Beteiligung und Beschwerde Top-Themen der Kinder- und Jugendhilfe? -Beitrag zur Arbeitstagung des KVJS 15.Juni 2015 in Stuttgart

Rainer Treptow Beteiligung und Beschwerde – Top-Themen der Kinder- und Jugendhilfe ? -Beitrag zur Arbeitstagung des KVJS 15.Juni 2015 in Stuttgart – ...
Author: Eva Salzmann
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Rainer Treptow

Beteiligung und Beschwerde – Top-Themen der Kinder- und Jugendhilfe ? -Beitrag zur Arbeitstagung des KVJS 15.Juni 2015 in Stuttgart – Im Folgenden werde ich in einem etwas weiteren Rahmen ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Bedeutung von Beteiligung und Beschwerde in der Kinder-und Jugendhilfe für die Entwicklung der demokratischen Zivilgesellschaft sagen und die Unterschiede zwischen einem begrenzten und erweiterten Verständnis von Beteiligung bzw. von Beschwerde erläutern. Danach wird Heinz Müller einen Überblick über die Grundlagen des Forschungsprojekts geben, den Dimensionen und Einzelheiten unserer Untersuchung von Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren in der badenwürttembergischen Jugendhilfelandschaft. Befragt wurden Jugendliche, Eltern, Einrichtungen der erzieherischen Hilfen und alle Jugendämter. Der folgende Zugang besteht aus zwei Teilen: Erstens betone ich, dass Beteiligung und Beschwerde mehr umfassen als die Eigenschaft, bloße Projektbegriffe zu sein. Vielmehr sind Beteiligung und Beschwerde als grundlegende Handlungsformen in der Zivilgesellschaft zu begreifen. Sie zeichnen sich durch ihre Besonderheit für das moderne pädagogische Denken und damit für eine demokratische Kultur des Aufwachsens aus. Zweitens stelle ich die Unterscheidung zwischen einem eher engen und einem erweiterten Partizipations- bzw. Beschwerdeverständnis vor. Diese Unterscheidung entspringt unserer Idee eines kritischen Partizipationsverständnisses. Kritisch, weil es darauf achtet, Beteiligung und Beschwerde nicht auf eine lediglich formale Angelegenheit zu reduzieren, es also nicht als bloß oberflächliches, vielleicht sogar nur pseudomäßiges Zugeständnis an Kinder- und Jugendliche zu verstehen. I. Beteiligung und Beschwerde in der Kinder- und Jugendhilfe als Teil der Entwicklung der Zivilgesellschaft 1. Beteiligung und Beschwerde: grundlegende Handlungsformen des Aufwachsens Beteiligung und Beschwerde sind mehr als nur modische Projektbegriffe, für die es nur noch Verfahren zu entwickeln gilt und die Sache ist damit erledigt. Beteiligung und Beschwerde stehen vielmehr mit dem Erwerb der Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung in engem Zusammenhang. Daher sind sie grundlegende Kategorien im Verlauf und in der Gestaltung der Kultur des Aufwachsens. Beteiligung und Beschwerde betreffen die Aufgabe des Menschen in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext, und zwar insofern jeder Mensch sich über Bedingungen kritisch äußern können muss, an denen er sich beteiligen will oder soll, oder an denen er nicht teilnehmen will, weil er seine Zustimmung verweigert, aus welchen Gründen auch immer. Die Herausforderung für die Pädagogik, insbesondere der Pädagogik in den erzieherischen Hilfen und damit die Herausforderung an Ihr professionelles Selbstbewusstsein besteht darin, Beteiligung- und Beschwerde in einer Art und Weise zu ermöglichen und zu gestalten, die der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen entspricht, sie also weder durch Erwartungen an Perfektion ihres Handelns einzuschüchtern, noch durch das Übergehen von Wünschen und Interessen zu enttäuschen. 1

