Beratung von Erwachsenen mit ADHS in der Sozialen Arbeit

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Beratung von Erwachsenen mit ADHS in der Sozialen Arbeit

Beratung von Erwachsenen mit ADHS in der Sozialen Arbeit Anforderungen an das professionelle Handeln von Fachkräften

Bachelorarbeit von:

Patricia Walser Hanfländerweg 18 8880 Walenstadt WS 15

An der:

FHS St.Gallen Hochschule für Angewandte Wissenschaft Studienrichtung Sozialarbeit

Begleitet von:

Flurina Meisen Dozentin Fachbereich Soziale Arbeit

Für den vorliegenden Inhalt ist ausschliesslich die Autorin verantwortlich.

Walenstadt, 5. Oktober 2015

1

Inhaltsverzeichnis Abstract

4

Einleitung

8

1

Diagnose ADHS bei Erwachsenen 1.1

Begriffsklärung

10

1.2

Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ADHS bei Erwachsenen

11

1.2.1

Geschichtlicher Verlauf

11

1.2.2

Diagnostik

11

1.2.3

Symptome des ADHS bei Erwachsenen

12

1.2.4

Ursachen von ADHS

14

1.2.5

Medizinische Behandlung

15

1.3

Ressourcen von Erwachsenen mit ADHS

1.3.1

2

Kreativität bei Menschen mit ADHS

Erwachsene mit ADHS und die Beratung der Sozialen Arbeit 2.1

Soziale Folgen für Erwachsene mit ADHS

16 17

20 20

2.1.1

Bereich Partnerschaft und Familie

20

2.1.2

Bereich Schule und Arbeit

21

2.1.3

Sucht

22

2.2

3

10

Beratung in der Sozialen Arbeit

Integrität und Anerkennung von Erwachsenen mit ADHS 3.1

Integrität von Erwachsenen mit ADHS

22

26 26

3.1.1

Ethisch-existenzielle Dimension der Integrität

27

3.1.2

Die moralische Dimension der Integrität

28

3.1.3

Die psychologische Dimension der Integrität

30

3.1.4

Die sozialphilosophische Dimension

31

3.2

Anerkennung nach Honneth

3.2.1 3.3

Soziale Wertschätzung

Formen der Missachtung

33 34 36 2

3.3.1

Erniedrigung

36

3.3.2

Beleidigung- Entwürdigung

37

3.4

4

5

Anerkennung über soziale Beziehungen

Handlungsmodell für die Soziale Arbeit

38

40

4.1

Der autoritativ – partizipative Erziehungsstil bei Kinder mit ADHS

40

4.2

Handlungsmodell der Passung in der Sozialen Arbeit

41

4.2.1

Anleitung im professionellen Handeln der Sozialen Arbeit

41

4.2.2

Anregung durch Ressourcenorientierung

43

4.2.3

Ausdruck der ressourcenorientierten Haltung

45

Professionelle Beziehung aus der Sicht von Nähe und Distanz 5.1

Distanz in professionellen Beziehungen

47 48

5.1.1

Distanz durch Institutionalisierung

48

5.1.2

Distanz durch Aufgabenorientierung

48

5.1.3

Distanz durch Rollenverhalten

49

5.2

Persönliche Nähe in professionellen Beziehungen

50

5.2.1

Persönliche Nähe durch Einbringen der eigenen Person

51

5.2.2

Persönliche Nähe durch die ressourcenorientierte Haltung

52

5.2.3

Persönliche Nähe durch Personenorientierung

52

5.2.4

Persönliche Nähe im Setting der freiwilligen Beratung

53

Zusammenfassung

56

Schlussfolgerung

58

Literaturverzeichnis

63

Quellenverzeichnis

65

Abbildungsverzeichnis

66

Schlussblatt

67

3

Abstract Titel: Beratung von Erwachsenen mit ADHS in der Sozialen Arbeit Kurzzusammenfassung: Die Arbeit beschreibt Erwachsene mit ADHS im Umfeld der freiwilligen Beratung der Sozialen Arbeit und die Anforderung an das professionelle Handeln von Fachkräften ausgehend von der Wahrung der Integrität von Erwachsenen mit ADHS.

Autor(en):

Patricia Walser

Referent/-in:

Flurina Meisen

Publikationsformat:

BATH MATH Semesterarbeit Forschungsbericht Anderes

Veröffentlichung (Jahr):

2015

Sprache:

Deutsch

Zitation:

Walser, Patricia. (2015). Beratung von Erwachsenen mit ADHS in der Sozialen Arbeit. Unveröffentlichte Bachelorarbeit, FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit

Schlagwörter (Tags):

Erwachsene, ADHS, Soziale Arbeit, Beratung, Integrität

Ausgangslage Die jüngere Auseinandersetzung in der Wissenschaft mit dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zeigt auf, dass dieses vom Kind und Jugendlichen bis zum Erwachsenen bestehen bleibt, sich jedoch in seiner Erscheinung verändert. Das ADHS wird 4

durch Verhaltensmerkmale gekennzeichnet, die durch biologische und psychosoziale Umwelteinflüsse individuelle Ausprägungen aufweisen. (vgl. Retz, Scherk & Rösler 2009, Wender 2002) Die Verhaltensmerkmale bei Erwachsenen zeigen sich vor allem in sozialen Interaktionen und im beruflichen Werdegang. Mehrere Studien und Untersuchungen haben aufgezeigt, dass Erwachsene mit ADHS mit Schwierigkeiten in den Lebensbereichen Sucht, Familie, Partnerschaft, Schule und Arbeit konfrontiert sind und ein höheres Risiko erfahren, daraus resultierende soziale Folgen zu erleben. (vgl. Rösler, Retz, von Gontard, Paulus 2014) Das freiwillige Beratungssetting der Sozialen Arbeit hat sich in diesen Lebensbereichen etabliert, in denen Erwachsene mit ADHS soziale Folgen erleben. Ziel Aus dem Berufscodex der Sozialen Arbeit wird von Fachkräften gefordert, die Integrität ihrer Klientel zu wahren. Ableitend aus diesem Grundsatz, stellen sich die Fragen, wie drückt sich Integrität bei Erwachsenen mit ADHS aus und wie kann diese von Fachkräften gewahrt werden und welchen Einfluss hat dies auf das professionelle Handeln der Fachkräfte. Daraus wird die zentrale Fragestellung abgeleitet: welche Anforderungen an das professionelle Handeln stellen sich Fachkräften im freiwilligen Beratungssetting der Sozialen Arbeit in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS? Vorgehen Im ersten Kapitel wird ein Bild von ADHS bei Erwachsenen vermittelt und auf folgende Fragen eingegangen: was ist ADHS und wie zeigt es sich bei Erwachsenen? Was sind die Ursachen von ADHS? Wie ist ADHS behandelbar? Welche Faktoren beeinflussen die Verhaltensmerkmale? Können sich aus der Diagnose Ressourcen ableiten und über welche Ressourcen verfügen Erwachsen mit ADHS? Im zweiten Kapitel wird auf die Auswirkungen der Verhaltensmerkmale eingegangen und dabei den folgenden Fragen nachgegangen: welche sozialen Folgen können Erwachsene mit ADHS erleben? Welche möglichen Schnittstellen mit dem Setting der freiwilligen Beratung in der Sozialen Arbeit gibt es für Erwachsene mit ADHS? Was ist unter der freiwilligen Beratung in der Sozialen Arbeit zu verstehen? Im dritten Kapitel wird die Integrität bei Erwachsenen mit ADHS dargelegt und dabei den folgenden Fragen nachgegangen: inwiefern Erwachsene mit ADHS Integrität erlangen? Welchen Einfluss hat das soziale Umfeld auf ihre Integrität und was kann dieses zur Wahrung der Integrität von Erwachsenen mit ADHS beitragen?

