Bildung, Negation und Lernen

Vorträge anlässlich der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft 2014 in Freiburg/Fribourg (CH) zum Rahmenthema: »Zur Theorie transformatorischer Bi...
Author: Hanna Engel
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Vorträge anlässlich der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft 2014 in Freiburg/Fribourg (CH) zum Rahmenthema: »Zur Theorie transformatorischer Bildungsprozesse«

Bildung, Negation und Lernen Arnd-Michael Nohl/Florian von Rosenberg/Sarah Thomsen

I. Während Peukert (1984), Kokemohr (1989) und Marotzki (1990), als sie in den 1980er Jahren einen Begriff von Bildung als Transformation von Selbst- und Weltreferenzen entwickelten, dies noch in deutlicher Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von den damals geläufigen Konzepten der Allgemeinen Pädagogik taten, stellt die Idee transformativer Bildung heute geradezu eine »›bildungstheoretische Konsensformel‹« dar, wie Thompson und Jergus (2014, S. 14) konstatieren. Laut Rieger-Ladich hat es sich »hierzulande längst eingebürgert, Bildung als einen Prozess zu beschreiben, in dem jene Muster, welche unser Selbst- und Weltverhältnis organisieren, auf grundlegende Weise transformiert werden« (2014, S. 21).1 Die Popularität eines solchen Bildungsbegriffs ist sicherlich auch darin zu suchen, dass er sowohl empirische Forschungsarbeiten zu inspirieren vermag, die bis in andere (Teil-)Disziplinen reichen,2 als auch Anschlussmöglichkeiten für bildungsphilosophische Diskussionen bietet.3 In letzterer Hinsicht besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Hans-Christoph Koller, der jüngst eine eigene »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« (Koller 2012)4 vorgelegt hat. Koller geht hier »von der Annahme aus, dass Bildungsprozesse durch eine Art Krisenerfahrung herausgefordert werden, die darin besteht, dass Menschen auf Probleme stoßen, für deren Bearbeitung die etablierten Figuren ihres Welt- und Selbstverhältnisses sich als nicht mehr ausreichend erweisen« (ebd., S. 71). In einem Durchgang durch verschiedene Theorien — wie jene von Lyotard, Waldenfels, Lacan, Butler, Oevermann und Buck — kommt Koller dann zu dem Schluss, dass bildsame Krisen nicht alleine durch eine Negation des Erwarteten, die ja durch eine andere, entgegengesetzte Ordnung aufgehoben werden könnte, ausgelöst werden (vgl. ebd., S. 71ff). Es bedürfe vielmehr einer »Fremderfahrung«, die nicht nur die bestehende Ordnung außer Kraft setze, sondern auch die »Alternative zwischen Ja und Nein« (ebd., S. 82) ausschließe, die also keine gegenteilige Ordnung zulasse. Eine solche »Beunruhigung durch das Fremde« (ebd., S. 83), die durch diese »paradoxe Irritation« (ebd., S. 85) hervorgerufen wird, gilt Koller als ein zentraler Anlass für den transformativen Bildungsprozess. Diese Kollersche Zuspitzung der Theorie transformativer Bildung auf die Bewältigung einer Krise ist allerdings nicht alternativlos. Wie Thompson und Jergus jüngst 1

angemerkt haben, lassen sich zwei »Denkfiguren« von Bildung unterscheiden: »Der eine Gedanke ist an der Semantik von Problem und Problemlösung orientiert (›Bildung als Problemlösung oder Krisenbewältigung‹), während der andere Gedanke auf eine Negativität im Erfahren rekurriert (›Bildung als Negativität‹)« (Thompson/Jergus 2014, S. 15). Hinsichtlich der Bildung als Krisenbewältigung verweisen Thompson und Jergus auf Koller; bezüglich der Idee, Bildung habe etwas mit Negation zu tun, beziehen sie sich hingegen auf Benner und Buck und fassen deren Perspektive folgendermaßen zusammen: »›Bildung‹ wird hierbei als Enttäuschung und Negation dessen gefasst, was zuvor als richtig oder selbstverständlich gesehen wurde.« (Ebd., S. 16) Zu dieser Negation komme es im Zuge neuer Erfahrungen, die der Akteur macht. »Im Rahmen einer solchen Erfahrung erfährt das Ich eine Negation seines Selbst-Welt-Verhältnisses, dessen Orientierung sich auf der Grundlage der Negation wandelt« (ebd.).5 Es ist also für Thompson und Jergus wesentlich, dass diese Erfahrung nicht alleine Ausschnitte von Selbst und Welt betrifft, sondern letztlich Selbst und Welt in fundamentaler Weise in Frage stellt. Wie aber kann es überhaupt zu solch negationsfähiger und daher bildsamer Erfahrung kommen?6 Wie wird die Negation der Erfahrung hervorgerufen? Unsere empirischen Analysen aus zwei aufeinander folgenden DFG-Projekten, aber auch einige in diesem Zusammenhang aufgekommene theoretische Überlegungen, können helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden.7 Der Genese von Negativität in der Erfahrung und damit der Entstehung von Bildung lässt sich — auf der Basis unserer empirischen Auswertungen — auf zweierlei Weise nachspüren: Erstens haben wir anhand von 32 narrativen Interviews (vgl. Schütze 1983), die mit der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2014; Nohl 2012) interpretiert wurden, fünf aufeinanderfolgende Phasen des Bildungsprozesses identifiziert und typisiert. Diese Prozesstypik8 erlaubt uns erste Einblicke in die Ablaufdynamik und den modus operandi von Bildungsprozessen, für die die Negativität — im Sinne von Thompson und Jergus — eine besondere Rolle spielt. Der Vergleich zwischen unterschiedlichsten Lebensgeschichten ermöglichte uns Einsichten in übergreifende Muster von Bildungsprozessen. Und nicht nur das: Da wir weitere 18 Interviews erhoben hatten, in denen keine Bildungsprozesse zu finden waren, haben wir zweitens auch Einblicke in Biographien gewonnen, die vor allem vom Lernen geprägt sind. Gerade vor dem Hintergrund von Lebensgeschichten, in denen sich die Selbst- und Weltverhältnisse nicht transformiert haben, in denen es also ›nur‹ zu Lernerfahrungen gekommen ist, konnten wir Lern- und Bildungsprozesse systematisch-theoretisch und empirisch weiter differenzieren.