Mit anderen Worten: Beteiligung – das meint die entwicklungsangemessene Einbeziehung des Kindes und Jugendlichen in soziale Interaktionen, in kulturelle Grundlagen, in Wissensund Sachzusammenhänge, in gesellschaftliches Leben. Beschwerde – das meint einen besonderen Modus von Beteiligung, nämlich die an eine Adresse gerichtete Kritik des Kindes und Jugendlichen an deren Zugangs- und Gestaltungsformen, an der Festlegung und Überschreitung von Grenzen, Regeln und Normen. Denn so fundamental Beteiligung im alltäglichen Aufwachsen ist, in der Familie, im Spiel, mit Gleichaltrigen, in Kindertageseinrichtungen und in der Schule – es bleibt die Frage nach den Reichweiten und Begrenzungen von Beteiligung und damit die Frage, ob Kinder- und Jugendliche gegen beides, gegen Reichweiten und Begrenzungen Einspruch erheben können, ob ihr Einspruch gehört und verstanden wird, ob sie dann ernst genommen und ob sie Wirkungen erleben, die sich in deutlichen Veränderungen dessen zeigt, was Gegenstand einer Beschwerde ist. Warum ist zu betonen, dass Beteiligung und Beschwerde Begriffe sind, die mehr bezeichnen als es ihre momentane Projektförmigkeit nahelegt? Nun – und den Hinweis darauf kann und möchte ich Ihnen als Fachkräfte mit pädagogischer Ausbildung nicht ersparen – es ist faszinierend zu sehen, dass das Denken der Pädagogik seit langer Zeit um die Frage kreist, was denn unter gelingendem Aufwachsen zu verstehen sei, und was Erziehung, genauer: erzieherische Hilfen zur Entwicklung einer freiheitlichen, schließlich demokratischen Gesellschaft dazu beizutragen habe. Die Frage lautet: welche sachlichen, zeitlichen und personalen Bedingungen müssen geschaffen werden, damit die junge Generation nicht nur immer die fertigen Ergebnisse gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse vorgesetzt bekommt und hinzunehmen hat, sondern wie sie selbst in die Lage versetzt werden kann, diese zu beeinflussen, und zwar durch kritische Teilnahme, durch Mitbestimmung. Die Frage Immanuel Kants an alle Erziehung „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ nimmt die, wie wir heute sagen würden, Rahmenbedingungen vorweg, die einen gekonnten Umgang mit Freiheit und die Machtasymmetrie in Erziehungsverhältnissen in den Mittelpunkt stellt – eine Frage, die in jüngeren Forschungen zur Heimerziehung aufgenommen wird. Was bedeutet dies nun für die erzieherischen Hilfen? Erzieherische Hilfen stehen nicht außerhalb der gesellschaftlichen Demokratisierung, sondern sind im Gegenteil der radikale Bewährungsfall für die Glaubwürdigkeit ihres ethischen Selbstverständnisses – und zwar gerade bei denjenigen, die die am wenigsten entwickelten Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten dazu mitbringen: bei den Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Lebenslagen und nicht zuletzt bei ihren Eltern, die nicht schon dadurch von Beteiligung und Beschwerde ausgeschlossen werden dürfen, weil ihre Kinder sich in Einrichtungen erzieherischer Hilfen aufhalten. Das Gegenteil ist gemeint, wenn wir von erzieherischen Hilfen sprechen: es geht immer um die Einbeziehung des Anderen. Art und Umfang von Beteiligung und Beschwerde stehen in einem zeitgeschichtlichen Kontext, das war im Umbruch von der feudalistischen in die bürgerliche Gesellschaft so, das war in den Anfängen der Weimarer Republik so und wiederum in den Anstrengungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die besonders, über die Abschaffung autoritär-unterdrückender Formen der Heimerziehung, die Spielräume für Selbst- und Mitbestimmung erheblich erweiterte, nicht immer aber auch die Grenzen der Fremdbestimmung durch Pädagogen klar definierte und fatale Übergriffe nicht ausschließen konnte. 2

