Bernhard von Mutius: Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft

Bernhard von Mutius: Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ich darf mich zunächst für die Einlad...
Author: Krista Färber
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Bernhard von Mutius: Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ich darf mich zunächst für die Einladung herzlich bedanken. Ich freue mich, wieder in Wien zu sein und ich schätze es sehr, daß Ihre Wahl des Veranstaltungsortes auf das Naturhistorische Museum fiel. Denn es hat schon etwas Beruhigendes, im Angesicht der Geschichte der Natur und ihrer Metamorphosen über die Zukunft und über die » Verwandlung der Welt« zu sprechen. Und es hat zugleich auch etwas Relativierendes. Es traf sich deshalb gut, daß ich unlängst wieder auf eine kleine Schrift von Alfred Polgar aus dem Jahre 1923 gestoßen bin, in der das Naturhistorische Museum eine besondere Würdigung erfuhr. Vielleicht werden einige von Ihnen die entsprechende Passage kennen. Sie lautet wie folgt: »Kürzlich war in der Zeitung zu lesen, daß, mangels Geldes, im Wiener Naturhistorischen Museum die Präparate verfallen und die Motten den Orang-Utan kahl fressen. Sehr unnett von den Kerbtieren, die doch ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl zum Naturhistorischen Museum haben müssten. Aber hat es nicht sein Schönes und Ergreifendes, daß in das Fell des ausgestopften Affen sich die hungrigen Motten setzen? Daß das Leben die Wissenschaft frißt? Daß die Natur die Naturgeschichte verspeist?« Nun, diese arge Zeit ist natürlich innerhalb und außerhalb des Museums längst vorbei. Heute fragt man sich schon eher, ob es nicht umgekehrt ist, ob die Wissenschaft nicht mehr und mehr das Leben frißt. Doch davon vielleicht später mehr.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Ich bin gebeten worden mit Ihnen über die Zukunft zu sprechen. Doch ich muß zunächst mit einem Geständnis beginnen, das sie entweder enttäuschen oder beruhigen wird: Ich kann Ihnen nicht sagen, wie die Zukunft genau aussehen wird. Und ich füge hinzu: In meinen Augen ist jeder, der das versuchen würde, ein Scharlatan oder ein Astrologe, was ja nicht selten auf das Gleiche hinaus läuft.. Exakte Zukunftsprognosen sind schon aus prinzipiellen methodischen Gründen nicht zu haben, erst recht nicht in einer Zeit wie der jetzigen, in der uns jeder Tag neu lehrt, wie unsicher der nächste werden könnte. Worüber ich also mit Ihnen nur sprechen kann, wie wir uns auf die Zukunft einstellen und gedanklich vorbereiten können. Wie wir also etwas entwickeln können, was Eckart Minx einmal »Denken auf Vorrat« genannt hat. Und dieses Denken scheint mir insbesondere nach den Ereignissen vom 11. September wichtiger denn je zu sein. »Die Verwandlung der Welt«, dieser Titel meines Vortrages und meines Buches hat in diesen Wochen eine neue Bedeutung bekommen. Die Gedanken, die mich heute bewegen -und die ich mit Ihnen teilen möchte -lauten: Was haben die jüngsten weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Entwicklungen mit uns zu tun, mit unserer Einstellung zu den Veränderungen der Gegenwart und mit unserem Denken der Zukunft? Anders ausgedrückt: Die Welt hat sich verändert. Auch unsere Weltsicht? Das ist das Thema, über das ich mit Ihnen in den nächsten 30 Minuten sprechen möchte. Und im Anschluss daran werde ich -sofern die Zeit dafür noch reicht und Ihre Aufmerksamkeit es zulässt -einige Ausschnitte aus dem Buch selbst lesen.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Wir erinnern uns noch, wie zur Jahrtausendwende aller Orten voller Optimismus auf ein 21. Jahrhundert angestoßen wurde, das uns weltweiten Wohlstand, Wissen, Wachstum und Wertsteigerungen bescheren sollte. Soviel Anfang war nie. Die verheißungsvollen Botschaften der Trendforscher, High Tech- und Börsenprofis haben wir noch im Ohr. Der Weg in die Zukunft glich einer Fahrt auf einem schnurgeraden High Way und dieser Weg schien mit Gold gepflastert. Schneller. Höher. Weiter. In den letzten Wochen klang es -oft aus dem Mund der gleichen, sogenannten Experten -ganz anders. Allenthalben wurde -in Form banger Fragen -vom Ende gesprochen: Erleben wir das Ende der Globalisierung? Das Ende einer offenen Gesellschaft? Das Ende einer grenzüberschreitenden wissensbasierten Ökonomie? Das Ende von Wachstum und Wohlstand? Nun: Vermutlich ist nichts davon wirklich zutreffend. Das was jetzt zu Ende geht -oder sagen wir vorsichtiger zu Ende gehen sollte -ist vielmehr das Ende einseitiger Weltbilder, das Ende einer Ära des einseitigen Denkens: Eine einseitigen, linearen Verständnisses von Globalisierung und Wachstum, das überzogene Erwartungen weckte und dabei große Teile der Welt -und nicht in die eigene Weltsicht passende Entwicklungen - glaubte ausklammern zu können. Zu Ende geht eine einseitige, idealistische Sicht von grenzüberscheitender Freizügigkeit der Verkehrs- und Datenströme, die vorhandene Grenzziehungen und legitime Sicherheitsbedürfnisse weitgehend ausgeblendet hatte.