5

Im vierten Kapitel werden die Ergebnisse aus dem vorgängigen Kapitel aufgenommen und die Fragestellung diskutiert: welchen Beitrag können Fachkräfte in der Sozialen Arbeit in ihrem professionellen Handeln leisten, damit die Integrität von Erwachsenen mit ADHS gewahrt bleibt und welche Anforderungen stellen sich dabei an die Fachkräfte? Im fünften Kapitel wird die Beziehungsarbeit im Zusammenhang mit dem freiwilligen Beratungssetting genauer betrachtet und dabei wird den Fragen nachgegangen, welche Einflüsse in einer Beratung Distanz und welche Nähe in der Arbeitsbeziehung schaffen und wie viel Nähe oder Distanz ist in der professionellen Beziehungsgestaltung mit Erwachsenen mit ADHS in diesem Setting notwendig. Welche Anforderungen an die Fachkräfte stellen sich in der Beziehungsarbeit mit Erwachsenen mit ADHS? Erkenntnisse In der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS werden hohe Anforderungen an die Kompetenzen der Fachkräfte und damit auch an deren Person gestellt. Diese Anforderungen unterscheiden sich nicht von denjenigen, die im professionellen Handeln in Bezug auf die Haltung der Fachkraft allgemein in der Sozialen Arbeit gestellt werden. Jedoch wird deren Bedeutung gerade in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS und der Wahrung ihrer Integrität hervorgehoben. Anforderungen an die professionelle Haltung der Fachkraft Die wertschätzende und anerkennende Haltung der Fachkraft gegenüber der individuellen Fähigkeiten und Leistungen von Erwachsenen mit ADHS erhält eine starke Gewichtung. Wobei die Anerkennung und Wertschätzung durch eine ressourcenorientierte Arbeitsweise vermittelt und in einem konsequenten Reframing angewendet werden. Weitere ressourcenorientierte Methoden sind in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS in Betracht zu ziehen, wie z.B. der systemisch – lösungsorientierte Ansatz in der Beratung. Ebenfalls erhält die empathische Haltung der Fachkraft gegenüber dem Erwachsenen mit ADHS durch die Anforderungen an die Beziehungsgestaltung der Fachkraft einen besonderen Stellenwert. Anforderungen in der Beziehungsgestaltung Von der Fachkraft wird eine Beziehungsgestaltung gefordert, die eine grosse Bereitschaft, sich auf den Erwachsenen mit ADHS auf einer gleichwertigen Ebene einzulassen, voraussetzt. Ebenso wird dafür von der Fachkraft persönliche Nähe in der Arbeitsbeziehung, Empathie und eine grosse Authentizität gegenüber Erwachsenen mit ADHS gefordert.

6

Anforderungen an die Persönlichkeit der Fachkraft Die erwähnten Anforderungen bedingen von der Fachkraft eine stark gefestigte und reflektierte Persönlichkeit oder eine grosse Bereitschaft sich mit der eigenen Person auseinanderzusetzen. Aus diesen hohen Anforderungen an die Persönlichkeit der Fachkraft wird weiterführend auf Methoden verwiesen, die die Fachkraft unterstützen eine professionelle Haltung zu entwickeln, um einer Überforderung der Fachkraft vorbeugen zu können, wie z.B. Intervisionen, Supervisionen, Psychohygiene. Daraus kann die These abgeleitet werden, dass die Tätigkeit als SozialarbeiterIn eine bewusste Persönlichkeitsentwicklung der Fachkraft ermöglicht und fördert. Anforderung der Auseinandersetzung mit der medizinischen Diagnose ADHS Eine Auseinandersetzung mit der Diagnose ADHS ist für die Fachkraft hilfreich, um daraus Nutzen für eine ressourcenorientierte Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS zu ziehen und um eine erweiterte Sichtweise im professionellen Handeln zu erlangen. Sensibilisierungsarbeit des sozialen Umfeldes von Erwachsenen mit ADHS Durch das professionelle Handeln der Fachkräfte der Sozialen Arbeit und dem Einbezug der Mitglieder des sozialen Umfeldes von Erwachsenen mit ADHS kann das Umfeld von Erwachsenen mit ADHS für deren Beitrag der individuellen Leistungen und Fähigkeiten an die soziale Gemeinschaft sensibilisiert werden. Wodurch individuelle Aushandlungsprozesse ermöglicht werden und Erwachsene mit ADHS sich als gleichwertige Interaktionspartner erleben können.

Literaturquellen (Auswahl): Ohlheimer, Martin. D. & Roy, Mandy (Hrsg.).(2012). ADHS bei Erwachsenen - ein Leben in Extremen. Stuttgart: Kohlhammer. Pollmann, Arnd. (2005). Integrität, Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie. Bielefeld: transcript Verlag. Heiner, Maja. (2010). Soziale Arbeit als Beruf (2.Aufl.). München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag. Honneth, Axel. (2014). Kampf um Anerkennung (8.Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 7

Einleitung Das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom ist als eine Kinder- und Jugendkrankheit schon seit Jahrzehnten bekannt und in der Sozialpädagogik ist die Auseinandersetzung mit ADHS und Erziehung von Kindern ein etabliertes Thema. In der Sozialarbeit hingegen ist das Thema im Zusammenhang mit Erwachsenen erst ein jüngeres Phänomen, weil die medizinische Wissenschaft in Europa erst vor einigen Jahren begann, sich mit ADHS bei Erwachsenen auseinanderzusetzen. Viele der Betroffenen erleben aufgrund ihrer Verhaltensmerkmale nachteilige soziale Folgen. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind über den Berufscodex verpflichtet, in ihrem professionellen Handeln stets die Integrität ihrer Klientel zu wahren. Dabei stellt sich die Frage, was ist im professionellen Handeln von Fachkräften zur Wahrung der Integrität von Erwachsenen mit ADHS besonders zu beachten und daraus ableitend, welche Anforderungen sich dadurch an die Fachkräfte stellen. Um diese Fragen zu beantworten wird im ersten Kapitel aufgezeigt, was unter ADHS bei Erwachsenen verstanden wird und ferner auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung dieser Thematik aufmerksam gemacht. Um ein vielseitiges Verständnis für ADHS bei Erwachsenen zu vermitteln, wird weiter auf den geschichtlichen Verlauf eingegangen. Ebenfalls werden die Symptome, welche Merkmale im Verhalten aufzeigen, genauer umschrieben, damit ein Bild davon vermittelt werden kann, was ADHS bei Erwachsenen darstellt. Im Weiteren wird auf die Ursachen eingegangen und dabei speziell auf den Einfluss des psychosozialen Umfeldes aufmerksam gemacht, weil dieser für die Soziale Arbeit einen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Diagnose liefert. So kann in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS die Fachkraft als deren Interaktionspartner wirken und damit als einen Teil ihres sozialen Umfeldes auf sie Einfluss nehmen. Dabei werden Erkenntnisse und Ressourcen aus der medizinischen Diagnose und ebenso wie aus der Behandlung von Erwachsenen mit ADHS aufgezeigt, welche für die Soziale Arbeit nutzbar und im Verlauf der Arbeit immer wieder aufgenommen werden. Im zweiten Kapitel werden die Auswirkungen der Verhaltensmerkmale als soziale Folgen in jenen Lebensbereichen aufgezeigt, in denen Beratungssettings der Sozialen Arbeit etabliert sind. Damit wird eine Verbindung zwischen Erwachsenen mit ADHS und der Sozialen Arbeit geschaffen. Gleichzeitig wird in diesem Kapitel das Arbeitsfeld auf das Setting der freiwilligen Beratung der Sozialen Arbeit eingegrenzt und dabei kurz Charakteristika der Beratung dargelegt, um aufzuzeigen, was unter einer freiwilligen Beratung verstanden wird. Aspekte davon werden im fünften Kapitel wieder aufgenommen und genutzt.

8

Im dritten Kapitel wird die Integrität von Erwachsenen mit ADHS anhand des Integritätskonzepts von Arnd Pollmann betrachtet. Dieses Konzept eignet sich dafür sehr gut, weil es die Integrität differenziert aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und dadurch den Begriff Integrität fassbar macht. Dabei wird die zentrale Rolle der Anerkennung durch das soziale Umfeld, über die Abhandlung der sozialen Wertschätzung von Axel Honneth herausgearbeitet. Dabei wird einen Zusammenhang zwischen der Integrität von Erwachsenen mit ADHS und ihrem sozialen Umfeld aufgezeigt. Dieses Kapitel stellt mit der Anerkennung durch das soziale Umfeld und deren Zusammenhang mit der Integrität von Erwachsenen mit ADHS der Kern dieser Arbeit dar. Darauf basiert schliesslich die Auseinandersetzung mit dem Handlungsmodell der Passung aus der Sozialen Arbeit nach Maja Heiner im vierten Kapitel. Darin sind die erforderlichen Ansprüche an das soziale Umfeld für ein integres Leben von Erwachsenen mit ADHS wieder zu finden. Gleichzeitig werden in diesem Handlungsmodell übertragene Erkenntnisse aus dem Umgang mit Kindern mit ADHS auf die Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS in der Sozialen Arbeit sichtbar dargelegt. Aus diesem Handlungsmodell werden Anforderungen an die Fachkraft der Sozialen Arbeit herausgearbeitet. Bereits im vierten Kapitel zeichnete sich eine Relevanz der Arbeitsbeziehung ab, welche schliesslich im fünften Kapitel im Zusammenhang mit dem freiwilligen Beratungssetting in Bezug auf Nähe und Distanz genauer betrachtet wird. Es werden an dieser Stelle Aspekte der Beratung aus dem zweiten Kapitel wieder herangezogen und Charakteristika professioneller Beziehungen aufgezeigt. Aus der Umschreibung der Elemente der Beziehungsgestaltung bezüglich Nähe und Distanz ergeben sich weitere Anforderungen an die Fachkraft. Die einzelnen Erkenntnisse aus den jeweiligen Kapiteln werden in einer kurzen Zusammenfassung nochmals aufgezeigt und daraus konkrete Schlussfolgerungen abgeleitet.