So erscheint es uns wichtig daran zu erinnern, dass die Bedeutung dieser Interaktionsformen sich eben nicht allein aus der besonderen Aufmerksamkeit der letzten Jahre ergibt, die dem Thema Beteiligung und Beschwerde zuteil wird; vielmehr ist die Frage, was denn überhaupt die Erziehung zur Selbstbestimmung auszeichnet, mit den Gestaltungsmöglichkeiten verknüpft, die Kindern und Jugendlichen angeboten werden, und zwar so, dass sie ihrem jeweiligen seelischen und körperlichen Entwicklungsstand angemessen sind. Dieser betrifft nicht nur ihre Fähigkeit, die eigene Lebensführung zu gestalten und sich mit anderen Menschen zu verständigen, sondern auch Bedürfnisse und Interessen gemeinsam auszuhandeln, also das zu erreichen, was in §1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes festgehalten wird: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“-. Indem Beteiligung und Beschwerde als grundlegende Äußerungsformen auch des heranwachsenden Menschen verstanden werden, ist rasch ersichtlich: ihre Verwirklichung hängt von erheblichen Voraussetzungen ab, und zwar in doppelter Hinsicht, nämlich als subjektives Können und als strukturelle Möglichkeit. Beteiligung und Beschwerde als subjektives Können? Nun, schauen wir auf das Individuum in seinen sozialen Beziehungen, so wird es beides nur realisieren, wenn es Ausdrucksfähigkeiten entwickelt hat, die von anderen verstanden werden können; es muss Interaktionen mitgestalten können, um sich zu beteiligen, es braucht Zugang zu seinen Gefühlen, um zu spüren, was ihm Unbehagen bereitet, Zugang zu Wissen, zu seinen Erkenntnismitteln, um festzustellen das „etwas fehlt“, ja, um schließlich den Schritt zu machen, das Unbehagen in Zeichen zu fassen, in sprachliche Zeichen, in Worte, in körperliche Zeichen, in Bewegungen oder Bilder, die schließlich als Beschwerde erkennbar werden, dazu braucht es individuelle Kompetenz, man könnte auch von Beteiligungs- und Beschwerdekompetenz sprechen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass das kindliche oder jugendliche Interesse an Beteiligung und Beschwerde eben nicht nur an voll entfaltete Kompetenz gebunden, sondern auch dann geäußert wird, wenn sich diese erst noch langsam entwickelt. Beteiligung und Beschwerde als strukturelle Möglichkeit? Schauen wir auf die soziale und kulturelle Welt des Individuums, so gilt es nicht nur, die anhaltende Bereitschaft der Personen, Beteiligung anzubieten und Unbehagen wahrzunehmen, sondern auch die tatsächliche Garantie zu bieten, dass es gehört, genauer: angehört werden kann, darin ernst genommen wird und ein feed-back über die Wirkung bekommt. 2. Topthema heißt noch nicht Toppraxis Schaut man sich in der bundesrepublikanischen Landschaft der Kinder- und Jugendhilfe um, so drängt sich der Eindruck auf: Beteiligung und Beschwerde sind seit geraumer Zeit Themen von starkem Interesse. Nimmt man dann noch die Vielzahl an Richtlinien aus Landesverbänden, die gestiegene Zahl der Veröffentlichungen aus der Wissenschaft und besonders die Initiativen in der Praxis zur Sicherung der Kinderrechte und zur Steigerung der Angebote zur Konfliktregulierung z.B. als Schaffung von Ombudsstellen hinzu, so lautet das Fazit: Beteiligung und Beschwerde sind auf dem Wege „Topthemen“ der Kinder- und Jugendhilfe zu werden. Und auch die Forschungsbefunde unserer Untersuchung zum Thema „Beteiligung leben!“ laufen insgesamt auf die These hinaus: das Thema Beteiligung und Beschwerde ist in der Jugendhilfelandschaft Baden-Württembergs angekommen. 3