II. Zunächst aber zu den typischen Phasen des Bildungsprozesses. Im Unterschied zur üblichen Vorgehensweise, in der man einzelnen Biographien folgt, werden wir die fünf typisierten Phasen anhand von verschiedenen Fällen vorstellen. Zwar werden auf diese Weise die einzelnen Biographien quasi ›auseinandergerissen‹, zugleich 2

wird damit aber der Blick frei auf fallübergreifende, also nicht nur individuelle Ablaufdynamiken von Bildungsprozessen. Der Bildungsprozess beginnt, wenn das Neue, das weder antizipiert noch geplant werden kann, in das Leben hineinbricht. Dies vollzieht sich abrupt, etwa als Hubert Schlosser, der zu jener Zeit Gelegenheitsjobs hatte und plante, eine Erzieherausbildung zu absolvieren, in einem Park an einer Samba-Percussion-Gruppe vorbeikam: »Naja ich würd sagen da ist das jetzt gar nich so spektakulär, ich hab die nur einfach gesehn die Sambagruppe und das war also in dem Moment wo ich die gesehn und gehört hab eh und auch gesehn hab wie die sich bewegen, (da) war mir ja selber nich klar dass ich acht Jahre später selber ne davon leben werde, und irgendwie zehn Jahre später da selber jetz ne Existenz gründe ne,« In diesem Moment war Herrn Schlosser, der später eine eigene Samba-Schule gründen sollte, lediglich klar, dass er »auch« Samba »machen« möchte.9 Ansonsten handelte es sich hier aber um ein zufälliges Ereignis mit (noch) beiläufigem Charakter. Dieser und strukturähnliche andere Berichte unserer Interviewpartner/innen weisen darauf hin, dass es keine direkte und bestimmende Verbindung zwischen der allerersten Erfahrung des Neuen und dem sich hieran anschließenden Bildungsprozess gibt. Selbst in der Retrospektive fällt es ihnen schwer, eine solche Linie zu ziehen. Aus diesem Grund haben wir dies als die Phase des nichtdeterminierenden Beginns bezeichnet. Wenn in dieser Phase das Neue ins Leben einbricht, wenn z.B. Anja Weber, eine Jugendliche, eine Gruppe von Punks kennenlernt, oder Frank Helmer während eines Urlaubs »Muslima« kennenlernt, die so gar nicht seinem Bild von Frauen entsprechen, so baut sich hier zwar neue Erfahrung im Leben auf, sie hat aber — zumeist — noch nicht das breite Negativitätspotential, das für einen Bildungsprozess nötig wäre. Denn die neuen Erfahrungen und Handlungspraktiken sind zunächst noch sehr marginal, sie bleiben für die eigenen Selbst- und Weltverhältnisse oder — wie wir es lieber ausdrücken — für den eigenen Habitus noch weitgehend irrelevant. In den folgenden Phasen soll sich dies aber allmählich ändern. Als zweites kommen die von uns interviewten Akteure in eine Phase der experimentellen, ungerichteten Erkundung. Zum Beispiel nimmt Herr Schlosser an einem Samba-Percussion-Kurs teil und Anja Weber übt sich in die Gepflogenheiten und Aktivitäten ihrer Punk-Freunde ein.10 Noch ohne zu wissen, worauf sie sich da genau einlassen, erwerben die Akteure hier Wissen und Können, meist auf dem Wege des erprobenden und explorierenden Handelns, indem sie aus Fehlern lernen und sich — ohne irgendwelche Anleitung — auf die neue Materie einlassen, wie dies etwa mehrere Seniorinnen tun, die nach ihrer Pensionierung einen Computer bekamen. Diese Lernvorgänge dauern über den Bildungsprozess hinweg an, wenn auch ihr experimenteller und ungerichteter Charakter allmählich abnimmt. Nach einer Phase des nichtdeterminierenden Beginns und einer Phase der experimentellen und ungerichteten Erkundung konnten wir eine dritte Phase in den Bil3

dungsprozessen rekonstruieren. In dieser Phase der sozialen Bewährung und Spiegelung setzen die Akteure ihre neuen Praktiken der Bewertung durch andere Menschen aus. Im Lichte von deren Reaktionen haben sie nun auch Gelegenheit, sich intensiver mit dem Neuen in ihrem Leben auseinanderzusetzen. Herr Schlosser etwa nimmt an ersten Auftritten einer Samba-Percussion-Gruppe teil, was ihn dazu motiviert, den Samba weiterzuverfolgen und noch zu intensivieren. Christiane Othmar, die zuvor in ihrer Universitätsstadt in eine marxistische Gruppe geraten war, wagt es nun, ihre neue politische Gesinnung auch in ihrer Heimatstadt öffentlich zu machen: »hab dann auch äh in meiner Heimatstadt irgendwie Flugblätter verteilt hab da äh meinen Namen und meine Adresse angegeben was dann wieder für meine Eltern etwas peinlich war äh hab dann ja auch wählen dürfen und weiß dass ich da also sisicher die Einzige war die in diesem Wahlkreis dann irgendwie ((lachend:)) kommunistisch gewählt hat und das war alles irgendwie sehr sehr aufregend«. Die neuen Praktiken sozial zu testen bedeutet — wie sich dies hier dokumentiert — nicht unbedingt, dass man positive Reaktionen sucht; bisweilen können gerade auch Erfahrungen der Ablehnung und Missachtung den weiteren Verlauf der Bildungsprozesse vorantreiben. Obgleich ihr politischer Aktivismus für ihre Eltern »etwas peinlich war« und sie offensichtlich niemanden in ihrem Heimatort vom Marxismus hat überzeugen können, hielt dies Frau Othmar nicht davon ab, ihre neuen Aktivitäten fortzusetzen. Neben solchen Gelegenheiten, bei denen die neuen Handlungspraktiken gegenüber Menschen aufgeführt werden, für die diese neu und fernliegend sind, suchen die Akteure in dieser Phase auch Gleichgesinnte. Frau Othmar zum Beispiel zog in ein internationales Studentenwohnheim ein, wo sie Menschen mit ähnlichen politischen Überzeugungen traf. Hierzu heißt es im Interview: »wir ham Feten veranstaltet zweimal im Jahr und diese Feten waren also sehr bekannt da ham wir immer irgendwie in ganz Bremen Plakate verteilt und haben da äh wirklich große Tanzfeste gemacht und haben weil wir ja alle irgendwie total politisch engagiert waren das Geld immer an Befreiungsbewegungen gespendet« In dieser Phase ermöglichte es der stete Wechsel zwischen den kollektiven Erfahrungen und Praktiken gleichgesinnter Menschen und der Aufführung dieser Praktiken vor einer größeren, unbekannten Öffentlichkeit — etwa indem man in Bremen Plakate verteilt —, die neu gefundenen Praktiken einerseits in einem kollektiven Rahmen zu kalibrieren und andererseits ihre Signifikanz in der weiteren Gesellschaft zu testen. Und trotz dieser Zunahme an Signifikanz und Fokussierung, wie sie bei allen von uns untersuchten Akteuren deutlich wurde, kommt es in dieser Phase noch nicht zu einer umfassenden Negation der alten Erfahrungen und der mit ihnen verbundenen Selbst- und Weltreferenzen. Erst in einer Phase, die wir als Phase der Relevanzverschiebung bezeichnet haben, werden die alten Erfahrungen und Handlungspraktiken — und dies zunächst auf rein praktische Weise — negiert. Zugleich werden in dieser Phase die ehedem margi4