9

1 Diagnose ADHS bei Erwachsenen In diesem Kapitel wird der aktuelle Wissensstand der Medizin über ADHS bei Erwachsenen dargestellt. Dabei wird kurz auf die geschichtliche Auseinandersetzung der Wissenschaft mit ADHS bei Erwachsenen eingegangen und auf die Schwierigkeit der Diagnostik verwiesen. Danach werden die medizinischen Symptome des ADHS bei Erwachsenen kurz umschrieben, um ein Verständnis zu übermitteln, was unter einem ADHS bei Erwachsenen zu verstehen ist. Ergänzend zu den klassischen Symptomen der ADHS wird ein mangelndes Selbstwertgefühl bei Erwachsenen mit ADHS genauer erläutert, da dieses als Ausgangspunkt für die weitere Bearbeitung der Fragestellung von grosser Relevanz ist. Weiter werden die Ursachen von ADHS und dabei die neurobiologische Ausprägung des ADHS etwas genauer betrachtet, welche für die Informationsverarbeitung verantwortlich ist. Gleichzeitig werden als Ursachen die psychosozialen Einflüsse, die als Verstärker oder Dämpfer der Symptome festgehalten, die für die Soziale Arbeit relevant sind. Im Anschluss werden Ressourcen, welche Erwachsene mit ADHS aufweisen aufgezeigt und dabei speziell auf die Informationsverarbeitung von Menschen mit ADHS und deren Ressource der Entwicklung von kreativen Problemlösungsstrategien eingegangen wird.

1.1

Begriffsklärung

DSM-5:

Abkürzung für „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder“, 5. Auflage, 2013; das amerikanische Klassifikationsmodell für psychische Erkrankungen der American Psychiatric Association

ICD-10:

Abkürzung für „International Classification of Diseases and Related Health Problems“; ein weltweit anerkanntes Diagnoseklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation, 10. Auflage, 2012

ADD:

Englische Bezeichnung von ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) (Wender, 2002, S. 13)

ADHS:

AufmerksamkeitsDefizit- und HyperaktivitätsSyndrom (Retz, Scherk & Rösler, 2009, S. 3)

Adultes ADHS:

Krankheitsbezeichnung für ADHS bei Erwachsenen (vgl. Retz, Scherk & Rösler, 2009, S. 6)

10

1.2

Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ADHS bei Erwachsenen

ADHS ist die Bezeichnung einer psychischen Krankheit die sowohl im DSM-lV sowie im ICD10 enthalten ist (vgl. Retz, Scherk & Rösler, 2009, S. 3-4.). Die Krankheit kommt sehr individuell und sehr unterschiedlich zum Ausdruck (vgl. Roy, 2012, S. 36). Je nachdem welche Symptomatik vorherrscht oder erkenntlich ist, wird das ADHS in beiden Klassifikationssystemen in Subtypen unterteilt (vgl. Retz et al. 2009, S.4). Da diese Klassifikation für die vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung ist wird hier nicht näher darauf eingegangen,

1.2.1 Geschichtlicher Verlauf Retz, Scherk und Rösler (vgl. 2009, S. 3) wie auch Wender (vgl. 2002, S. 129) halten fest, dass früher davon ausgegangen sei, dass es sich bei ADHS um eine spezifische Kinder- und Jugendkrankheit handelt. Wobei Wender (vgl. ebd. S. 129) zeitlich präzisierend feststellt, dass vor mehr als 20 Jahren die allgemeine Ansicht existierte, dass die Symptome des ADHS im Jugendalter herauswachsen würden. Laut Krause (vgl. Krause, 2012, S. 16) veröffentlichte Wender 1995 in Amerika die erste Monographie über ADHS bei Erwachsenen, während im deutschsprachigen Raum erst im Jahr 1998 die ersten Publikationen erfolgten und die Auseinandersetzung an deutschen Hochschulen ab 2003 durch die Veröffentlichung der ersten deutschen Monographie begann. Wobei hier festgestellt werden muss, dass sowohl Retz et al. (vgl. 2009, S. 5) wie auch Roy (vgl. 2012, S. 36) darauf hinweisen, dass die in DSM-lV und ICD-10 festgehaltenen Diagnosekriterien für Kinder und Jugendliche anwendbar sind, jedoch nicht für Erwachsene. Retz et al. (vgl. 2009, S. 5) stellen ausdrücklich fest, dass keine Studien vorliegen, welche die Gültigkeit dieser Diagnosekriterien für Erwachsene ausweisen. Somit setzt sich die Welt der Wissenschaft, im Gegensatz zum DSM-IV und ICD-10, mit ADHS bei Erwachsenen auseinander.

1.2.2 Diagnostik Retz et al. (vgl. 2009, S. 6-7) erkennen die Symptomatik des ADHS aus den Klassifikationsmodellen als Verhaltensmerkmale, welche den entwicklungspsychopathologischen Veränderungen unterliegen. Das bedeutet, dass das ADHS in der Adoleszenz nicht auswächst, sondern die Merkmale sich in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenem verändern und gemäss Roy (vgl. 2012, S.36) ADHS bei Erwachsenen einen Einfluss auf andere Lebensbereiche haben als bei Kindern. Wender (2002) erkannte dies schon früh und entwickelte gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern basierend auf Studien und Forschungen einen Kriterienkatalog, die sogenannten UtahKriterien, für das adulte ADHS. Er hält ferner ausdrücklich fest, dass die Symptome von ADHS nicht erst im Erwachsenenalter auftreten, sondern schon im Kindesalter. (vgl. S. 12811

132) Somit muss einer erwachsenen Person für die Diagnose des adulten ADHS ebenfalls auch Symptome des ADHS im Kindesalter nachgewiesen werden. Jedoch muss nicht zwingend eine ADHS Diagnose im Kindesalter erfolgt sein. Dies wird durch Wenders Ausführungen deutlich, in welcher er sich bei Erwachsenen Zugang zu deren Verhalten in der Kindheit verschafft, um eine kindliche ADHS zu diagnostizieren (vgl. S. 132). So ist davon auszugehen, dass Erwachsene mit der Diagnose des ADHS konfrontiert werden können, ohne dass ihnen jemals ein ADHS in der Kindheit diagnostiziert wurde. Über die Schwierigkeit der Diagnostik äussern sich Retz et al. (2009) einerseits dadurch, dass Betroffene mit ADHS die Symptome oft als Eigenschaften ihrer Persönlichkeit betrachten und nicht als Krankheitssymptome sehen und sie diese deshalb bei einer Anamnese nicht erwähnen. Ebenfalls stellt sich die Schwierigkeit, da ADHS sich im alltäglichen Umfeld zeigt und in der Konsultation nur die direkt sichtbaren und stark ausgeprägten Symptome wie etwa die Hyperaktivität oder den Konzentrationsmangel beurteilt werden können. Andererseits entwickeln Betroffene je nach dem mehr oder weniger gute Bewältigungsstrategien und gestalten ihr Leben so, dass sich die Symptome weniger stark ausdrücken und dementsprechend ADHS schwieriger zu diagnostizieren ist. Ferner können Schicksalsschläge, Traumas, Stress und Trauer ADHS ähnliche Symptome hervorrufen. (vgl. S. 13-14) Somit wirkt ein Nachweis von ADHS im Kindesalter beim Erwachsenen einer Fehldiagnose aufgrund der vorgängig erwähnten Einflussfaktoren entgegen. Durch diese Schwierigkeiten in der Diagnostik kann davon ausgegangen werden, dass Erwachsene die Symptome einer ADHS aufweisen, die Krankheit jedoch bisher nie diagnostiziert wurde.