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Und zu Ende geht schließlich auch das Paradigma einer einseitig gedachten Shareholder Valuebzw. Wertorientierung in der Managementlehre wie in der Unternehmenspraxis, das dazu führte, daß die Energien vieler Manager nahezu ausschließlich auf das Thema materielle, quantitative Wertsteigerung gerichtet waren und die immateriellen, qualitativen Werte zum bloßen Beiwerk ihrer Strategie degradiert wurden. Die Aufmerksamkeit der Wirtschaftsakteure und der Öffentlichkeit wurde einseitig auf die Kapitalmärkte und auf die großen, börsennotierten Unternehmen gerichtet, während die eigentlich wertschöpfenden Tätigkeiten mehr und mehr aus dem Blickfeld gerieten. So haben sich ahnungslose Kleinanleger von kaum weniger ahnungslosen 28jährigen Analysten weismachen lassen, die Börse sei der einzig relevante Ort, an dem Wert geschaffen und in einem gigantischen Ausmaß gesteigert werden könnte. Doch in den letzten Monaten haben wir eben da die größte Wertvernichtung erlebt, an die wir uns je erinnern können. Und schon frisst der Hype seine eigenen Kinder. Die Fragestellung » Wie können wir die Zukunft denken?« verwandelt sich also zunächst in ein »In-Frage-Stellen« des Denkens der Vergangenheit. Ein Denken, das mit schöner Regelmäßigkeit Teile für das Ganze nahm und so viel Lebenswichtiges ausblendete. Das immer genau wußte, w s richtig war und »Anderes« nicht mehr zur Kenntnis nah. Ein Denken, das in dem schon klassisch zu nenne den Ausspruch von Margeret Thatcher seinen treffenden Ausdruck fand: »There is no alternative«, abgekürzt heißt das TINA.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Diesem TINA-Denken sind wir alle in irgendeiner Form schon begegnet: So und nicht anders muss geplant werden. So und nicht anders hat die Reform auszusehen. So und nicht anders sieht die Lösung aus. Dazu gibt es keine Alternative Ich bezweifele nicht, dass dieses Denkmuster in der Vergangenheit oft erfolgreich war. Vor allem in klar begrenzten und strukturierten Räumen, bei präzis vorgegebenen Abläufen, also insbesondere in technischen Systemen. Doch in den dynamischer und komplexer werdenden sozialen System- zusammenhängen und in einer enger zusammenrückenden Welt ist es zum Scheitern verurteilt- Es vermag die vielfältigen Überlagerungen, Umbrüche und Widersprüche, das Changieren und mögliche Umschlagen von Bewegungen nicht zu erfassen. Was aber wäre die Alternative? Wie könnte ein Denken aussehen könnte, das uns in die Lage versetzt, besser mit der Vielfalt dieser komplexen Welt umzugehen? Wie können wir die Zukunft so denken, dass unser Wahrnehmungshorizont und unsere Gestaltungsräume erweitert werden? Salopp gesprochen: wie kommen wir zu »More Options, Novel Alternatives« -also von TI NA zu MONA ? Meine Antwort ist zunächst ganz einfach und lässt sich in drei Worten zusammenfassen: »Das Andere denken«. Das heißt: Nicht mehr in Entweder/Oder-Kategorien verharren, sondern eine grenzüberschreitende Sicht entwickeln und diese ganz bewußt als Denkform ausbilden.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Also nicht nur die eine Seite, sondern auch die andere ihr möglicherweise widersprechende -wahrnehmen. Nicht nur die Spielregeln des eigenen Gebiets beherrschen, sondern auch die Sprachspiele jenseits der Grenzen zur Kenntnis nehmen. Nicht nur einen oder zwei mögliche Wege gedanklich verfolgen, sondern eine Vielzahl von Möglichkeiten sondieren. Für dieses Vorgehen hat Heinz von Foerster, der große kalifornische Physiker, Kybernetiker und Philosoph Wiener Ursprungs einmal eine Maxime, den sogenannten »kybernethischen Imperativ« formuliert. Das klingt kompliziert, ist aber leicht zu verstehen: "Ac t always so, as to increase the number of options!" »Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten wächst!« Das scheint mir für Individuen ebenso wie für Organisationen eine existenziell wichtige Maxime. Insbesondere in der jetzt angebrochene Periode der Unsicherheit. Die Zahl der Wahlmöglichkeiten zu erhöhen, das ist nun keineswegs nur eine rein rechnerisch zu lösende Aufgabe. Sie erfordert vielmehr soziale Kreativität, d.h. die Bereitschaft in Kooperation mit anderen neue Lösungen zu entwickeln. Dazu gibt es eine schöne Geschichte, die auch von Heinz von Foerster erzählt wird: Ein arabischer Weiser ritt einmal auf seinem Kamel durch die Wüste. Unterwegs sah er eine Gruppe von drei jungen Männern, die heftig gestikulierend miteinander stritten und insgesamt einen sehr niedergeschlagenen und traurigen Eindruck machten. Hinter den jungen Männer erblickte er eine kleine Herde von Kamelen.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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»Was ist geschehen«, fragte der Weise. Er bekam zur Antwort: »Unser Vater ist gestorben und hat uns diese 17 Kamele vermacht.