nalen neuen Handlungspraktiken nunmehr fokussiert. Zur Relevanzverschiebung kommt es, wenn alte, habitualisierte Praktiken, die bislang für den jeweiligen Habitus der Akteure und dessen Reproduktion von hoher Bedeutung waren (z.B. eine Berufstätigkeit, eine enge Sozialbeziehung, die körperliche Unversehrtheit) in eine Krise geraten und zu einem Ende kommen. Dies geschieht etwa dort, wo Hubert Schlosser wegen eines Unfalls »drei Monate wirklich flach gelegen« hat und deshalb aus seinen bisherigen Samba-Percussion-Gruppen herausfiel. Diese Zwangspause brachte ihn nicht etwa weiter weg vom Samba; vielmehr entschloss sich Herr Schlosser, diese Praxis weiter zu vertiefen und eine eigene Samba-Schule aufzumachen. Bernd Meier wiederum, der als etwa Zehnjähriger begonnen hatte, Gitarre zu spielen, gerät im Zuge seiner Adoleszenzkrise hinsichtlich seiner schulischen Leistungen in Schwierigkeiten, sodass er eine Klasse wiederholen muss. In dieser Zeit, in der er mit seinen Eltern auch aus anderen Gründen Krach bekommt — z.B. als er die familiäre Weihnachtsfeier wegen einer Party, auf der Haschich konsumiert wurde, verpasst — wird das Gitarrenspiel zum zentralen Bezugspunkt für ihn; dem sich auch das Verhältnis zu seiner Freundin unterzuordnen hat: »dann kams dann zu Ereignissen wie ähäh dass ich zuhause saß Gitar­re gespielt hab und dann hat sie [die Freundin; d.V.] angerufen und ich hab ihr dann einfach klipp und klar ge­sagt=das geht jetzt nich und und hab uffgelegt […] Und daran is ei­ gentlich auch die sach=ganze Sache gescheitert weil ich versteift war aufs Musikmachen ich war dann total fanatisch irgendwo.« Die Krise ist hier nichts, was — wie dies Koller (2012) in seiner eingangs erwähnten Bildungstheorie postuliert — bearbeitet werden und im Zuge dieser Bewältigung zu einem Bildungsprozess führen würde. Vielmehr bringt die Krise alte, gewohnheitsmäßige Handlungspraktiken zu einem Ende (die Auftritte mit der Samba-Gruppe, die schulischen, familiären und zwischengeschlechtlichen Beziehungen) und macht den Raum frei für eine Fokussierung der neuen Praktiken und Erfahrungen. Diese von uns als Relevanzverschiebung bezeichnete Phase ist nicht nur eine Bedingung sine qua non für den Bildungsprozess; in ihr kommt es auch zu einem ersten, praktischen Moment der Negation bisheriger Selbst- und Weltreferenzen: Die Krise negiert bzw. verunmöglicht bislang ungehindert ablaufende Handlungspraktiken, ohne dass damit eine direkte Krisenbewältigung einherginge. Vielmehr vollzieht sich die Negation gerade dadurch, dass sich an die Stelle der ehemals fokussierten alten Handlungspraktiken nunmehr das Neue schiebt — wie z.B. im ›fanatischen Musikmachen‹ von Bernd Meier. Insofern es hier noch nicht zu größeren reflexiven Anstrengungen des Akteurs kommt, ist diese Negation im Wesentlichen praktischer Art. Dabei hat der Habitus des Akteurs zwar durch die Relevanzverschiebung schon eine neue Ausrichtung bekommen, der modus operandi seiner Praktiken hat sich bereits transformiert; doch ist diese Negation alter Erfahrungen noch nicht abgeschlossen. Erst in der letzten Phase der sozialen Festigung und Reinterpretation der Biographie, kommt es nun auch zu einem Moment der reflexiven Negation. Die Seniorinnen, die sich zuvor auf den Computer und das Internet eingelassen haben und dort neue soziale Beziehungen aufgebaut haben, bewerten diese nun hinsichtlich 5

ihrer Bedeutung für die eigene Biographie: So konstatiert Beate Brandt, die von der »tollen Freundschaft« im Internet berichtet, vor dem Hintergrund ihres vormals — nach der Pensionierung und dem Auszug ihrer Kinder — eintönigen Lebens: »ich habe für mich da ne Erfüllung richtiggehend gefunden«. In ähnlicher Weise, wenngleich in einem völlig anderen Metier, fand Andreas Helmer, der sich nach dem Zusammentreffen mit den Muslima in die religiösen Praktiken des Islam eingearbeitet hatte und konvertiert war, eine Gruppe von Muslimen. In der folgenden Reflexion seiner dort gemachten Erfahrungen dokumentiert sich, dass er fortan seine bisherigen biographischen Erfahrungen neu reflektiert: »Ich habe im Islam etwas, etwas gefunden, was ich vorher überhaupt nicht wusste, dass es das wirklich gibt, so ein, ein Zusammenhalt auch, den es, den es im Islam gibt zwischen Muslimen, den es auch außerhalb so nicht gibt; ich bin konvertiert, als ich das erste Mal in einer, in eine Moschee gegangen bin, da kamen alle auf mich zu, wollten wissen, wer ich bin, haben sich gefreut, dass ich da war, haben sich mit mir unterhalten, haben mich umarmt, ahm es war für mich einerseits ein bisschen fremd, aber andererseits natürlich ein ein wirklich schönes Gefühl, dass man, dass man willkommen ist«. Wie sich hier — wie auch in vielen anderen Erzählungen — dokumentiert, regen die neuen, nunmehr fokussierten Handlungspraktiken die Akteure dazu an, sich von ihrer bisherigen Biographie zu distanzieren und sich neue biographische Horizonte zu eröffnen. So entfaltet auch der bereits erwähnte Hubert Schlosser nunmehr eine neue Selbst- und Weltsicht als Samba-Percussion-Lehrer und Unternehmer, Anja Weber reflektiert sich als Aktivistin der neuen sozialen Bewegungen. In diesen Reflexionen, die wohlgemerkt auf die Relevanzverschiebung und die mit ihr verbundene Fokussierung der neuen Handlungspraktiken folgen, ihnen also nicht vorausgehen, werden nunmehr die alten Erfahrungen — und mit ihnen die alten Selbst- und Weltreferenzen — auch reflexiv negiert. Das praktische Moment der Negation wird hier also durch den reflexiven Moment komplettiert. Mit dieser Phasentypik lässt sich also identifizieren, wie innerhalb der Prozessstruktur von Bildung nicht nur in den ersten Phasen »Negationspotentiale aktiviert und erprobt werden« (Marotzki 1990, S. 324), sondern dann auch — beginnend mit der Relevanzverschiebung — bislang »sozial validierte Erfahrungsverarbeitungsweisen negiert« (ebd., S. 159) werden. Welche Bedeutung Lernvorgänge aber für diesen Bildungsprozess und seine praktischen wie reflexiven Negationen haben, ließ sich erst herausarbeiten, als wir die Bildungsverläufe mit Lebensgeschichten verglichen, in denen es nicht zur Habitustransformation gekommen war.