1.2.3 Symptome des ADHS bei Erwachsenen Die Utah-Kriterien von Wender (2002) beziehen sich auf die defizitorientierten Symptome des ADHS bei Erwachsenen (vgl. 131-132). Darin wird eine Impulsivität von Erwachsenen umschrieben, gleich derjenigen von Kindern, die sich mit Schwierigkeiten der Selbstkontrolle, Schwierigkeiten im Umgang von Frustration, Neigung zu spontanem Handeln und Unterbrechen von Gesprächen ausdrücken. Im Unterschied zum Kindesalter stellt die Impulsivität für Erwachsene eine grössere Einschränkung mit teilweise ernsteren Konsequenzen dar, da die Impulsivität den Kindern einerseits allgemein von der Entwicklung her eher zugesprochen wird und von Erwachsenen dagegen eine gewisse Vernunft gefordert wird. Andererseits haben bestimmte Handlungen als Erwachsener weitreichendere und ernstere Konsequenzen wie z.B. im Tätigen von Geschäften. (vgl. S. 134-135, 212) Ebenso werden bei Erwachsenen mit ADHS die Symptome Desorganisation und ein Unvermögen, Aufgaben zu Ende zu führen, aufgeführt. Dies zeigt sich bei Erwachsenen in den Bereichen 12

Haushaltführung, Priorisierungen am Arbeitsplatz oder auch bei Aus- oder Weiterbildungen. Ihr Vorgehen wird mit planlos und sprunghaft beschrieben. (vgl. S.136.138, 211) Roy (2012) erweitert diese Sprunghaftigkeit und Planlosigkeit auch auf die Gedankengänge. Im Zusammenhang von Desorganisation erwähnt er zudem eine Reizfilterschwäche, die sich derart ausdrückt, dass Betroffene viele gleichzeitig auf sie einwirkende Reize nicht mehr priorisieren können und dadurch leicht ablenkbar sind. (vgl. S.39) Weiter erwähnt Wender (2002) eine geringe Stresstoleranz bei Erwachsenen, die sich durch gesteigerte und unangebrachte Reaktionen auf Stress ausdrückt. (vgl. S. 138-139, 212) Ebenso verweist er auf eine instabile Gemütsstimmung bei Erwachsenen, die sich dadurch äussert, dass Betroffene sehr schnell und leicht von einer depressiven und niedergeschlagenen Stimmung hin zu einem übererregten Zustandes des Glücks wechseln. Dabei werden diese Stimmungsschwankungen oft von äusseren Reizen beeinflusst. (vgl. S.135-136, 211) Zusätzlich umschreibt Wender bei Erwachsenen ein hitziges Gemüt und kurzdauernde explosive Ausbrüche, insbesondere intensive Wut- und Temperamentausbrüche, die häufig als weiteres Symptom beobachtet werden. Diese Eigenschaft wirkt sich bei Erwachsenen vor allem in den Bereichen Arbeit und Beziehungen nachteilig aus. (vgl. S. 138, 211) Wender fügt ein weiteres Symptom an, das sich in einer fortdauernden Hyperaktivität zeigt, die sich bei Erwachsenen in einer motorischen Unruhe, Ungeduld und Nervosität ausdrückt (vgl. S. 134, 211). Retz et al. (vgl. 2009, S. 6) ergänzen die Hyperaktivität damit, das sich diese motorische Unruhe bei Erwachsenen vielfach auch als eine innere Unruhe äussert. Wender (2002) betont, dass Hyperaktivität nicht zwingend vorhanden sein muss, um eine ADHS zu diagnostizieren (vgl. S. 133-134). Ebenso zum Utah Kriterienkatalog eines ADHS zählen laut Wender die Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, die bei Erwachsenen ebenso wie bei den Kindern mit ADHS zu beobachten sind. Dieses Verhaltensmerkmal wird vor allem in Ausund Weiterbildungen, im Verfolgen von Gesprächen und durch Schwierigkeiten im Zuhören erkennbar. Dies kann für Erwachsene zu negativen Auswirkungen in sozialen Beziehungen sowie in der beruflichen Laufbahn führen. (vgl. S.132-133, 210) Ein weiteres, für die Beantwortung der Ausgangsfrage relevantes, und häufiges Merkmal ist der Ausdruck eines minderen Selbstwertgefühls bei Erwachsenen mit ADHS. Dies halten Roy (vgl. 2012, S. 42) wie auch Retz et al. (vgl. 2009, S.25) ausdrücklich fest. Die folgenden Worte von Retz et al. umschreiben dabei sehr klar, wie es dazu kommt: „Viele Patienten mit ADHS entwickeln im Verlauf der Erkrankung ausgeprägte Störungen des Selbstwertgefühls. Oft erleben sie ihre Insuffizienz, wenn es darum geht, in Alltagssituationen zu bestehen, und sie machen die Erfahrung, dass es ihnen trotz aller Anstrengungen nicht gelingt, ihren Aufgaben zufriedenstellend nachzukommen. Das Zurückbleiben hinter den eigenen Möglichkeiten stellt ein zentrales Problem bei

13

Patienten mit ADHS dar, verursacht häufig Selbstzweifel und Versagensängste und begünstigt dadurch auch die Entstehung von Depressionen.“ (S. 25)

Gleichzeitig kommt hier ein wichtiger Aspekt des Wollens von Erwachsenen mit ADHS zum Ausdruck. Die Bezeichnung von „trotz aller Anstrengung“ drückt klar aus, dass Erwachsene mit ADHS grosse Bemühungen auf sich nehmen, um die für sie negativen Folgen ihrer Verhaltensmerkmale zu verhindern. Nach Wender (2002), wird Kindern mit ADHS jedoch oftmals durch ihr soziales Umfeld ein Nicht-Wollen zugeschrieben. Ebenfalls wurden sie oftmals schon als Kind aufgrund ihres Verhaltens ausgegrenzt. Dabei entwickelten sie, sich selber hauptsächlich über die negativen Reaktionen ihres Umfeldes zu definieren. (vgl. S. 52) Der Autor erwähnt auch ausdrücklich, dass sich diese psychologischen Schwierigkeiten von der Kindheit bis ins Erwachsenenleben weiterziehen (vgl. S. 140). Gemäss Roy (vgl. 2012, S.42) und auch Hallowell und Ratey (vgl. 2013, S. 50) besteht vor allem bei Betroffenen, die nie eine Diagnose erhalten haben, ein erhöhtes Risiko für ein vermindertes Selbstwertgefühl.

1.2.4 Ursachen von ADHS Retz et al. (vgl. 2009, S.8-13) sowie Roy (vgl. 2012, S. 26-35) verbinden die Ursache des ADHS mit medizinischen Hypothesen im Bereich der Neurobiologie (neurochemische sowie –anatomische Sicht) und der Genetik sowie mit Umweltfaktoren. Wobei diese Hypothesen nachweisbar neurochemische Elemente beinhalten. Retz et al. (2009) fassen die Ursachen des ADHS folgendermassen zusammen: „ADHS entsteht nach den heutigen Vorstellungen aus einem Zusammenwirken verschiedener biologischer und psychosozialer Faktoren, die in unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Gehirns im Sinne zeitlich begrenzt oder dauerhaft vorhandener bzw. anlagebedingter Risiko-, aber auch protektiver Einflüsse wirksam werden.“ (S.12)

Daraus soll hervorgehoben werden, dass biologische Faktoren wie auch Umweltfaktoren als Ursachen des ADHS betrachtet werden, welche die Symptomatik des ADHS verstärken oder vermindern können. Dabei wird die genetische Ausgangslage als latent vorhanden eingestuft und massgeblich relevant für das Ausmass der Symptomatik sind die biologischen und psychosozialen Einflüsse.