Aber was bedeutet: angekommen? Angekommen- das bedeutet nicht nur, dass die beteiligten Menschen unserer Untersuchung, also die Fachkräfte, die Kinder-und Jugendlichen und die Eltern, es thematisch erfasst haben, wie wichtig die beiden Kategorien für pädagogisches Handeln und strukturelle Konzeption der Kinder- und Jugendhilfe sind; vielmehr sind damit alltagspraktische Herausforderungen verbunden, die erhebliche Folgen für die personelle, die sachliche und auch die räumliche Ressourcenlage in den Einrichtungen haben. Und weiter: das Angekommensein des Themas kann als erfreulich praktisches Ergebnis von kinder- und jugendpolitischen und auch fachpolitischen Beschlüssen gewertet werden. Diese sind aber aus einem besorgniserregenden Anlass heraus entstanden, nämlich aus der Tatsache von Verletzungen des Selbstbestimmungsrechtes von Kindern und Jugendlichen über ihre eigene seelische und körperliche Integrität. Um es ganz deutlich zu sagen: es ist erklärte Absicht zukünftig auszuschließen, dass solche Verletzungen von Kindern- und Jugendlichen - und die Strategien des Stumm-Machens - ausgerechnet in denjenigen Institutionen möglich sind, von denen sie Schutz, Respekt und Unterstützung ihres Selbstbestimmungsrechts erwarten. Vielmehr sollen ihre Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt und erweitert werden, und zwar nicht nur in Einzelfällen und eher zufällig, sondern durch verlässliche Strukturen, durch verbindliche Verfahren und durch kompetente Personen. Kurz: Beteiligung und Beschwerde von Kindern- und Jugendliche stärken heißt: an die Stelle einer Kultur des Schweigens eine Kultur des Sprechens zu entwickeln. Eine solche Kultur des Sprechens – „Sprechen“ steht hier für eine Vielzahl von Ausdruckstätigkeiten, auch von nicht-verbalen, - bietet ihnen ein nachhaltiges Forum für den Ausdruck von eigenen Interessen aber auch von Desinteresse, für den Ausdruck von Selbstbestimmung, von Nicht-Einverstanden-Sein, von Kritik. Weil also ein gravierender Mangel in unserer Kultur des Aufwachsens festgestellt wurde, sollte alles daran gesetzt werden, diesen Mangel zu beheben, und zwar sogar durch Gesetzesvorschriften, die die Betriebszulassung von Heimen von der Existenz eines pädagogischen Konzepts zur Beteiligung und Beschwerde abhängig machen. Dies hat die Auseinandersetzung mit der Art und Weise der Ausgestaltung sicherlich erheblich verstärkt, doch allein so verstanden, wäre dieses Topthema in der Kinder- und Jugendhilfe lediglich eine Reaktion auf eine top-downStrategie aus der Politik, genauer: aus der Jugendhilfepolitik. Dabei sollte ebenfalls nicht übersehen werden, dass es in einer Reihe von Einrichtungen bereits selbst Konzepte der Beteiligung und Beschwerde gegeben hat, also nicht auf das top-down gewartet wurde, sondern - bottom-up – eigenständige Formen der Partizipation entwickelt wurden. Schließlich haben sich manche Einrichtungen ja nicht erst seit den neueren Debatten auf den Weg gemacht, sondern knüpfen an überlieferte Selbstverständnisse eine demokratischen, bürgernahen Fachlichkeit an, die schon lange ein offenes Ohr für ihre Adressatinnen und Adressaten hat. Allerdings besteht der Unterschied heute darin, dass dieses fachliche Wissen um die Einbeziehung und Beteiligung von Adressaten ausgesprochen, d.h. fachlich reflektiert und konzeptionell formuliert werden muss. Insofern betrifft die Kultur des Sprechens auch die Fachkräfte, die ihre Vorstellungen und ihre Praxis der Beteiligung sprachlich formulieren müssen. Mehr noch: von ihnen wird erwartet, dass sie Beteiligung und Beschwerde strukturell verankern, insbesondere dann, wenn der Prozess der Hilfeplanung ausgestaltet wird, unter Beteiligung der Eltern, aber auch dann, wenn Regeln ausgehandelt werden, wenn die Adressatinnen und Adressaten schlicht gründliche Informationen, gründliches 4