III. Um jene Lernmomente aufzuzeigen, in denen eine Überschreitung vom Lern- zum Bildungsprozess stattfindet, muss zunächst einmal geklärt werden, wie Bildung

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überhaupt von Lernen zu unterscheiden ist. Paradigmatisch für viele nachfolgende Arbeiten hat Peukert Bildung von Lernen folgendermaßen differenziert: »Einliniges Lernen bewegt sich in festen Schemata und mehrt Wissen, ohne dabei die Schemata zu verändern. Kennzeichnend für den Menschen ist aber, daß er wenigstens grundsätzlich dazu fähig ist, aus der Erfahrung von enttäuschten Erwartungen, von Widersprüchen und Krisen, in die das Handeln nach bisherigen Schemata führt, bewußt neue Weisen der Wahrnehmung von Wirklichkeit und des Umgangs mit Sachen, Personen und sich selbst zu entwickeln, also eine neue Identität zu finden. […] Mit Recht kann man den Erwerb von Handlungsfähigkeit und Identität […] in einem vorläufigen, aber elementaren Sinn als Bildung bezeichnen« (Peukert 1984, S. 129). Wie bekannt, hat Marotzki diese Unterscheidung unter Bezugnahme auf Bateson weiter ausgearbeitet. Als Lernen könne demnach der Aufbau von Wissen und Können innerhalb gegebener Rahmen bezeichnet werden, während sich diese Rahmen in Bildungsprozessen transformieren.11 In den vergangenen Jahren sind nun eine Reihe wesentlicher erziehungswissenschaftlicher Arbeiten nicht nur zum Bildungs-, sondern auch zum Lernprozess erschienen. Diese weisen jedoch — ausgehend von einem Diktum Bucks — Lernen nicht nur als kontinuierlichen Prozess der Akkumulation von Wissen und Können aus, sondern bestehen auf dessen transformativen Charakter. Lernen ergänze nicht nur, sondern erschüttere unser Vorwissen, unsere bisherigen Erfahrungsweisen und Erwartungen, schreiben unisono Meyer-Drawe (2008, S. 96), Benner (2003, S. 100) und Faulstich (2008, S. 43). Lernen sei also immer auch »Umlernen«, wie es Buck (1989) genannt hat. Wenn also Lernen nicht auf die einfache Akkumulation von Wissen und Können reduziert wird, dann kann auch die Transformation nicht das Alleinstellungsmerkmal und Abgrenzungskriterium von Bildung sein. Wir schlagen daher vor, Lernen und Bildung dahingehend zu unterscheiden, worauf sie sich beziehen (vgl. Nohl 2014). Lernen bezeichnet demnach immer den Aufbau und die Transformation von Wissen und Können, das sich auf spezifische Gegenstände, also auf Ausschnitte von Welt bezieht. Demgegenüber verweist Bildung auf die Transformation des gesamten, umfassenden Bezugs eines Menschen zur Welt, wie dies ja auch im Begriff der Habitustransformation seinen Ausdruck findet. Im Zuge der empirischen Rekonstruktion von Lernprozessen wurde es dann nötig, Begriffe zu entwickeln, die sowohl ihrem Prozesscharakter gerecht werden als auch über das Singuläre des Prozesses hinausgehen und das erfassen, was sich im Lernen immer wieder reproduziert. Wir haben dabei zunächst zwischen zwei grundsätzlichen Prozessstrukturen des Lernens begrifflich-theoretisch unterschieden: Die situationsüberdauernden Modi der Herangehensweise an potentielle Lerngegenstände und -anlässe — diese haben wir als Lernhabits bezeichnet — unterscheiden wir von der Art und Weise, wie der Akteur sein bisheriges Wissen mit dem (potentiell) neuen Wissen relationiert — hier handelt es sich um die Lernorientierungen un7

serer Interviewpartner/innen. In unserer Studie haben wir in einem ersten Schritt unterschiedliche Lernhabits und -orientierungen rekonstruiert und typisiert. In einem zweiten Schritt haben wir danach gefragt, wie diese Lernhabits und -orientierungen miteinander zusammenhängen und welche Bedeutung sie für Bildungsprozesse haben. Im Folgenden gehen wir — anstatt eines vollständigen Überblicks über alle Lernhabits und -orientierungen — auf ausgewählte, insbesondere die bildsamen Relationen12 zwischen ihnen ein.