14

Dies kommt deutlich aus der folgenden schematischen Darstellung von Retz et al. (2009, S. 13) zum Ausdruck:

Abbildung I

Gleichzeitig ist aus dieser Abbildung zu entnehmen, dass die Informationsverarbeitung bildlich im Zentrum der Ursachen des ADHS steht und diese von biologischen Faktoren, darin eingeschlossen die genetischen Prädisposition, und den psychosozialen Faktoren beeinflusst wird. Gemäss Roy (2012) werden für die Symptome des ADHS hauptsächlich ein Dopamin- und Noradrenalinmangel und nach aktueller Forschung noch weitere Neurotransmitter im Gehirn, genetische Veränderungen, ebenso wie anatomische Veränderungen in bestimmten Hirnregionen verantwortlich gemacht. Dadurch können Menschen mit ADHS einströmende Reize nicht adäquat kanalisieren und unwichtige Informationen nicht ausblenden. Dies ist zu verstehen, wenn von Reizfilterschwäche gesprochen wird. Diese Schwäche wird für die Verhaltensmerkmale verantwortlich gemacht. (vgl. S. 25 - 35)

1.2.5 Medizinische Behandlung Aus der medizinischen Sicht wird eine medikamentöse Behandlung indiziert, welche auf den Kreislauf der neurochemischen Botenstoffe einwirkt. Auf diese medizinische Behandlung wird hier nicht näher eingegangen, da diese für die Beantwortung der Ausgangsfrage irrelevant ist. Gleichzeitig heben D’Amelio und Philipson (2009) deutlich hervor: „ADHS als „neurobiologische Besonderheit“ kann nicht „geheilt“ im Sinne von ursächlich beseitigt werden. Möglich und wünschenswert ist vielmehr ein einvernehmliches Leben mit ADHS.“ (S. 31)

Diese deutliche Aussage gibt zu verstehen, dass die Diagnose eine unveränderbare, neurobiologische Unterschiedlichkeit feststellt. Dadurch, dass die biologisch nachgewiesene Grundlage für ADHS nicht beseitigt werden kann und daraus direkt die Symptome der ADHS 15

abgeleitet werden, drückt die medizinische Diagnose gleichzeitig eine wissenschaftliche Erklärung für die Verhaltensmerkmale des ADHS aus. Die Relevanz dieser Erklärung für Erwachsene mit ADHS wird im dritten Kapitel in Bezug auf Anerkennung genauer betrachtet. Der zweite Satz des Zitats schliesst in Anbetracht des medizinischen Fokus darauf, dass die Betroffenen sich mit den Schwierigkeiten arrangieren müssen. Die Medizin setzt hier nicht mehr nur auf Behandlung durch Medikamente, sondern ebenfalls auf Therapie. So wird nach Retz et al. (2009) Psychotherapie und Psychoedukation als nachhaltig empfohlen und damit begründet, „dem Patienten Werkzeuge in die Hand zu geben, die ihm dabei helfen, seine individuellen Defizite (…) in den Griff zu bekommen“ (S. 23). Das heisst, die Therapie oder Psychoedukation wird zur Hilfe zur Selbsthilfe im Umgang mit den Defiziten. Diese individuelle und defizitorientierte Sichtweise der Medizin ist sinnvoll und berechtigt, um festzustellen, ob und wie weit eine körperliche Ursache ein Leiden verursacht, damit dieses geheilt werden kann. Aus der Sicht der Sozialen Arbeit wird hier an die Rolle der psychosozialen Einflüsse als Verstärker oder Dämpfer erinnert und dadurch öffnet sich der Fokus weg vom Individuum hin zum Umfeld. Dabei stellt sich die Frage, welche Anforderungen das Umfeld erfüllen muss, damit dieses schützend wirken kann? Dieser Aspekt soll in der vorliegenden Auseinandersetzung erarbeitet werden und spezifisch für das professionelle Handeln von Sozialarbeitenden im vierten und fünften Kapitel betrachtet werden.

1.3

Ressourcen von Erwachsenen mit ADHS

In der Zusammenarbeit mit Betroffenen konnten laut D’Amelio, Retz, Steinbach & Bender, (2009, S. 71) folgende Stärken von Erwachsenen mit ADHS gesammelt werden:

Abbildung II

16

Diese Eigenschaften zeigen einerseits ein grosses Potenzial, interessiert, lösungsorientiert und differenziert an Situationen heranzugehen und gleichzeitig drücken sie auch wertvolle Ressourcen im zwischenmenschlichen Bereich aus. Roy (2012) hält zudem eine Fähigkeit zum Hyperfokussieren von Erwachsenen mit ADHS fest. Diese Fähigkeit zeigt sich durch ein starkes Konzentrieren auf ein für sie bedeutendes Interessensgebiet, wobei die Wahrnehmung für Zeit und Umfeld vollständig ausgeschaltet wird. (vgl. S. 39) Weiter erwähnt der Autor, dass viele der Betroffenen eine grosse Empfindsamkeit aufweisen, die sich einerseits auf Stimmungen von Menschen und Situationen bezieht und andererseits auf die Wahrnehmung von sensorischen Reizen. Dadurch, dass sie die Stimmungen sehr schnell aufnehmen, verfügen sie über eine grosse Fähigkeit der Empathie. (vgl. S. 42) Die Beschreibung dieser Eigenschaften, sich einerseits so stark konzentrieren zu können und damit alles um sich herum zu vergessen, ebenso wie die grosse Empfindsamkeit lassen grosse Ressourcen erkennen. Ferner erwähnt Roy (2012) ausdrücklich weitere Stärken von Erwachsenen mit ADHS, so „eine besondere Kreativität, die Fähigkeit zum Querdenken und Beschreiten neuer Wege, eine schnelle Auffassungsgabe, eine grosse Neugier, eine charismatische Ausstrahlung und ein wenig nachtragendes Verhalten“ (S. 87).

1.3.1 Kreativität bei Menschen mit ADHS Da sich die Kreativität auf die Informationsverarbeitung bezieht und diese aufgrund der neurobiologischen Ausprägungen für Erwachsene wie auch für Kinder mit ADHS zutrifft, wird im Folgenden Erwachsene und Kinder mit ADHS allgemein als Menschen mit ADHS zusammengefasst. Linneweh (1994, zit. in Ohlmeier, 2012) definiert Kreativität folgendermassen: „Kreativität bedeutet eine Strategie zur Umweltbewältigung und erfährt eine Ausweitung auf alle sozialen, aber auch politischen und wirtschaftlichen Fragestellungen. Kreatives Denken ist demnach verinnerlichtes, bewusst und unbewusst gesteuertes Probehandeln (…), das mit intuitiven und rationalen, konvergenten und divergenten Denkoperationen arbeitet.“ (S. 124)

Dies bedeutet, dass die Kreativität im Denken aus einem komplexen Prozess aus bewussten und unbewussten, sowie auf logischen und nicht nachvollziehbaren Anteilen besteht, anhand dessen ein Vorhaben zu einer Handlung erfolgt. Aufgrund dessen kommt Ohlmeier (2012) zum Schluss, dass bei Menschen mit ADHS die Kreativität erhöht ist, weil sie aufgrund der Reizfilterschwäche eine grössere Informationsauswahl erhalten und dadurch viel mehr Möglichkeiten für eine Handlung vorliegen. Er zeigt auf, dass bei Menschen mit ADHS die Wahrnehmungen aus dem Unbewussten unkontrolliert ins Bewusstsein dringen. Während 17

bei Menschen ohne ADHS diese Wahrnehmungen erst einer Plausibilitätskontrolle unterzogen werden, welche aufgrund eines Sozialisationsprozesses entstanden ist. Dadurch gelangen Wahrnehmungen bei Menschen ohne ADHS in reduziertem Umfang ins Bewusstsein. (vgl. S. 124) Dies zeigt, dass Menschen mit ADHS Verknüpfungen im Denkprozess machen können, die Menschen ohne ADHS verwehrt sind, was ein Ausdruck von erhöhter Kreativität bedeutet. Nach Ohlmeier hält Linneweh (1994, zit. in. Ohlmeier, 2012) den individuellen Einfluss der Persönlichkeit auf das kreative Produkt fest, in dem kreative Menschen, die weniger konventionell sind und weniger streng auf die Einhaltung ihrer Impulskontrolle achten, sich viel eher unabhängig von sozialer Konformität verhalten und damit über ein stärkeres Standhaltevermögen gegenüber einem Gruppendruck verfügen. Daraus interpretiert Ohlmeier (2012) die Impulsivität und die Hyperaktivität als ein Ausdruck und eine Leistung der erhöhten Kreativität von Menschen mit ADHS (vgl. S. 126). Gleichzeitig kann daraus auch entnommen werden, dass die Kreativität von Menschen mit ADHS unkonventionell ist und nicht den sozialen Konformitäten entspricht. Worauf Ohlmeier den Widerstand vom sozialen Umfeld gegen eine unkonventionelle Problemlösungsstrategie, damit verbindet, dass dieser keinen akzeptierten Platz innerhalb des sozialen Umfeldes zugesprochen wird. Dies wird in der folgenden Aussage von Ohlmeier deutlich: „Der bei neu gefundenen Problemlösungsstrategien häufig entstehende äussere Widerstand zeigt dabei, dass die Etablierung von Kreativität oft auch von sozialen Umweltbedingungen abhängig ist.“ (S. 125)