Wissen über ihre Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten benötigen, schließlich in welchen settings, in welchen Räumen und in welcher Zusammensetzung dieser Verständigungsprozess gehen soll. Bedenkt man dieses alles, so bedeutet ein „Topthema“ zu sein, noch lange nicht, eine TopPraxis“ zu sein. Topthema heißt noch lange nicht, die eher mühsam zu erkundende Praxis von Beteiligung und Beschwerde schon in alle Richtungen durchmessen und verstanden zu haben, was es für den pädagogischen Alltag bedeutet, es qualitativ überzeugend, nachhaltig verlässlich und im Sinne kluger Nutzung von zeitlichen, personellen und räumlichen Ressourcen zu verantworten. 3. Warum Forschung? Dass diese Fragen es wert sind, in einem weiteren Rahmen wissenschaftlich erforscht zu werden, erscheint einleuchtend, und das Projekt, das der KVJS „Beteiligung leben!“ ausgeschrieben hat, ist ein solches Vorhaben. Drei Gründe, die das Einleuchtende daran noch untermauern sollen: Erstens gibt es ein wissenschaftliches Interesse daran zu erfahren, wie in der Praxis die Umsetzung von Beteiligungs- und Beschwerderechten für junge Menschen gestaltet wird, denn – wie Sie wissen – es laufen eine Reihe von Wirkungsforschungen in den letzten Jahren in dem Punkt zusammen, dass Partizipation im Blick auf Effektivität von Hilfe eine Schlüsselkategorie geworden ist. Daraus geht hervor: Beteiligung ist nicht nur aus ethischmoralischen Gründen zu respektieren, sondern aus fachlichen Erfahrungen über das Gelingen von Hilfe. Zugespitzt können wir sagen: gelingende Teilnahme erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Hilfen wirksam werden, und zwar im Sinne der Ko-Produktivität sozialer Dienstleistungen zwischen sogenannten Leistungserbringern und Leistungsempfängern. Zweitens interessiert uns die Verantwortung, die die Fachkräfte der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Jugendämter in der heutigen Gesellschaft übernehmen, indem sie zu Orten der Gestaltung der Kultur des Sozialen geworden sind. Will heißen, Jugendämter und die Einrichtungen der erzieherischen Hilfen in Baden-Württemberg zeigen ihr eigenes Gesicht innerhalb jener demokratischen Zivilgesellschaft, von der ich oben gesprochen habe. Damit dieses Antlitz aber nicht zur Maske wird, geht es darum, dass Kinder und Jugendliche nicht nur in ihrer Hilfsbedürftigkeit angesprochen werden, sondern auch als Träger von Menschenrechten und in ihrer Rolle als Bürgerinnen und Bürger. Und dies im Umgang mit einer sich als bürgernah verstehenden Verwaltung, die insbesondere für Kinder und Jugendliche eine wichtige Erfahrungsgrundlage dafür bildet, was es heißt ernst genommen zu werden. In einer solchen Rolle sehen wir die Jugendämter und Einrichtungen der erzieherischen Hilfen also nicht nur als Verwalter von Beteiligung und Beschwerde, sondern als deren Gestalter, als Gestalter der Zivilgesellschaft. Drittens interessiert uns, wie Kinder- und Jugendhilfe durch Forschung unterstützt werden kann, und zwar auch an der Schnittstelle zwischen öffentlichen und freien Trägern. Denn so sehr sich Jugendämter als Gestalter der Kultur des Sozialen profilieren, so stehen sie doch vor der besonderen Herausforderung, die relativ neuen Erwartungen an die Stärkung der Beteiligung ihrer Adressaten zu schultern. Das heißt es ist anspruchsvoll. Dass solche Prozesse immer auch mit dem Wunsch nach mehr Verfahrenssicherheit einhergehen, wissen wir aus der sogenannten Implementations- und Innovationsforschung in Sozialen 5