IV. Betrachtet man zunächst die Lernhabits, also die unterschiedlichen Herangehensweisen an potentielle Lerngegenstände und -anlässe, so erweisen sich zwei dieser Lernhabits als Bedingungen der Möglichkeit von Bildung, insofern sie Negationspotentiale in Gang bringen: Bei einer Reihe von Akteuren finden wir einen Lernhabit der Exploration. So streift der vorhin bereits erwähnte Frank Helmer bei seinem Urlaub durch Städte Tunesiens und trifft dort auf eine von ihm als »Muslima« gekennzeichnete Frau, die sich seinen bisherigen — vor allem auf sexuelle Beziehungen geeichten — Kategorien von Frauen entzieht. Dies irritiert ihn, sodass er die Hintergründe dieser Erfahrung, die er im Islam vermutet, in der Folge in verschiedenen Suchbewegungen zu erkunden beginnt. Einen anderen Lernhabit, jenen des Aktionismus, finden wir bei der ebenfalls bereits genannten Anja Weber. Sie geht an potentielle Lerngegenstände und -anlässe auf dem Wege des Aktionismus heran; zum Beispiel stürzt sie sich Hals über Kopf, also ohne Planung oder Reflexion, in die Praktiken der Punk-Clique und beginnt auf diese Weise sich das Neue zu erschließen. Exploration und Aktionismus lassen sich von mehreren anderen Lernhabits abgrenzen, welche allerdings nicht dazu geeignet sind, das für Bildungsprozesse nötige Negationspotential aufzubauen. So beschränkt sich der Lernhabit des strukturierten Wissenserwerbs vornehmlich auf das geplante Lernen von weitgehend Erwartbarem; in den Lernhabits der Protektion und der Suspendierung schirmen sich die Akteure sogar dauerhaft oder zeitweilig vor den Anfechtungen des Neuen ab. Die Negationspotentiale, die von den Lernhabits der Exploration und des Aktionismus aufgebaut werden, bleiben allerdings unrealisiert, wenn sie nicht mit einer spezifischen Art und Weise einhergehen, in der die Akteure ihr bisheriges mit dem neuen Wissen relationieren. Hier ist insbesondere die Lernorientierung der Inkorporierung zu nennen. So hat Frank Helmer nicht nur ausgehend von seiner Begegnung mit einer Muslima den Islam explorativ erkundet, sondern dann diesen neuen Erfahrungsraum und dessen Selbstverständlichkeiten allmählich inkorporiert. Diese Inkorporierung beschränkt sich — wie in anderen, ähnlich gelagerten Fällen — nicht auf eine reflexive, auf Theorien zum eigenen Selbst beschränkte Konversion, sondern umfasst die zentralen Praktiken von Frank Helmer; sie führt schließlich zur Transformation seines Habitus.

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Auch der Lernhabit des Aktionismus führt nur dort zur Bildung, wo er sich mit spezifischen Lernorientierungen, insbesondere jener der Inkorporierung, verknüpft. In mehreren Fällen wird allerdings das Neue nur insoweit inkorporiert, als es dem alten Erfahrungsraum diametral entgegensteht. Diese Lernorientierung der Inversion begrenzt also die Bandbreite dessen, was als Neues möglich und orientierungsrelevant werden kann. Zum Beispiel werden für Anja Weber, die anfänglich zur PunkClique dazugestoßen war, in der Folge nur noch solche Gruppen und später soziale Bewegungen relevant, die den politischen Haltungen ihrer Herkunftsfamilie wie auch ihrer Mitschüler/innen entgegenstehen.13 Dass sich Exploration und Aktionismus mit den Lernorientierungen der Inkorporierung und eventuell der Inversion verknüpfen, ist nicht selbstverständlich. In unserem Sample finden sich auch Lebensgeschichten, in denen die Akteure zwar explorativ oder aktionistisch auf Lerngegenstände und -anlässe zugegangen sind, dann aber das Neue nur insoweit wahrgenommen haben, als es den Strukturen des Alten entspricht, bzw. sich in diese einfügen lässt; wir bezeichnen dies als Lernorientierung der Tradierung. Auch dort, wo im Aktionismus oder der Exploration zwar Negationspotentiale aufgebaut werden, die Akteure dann aber das Neue lediglich heranziehen, um mit ihm die eigenen Gewissheiten zu kontrastieren, bei denen sie dann aber letztlich verbleiben, werden die Negationspotentiale nicht enaktiert. Denn mit dieser Lernorientierung der Kontrastierung wird der eigene Habitus letztlich nur gefestigt.

V. Mit unserer Untersuchung lässt sich also eine differenzierte Antwort darauf geben, wie sich Bildungsprozesse entfalten können, wenn sie denn nicht — wie von Koller postuliert — maßgeblich durch Krisen ausgelöst werden und in der Krisenbewältigung kulminieren: In den Phasen des nichtdeterminierenden Beginns und der experimentellen, ungerichteten Erkundung baut sich zunächst ein Negationspotential auf. Es ist dies die Zeit im Bildungsprozess, in der insbesondere die Lernhabits des Aktionismus und der Exploration greifen. Spätestens in der Phase der Relevanzverschiebung verknüpfen sich diese Lernhabits mit solchen Lernorientierungen wie der Inkorporierung und der Invertierung. Hier nun wird das Negationspotential auch praktisch enaktiert; da alte Handlungspraktiken gestoppt wurden, kann das Neue Raum greifen. Dieser praktische Moment der Negativität zieht dann — in der Phase der sozialen Festigung und Reinterpretation der Biographie — auch Reflexionen nach sich. Hier werden nun, angestoßen durch die neuen, nunmehr fokussierten Handlungspraktiken auch die eher kognitiven, auf Reflexion und Eigentheorien aufbauenden Komponenten des Habitus transformiert.

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VI. Unsere Ausführungen geben einen Einblick darin, dass empirisch-rekonstruktive Bildungs- und Lernforschung, wenn sie denn übergreifende Muster identifiziert und typisiert, nicht nur Illustrationsmaterial für Theorien bietet, sondern selbst zur Theoriebildung anregen kann. Im Zuge der empirischen Forschung kommt es nämlich mitnichten zur »Stilllegung der Arbeit an den sie leitenden Kategorien und Begriffen«, wie dies Fuchs (2011, S. 134) behauptet. Auch wenn ihm sicherlich zuzustimmen ist, dass es keine einfache »Vermittlung von bildungstheoretischen Reflexionen und empirischer Forschung« (ebd.) gibt, so muss hier differenziert werden: Auf der einen Seite benötigen wir Grundbegriffe und -kategorien, die »wichtige Ausgangspunkte für die empirische Forschung bieten, insbesondere im Hinblick auf die Konzeptionierung der Phänomene, die man untersuchen will« (Biesta/Allan/Edwards 2011, S. 233). Auf der anderen Seite haben wir die empirische Forschung, die uns nicht nur »mehr Bodenhaftung« (Mertens 2001, S. 478), sondern auch neue Erkenntnisse darüber verspricht, wie sich Bildungsprozesse vollziehen, wie z.B. Negationspotentiale aufgebaut und enaktiert werden; hierzu lassen sich dann — aus der Empirie heraus — gegenstandsbezogene Theorien entwickeln (vgl. Bohnsack 2014, S. 29ff). Gerade dort, wo diese empirischen Analysen — auf dem Wege des Vergleichs und der Typenbildung — zu einem gewissen Generalisierungsniveau gelangen, eignen sie sich aber nicht nur zur Entwicklung gegenstandsbezogener Theorien. Vielmehr werden solche empirischen Typologien auch zum Resonanzboden für die — ansonsten aber philosophisch imprägnierte14 — Entwicklung grundlegender Begrifflichkeiten und Kategorien. So hat sich in unseren Studien zwar der Bildungsbegriff nicht grundlegend verändert, doch zur Differenzierung der Grundbegriffe Lernhabit und Lernorientierung wurden wir auch im Zuge der empirischen Typenbildung inspiriert. Ohne dass sie miteinander zu vermitteln, also ihre konstitutiven Differenzen zu überwinden wären, gelangen auf diese Weise Empirie und Theorie in eine Beziehung reziproker, weil wechselseitiger Reflexivität. Anmerkungen 1