Damit kann abgeleitet werden, dass der Widerstand des Umfeldes, dem Menschen mit ADHS oft begegnen ein Ausdruck von fehlender Anerkennung ihrer kreativen Leistung ist. Ebenfalls wird der ressourcenorientierte Ausdruck einer kreativen Problemlösungsstrategie festgehalten. Dadurch wird ersichtlich, dass die neurobiologische Ausprägung und damit die spezielle Informationsverarbeitung eine grosse Ressource in der Entwicklung von kreativen Problemlösungsstrategien darstellen und dadurch die Verhaltensmerkmale der Hyperaktivität sowie Impulsivität aus einer ressourcenorientierten Sichtweise neu beurteilt werden kann. Ebenso kann daraus geschlossen werden, dass eine Forderung an Menschen mit ADHS, sich nach den sozialen Konventionen zu verhalten, eine Unterdrückung ihrer Kreativität darstellt. Zusammenfassend wird festgehalten, dass sich ADHS bei Erwachsenen als eine medizinische Diagnose etabliert hat, deren Ursachen auf genetische Prädisposition sowie auf neurobiologische Ausprägungen und psychosoziale Einflüsse gründen. Dabei ist relevant für die Soziale Arbeit festzuhalten, dass die psychosozialen Einflüsse auf die Symptome, die 18

sich als Verhaltensmerkmale zeigen, verstärkend oder vermindernd wirken können. Zu den individuell unterschiedlich ausgeprägten Verhaltensmerkmalen weisen Erwachsene mit ADHS zusätzlich mehrheitlich ein ausgeprägtes vermindertes Selbstwertgefühl auf. Ebenfalls für die Soziale Arbeit von grosser Relevanz lassen sich aus der Diagnose Ressourcen von Erwachsenen mit ADHS ableiten. Es wird die lösungsorientierte sowie differenzierte Betrachtungsweise von Situationen als Ressource hervorgehoben. Ebenso wird die komplexe und kreative Denkweise, welche unkonventionelle Lösungen hervorbringen kann, festgehalten. Diese Entwicklung von kreativen Problemlösungsstrategien ermöglicht eine ressourcenorientierten Sichtweise und eine Umdeutung der Verhaltensmerkmale der Hyperaktivität und Impulsivität. Nicht direkt aus der Diagnose abgeleitet, sondern aufgrund von Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS festgehalten, werden ebenfalls wertvolle Ressourcen im sozialen Bereich erwähnt, dabei soll speziell die Fürsorge, Empathie und Sensibilität und einen grossen Gerechtigkeitssinn hervorgehoben werden. Aufgrund dieser vielen wertvollen Ressourcen von Erwachsenen mit ADHS wird nicht ersichtlich, warum sich die Soziale Arbeit mit ADHS bei Erwachsenen beschäftigen soll. Daher wird im nächsten Kapitel auf die sozialen Folgen von Erwachsenen mit ADHS im Zusammenhang mit den Verhaltensmerkmalen aufgezeigt und dadurch Schnittstellen mit der Sozialen Arbeit herausgearbeitet.

19

2 Erwachsene mit ADHS und die Beratung der Sozialen Arbeit In diesem Kapitel werden die sozialen Folgen für Erwachsene mit ADHS in den Lebensbereichen Partnerschaften und Familie, Schule und Arbeit und Sucht aufgezeigt und mit den Verhaltensmerkmalen in Verbindung gebracht. Dadurch, dass sich das Arbeitsfeld der Beratung in der Sozialen Arbeit in diesen Lebensbereichen etabliert hat wird eine Schnittstelle zwischen Sozialarbeitenden in der freiwilligen Beratung und Erwachsenen mit ADHS aufgezeigt. Dabei wird ebenfalls den Begriff des freiwilligen Beratungssetting in der Sozialen Arbeit genauer erläutert.

2.1

Soziale Folgen für Erwachsene mit ADHS

Im vorgängigen Kapitel wurde aufgezeigt, dass die medizinische Diagnose ADHS Verhaltensmerkmale umschreibt, die auf Schwierigkeiten im sozialen Bereich hindeuten, mit denen Erwachsene mit ADHS schon seit ihrer Kindheit konfrontiert sind. Laut Retz et al. (2009) erleben Erwachsenen mit ADHS durch diese Schwierigkeiten einerseits häufig, begleitende, psychische Krankheiten und andererseits psychosoziale Folgen (vgl. S.25). Es werden daher die Lebensbereiche von Partnerschaft und Familie, Schule und Arbeit und Sucht in Bezug auf Erwachsene mit ADHS und ihre sozialen Folgen genauer betrachtet.

2.1.1 Bereich Partnerschaft und Familie Die Verhaltensmerkmale des ADHS führen oft zu Schwierigkeiten in der Interaktion mit anderen Menschen. So führen Impulsivität, Desorganisation, hitziges Gemüt und eine niedrige Stresstoleranz von Erwachsenen mit ADHS häufig zu Konfliktsituationen innerhalb von Partnerschaften und Familien. (vgl. Roy, 2012, S. 44) Dies führt gemäss Barkley et al. (2006, zit. in Retz, 2014) bei Personen mit ADHS im Vergleich zu Personen ohne ADHS häufiger zu Trennungen, Scheidungen und Wiederheirat (vgl. S. 29). Zusätzlich wird nach Wymbs et al. (2011, zit. in Retz, 2014) auf ein höheres mögliches Vorkommen von häuslicher Gewalt im Zusammenhang mit ADHS hingewiesen (vgl. S. 29). Gemäss Retz (2014) stellen Studien im Bereich der Sexualität häufige Partnerwechsel mit kurzdauernde Partnerschaften fest (vgl. S. 29). Als eine mögliche Folge davon führen Barkley et al. (2006, zit. in Retz, 2014, S. 29) und Flory et al. (2006, zit. in Retz, 2014, S.29) konkret auf, dass bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen wegen häufig fehlenden Vorsichtsmassnahmen eine erhöhte Möglichkeit besteht, ungewollt schwanger zu werden. Ebenso muss beachtet werden, dass aufgrund der Vererbung des ADHS, sowohl Kinder wie auch deren Eltern davon betroffen sind (vgl. Roy, 2012, S. 31). So können aufgrund der Verhaltensmerkmale in Familien Erziehungsfragen auftreten, die durch komplexe Familienkonstellationen noch verstärkt werden können. 20

Die möglichen Folgen in diesem Lebensbereich sind noch bedeutender unter der Betrachtung, dass laut dem Bundesamt für Statistik ungefähr ein Viertel von Einelternfamilien und Paare mit drei und mehr Kinder unter der Armutsgrenze leben (BSV, 2008, S. 12). Insgesamt können diese Faktoren für die Bewältigung des Alltags, insbesondere für Erwachsene mit ADHS, eine grosse finanzielle und organisatorische Herausforderung darstellen.

2.1.2 Bereich Schule und Arbeit Retz (2014) bezieht sich auf Untersuchungsergebnisse, wonach Menschen mit ADHS ihr Begabungsniveau viel weniger nutzen können und oft qualitativ tiefere Bildungsabschlüsse erzielen als Menschen ohne ADHS (vgl. S. 28). Ebenso erwähnt Roy (2012) auffallende Lernschwierigkeiten bei einem durchschnittlichen bis höheren Intelligenznachweis und damit verbunden sind oftmals Abbrüche von Ausbildungen (vgl. S. 43). Dies lässt sich mit den Verhaltensmerkmalen der Impulsivität, Aufmerksamkeitsschwäche und Desorganisation ebenso wie mit dem Unvermögen, Aufgaben zu Ende zu führen erklären. Obwohl es nach Retz (2014) einzelnen Erwachsenen mit ADHS gelingt ihre Schwächen zu kompensieren und sie sich dadurch den Weg in ein Berufsleben ermöglichen, sind dennoch viele Erwachsene mit ADHS mit den aufgeführten Schwierigkeiten im Bereich Arbeit konfrontiert. Auch im eigentlichen Berufsleben weisen Erwachsene mit ADHS einen weitaus häufigeren Wechsel an Arbeitsstellen auf, erleben häufiger Konflikte mit Kollegen oder Arbeitgebern und sind häufiger und über längere Zeitspannen arbeitslos. (vgl. S. 28) Die zwischenmenschlichen Konflikte können durch die Verhaltensmerkmale der geringen Stresstoleranz, des explosiven Gemütes und den Stimmungsschwankungen in Verbindung gebracht werden können. Während der häufige Wechsel der Arbeitsstellen und die längeren arbeitslosen Zeitspannen auf eine mangelnde Leistung aufgrund der Aufmerksamkeitsschwäche oder dem Unvermögen, Aufgaben zu Ende in Verbindung gebracht werden können. Ebenfalls können die zwischenmenschlichen Konflikte Einfluss auf einen häufigen Stellenwechsel oder die Arbeitslosigkeit nehmen.