Diensten. Will heißen: Soziale Dienste - einige, nicht alle – müssen erst ein Gespür dafür entwickeln, welche Reichweiten und welche Grenzen durch die Einrichtung neuer Strukturen realistisch sind, müssen erst erfahren, welche Befürchtungen und Versprechungen, aber auch Illusionen damit verbunden sind. Und umgekehrt – das lehrt uns die Adressatenforschung – müssen auch die Jugendhilfeeinrichtungen und vor allem die Adressaten selbst informiert sein und abschätzen können, wie Beteiligung- und Beschwerde überhaupt wahrgenommen, dann geäußert und vorgetragen werden kann und welche realistischen Chancen sich für die Stärkung ihrer zivilgesellschaftlichen Rolle als Bürgerinnen und Bürger sich ergeben. II. Begrenztes und erweitertes Verständnis von Beteiligung und Beschwerde Wenn die Verwirklichung von Beteiligung und Beschwerde aber so voraussetzungsvoll ist, so darf, wie erwähnt, das Fehlen von subjektiven Voraussetzungen bei manchen Adressaten kein Argument sein, Beteiligung und Beschwerde gleichsam zu einem Bumerang für sie werden zu lassen, nach dem Motto: wer nicht weiß, wie Beteiligung „geht“, wer seine Beschwerde nicht ausdrücken kann, wem also die Grundlagen zu dieser Ausdruckstätigkeit fehlt, dessen Anliegen wird nicht berücksichtigt. In der Zurückweisung von Eltern und Kindern mit Bezug auf deren mangelnde Kompetenz in der Ausdrucksform des Beteiligens und Beschwerens liegt also die Gefahr, Beteiligung und Beschwerde in ihr Gegenteil zu verkehren: in passives Hinnehmen und Stillstellen. Die Voraussetzungen für das Misslingen einer Beschwerde werden dann gleichsam allein den Adressatinnen und Adressaten zugeschoben, erfüllen diese doch anscheinend gewisse Kompetenzkriterien nicht. Es ist unter anderem diese Problematik, weshalb es eines kritischen Blicks auf unterschiedliche Verständnisse von Beteiligung und Beschwerde bedarf. Was soll dieser Blick erkennen? Der Einfachheit halber können wir ein jeweils begrenztes von einem erweiterten Verständnis unterscheiden: „begrenzt“ meint hier, dass die Gestaltungsmöglichkeiten auf minimale Grundlagen beschränkt werden, „erweitert“ meint, dass diese offen für strukturelle Nachhaltigkeit und Qualitäten sind. Dabei soll es sich auch nicht um statische Festlegungen handeln, sondern um flexible. Wenn wir das jetzt konkretisieren so ergeben sich erste heuristische Gegenüberstellungen: Begrenztes und erweitertes Beteiligungsverständnis

Abbildung 1(R.T.)

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Zur Erläuterung: (be=begrenzt;erw=erweitert) beg Ein begrenztes Beteiligungsverständnis macht die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen von der Erfüllung verschiedener Bedingungen abhängig. Dazu zählen beispielsweise Sprachkompetenzen, die Einhaltung bestimmter Regeln, deren Nichtbeachtung zum Ausschluss führen kann. erw Demgegenüber orientiert sich ein erweitertes Beteiligungsverständnis an der prinzipiellen Bedingungslosigkeit von Teilhabe, umso wenig wie möglich Ausgrenzungseffekte durch hohe Vorgaben zu erzeugen. Daher sollen vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für Beteiligung bereitgestellt werden. beg Ein begrenztes Beteiligungsverständnis verharrt in einer wartenden Stellung gegenüber den Artikulationen und Interessen von Kindern und Jugendlichen bzw. von Eltern, geht also eher von einer Komm-Struktur aus, die zugleich die Ernsthaftigkeit und Intensität von Absichten der Beteiligung prüft. erw Ein erweitertes Verständnis von Beteiligung bietet eine Angebotsvielfalt, die durch aktive Ermutigung und durch Unterstützung der Wahrnehmung von Angeboten begleitet wird. Der Zurückhaltung steht also eine andere Form der Aktivierung gegenüber (Geh-Struktur). beg Ein begrenztes Beteiligungsverständnis wird sich mit der bloßen Erfüllung formaler Beteiligungsmöglichkeiten zufrieden geben, deren engagierte Nutzung nicht angestrebt wird. erw Demgegenüber sieht sich das erweiterte Verständnis in der Pflicht, Beteiligungskompetenzen sowohl der Adressatinnen und Adressaten als auch der Fachkräfte zu entwickeln, und über die formalen Verfahrensbedingungen hinaus insgesamt eine möglichst umfassende Nutzung anzustreben. beg Begrenzt ist das Interesse auch dann, wenn Beteiligung sich lediglich an den minimalen Ressourcen ihrer Verwirklichung orientiert. erw entsprechend erweitert ist das Interesse an Ressourcenentwicklung und qualitativer Sicherung der Nachhaltigkeit von Beteiligungschancen und Projekten beg Ein begrenztes Verständnis von Beteiligung wird darauf dringen, dass Einzelsituationen, nicht aber Beteiligungszusammenhänge entstehen, die weitere Anknüpfungspunkte und erweiterte Vernetzungsformen nach sich ziehen. erw Genau diese Vielfalt aber strebt das erweiterte Beteiligungsverständnis an, insofern es auf eine umfassendere Partizipationskultur zielt, deren Rückwirkungen im Sinne einer lebendigen, zwischen allen Akteuren intensivierten Beziehung zu suchen sind. beg Schließlich wird ein begrenztes Beteiligungsverständnis nicht systematisch darauf achten, regelmäßiges Feedback insbesondere an Kinder und Jugendliche bzw. Eltern zu geben, und auch nicht darauf, von diesen ein regelmäßiges Feedback zu bekommen. 7