« Darauf der Weise: »Das tut mir leid für Euch. Aber seid doch wenigstens fröhlich über das großzügige Geschenk Eures Vaters. Was bedrückt Euch denn noch?« »Es ist so«, fuhr der Älteste fort, »sein letzter Wille war, dass wir die Kamele nach einem bestimmten Schlüssel aufteilen sollen: Die Hälfte für mich. Ein Drittel für meinen jüngeren Bruder. Und ein Neuntel für den Jüngsten. Wir haben es versucht, aber es geht einfach nicht.« Der Weise dachte kurz nach und sagte: »Nun, dann nehmt doch einfach für einen Moment mein Kamel, und lasst uns sehen, was passiert.« Von den jetzt 18 Kamelen bekam der Älteste die Hälfte, also neun. Der mittlere ein Drittel, also sechs, der jüngste ein Neuntel, also zwei. Und es blieb ein Kamel übrig. Es war das Kamel des Weisen. Dieser stieg auf, verabschiedete sich lachend von den Brüdern und ritt weiter seines Weges. Mit Hilfe des »Anderen Denkens« und mit Unterstützung Anderer mehr Wahlmöglichkeiten zu erzeugen, ist übrigens weit mehr als eine allgemeine Maxime der Vernunft. Ich sehe darin ein konkretes und sehr praktisches Orientierungsmuster für die strategische Zukunftsausrichtung von Unternehmen, Organisationen und Institutionen. Wir brauchen es zum Beispiel bei der Erarbeitung alternativer Szenarien für die strategische Planung. Und wir brauchen es für die Entwicklung von Innovationen auf sämtlichen Wachstumsfeldern der Zukunft.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Ganz gleich ob wir über die Entwicklung der Telekommunikation sprechen oder über die »next generation of computing«, über Mikrosysteme, Biotechnologien oder die sogenannten »Life sciences«. Über I geht es im Kern darum, Verschiedenes oder bislang Getrenntes zu kombinieren und dabei grenzüberschreitend mit anderen zu kooperieren. Um auf diese Weise neue, für alle Seiten tragfähige und akzeptierte Lösungen zu entwickeln. Und ganz sicher bräuchten wir dieses Vorgehen auch und gerade auf dem politischen Feld -nicht nur im arabischen Raum. Eigentlich war die Erneuerung unseres Denkens schon lange ein Thema dieser Zeit. »Die Atomkraft hat alles verändert, nur nicht unser Denken«, hat Albert Einstein bereits im 20. Jahrhundert formuliert. Jetzt im 21. Jahrhundert, angesichts neuer, aber ebenso furchtbarer wie unanschaulicher Zerstörungskräfte, hat dieses Wort eine neue Aktualität bekommen. Jetzt werden wir darauf gestoßen, daß es nicht genügt, Datenautobahnen anzulegen, Information auf Information zu schichten und weiter Wissensberge anzuhäufen, sofern es uns nicht gelingt, die Zusammenhänge der Entwicklungen auf unserem Globus wenigsten ansatzweise geistig zu erfassen Die Auseinandersetzung mit dem Denken ist aber noch aus einem anderem, tieferliegenden Grund ein Thema dieser Zeit. Wir sprechen allenthalben über einen grundlegenden, epochalen Wandel, den unsere Gesellschaft durchläuft -von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft. Es ist das Spezifikum dieses Epochenwechsels -auf den ich nachher bei der Lesung noch genauer eingehen werde -, die intellektuellen, schöpferischen, kreativen Fähigkeiten des Menschen in neuer Weise zu fordern. Der Mensch selbst mit seinen geistigen Kräften ist die eigentliche Triebkraft dieser Umwälzung.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Der Mensch selbst rückt ins Zentrum der informations- und wissensbasierten Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Denn die Ressourcen Information und Wissen sind ausschließlich menschliche Erzeugnisse. Der Mensch greift also, wie es Meinhard Miegel formulierte, »nicht in seine Umwelt ein, sondern in sich selbst. In gewisser Weise wird er damit zur Ackerscholle, zum Kohleflöz oder zur Ölquelle. Er ist selbst der Rohstoff, der wertschöpfend verarbeitet wird.« Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel der angebochenen Epoche. Es ist die Schöpferkraft des homo sapiens, die jetzt in besonderer Weise gefragt ist. Doch was wir bislang gleichwohl allenthalben erleben, scheint dieser Herausforderung -um es vorsichtig auszudrücken -nicht zu entsprechen. Überall spricht man von intelligenten Technologien, von immateriellen Prozessen, von intangible Assets oder vom Intellectual Capital. Ein Großteil unserer gesellschaftlichen Elite -die sich auch gern als »Info-Elite« titulieren läßt -ist jedoch vollauf mit materiellen Themen beschäftigt, mit dem Erwerb anfassbarer Objekte, mit dem Kult stofflicher Produkte, mit der Sicherung handfester Vorteile sowie mit ihrer physischen Regeneration, der Kultivierung ihres Körpers und der Pflege ihrer Muskelkräfte. Wenn in einer Stadt wie Berlin zu einem Laufwettbewerb über 42 km aufgerufen wird, bei dem es darum geht, wer am besten ausdauernd rennen kann, kommen 40.000 Teilnehmer zusammen, applaudiert von der überregionalen Presse. Wo aber sind die großen Wettbewerbe im ausdauernden Denken? Wo die Studios zum Training nachhaltiger geistiger Fitness? Wo die Schulen und Universitäten, in denen die Bewegungsformen des Denkens gelehrt und gelernt werden?