Roy (vgl. 2012, S. 43-44) stellt weiter fest, dass viele Erwachsene mit ADHS versuchen, ihre Schwächen mit viel Fleiss und Anstrengung zu kompensieren, was zu chronischen Erschöpfungszuständen führen kann. Damit kann erklärt werden, dass gemäss Retz (2014) Menschen mit ADHS im Vergleich zu Personen ohne ADHS einer grösseren Gefahr ausgesetzt sind, öfter und schwerer von Unfällen betroffen zu sein und häufiger Absenzen bei der Arbeit aufzuweisen (vgl. S. 28,31). Ebenfalls können damit die Verhaltensmerkmale der Stimmungsschwankungen, Impulsivität und Ablenkbarkeit in Verbindung gebracht werden. Daraus ist ersichtlich, dass die berufliche Biographie für Menschen mit ADHS eine 21

grosse Herausforderung sein kann und damit verbunden können sich existenzbedrohende Situationen ergeben.

2.1.3 Sucht Ergänzend zu den schon erwähnten Schwierigkeiten stellen Ohlmeier und Prox-Vagedes (2012) eine hohe Häufigkeit der Kombination von ADHS und Abhängigkeitserkrankung fest (vgl. S. 91). Sie stützen sich dabei einerseits auf die Studien von Schubiner et al. (2000, zit. in Ohlmeier & Prox-Vagedes, 2012), die eine gleichzeitige Abhängigkeitserkrankung bei Personen mit ADHS mit 71% belegen. Andererseits beziehen sie sich ebenfalls auf Wilens (2004, zit. in Ohlmeier & Prox-Vagedes, 2012), welcher eine Häufigkeit von 20% annimmt. (vgl. S. 91) Nach Carroll & Rounsaville (1993, zit. in Ohlmeier & Prox-Vagedes, 2012) missbrauchen Menschen mit ADHS früher und stärker ausgeprägt Suchtmittel als Menschen ohne ADHS (vgl. S. 91). Während Wilens (2004, zit. in Ohlmeier & Prox-Vagedes, 2012) festhält, dass sich bei Menschen mit ADHS oft schon in der frühen adulten Lebensphase eine Abhängigkeit erkennen lässt (vgl. S. 91). In den weiter oben erwähnten Bereichen wurde eine direkte Verbindung mit den Verhaltensmerkmalen gemacht und damit eine eher defizitorientierte Blickweise eingenommen. Beim Thema des Substanzmissbrauch muss jedoch angefügt werden, dass diese unter Fachleuten als eine Art Selbstmedikation zur Kontrolle der Verhaltensmale diskutiert wird (vgl. Ohlmeier & Prox-Vagedes, 2012, S. 97-98). Es ist ersichtlich, dass Erwachsen mit ADHS in den Bereichen Beziehungen und Familie, Schule und Arbeit und Sucht soziale Folgen erfahren können. Da sich die Soziale Arbeit in den Arbeitsfeldern Sucht bzw. Gesundheitswesen, Arbeit und berufliche Integration, Erziehung, Partnerschaft und Familie etabliert hat, kann daraus abgeleitet werden, dass unter der Klientel von Sozialarbeitenden ebenfalls Erwachsene mit ADHS anzutreffen sind. Aus einer differenzierten Betrachtung der Berufsfelder in der Sozialen Arbeit bezüglich Aufgabenbereich, Altersgruppen und methodischem Handeln von Heiner (2010) wird ersichtlich, dass die Tätigkeitsform der Beratung in der Sozialen Arbeit für Erwachsene und Familien eine berufsfeldübergreifende Gemeinsamkeit darstellt. (vgl. S. 91) Im Folgenden wird das Spektrum der Beratung genauer ausgeführt werden.

2.2

Beratung in der Sozialen Arbeit

Als professionelle Beratung wird nach Nestmann & Sickendick (2011) eine Hilfsform bezeichnet, bei der ausgewiesene und geschulte Fachkräfte methodisch und reflektiert vorgehen. Sie beziehen sich dabei auf beratungsethische Prinzipien, wissenschaftliche Theorien und handeln in beruflichen Rollen, wobei sich eine definierte Beziehung zwischen 22

Fachkraft und Klientel innerhalb eines Beratungssettings gestaltet. (vgl. S.109) Dies weist auf ein professionelles Setting hin, welches klar definiert ist einerseits im Handeln und andererseits in der Beziehung zwischen Fachkraft und Klientel. Nestmann und Sickendiek äussern sich konkret welche Hilfe Beratungen bieten: „… Hilfen bei der kognitiven und emotionalen Orientierung in undurchschaubaren und unübersehbaren Situationen und Lebenslagen. Sie unterstützt Ratsuchende dabei, Wahlmöglichkeiten abzuwägen, sich angesichts mehrerer Alternativen zu entscheiden oder aber Optionen bewusst offen zu halten. Beratungen ermöglicht und fördert Zukunftsüberlegungen und Planungen, die aus neu gewonnenen Orientierungen und getroffenen Entscheidungen resultieren, sie hilft Ratsuchenden die Planungsschritte zu realisieren und begleitet erste Handlungsversuche mit Reflexionsangeboten.“ (S. 109)

Daraus ist ersichtlich, dass die Beratung eine Begleitung darstellt, die sich damit befasst, Sichtweisen, Haltungen und Werte offen zu legen, zu erweitern um neue Perspektiven zu schaffen und daraus weitere Schritte Handlungsschritte abzuleiten. So befasst sich die Beratung mit Handlungsstrategien und begleitet die Klientel in ihrer Entwicklung und Umsetzung. Diese Handlungsweise deutet auf einen Prozess hin, der nach Heiner (2010) je nach Beratungsstelle und Aufgabenbereich in zwei bis drei Beratungssequenzen bis hin zu langjährigen Begleitungen gestaltet wird (vgl. S. 95,98). Gleichzeitig deutet der Begriff des Ratsuchenden darauf hin, dass der Klient die Beratung aus eigenem Begehren aufsucht. Heiner (2010) bezeichnet dazu konkret das Dienstleistungsangebot der Beratung als ambulante Dienste, bei der die Klientel die Fachkraft aufsucht (vgl. S. 97). Dadurch wird deutlich, dass die Initiative und das Begehren, Unterstützung einzufordern von der Klientel her kommen muss. Somit entscheidet die Klientel wann sie die Beratung in Anspruch nehmen will und wann sie diese beenden möchte. In der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS und der Verhaltensweise Aufgaben nicht zu Ende zu führen und der Ablenkbarkeit stellt sich hier die Frage welche Anforderungen an das professionelle Handeln und somit an die Fachkraft gestellt wird. Dabei soll die Beratung als ein Umfeld von Erwachsenen mit ADHS betrachtet werden, welches das Verhalten mitbeeinflussen kann. Dementsprechend stellt sich die Frage nach der Arbeitsbeziehung. So kann das ambulante Setting, die zeitliche Dauer sowie die Thematik einer Beratung nach Heiner (2010) Auswirkungen auf die Intensität einer Arbeitsbeziehung haben (vgl. S. 98). Die Arbeitsbeziehung als Gegenstand des professionellen Handelns in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS wird im späteren Verlauf erneut aufgenommen und genauer betrachtet. Bezüglich der Spezifität in der Beratung gibt es laut Heiner (2010) themenbezogene Unterschiede, so sind allgemeine Sozialdienste vom Aufgabenfeld her eher vielseitig zuständig und daher mehr generalistisch organisiert. Im Gegensatz dazu ist in spezifischen 23