erw Auch hier ist eine entsprechende, verlässliche Feedbackkultur eine Erweiterung, insofern die Informationen über Beteiligung und deren Bedeutung für das Zusammenleben dichter, transparenter und nachhaltiger werden. Entsprechend gälte für ein Begrenztes und erweitertes Beschwerdeverständnis

Abbildung 2 (R.T.)

Zur Erläuterung: beg Begrenzt ist das Beschwerdeverständnis dann, wenn die Beschwerde an „Schwellen“, genauer an Bedingungen geknüpft wird, und eine Beschwerde erst dann überhaupt aufgenommen wird, wenn sie gewisse Erwartungen an Form, Darstellung und Begründung erfüllt. erw Demgegenüber wird ein erweitertes Beschwerdeverständnis schon auf Signale achten, möglichst niedrigschwellige Formen des Hinhörens und Hinsehens entwickeln, also die Aufnahme einer Beschwerde nicht zwingend von Perfektionserwartungen an ihre Formulierung abhängig machen. beg Im begrenzten Verständnis wird darauf geachtet, dass die Beschwerde absichtlich auf eine Ausnahmesituation bzw. auf mehrere Ausnahmesituationen beschränkt werden soll, sodass ihre Besonderheit Anlass bietet, sie möglichst wenig aufkommen zu lassen. erw Die Haltung einer nachhaltigen Offenheit für Kritik indessen sieht zwar den besonderen Dringlichkeitscharakter von Beschwerden, geht jedoch in einer Weise mit ihnen um, dass ihre Potenziale an Verbesserungsvorschlägen und Kritik nützlich für die gesamte Kultur des Aufwachsens sind. beg Ein begrenztes Verständnis wird auf Hinweise auf die Existenz formaler Beschwerdeverfahren beschränken und sich auf die Erläuterung eines Minimums an Handhabungsmöglichkeiten bescheiden. erw Im Unterschied dazu begreift ein erweitertes Verständnis die Beschwerde als Anlass zur Entwicklung zur kompetenten Artikulation. Als grundlegende Ausdrucksform des Menschen wird das Sich- Beschweren- Können als Bildungsaufgabe betrachtet. 8

beg Das begrenzte Beschwerdeverständnis wird sich auf ein Mindestmaß an Ressourcen in finanzieller, sachlicher, und persönlicher Hinsicht reduzieren. erw Hingegen wird hier die Ressourcenentwicklung für eine gut entwickelte Beschwerdekompetenz und Artikulationskultur ins Auge gefasst. beg Für alle Beteiligten ist im begrenzten Beschwerdeverständnis auch ein begrenztes Feedback vorgesehen, sodass die Beteiligten keine verlässliche Sicherheit hinsichtlich ihrer Informationslage haben, erw Hingegen wird die Erweiterung auf ein regelmäßiges und systematisches Feedback zum Umgang mit Beschwerde achten. Rückmeldungen sind also erwartbar und verlässlich für alle Beteiligten. beg Entsprechend ist der Umgang mit Informationen zur Transparenz des Verfahrens eher auf zufällige Äußerungen beschränkt, erw während ein erweitertes Beschwerdeverständnis auf eine systematische Transparenz des Verfahrens achtet. So viel zu diesem Entwurf. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit und übergebe das Wort an Heinz Müller.

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