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Und selbst wenn auf derartig verrückte Ideen kommen würde und sie gar realisieren wollte -mit welcher medialer Unterstützung könnte er wohl rechnen? Deshalb denke ich auch -und damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück -, daß die Ereignisse, die zum 11. September geführt haben, letztlich als ein Versagen der Intelligenz interpretiert werden müssen. Und dies zumindest in zweifacher Bedeutung: Zum einen ist damit das Versagen jener »Intelligence« gemeint, die vor allem in den USA jetzt wieder in Verbindung mit »Agency« oder »support« in aller Munde ist. Und von der man mit Blick auf ihre Leistungen in den letzten Jahren nur sagen kann: Viel High Tec, aber low intellectual performance. Zum anderen ist damit die Intelligenz derer angesprochen, die -in welcher Funktion auch immer über Strategien der Globalisierung und ihre möglichen Folgen nachgedacht haben. Offensichtlich ist, daß ihre Strategien riesige Bevölkerungsgruppen auf diesem Globus nicht berücksichtigt haben und daß Millionen Menschen von ihren Segnungen nicht erreicht wurden. Und damit wird nicht nur »das Andere Denken«, sondern das Denken überhaupt zum Thema der strategischen Zukunftsausrichtung. Die Frage heißt: Wie und wofür nutzen wir eigentlich die Ressourcen der unendlichen Neuronenverbindungen unseres eigenen Kopfes? Schenken wir den geistigen Kräften, den intellektuellen und emotionalen Beziehungen, den oft abstrakt erscheinenden immateriellen Bewegungen und Werten mehr Aufmerksamkeit als bisher?

