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die uns mehrere Jahre lang die gemeinsame Projektarbeit zum deutschen Fernsehkrimi ermöglicht hat. Das vorliegende Buch ist eines der Ergebnisse dieses gemeinsamen Projekts, das ohne die Hilfe anderer neben weiteren Forschungen und neben der Lehre an der Universität kaum zu einem guten Ende gekommen wäre. Wir danken deshalb allen, die uns dabei unterstützt haben. Einige können wir nur allgemein nennen: das Deutsche Rundfunkarchiv in Frankfurt und Potsdam, die Rundfunkanstalten und sender und die Redaktionen, die uns unterstützt haben. Wir danken den Regisseuren, Dramaturgen und Drehbuchautoren, die uns bereitwillig ihre knappe Zeit zur Verfügung gestellt haben. Ohne die mahnende Geduld des Verlages und vor allem unserer Betreuerin, Ute Hechtfischer, könnte jetzt niemand das Buch in Händen halten. Ohne die Langmut und Perfektion von Eckehard Wehling, der Layout und Satz einrichtete und immer wieder nach unseren Wünschen verändern musste, wäre das Buch ein Manuskript geblieben. Wir danken Susanne Hübner und Claudia Kusebauch für geduldiges und penibles Korrekturlesen. Für langwierige und manchmal schier endlos erscheinende Recherche- und Archivierarbeit danken wir unseren studentischen Hilfskräften, derer uns im Laufe der Jahre etliche begleitet haben, besonders treu waren uns Eberhard Keller, Mike Wittenbecher, Elke Steinweg, Burkhard Raue und Florian Hartling. Zum guten Schluss: Wir widmen das Buch unserer Freundschaft, die trotz hitziger Diskussionen, unterschiedlicher Deutungen und Verhandlungen aller Art an diesem Buch noch gewachsen ist.

Ingrid Brück, Andrea Guder, Reinhold Viehoff und Karin Wehn Halle, Leipzig, Siegen im Juli 2003

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1. Eine Geschichte des Krimis im deutschen Fernsehen Der Fernsehkrimi ist zweifelsohne das beliebteste fiktionale Genre im deutschen Fernsehprogramm. Dietrich Schwarzkopf, damals Programmdirektor der ARD, formulierte es 1985 so: „Erfahrungen mit Zuschauergewohnheiten zeigen, daß zu den beliebtesten Bestandteilen des Fernsehprogramms eine Gattung gehört, die gar nicht ursprünglich für das Fernsehen produziert wird, nämlich der Kino-Spielfilm. Generell wird aber der KinoSpielfilm in seiner Popularität noch übertroffen vom Fernseh-Krimi, das heißt, dem eigens für das Fernsehen hergestellten Kriminalspiel als Einzelsendung oder als Serie. [...] Hinzuzufügen ist mit Nachdruck, daß eigenproduzierte oder als deutsche Auftragsproduktionen hergestellte Krimis unverzichtbare Bestandteile der öffentlichrechtlichen Fernsehprogramme sind“ (Schwarzkopf 1985, 19).