Man beachte allerdings, dass sich sowohl in der Rede von der »Konsensformel« (die ja eben nur eine Formel, aber u.U. nicht genügend fundiert ist) als auch davon, es habe sich etwas — nahezu unreflektiert — »eingebürgert«, eine gehörige Portion Skepsis gegenüber diesem Bildungsbegriff (wie wahrscheinlich jeglicher Bemühung gegenüber, Bildung eindeutig zu identifizieren) dokumentiert.

2

Siehe für die Sozialpädagogik jüngst Stauber (2014), für die Soziologie El-Mafaalani (2012), für die Erwachsenenbildung Schäffer (2003).

3

So die hinsichtlich ihrer Anschlussmöglichkeiten unterschiedlichen Arbeiten von Koller (1999), Felden (2003), Nohl (2006), Rosenberg (2011), Fuchs (2011), Rose (2012), Rosenberg (2015) und Nohl/Rosenberg/Thomsen (2015).

4

Hier handelt es sich im Übrigen um ein Buch, das zwar als »Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« betitelt, doch u.E. zu sehr auf Kollers Ansatz zugeschnit-

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ten ist (und zu wenig andere Ansätze referiert), als dass es den Anspruch eines Überblickwerks über diesen Forschungsbereich erheben könnte. 5

Allerdings ist hier anzumerken, dass Benner und Buck bei diesen Prozessen sowohl von Lernen als auch von Bildung sprechen, während Thompson und Jergus auf den Bildungsbegriff fokussieren.

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Da Thompson und Jergus sich für Bildung jenseits der beiden skizzierten Denkfiguren interessieren, brauchen sie nicht darauf einzugehen, wie es zu solch negativitätsfähiger und daher bildsamer Erfahrung kommen kann. Die Autorinnen grenzen sich — ohne die beiden Gedankengänge grundsätzlich in Frage zu stellen — tendenziell von der Kohärenzannahme, die Prozessmodelle von Bildung haben, ab und suchen nach »kategorialen Alternativen zur Prozessualität von Bildung« (Thompson/Jergus 2014, S. 14).

7

Unter anderen theoretischen Vorzeichen und einer etwas anderen Fragestellung lassen sich die Ergebnisse dieser Bildungs- und Lernforschung in aller Ausführlichkeit nachlesen, vgl. Nohl/Rosenberg/Thomsen (2015).

8

Zur prozessanalytischen Typenbildung vgl. Rosenberg (2012).

9

Zitate ohne Quellenangabe stammen aus dem jeweiligen Interview.

10

An dieser Stelle ist anzumerken, dass es sich hier nicht nur um bestehende Praktiken handelt, sondern auch um solche, die erst allmählich, unter Beteiligung von Anja Weber und anderen von uns interviewten Jugendlichen, entstehen (vgl. Thomsen 2010; 2015).

11

Zu einer inspirierenden, Bateson folgenden lerntheoretischen Reinterpretation von (spontanen) Bildungsprozessen siehe Pietraß (2014, S. 372ff).

12

Zu der unserer empirischen Vorgehensweise hier unterliegenden relationalen Typenbildung siehe Nohl (2013).

13

Auf eine dritte Relation von Lernhabits und -orientierungen (Exploration/Aktionismus-Konnexion) können wir hier aus Platz- und Komplexitätsgründen nicht eingehen.

14

Biesta/Allan/Edwards (2011, S. 233) sprechen hier von »eher autonomen Formen der Theoretisierung«, die für Moses (2002, S. 5) eine »Philosophie als Bildungsforschung« implizieren.

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›Hauptsache anders‹, ›Hauptsache neu‹? Über Normativität in der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse Thorsten Fuchs

Anliegen meines Beitrags ist es, die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse auf den Sachverhalt der Normativität zu beziehen, wobei mir dieser allerdings gerade nicht als strikt zu vermeidend und aus dem wissenschaftlichen ›Geschäft der Pädagogik‹ notwendigerweise auszugliedernd gilt. Stattdessen scheinen mir entgegen der disziplinär inzwischen weit verbreiteten Eskamotierung normativer Implikationen bewusste Hinwendungen auf normative Gehalte pädagogischer Theoriebildung und Reflexionen über Normativität gerade Herausforderungen zu sein, denen es sich auch im Rahmen der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse stärker anzunehmen gilt, als das bislang getan wurde — aber der Reihe nach: Wer in erziehungswissenschaftlichen Debatten den Begriff ›Normativität‹ in den Mund nimmt, diesen be- und durchdenken will und sich hiervon Gehaltvolles für die pädagogische Theoriebildung verspricht, sieht sich schnell der Gefahr ausgesetzt, gänzlich missverstanden zu werden. Rasch nämlich wird die Rede von Normativität mit normativer Pädagogik in Verbindung gebracht; mit normativer Pädagogik aber möchte niemand, der darauf bedacht ist, als ›integer‹ zu gelten, etwas zu schaffen haben (vgl. Bokelmann 1964, S. 64f). Denn im Laufe des 20. Jahrhunderts geriet jene Pädagogik zunehmend in Misskredit und wurde mit dem Vorbehalt des Unseriösen, wissenschaftlich Unredlichen belastet, obwohl sich Pädagogik seit den Anfängen der Reflexion über Erziehung und Bildung fast ausschließlich als normativ ausgerichtet verstand, insofern nämlich, als es ihr zunächst und zumeist darum ging, Aussagensysteme hervorzubringen, die nicht nur feststellen, was ist, sondern formulieren, was sein soll (vgl. Benner 1991; Langewand 1991). Gegenüber diesem von Normsetzungen ausgehenden Muster steht dagegen der neuere, seit den 1960er Jahren umfassender ins Auge gefasste Versuch, deskriptive Bescheidenheit und normative Zurückhaltung als ›unverfänglichere‹ oder auch ›besser‹ verstandene Wege der Erziehungswissenschaft festzuschreiben. Die Empirische Bildungsforschung etwa, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte als ein außerordentlich erfolgreicher und vielschichtiger Forschungszweig etablieren konnte und heute ebenso wie die vermeintlich ›traditionelle‹ Pädagogik den disziplinären Raum der Erziehungswissenschaft ausfüllt, geht geradezu offensiv in Distanz zu allen normativen Vorbestimmungen ihres Gegenstandes (vgl. Ingenkamp 1983; Jungk 1974). Von Eugen Lemberg, einem der Nestoren der Empirischen Bildungsforschung, der 1963 bereits den zu bestreitenden Weg von der »Erziehungswissenschaft zur Bildungsforschung« skizzierte und dem ein Dorn im Auge war, dass sich »die deutsche Erziehungswissenschaft in bewußter Selbstbeschränkung immer noch auf der Plattform der klassischen Bildungskonzeptionen bewegt« (Lemberg 1963, S. 42), bis hin zu aktuellen Vertretern, die den ›wirklichkeitswissenschaftlichen Forschergeist‹ re14