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

S. 11

Oder kleben wir weiterhin an den Dingen, halten uns fest an den physischen Objekten und materiellen Produkten? Wir sollten uns fragen: Nehmen wir die Stimmungsberichte über die Sorgen und Ängste der Menschen genau so ernst wie unsere Quartalsberichte? Vermögen wir qualitative Faktoren eben so gut einzuschätzen wie quantitative Größen? Erfassen wir bei der Planung unserer Operationen die »geistigen Kräften und Wirkungen«, wie es Carl v. Clausewitz in seiner Schrift »Vom Kriege« bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderte? Oder richten wir weiterhin »unsere Grundsätze und Systeme nur auf materielle Dinge und einseitige Tätigkeiten aus«, wie es Clausewitz schon damals kritisierte? Alle diese Fragen zwingen uns, neu über Führung nachzudenken. Meine feste Überzeugung ist: Sowohl politische Führer als auch Manager werden künftig daran gemessen, ob sie in der Lage sind, geistig zu führen, d.h. mit Weitsicht, mit Werten und durch Werte. Führung -oder Leadership, wie es auf neudeutsch heißt - hat heute mehr denn je etwas mit Balance zu tun. Mit der Balance von materiellen und immateriellen Werten -und zwar sowohl in der Haltung der Führenden als auch in der Ausrichtung der Organisation. Ghandi hat einmal von sieben sozialen Todsünden gesprochen, die die Welt bedrohen: »Dem Wissen fehlt Charakter. Der Wissenschaft fehlt Menschlichkeit. Dem Wohlstand fehlt Arbeit. Dem Geschäft fehlt Moral. Der Politik fehlen Prinzipien. Dem Vergnügen fehlt Gewissen Der Verehrung fehlt Selbstaufopferung.«

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Zumindest die ersten fünf scheinen mir mehr denn je aktuell zu sein und wir tun gut daran, uns über das Fehlende Gedanken zu machen. Die Menschen wollen geführt werden und sie suchen gerade jetzt nach Führung. Aber sie wollen keine auswechselbare Typen, die sich bloß durch die anzeigenüblichen Führungsmerkmale wie Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit hervortun, sondern eigenständige Persönlichkeiten, die sich darüber hinaus durch Integrität, Beständigkeit und Charakter auszeichnen. Sie suchen nicht nur nach Orientierung im Wettbewerb, sondern auch nach Sinn und Zusammenhalt in der Organisation und in ihren sozialen Beziehungen. Organisationen, in denen nur mit Zahlen und nicht auch mit Werten geführt wird, in denen ausschließlich über Erträge gesprochen wird und soziale Verantwortung ein Fremdwort ist, sind sinnentleerte Organisationen. Und sinnentleerte Organisationen bieten keinen Halt. Sie werden deshalb über kurz oder lang das Kapital verlieren, das in Zukunft immer wichtiger wird: das Vertrauenskapital. Wertschöpfung wird künftig mehr und mehr auf Wertschätzung beruhen, davon bin ich überzeugt. Wir brauchen ein neues wertebalancierte Führungsverständnis- zur Sicherung der Lebensfähigkeit und zur Aufrechterhaltung von Stabilität. Wir leben in einer schwierigen Zeit mit ernsten Problemen. Aber wir haben die Fähigkeit, diese Probleme kreativ und verantwortlich zu meistern.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Wert und Werte, Innovation und Kooperation, ökonomisches Wachstum und soziale Verantwortung in Beziehung setzen, zusammendenken und zusammenführen. Darauf kommt es an. Rosabeth Moss Kanter, die renommierte, an der Harvard Business School lehrende Ökonomieprofessorin hat hierfür in ihrem Buch »Weltklasse« eine sehr schöne Metapher entwickelt. Sie empfiehlt allen Wirtschaftsführern, angesichts der Herausforderungen der Globalisierung neu über ihr Selbstverständnis nachdenken. Sie sollten »die Bezeichnung auf ihren Visitenkarten ändern, so dass diese über ihre wichtigste Aufgabe Aufschluss geben: Zerstörer von Mauern -Erbauer von Brücken.« Über diese Erweiterung des Schumpeter'schen Bildes vom schöpferischen Unternehmer lohnt es sich, eine Weile nachzudenken. Brückenbauer ist der, der nicht nur das Andere denkt, sondern auch entsprechend mit anderen konstruktiv handelt. Der in Beziehungen zum Anderen denkt und diesen Beziehungen eine konkrete Gestalt gibt. Daran zu arbeiten -ob mit oder ohne Visitenkarte -ist unsere Aufgabe. Und damit schließt sich der Kreis meiner Argumentation, die ja auch auf das Buch hinleiten sollte, das ich gleich in einigen Auszügen vorstellen möchte. Wenn es so etwas, wie einen roten Faden dieses Buches gibt -und den gibt es tatsächlich in Form eines Roten Stoff-Fadens und einer rot markierten Navigationshilfe im beiliegenden Faltblatt - dann ist es der: Wir müssen vom linearen Fortschrittsdenken und von einer, wie auch immer gearteten Zentralperspektive Abschied nehmen, wenn wir die vielschichtigen Veränderungspozesse dieser Zeit verstehen und die Zukunft verständig gestalten wollen. Ohne diesen Schritt - der nebenbei bemerkt in der Kunst des 20. Jahrhunderts schon längst vollzogen wurde -bleibt unser Wahrnehmungs- und unser Vorstellungsvermögen hinter den Erfordernissen der Zeit zurück. Abschied vom linearen Fortschrittsdenken und Aufgabe der Zentralperspektive -wie kann das gelingen?