Beinahe 50 Jahre einer bewegten Genregeschichte kommen von seinen Anfängen in den 50er Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zusammen. Vieles am Krimi – der in erster Linie ein Krimi in Serien ist – bleibt konstant in dieser Zeit: Im Mittelpunkt steht das Verbrechen und in der Regel seine Aufklärung. Aber innerhalb des an sich sehr einfachen Krimischemas ändert sich in diesen 50 Jahren auch manch Entscheidendes: die Art des Verbrechens und die seiner „Re-Inszenierung“, der Gestus, mit dem das Verbrechen aufgeklärt und die Aufklärung vorgeführt wird; es ändern sich die Täter und die Opfer und die Schauplätze. Vergleiche zwischen frühen STAHLNETZ-Folgen und reißerischen TV-Movies der 90er Jahre oder zwischen den langen Einstellungen aus Gegenwartskriminalfilmen des DDR-Fernsehens und den schnellen Schnitten aktueller, Action betonter Serien machen solchen Wandel sofort sichtbar. Wir versuchen, solche Veränderungen der Dramaturgie und der Inszenierung, der Ästhetik des Genres vor allem aus dem Zustand des jeweiligen Fernsehsystems zu erklären – eingebettet in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei gehen wir zunächst von drei deutlich unterscheidbaren Rundfunksystemen aus, die nicht isoliert voneinander existierten, sondern miteinander interagierten und die sich ab Mitte der 80er Jahre, wenn auch mit zeitlichen Unterschieden, ineinander verwoben. Zunächst gab es eine erste Phase der Koexistenz zweier unterschiedlicher Systeme in Ost- und Westdeutschland. Im Westen war es bis Mitte der 80er Jahre das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit seiner internen Vielfalt und seinem Bemühen, Fernsehen zu einer kulturellen Veranstaltung zu machen. Das ist das Paradigma des „Fernsehens als Kulturgut“. Im Osten war dies der staatliche Rundfunk – der Deutsche Fernsehfunk bzw. das Fernsehen der

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DDR – der innerhalb eines engen parteipolitisch gesteuerten Planungs- und Kontrollsystems Fernsehprogramm machte und verbreitete. Wir nennen dies das Paradigma des „Fernsehens als politisches Machtinstrument“. In den 80er Jahren wurde dann zuerst das westdeutsche Fernsehsystem radikal verändert, indem das Duale System gesetzlich und institutionell verankert wurde. Fortan gab es eine Konkurrenz von öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Sendern. Letztere müssen ihre Fernsehprogramme durch Werbung finanzieren, also Fernsehprogramm und -zuschauer auf ihre privaten Werbekunden hin orientieren, um Geld zu verdienen. Wir sprechen hier vom Paradigma des „Fernsehens als Ware“. Nach der Wende, also Anfang der 90er Jahre, löste dieses Paradigma dann auch das DDR-Fernsehen ab. Die Phase der Etablierung und Konsolidierung des Dualen Systems in Ost und West wurde zum Motor für die Dynamik und Vielschichtigkeit des Fernsehkrimis. Während die beiden Paradigmen vom „Fernsehen als Kulturgut“ und „Fernsehen als politisches Machtinstrument“ durch ihre Einbindung in die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme in Ost und West nur in einen „kontrastiven Dialog“ eintreten konnten, waren die Prozesse des Übergangs zum Dualen System durch „dialogische Integration“ gekennzeichnet. Diese drei Paradigmen des Fernsehens bzw. der Produktion und Distribution von Fernsehprogramm liefern den Ordnungsrahmen für unsere Sicht auf den Krimi und sind daher direkt in die Gliederung unserer Geschichte des Fernsehkrimis eingeflossen.

1.1 Fernsehen als politisches Machtinstrument In der DDR war das Fernsehen politisches Machtinstrument. Damit das Massenmedium in seiner Funktion als Herrschaftsmittel der Machtelite auch die erwarteten Leistungen erbringen konnte, wurden umfangreiche Lenkungs- und Kontrollmechanismen entwickelt und etabliert, die hier als Bedingungen der Produktion und Vermittlung von Fernsehkrimis in der DDR berücksichtigt werden. Das entscheidende Gremium war dabei das ZK-Sekretariat für Agitation und Propaganda, das den medienpolitischen Rahmen absteckte, also auch mehr oder weniger direkt beeinflusste, unter welchen Bedingungen Gegenwartskriminalfilme produziert wurden. Nach den Vorgaben dieses ZK richtete sich auch das nachrangige Führungs- und Leitungsgremium, das Staatliche Komitee für Fernsehen, dessen Vorsitzender gleichzeitig die Funktion des Intendanten bekleidete. Krimis im DDR-Fernsehen konnten nur in Zusammenarbeit mit den so genannten gesellschaftlichen Partnern produziert werden: So war z.B. die Generalstaatsanwaltschaft der DDR Partner bei der Reihe DER STAATSANWALT HAT DAS WORT, die Zollverwaltung bei ZOLLFAHNDUNG und die Hauptabteilung Kriminalpolizei beim Ministerium des Innern zunächst bei BLAU-