präsentieren, wird eine Kontinuität der Intention deutlich, Erziehung und Bildung — im Unterschied zur normativen Pädagogik — mit den Mitteln der wissenschaftlichen Empirie ohne irgendeine ›Voreingenommenheit‹ zu beschreiben. In der konsequenten Enthaltung von Aussagen über Aufgaben, Ziele und Mittel pädagogischen Handelns und der Beschränkung auf vorfindliche Gegebenheiten und nachprüfbare Zusammenhänge kommt hier die Signatur einer sich weitgehend als normativ enthaltsam gebarenden Wissenschaft zum Ausdruck, die bestrebt ist, Sollensaussagen aus dem Kreis veritabler Pädagogik zu verbannen. Alles irgendwie nur normativ Daherkommende soll also hinter sich gelassen werden, weshalb mitunter die bildungstheoretische Tradition idealistischer, neuhumanistischer oder prinzipienwissenschaftlicher Prägung der erklärte Antipode ist. Es sind jedoch nicht nur Varianten einer Empirischen Bildungsforschung, die an allem, was nur im Ansatz mit normativen Fundamenten ›traditioneller‹ Pädagogik zu tun hat, ihr Unbehagen äußern. Auch innerhalb von theoretisch geführten Diskussionen der Allgemeinen Pädagogik ist unverkennbar zu vernehmen, dass es ›träumerische‹ Ideen längst vergangener Tage wegzuräumen und — wie Helmut Heid es etwa seinerzeit formulierte — die »traditionellen Belastungen der Bildungstheorie« (Heid 1977, S. 132) aus dem Weg zu schaffen gelte. Damit kündigt sich etwa zu Beginn der 1970er Jahre innerhalb der Allgemeinen Pädagogik allmählich ebenfalls jener Richtungswechsel an, der auf einen »Strukturwandel des pädagogischen Denkens« (Hornstein 1969) hinausläuft und den Abschied von normativen Konzepten forcieren will. Auch Einsatz und Gestalt der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, die ich im Weiteren in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stelle, lassen sich ohne Umschweife vor dem Hintergrund dieser programmatischen Neuausrichtung Allgemeiner Pädagogik lesen. Der in den späten 1980er Jahren durch Rainer Kokemohr (1989; 1992) von Hamburg aus initiierte, zwischenzeitlich in Form eines Sammelbandes (Koller/Marotzki/Sanders 2007) bilanzierte und zuletzt mit einem Einführungswerk (Koller 2012b) nobilitierte pädagogische Entwurf, der Bildung als ein Transformationsgeschehen auffasst, in welchem Welt- und Selbstverhältnisse von Menschen eine weitreichende Veränderung erfahren, ist nämlich gerade durch die Kombination zweier Anliegen charakterisiert, die sich gegen das normative Gepräge von Allgemeiner Pädagogik im Generellen und ›Bildung‹ im Besonderen wenden. Das erste Anliegen der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse bezieht sich auf die Herstellung empirischer Anschlüsse des bildungstheoretischen Denkens, womit eine zentrale Kritik an der traditionellen Gestalt der Bildungstheorie aufgegriffen und der Versuch unternommen wird, den Bildungsdiskurs vom Niveau hoher und gleichsam abstrakter ›Feierlichkeit‹ auf die Ebene des Konkreten zu holen. Die für disziplinäre Debatten nachhaltigsten Einsichten hierzu hat vermutlich Winfried Marotzki in seiner 1990 publizierten Habilitationsschrift »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie« generiert. Dieser liegt nämlich — O-Ton Marotzki — »die Überzeugung zugrunde, daß bildungstheoretische Überlegungen so weit getrieben werden müssen, daß sie empirisch anschlußfähig werden« (Marotzki 1990, S. 18). Dazu 15