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

S. 14

Sind wir nicht gewohnt, beim Schreiben und Lesen von Büchern linear vorzugehen, von Anfang an eine bestimmte Perspektive einzunehmen, eine Zentralthese zu entfalten, die unsere -positive oder negative -Wertung der Entwicklung auf Anhieb zum Ausdruck bringt? Bei der Form, die ich gefunden habe, ging es mir darum, das Changieren der Entwicklung kenntlich zu machen, die Entwicklungen selbst als Möglichkeitsräume sichtbar zu machen, die wir selbst gestalten konnten. Es sollten zunächst verschiedene mögliche Sichtweisen unterschiedlicher an der Entwicklung beteiligter Akteure dargestellt werden. Es galt, das jeweils gleiche Thema von unterschiedlichen Standpunkten aus auf verschiedenen Ebenen zu beleuchten : Deshalb gibt es im Buch die Ebene der Beobachtungen, der Hoffnungen, der Herausforderungen und der Befürchtungen. Das Ganze gleicht einer Art Landkarte, einer Panoramakarte der Verwandlungen. Wir können die Ebenen der Umbruchslandschaft in mehreren Gängen durchqueren und damit die Möglichkeitsräume aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Es gibt sechs Gänge, jeweils in verschiedenen Kapiteln unterteilt.

Die Verwandlung der Welt Ein Dialog mit der Zukunft (Bernhard MUTIUS)

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Mein Idee war dass der Leser auf diese Weise selbst seinen eigenen Weg finden und seine eigene Perspektive entwickeln kann. Alle Kapitel sind untereinander nicht nur vertikal, sondern auch horizontal vernetzt, so dass sich die Zusammenhänge beim Lesen immer mehr erschließen. D. h. es gibt doch eine Perspektive, die ich jenseits der Zentralperspektive den Lesern und Zuhörern vermitteln möchte: ---Lernen, in Zusammenhängen und Beziehungen zu denken, zusammen denken, was bislang oft noch in getrennten Schubladen voneinander hermetisch abgeschotteter Zustandsbereiche verriegelt ist. Wir sollten uns bemühen, bislang Getrenntes und voneinander Abgeschiedenes zusammenzuführen. Das geht nur, wenn wir die Denkansätze von Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern, der techno-ökonomischen und der literarisch-kulturellen Intelligenz achtsam zusammenführen. Vielleicht ist dieser geistige Brückenbau eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben des Anderen Denkens.