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und später dann auch bei POLIZEIRUF 110. Besonders bei dieser Reihe zeigte sich seit 1971 eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei. Deren Mitarbeiter machten thematische Vorschläge für den Jahresplan, gaben zu diesem dann später wieder eine Stellungnahme ab, sie berieten die Dramaturgen und Autoren fachlich und ideologisch, sie verfassten Gutachten und Exposees über beinahe jede Stufe der Produktion, berieten mit über Szenarien und Drehbücher, und die Partner von der Kriminalpolizei waren auch Mitsprache berechtigt bei der Abnahme des Films. Selbst wenn durch solche engen Partnerschaften kein vollständig deterministisches System zu Stande kam, so wurde mindestens partiell erreicht, dass die Krimireihen und -serien die jeweils offiziellen Deutungsmuster reproduzierten, durch die Kriminalität in der sozialistischen DDR erklärt wurde. Die Kreativen der DDR hatten dabei stets das Problem, dass laut offizieller Deutung Kriminalität dem sozialistischen Staat wesensfremd war. Kriminalität wurde daher entweder historisiert, d.h. in der deutschen Vergangenheit verortet oder als Charakteristikum einer überkommenen Gesellschaft (FERNSEH-PITAVAL) dargestellt, häufig wurde sie exterritorialisiert, d.h. sie fand zwar in der DDR statt, aber ihre Ursachen lagen im westdeutschen Staat (BLAULICHT u. a.). Nach dem Mauerbau war diese Erklärung der aktuellen Bedrohung durch Westdeutschland nicht mehr tragfähig, fortan wurde eine Individualisierung von Kriminalität angestrebt. Abweichendes Verhalten wurde zum Ausdruck überkommener Denkoder Lebensauffassungen imperialistischer Gesellschaftssysteme erklärt (DER STAATSANWALT HAT DAS WORT, POLIZEIRUF 110). Wie aus solchen intensiven Partnerschaften und den dadurch provozierten und produzierten Genremerkmalen ersichtlich wird, wurde dem Fernsehkrimi quasi offiziell eine staatstragende Wirkung zugeschrieben. LICHT

1.2 Fernsehen als Kulturgut In der BRD wurde bis Mitte der 80er Jahre das Leitbild der öffentlichen Rundfunkkommunikation durch die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF bestimmt. Die öffentlich-rechtlichen Sender orientierten, per Gesetz und nach ihrer Selbstinterpretation, ihr Programm überwiegend an wertbesetzten Inhalten. Das Ziel der Veranstaltungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht in der Grundversorgung, d.h. darin, die demokratische Öffentlichkeit einer bürgerlichen Gesellschaft zu informieren, zu bilden und zu unterhalten. Diese Funktionen des Systems entwickelten sich schon früh mit der Demokratisierung Westdeutschlands und wurden zu einem wesentlichen Element der Stabilisierung der jungen Bundesrepublik. Sie waren mithin trotz definierter Staatsferne ebenfalls staatstragend. Der in den Rundfunkanstalten hochgehaltene Bildungs- und Kulturbegriff führte