werden die in einen gesellschaftsdiagnostischen Referenzrahmen verorteten bildungstheoretischen Überlegungen mittels des Konzepts der (soziologischen) Biographieforschung in die extensive Auslegung einer einzelnen Lebensgeschichte überführt.1 D.h. die in den Blick genommene lebensgeschichtliche Erzählung fungiert als sprachliche Dokumentation jener in theoretischer Perspektive entfalteten transformatorischen Bildungsprozesse; mit und an ihr werden Übergangsbereiche von alten zu neuen Welt- und Selbstverhältnissen auf empirische Weise ermittelt. In einer oft aufgenommenen Formulierung hat Marotzki derlei Theorie und Empirie verschränkende Zugänge als »Neue Konturen Allgemeiner Pädagogik« (Marotzki 1996) bezeichnet und im Panorama deutscher Gegenwartspädagogik auf die besonderen ›Verknüpfungsoperationen‹ von Bildungstheorie und Empirie im Modus der Biographieforschung aufmerksam gemacht (vgl. Marotzki 1991; Fuchs 2011a). Offensichtlich mit Erfolg: Denn ausnahmslos alle weiteren Arbeiten dieses Forschungszweiges — von denen inzwischen eine ganze Reihe vorliegen — beziehen sich auf die Studie von Marotzki, um ihre eigene Konzeption zur Darstellung zu bringen. Und auf einige dieser Arbeiten werde ich im Weiteren auch noch genauer zu sprechen kommen. Neben diesem Anliegen, das die Verknüpfung von Theorie und Empirie zum Gegenstand hat, besteht noch ein zweites Anliegen der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Soeben ist es bereits unterschwellig zur Sprache gekommen. Dieses zweite Anliegen zielt dabei auf eine strenge Modernisierung von Bildungsbegriff und Bildungstheorie. Hier geht es darum, ›Bildung‹ nicht in strikter und extrapolierender Weise an die Denksysteme traditioneller Pädagogik zu begreifen und in deren Fahrwasser zu bestimmen. Stattdessen wird eine Novellierung im Bildungsdenken vorgenommen, die sich — weil und insofern sich eine solche nicht einfach ›aus den Wolken melken‹ lässt — in einer historischen Auseinandersetzung verschiedener bildungstheoretischer Gehalte vergewissert. Dazu werden etwa die bildungstheoretischen Konzeptionen von Wilhelm von Humboldt, Theodor W. Adorno, Erich Weniger und Wilhelm Flitner oder auch bildungstheoretische Theoreme im Werk John Deweys betrachtet und vor dem Hintergrund gegenwärtiger, oft als postmodern bezeichneter Tendenzen kritisiert (vgl. Kokemohr 1989; Marotzki 1991; Koller 1999; von Felden 2003; Nohl 2006). Parallel zur entfalteten Kritik erfolgt in der Regel auch eine Rezeption soziologischer, psychologischer und philosophischer Theorien (vgl. Koller 2012b, S. 17): Die Philosophie des Widerstreits von Jean-Francois Lyotard, Gregory Batesons Lernebenenmodell, Gotthard Günthers mehrwertige Logikkonzeption, Judith Butlers Konzept der Resignifizierung, Bernhard Waldenfels’ responsive Phänomenologie, Jacques Lacans Phallus-Theorie — das alles sind Zugänge, die in Arbeiten zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse ebenfalls bemüht und in einen Zusammenhang mit den als unzulänglich ausgewiesenen Bildungstheorien gebracht werden.2 Auf diese Weise erfolgt der Versuch, Begriffe und Theorien von ›Bildung‹ zu generieren, bei denen zwar einerseits eine Anknüpfung an gewisse traditionelle Bestimmungen erfolgt, sich aber andererseits von deren normativen Fundierungen gelöst werden soll. ›Bildung‹ gilt es — so Hans-Christoph Koller in seiner »Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« — anders zu denken (vgl. Koller 2012b). 16

Im Gegensatz zu ähnlich gelagerten pädagogischen Versuchen, etwa jene von Otto Hansmann (1985) oder auch Wolfgang Klafki (1986), bei denen traditionelle Bildungsentwürfe konsultiert werden, um ebenfalls eine zeitgemäße, d.h. den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechende Bildungssemantik zu entwerfen, werden im Rahmen der Entfaltung einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse keine inhaltlichen Bestimmungen von ›Bildung‹ in ihrer Übertragbarkeit diskutiert, sondern die normativen, auf die Hierarchisierung von veritablen Bildungsinhalten aufsetzenden Gehalte deutlich zurückgewiesen und zugunsten von strukturalen Indikatoren ersetzt. ›Bildung‹ wird dabei als eine Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses beschrieben und vom Phänomen des Lernens unterschieden. Lernprozesse nämlich führen »zur Verarbeitung von Informationen im Rahmen gegebener Kategorien der Welt- und Selbstorientierung« (Kokemohr 1992, S. 17). Bildungsprozesse indes werden durch »neue Problemlagen herausgefordert« (ebd.), und zwar insofern, als das individuell ausgebildete, bislang als probat erwiesene »Interpretationsschema gegenüber neu auftretenden Problemlagen versagt« (ebd.) und diese erst mittels einer neuen Aufordnung von Konstruktionsprinzipien des Welt- und Selbstverhältnisses be- und verarbeitet werden können. Deshalb führen Bildungsprozesse immer auch ein Risiko mit sich, da es hier — so fasst Kokemohr zusammen — »stets um die Umbildung, um die Transformation grundlegender Kategorien« (ebd.) geht. Das Aufbrechen von Stabilisierungen und Überwinden »subsumtionsresistenter Erfahrung« (Kokemohr 2007, S. 21) weist damit oft eine krisenhafte Kontur auf, kann aber im Sinne einer reichen Phänomenologie auch darüber hinausgedacht werden. Als Movens transformatorischer Bildungsprozesse finden so etwa auch institutionelle Gelegenheiten, Zufälle und spontan ergriffene Handlungen Berücksichtigung (vgl. von Felden 2014b, S. 75ff). Ein Blick in vier prominente Studien, die an und mit einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse arbeiten, lässt Varianten dieser Anlässe für Transformationen noch deutlicher werden. In der bereits erwähnten Arbeit von Winfried Marotzki ist der Anlass der Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen gleichsam zeitdiagnostisch bedingt. Die für hochkomplexe Gesellschaften typische »Lockerung sozial vorgegebener […] Konventionen« (Marotzki 1990, S. 149) eröffnet nach ihm zunehmend Möglichkeitsräume für eine tentative Wirklichkeitsauslegung, die neue Deutungsakte eröffnet und die gegenwärtige Faktizität transzendiert (vgl. ebd., S. 133). Wenn sich die in experimentell-spielerischer Haltung gewonnenen Deutungsakte auf eine Veränderung der Konstruktionsprinzipien von Welt- und Selbstverhältnissen beziehen, werden sie von Marotzki als Bildungsprozesse gefasst — denn sie implizieren für ihn »einen Wechsel des ontologischen Ortes, von dem aus das Subjekt sich der Welt und sich selbst auf neue Weise gewiß werden kann« (ebd., S. 220). In Hans-Christoph Kollers (1999) Studie »Bildung und Widerstreit« vollziehen sich Bildungsprozesse, indem neue Ausdrucksmöglichkeiten für das gefunden werden, was in den bisher verfügbaren Diskursarten nicht gesagt werden kann.3 Als hartnäckiger Einspruch gegen die Verfestigung der Kategorien, mit denen Menschen ihr Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu fassen suchen, vollzieht sich das Erfinden neuer Diskursarten zur Artikulation des bisher Nicht-Sagbaren als Reflex auf biogra17