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zu einem Angebot, das sich – vor allem im Abendprogramm – nur sehr zögerlich dem so genannten „Massengeschmack“ und seinen trivialen Niederungen anpasste. Das Krimigenre, das schon im Hörfunk die Gunst des Publikums hatte, war daran beteiligt, diesen Bildungs- und Kulturanspruch zu unterlaufen. Der Krimi stand eigentlich nie im Kulturverdacht. Dass er sich dennoch so früh und erfolgreich im Programm durchsetzen konnte, war einerseits Indikator für die Macht des Publikums, andererseits beweist es die Anpassungsfähigkeit des Genres, das im öffentlich-rechtlichen Fernsehen schon früh zu einer Balance zwischen Unterhaltung und Unterweisung gefunden hat. Die Konzeption des Fernsehens als Kulturmedium ging von der Vorstellung aus, dass durch das Fernsehangebot eine bürgerliche Werthaltung reflektiert und perpetuiert wird, die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft möglich macht. Das muss bekanntlich nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Fernsehen und seinem Programmauftrag nicht in jeder einzelnen Krimisendung erfolgen, aber letzten Endes kann sich das Fernsehprogramm als Ganzes diesem Anspruch und der damit verbundenen Qualität als Anspruch einer demokratischen Gesellschaft nicht entziehen. Bezugspunkt eines solchen Kultur-Fernsehens als gesellschaftliche Institution ist historisch einmal die Wertetradition des „Projekts der Aufklärung“, kommunikationssoziologisch die Idee einer bürgerlichen Öffentlichkeit, der trotz aller Indienstnahme als „öffentliche Meinung“ eine fundamentale Rolle bei der Wahrung und Entfaltung der Demokratie und ihrer Freiheiten zukommen soll. Die Zuschauer sind für diese Art von Fernsehen eben nie nur Zuschauer, sondern immer auch Bürger, ohne deren Bildung und deren Engagement Demokratie nicht funktionieren kann. Mit journalistischer Ausrichtung kam 1953, wenige Wochen nach dem offiziellen Sendebeginn, die Reihe DER POLIZEIBERICHT MELDET… auf den Bildschirm. Im November 1954 begann die siebenteilige Reihe DIE GALERIE DER GROSSEN DETEKTIVE, die Fernsehbilder von Detektiven aus der Literaturgeschichte zeichnete, zum Beispiel die von Sherlock Holmes und Auguste Dupin. Am 7. September 1957 wurde im Süddeutschen Rundfunk DER RICHTER UND SEIN HENKER gesendet, ein kriminalistisches Fernsehspiel, laut Hörzu der erste abendfüllende Spielfilm des deutschen Fernsehens. Im Laufe der Jahre entwickelte zuerst die ARD, dann auch das ZDF – in friedlicher Konkurrenz – eigene Konzepte für Fernsehkrimis. Während in den 60er Jahren die Ausstrahlung von DURBRIDGE-Mehrteilern durch die ARD – und von ZDF-Pendants aus der Feder Herbert Reineckers – auf breite öffentliche Resonanz stießen, waren die 70er Jahre geprägt durch die Etablierung lang laufender Reihen wie TATORT, DERRICK und DER ALTE. In den 80er Jahren geriet diese Tradition dann unter den Druck einer feindlichen Konkurrenz, die nach einem ganz anderen Paradigma nicht mehr den Bürger in einer demokratischen Öffentlichkeit adressierte, sondern den Konsumenten eines freien Marktes. Inwieweit der Fernsehkrimi in der Zeit der öffentlich-rechtlichen Dominanz nun Kulturgut war

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oder ob er als Trivialgenre den kulturellen Anspruch der Sender destabilisierte, ist kaum eindeutig zu entscheiden. Fest steht aber, dass bestimmte Legitimierungsstrategien den westdeutschen Fernsehkrimi mit geprägt haben – und dass das auf lange Sicht weder dem Krimi noch dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen geschadet hat. Von STAHLNETZ vorgegeben, wurden auch den frühen ZDFKrimireihen DAS KRIMINALMUSEUM und DIE FÜNFTE KOLONNE bestimmte aufklärerische Tendenzen eingeschrieben. Aus dieser journalistisch-dokumentarischen Genrelinie leitete sich dann auch die Realitätsästhetik der TATORT-Reihe ab, die mit ihren wechselnden Ermittlern wie keine andere Sendung das ARDtypische föderale Produktionsmilieu widerspiegelte. Und gerade der TATORT befreite das Genre von der Zustimmung gegenüber Autoritäten. Der Krimi trug seinen Teil zur – inzwischen in Fernsehspiel-Redaktionen ausgerufenen – kritischen Sichtung bundesrepublikanischer Wirklichkeit bei. Das ZDF spezialisierte sich dagegen mit DER KOMMISSAR, DERRICK und DER ALTE auf die Darstellung des Allgemein-Menschlichen.

1.3 Fernsehen als Ware Den entscheidenden Paradigmenwechsel hin zum „Fernsehen als Ware“ löste 1984 schließlich die Einführung des Dualen Rundfunksystems in der Bundesrepublik aus. Im Zuge dessen veränderte sich die deutsche Fernsehlandschaft, ihr Programmangebot und das Selbstverständnis der Sender grundlegend. Dieser Wechsel wurde beschrieben als ein Übergang des Fernsehens – genauer und natürlich zuerst: der Interessen der Programmanbieter – von einer kultur- und gesellschaftsverpflichteten Medienproduktion hin zur Produktion unter rein ökonomischen Prämissen. Ältere Vorstellungen vom Fernsehen als „Kulturmedium“ und „Fenster zur Welt“ wurden dadurch zwar nicht völlig und nicht schlagartig abgelöst, zumindest aber in ihrer selbstverständlichen Geltung nachhaltig in Zweifel gezogen und durch den ökonomischen Druck weitgehend ausgehebelt. In der Konzeption von „Fernsehen als Ware“ wird der Zuschauer als Konsument gesehen, und zwar in doppelter Funktion: Konsument des Programms und Konsument der kommerziellen Versprechungen, Glück und Schönheit und Jugend und Sicherheit und alles eben kaufen zu können. Die Metapher vom Fernsehen als „Warenhaus” ist dafür benutzt worden. Ein Warenhaus, in dem sich das Publikum bedient und – von strategischen Erwägungen geleitet – bestimmte Sendungen aus dem Programm auswählt und in seinen Warenkorb legt. Beim öffentlich-rechtlichen Modell ist der Zuschauer direkt durch Gebühren, quasi einer Art Informationssteuer, an der Finanzierung des Programms beteiligt. Subtiler, weil indirekter, funktioniert die Finanzierung des Privatfernsehens über die Preise der Konsumgüter, in denen die Kosten für die Werbung (quasi un-

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sichtbar) inbegriffen sind. Wie im Warenhaus werden Sendungen danach beurteilt, ob sie als „Ware“ ihren Teil zum Gewinn des Fernsehunternehmens beisteuern. Zum Zweiten enthält die Konzeption des Fernsehens als Wirtschaftsunternehmung die Vorstellung, dass Sender Publika für die Werbeindustrie buchstäblich herstellen und an diese dann – als Ware – selbst verkaufen. Aus diesem veränderten Zuschauerverständnis resultierten weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung der Fernsehangebote. Nun wurde aus privatwirtschaftlichem Kalkül heraus vorrangig für die Zielgruppen Programm gemacht, die für die Werbewirtschaft interessant waren, nämlich die 14- bis 49Jährigen. Mit dem Dualen Rundfunksystem setzte sich direkt bei privaten, aber vermittelt durch die Konkurrenzsituation auch bei den öffentlich-rechtlichen Programmveranstaltern das Marktprinzip durch. Fernsehanbieter agieren also seitdem auf drei Teilmärkten: dem Programmmarkt, dem Zuschauermarkt und dem Werbemarkt. In den Anfangsjahren mit sehr niedrigen Budgets ausgestattet, versuchten die privaten Anbieter zunächst, ihre Position am Fernsehmarkt durch Angebote zu behaupten, die mit vordergründigen Reizen ausgestattet, am Boulevardjournalismus ausgerichtet waren und Nischen besetzten. Seit dieser Zeit haben sie mit dem Sex-und-Gewalt-Image zu kämpfen. Sie hatten aber auch ein underdogImage, das Image des Neulings, der dem alteingesessenen, allein herrschenden, unbeweglichen, quasi staatlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen frischen Wind entgegensetzte, was zwei der am häufigsten kolportierten Bemerkungen des ehemaligen RTL-Chefs Helmut Thoma illustrieren: „Die Öffentlich-Rechtlichen haben lange ein Programm für ihre Gremien gemacht. Wir haben eine ganz ungewöhnliche Zielgruppe entdeckt, die Zuschauer”, und „Über Qualität lässt sich trefflich streiten. Aber eins steht fest: Der Wurm muß dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“. Gerade das letzte Bild bringt in der Tat die neuen Interessen der privaten Konkurrenz unverfälscht zum Ausdruck: Dummerweise ist der Wurm ja die Henkersmahlzeit für den Fisch. Vom Schmecken kann angesichts des Todeskampfes an der Angel wohl kaum die Rede sein, es geht also letztlich darum, dass der Fisch dem Angler schmeckt. Durch diesen Wandel des Fernsehsystems veränderte sich auch die Rolle des Zuschauers. Gerade die privat-kommerziellen Programmveranstalter wurden nicht müde, in markigen Zitaten darauf hinzuweisen, dass sie den Zuschauer von der Vormundschaft der Öffentlich-Rechtlichen befreit hätten. Das zuvor didaktische, damit auch „hierarchische“ Verhältnis von Programm und Nutzer sollte nun verstanden werden als freie Beziehung, in der jeder Zuschauer sein eigener Programmchef sein konnte und sollte. Diese Vorstellung war jedoch angesichts der Wirklichkeit des privaten Programmangebots rasch zu modifizieren und schließlich zu revidieren. Die Bandbreite des Angebots bleibt aus wirtschaftlichen Verwertungszwängen heraus notwendig eingeschränkt, da sich das gebotene Programm weniger nach den möglichen Wünschen der Zuschauer richtet als nach dem Ziel,

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die Zuschauer zumindest nicht abschalten zu lassen. Die daraus resultierende verstärkte Ausrichtung auf unterhaltende und deutsche Produktionen führte in der ersten Hälfte der 90er zu einer ‚Explosion‘ des Krimigenres. Durch die enorme Expansion des täglichen Programmangebots wurde das Fernsehen – wie zuvor das Radio – durch die Praxis der Zuschauer in einem für die Moderne typischen paradoxen Prozess zum Nebenbei-Medium erklärt. Zur neuen Hauptaufgabe der Programmproduzenten wurde nun, das Programm dramaturgisch und programmtechnisch so zu portionieren und seinen Anreiz so zu steigern, dass es gleichwohl zu einer relevanten Konsum(enten)bindung kam. Die größte Sorge der Programmproduzenten war dabei die technisch simple Fernbedienung, die unberechenbare und äußerst wankelmütige Zuschauer produzierte, immer mit der Angst im Nacken, an anderer Stelle etwas besonders Attraktives zu verpassen. Wegen dieser Abhängigkeit der Produzenten von den „wegzappenden“ Zuschauern wurde die Dramaturgie der Medienangebote und auch der ganzen Programmstruktur radikal auf Beschleunigung und Sensation umgestellt. Solche nun besonders beweglichen Zuschauer und die stagnierenden Zuschauerzahlen insgesamt, die sich auf deutlich mehr Kanäle verteilten, verschärften die Konkurrenzsituation. Ihr begegneten sowohl öffentlich-rechtliche als auch private Anbieter mit Ökonomisierung und Kommerzialisierung, die sich auf alle Bereiche des Fernsehens (Organisation, Programmplanung, Programmeinkauf etc.) erstreckten. Bei den Privaten war die alleinige Ausrichtung auf spezielle konsumstarke, weiter verwertbare Zuschauerwünsche ganz offene Programmstrategie. Aber auch bei ARD und ZDF war bereits seit den 70er Jahren und, damit quasi dem Dualen System vorgreifend, nolens volens eine Anpassung der Programme an die nun normgebenden „Lebensgewohnheiten“ der Zuschauer zu beobachten. Eine durchgreifende Unterhaltungsorientierung löste auf breiter Programmfront binnen weniger Jahre das Primat kultureller und didaktischer Konzeptionen von Fernsehen ab. Der Fernsehkrimi profitierte generell von dieser Wende zur Unterhaltung: zum einen, weil die Zuschauer dem Genre die Bedürfnisse entgegenbrachten, die es befriedigte; zum anderen, weil in diesem unangefochten unterhaltenden Genre nun auch Themen verpackt werden konnten, die zehn Jahre vorher an anderer Stelle gesendet worden wären, bspw. in einem Feature, einem kleinen Fernsehspiel oder einem politischen Magazin – ein Indiz dafür, dass Günter Rager zu Recht vom Fernsehkrimi als dem neuen „Universalgenre“ sprechen kann. Die Kommerzialisierung bedeutete auch eine medienübergreifende Stützung des Krimis, indem sich im Dualen System die Haltung durchsetzte, jeden TVErfolg crossmedial zu verwerten. So wurden zum Beispiel Kommissare (oder auch Nebenfiguren) aus erfolgreichen und als Marke etablierten Serien ausgekoppelt und durften in einer neuen Serie ihren fiktiven Lebenslauf weiter leben. Und natürlich gibt es inzwischen im Medienverbund von Buch, Video, Fernsehen und Film, DVD und Internet Angebote, die sich gegenseitig permanent in ihrem Erfolg be- und verstärken.

Eine Geschichte des Krimis im deutschen Fernsehen

Bevor wir zu konkreten Taten schreiten, wollen wir – einleitend und zu unserer Krimigeschichte hinführend – einige Fragen stellen und beantworten, die den Krimi als Genre und seine Präsenz im Fernsehen grundsätzlich betreffen.

1.4 Die Faszination des Fernsehkrimis – für die Zuschauer und die Wissenschaft Warum ist der Fernsehkrimi so interessant für die Zuschauer? Der Fernsehkrimi habe doch, um beim Publikum erfolgreich zu sein, ein eigentlich nicht zu lösendes Problem, sagen seine Kritiker, welches einer weiten Verbreitung, besonders einer massenhaften, immer wieder aufs Neue erfolgenden Rezeption strikt im Wege stehe. Es sei nämlich völlig ungelöst, dass im Fernsehen unter der Rubrik Krimi eine immer nach dem gleichen Muster gestrickte Ramschware gezeigt werden könne. Im Rahmen dieses vorgegebenen genretypischen Strukturschemas entwickle sich immer das gleiche moralische Spiel um Gut und Böse, das Spiel um die Verletzung der gesellschaftlichen Norm des richtigen Handelns und um die Wiederherstellung der Norm. Auch noch bei dem innovativsten TATORT müssten eigentlich alle Zuschauer schon von vornherein wissen, dass nach spätestens 90 Minuten der Mord in der Regel aufgeklärt ist, die Motive aufgedeckt sind, die Handlung entschlüsselt ist, die Polizei erfolgreich gearbeitet hat, der Täter zwar nicht mehr der Butler, dafür aber wieder der eifersüchtige Ehemann oder der böse Unternehmer (oder auch gerade nicht) ist, kurz: dass ein ganz und gar bekanntes Schema einmal mehr abgespult worden sei. Dennoch muss es im Vorgang des Anschauens, des Aufnehmens und Verstehens, des Genießens und Verarbeitens etwas geben, was diese gewiss bedenkenswerten Einwände gegen das Genre außer Kraft setzt – eine offene Frage, die Philosophen wie Ernst Bloch, Theater- und Filmtheoretiker wie Bertolt Brecht und viele der prominentesten Kriminalerzählerinnen und -erzähler beschäftigt hat. Der Fernsehkrimi ist schlichten und einfachen Genre-Konventionen unterworfen, was dazu geführt hat, von ihm als modernes Märchen zu sprechen. Denn das Grundmuster des Märchens, der Widerstreit von Gut und Böse mit dem schließlichen Sieg des Guten über das Böse und der an den Schluss angehängten Botschaft, dass man eigentlich nur auf der Seite des Guten „ruhig und zufrieden bis an das Lebensende“ leben kann, ist ein Muster von großer kultureller Kraft, welches auch die zu Grunde liegende Essenz des Krimis ausmacht. Aber Krimis sind keine Märchen, es kommt mehr dazu. Zuallererst ist es die Verbindung mit der Frage von Legalität und Illegalität, die den Krimi vom

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