Einrichtungen die Beratungsstelle im Aufgabenfeld stark thematisch spezialisiert. Aus der Darstellung von Heiner sind folgende spezialisierte Beratungsdienste der Sozialen Arbeit herauszunehmen: Arbeitslosenberatung, Erziehungsberatung, Ehe- Familienberatung, Schuldenberatung, Suchtberatung. (vgl. 91, 94-95) Diese Arbeitsfelder wiederspiegeln die möglichen Bereiche in denen Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben können oder soziale Folgen erfahren. Aus diesen Ausführungen wird ersichtlich, dass Beratungsstellen der Sozialen Arbeit gerade in den Bereichen, in denen Erwachsene mit ADHS Schwierigkeiten erfahren können, etabliert sind und somit Sozialarbeitende in diesem Arbeitsfeld auf Klientel mit ADHS treffen können. Im Weiteren wird auf die Verwendung des Begriffs des ambulanten Settings verzichtet und dafür zukünftig den Ausdruck des freiwilligen Beratungssettings benutzt, weil der Ausdruck ambulant stark mit der medizinischen Behandlungsweise verbunden wird und dadurch eine Abgrenzung zwischen Sozialer Arbeit und Medizin möglich wird. Abschliessend wird festgehalten, dass viele Erwachsene mit ADHS in den Lebensbereichen Sucht, Schule und Arbeit, Partnerschaft und Familie soziale Folgen erleben und diese Schwierigkeiten mit ihren Verhaltensmerkmalen in Verbindung gebracht werden können. Es wurde aufgezeigt, dass die freiwillige Beratung in der Sozialen Arbeit ein professionelles, klar definiertes Setting ist. Dieses beinhaltet eine prozesshafte Begleitung von Erwachsenen durch Fachkräfte, die in Methodik, Theoriewissen und berufsethischen Prinzipien geschult werden. In der Begleitung geht es einerseits um ein strukturiertes Handeln, der Planung von Handlungsschritten und deren Umsetzung zur Veränderung von verschiedenen Lebensbereichen. Andererseits wird darin eine Arbeitsbeziehung ebenso klar umschrieben, die sich je nach zeitlicher Länge und Thematik unterschiedlich intensiv gestaltet. Bei einem freiwilligen Beratungssetting entscheidet die Klientel wann sie eine Beratung benötigt. Das freiwillige Beratungssetting der Sozialen Arbeit ist in den Lebensbereichen von Sucht, Arbeit, Erziehung, Partnerschaft und Familie ebenso wie in finanziellen Angelegenheiten und somit in jenen Lebensbereichen in denen Erwachsene mit ADHS Schwierigkeiten erfahren. Dadurch können Erwachsene mit ADHS als Klientel der Sozialen Arbeit vertreten sein.

An dieser Stelle wird auf die Diagnose ADHS Rückbezug genommen und vor allem an die Ressourcen im Bereich von zwischenmenschlichen Interaktionen, Empfindsamkeit, Flexibilität, den lösungsorientierten Vorgehensweisen und der Kreativität im Denkprozess erinnert. Dabei stellt sich die Frage, wie es kommt, dass Menschen mit so grossen Ressourcen zu Klientel der Sozialen Arbeit werden? Ebenfalls wurde weiter vorne erwähnt, dass es Erwachsene mit ADHS gelingt, ein Leben zu führen, in dem ihre Defizite nicht so stark zu tragen kommen. Daraus kann abgeleitet werden, dass diese ihre Ressourcen 24

wahrnehmen und anwenden können. Gleichzeitig wird daraus geschlossen, dass Erwachsenen mit ADHS, die soziale Folgen erleben, Schwierigkeiten in der Wahrnehmung oder Umsetzung ihrer Ressourcen haben. Gemäss der medizinischen Diagnose stellt das Umfeld einen grossen Einflussfaktor auf die Ausprägung des ADHS dar. Daraus stellt sich die Frage, welche Rolle das Umfeld bei der Wahrnehmung und Anwendung der Ressourcen von Erwachsenen mit ADHS spielt? Dies unterstreicht die grosse Relevanz der Verbindung, dass sich Erwachsene mit ADHS oft ihrer Ressourcen nicht bewusst sind und sich gleichzeitig in den Augen ihres Umfeldes wahrnehmen. Somit spricht das Umfeld ihren Verhaltensmerkmalen eher Defizite zu, als diese als Ressourcen wahrzunehmen. Hier wird auf die Perspektive der Sozialen Arbeit erneut aufmerksam gemacht, um damit den Fokus auf das Umfeld und die Ressourcen zu richten. Während der Rückbezug auf die Ressourcen später in einem Handlungsmodell der Passung von Maya Heiner wieder aufgenommen wird, kommt im folgenden Kapitel der Zusammenhang zwischen Umwelt und dem tiefen Selbstwertgefühl von Menschen mit ADHS in den Fokus. Dieser Zusammenhang lässt sich anhand des Integritätskonzepts von Arnd Pollmann sehr gut aufzeigen und ist notwendig, um die Anforderungen an die Sozialarbeitenden in ihrer professionellen Tätigkeit abzuleiten.

25

3 Integrität und Anerkennung von Erwachsenen mit ADHS Im folgenden Kapitel wird die Integrität von Erwachsenen mit ADHS anhand des Integritätskonzepts nach Arnd Pollmann betrachtet. Dabei wird das tiefe Selbstwertgefühl von Erwachsenen mit ADHS als einen Ausdruck einer Einbusse von Integrität festgehalten. Gleichzeitig zeichnet sich einen Zusammenhang zwischen dem tiefen Selbstwertgefühl von Erwachsenen mit ADHS mit dem sozialen Umfeld ab. Mit Hilfe der Theorie über die Anerkennung von Honneth kann eine konkrete Verbindung zwischen dem tiefen Selbstwertgefühl von Erwachsenen mit ADHS und ihrem sozialen Umfeld aufgezeigt werden. Dabei wird der Anerkennung durch das soziale Umfeld eine zentrale Rolle zugeteilt, damit sich Erwachsene mit ADHS als vollwertige Interaktionspartner in ihrem sozialen Umfeld wahrnehmen und dadurch ihre individuellen Fähigkeiten und Leistungen zum Nutzen ihres Umfeldes einbringen können und somit eine Integrität in ihrer Ganzheit erleben können.

3.1

Integrität von Erwachsenen mit ADHS

Integrität als ein Begriff, der für Ganzheit und Unversehrtheit steht, wird von Pollmann (2005) differenziert betrachtet, um daraus ableitend feststellen zu können, ob einer Person Integrität zugesprochen werden kann. Wobei er den Begriff von Integrität im Zusammenhang mit Personen reduziert. (vgl. S. 14-16) Bezüglich der Fragestellung wer Integrität besitzen oder erlangen kann, legt Pollmann die wichtigste Voraussetzung mit der folgenden Aussage fest: „Nicht alle Menschen besitzen gleichermassen Integrität, aber alle Menschen besitzen das gleiche Recht auf Schutz eines Freiraums, in dem allein sich ein integres Leben zu entfalten vermag.“(S. 17)

Somit hat jeder Mensch ein Recht auf einen Schutzraum, in dem sich Integrität herstellen lässt. Daraus lassen sich die Fragen ableiten, in welchem Mass Erwachsene mit ADHS Integrität besitzen und was benötigen sie damit sie integer leben können. Ebenso ergibt sich die Frage, welche Rolle das Umfeld in Bezug auf diesen Schutzraum hat. Um dies zu beantworten wird im Folgenden näher auf die differenzierte Betrachtung der Integrität eingegangen. Pollmann differenziert den Begriff der Integrität in vier Bedeutungsdimensionen, die nicht unabhängig voneinander stehen, sondern im Gegenteil einander beeinflussen und ineinander fliessen und in ihrer Gesamtheit für Integrität stehen. Es sind dies jeweils die ethisch-existenzielle, die moralische, die psychologische und die sozialphilosophische Dimension. (vgl. S. 14-15) Er betrachtet diese Ebenen zudem aus einer Innenperspektive bzw. Selbstzuschreibung und einer Aussenperspektive bzw. Fremdzuschreibung (vgl. S. 82). In Bezug auf das tiefe Selbstwertgefühl von Erwachsenen mit ADHS ist vor allem die 26

Selbstzuschreibung von Bedeutung, weswegen im Folgenden grundsätzlich nur auf diese Perspektive eingegangen wird.

3.1.1 Ethisch-existenzielle Dimension der Integrität Nach Pollmann sind Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben einer Person Gegenstand dieser Dimension, die damit zusammenhängen, was für sie ein gutes Leben ist. Dabei bezieht sich die Person auf Werte, Prinzipien und Ideale, die ihr ein identitätsstiftendes Selbstbild verschaffen. In diesem Sinn Integrität zu besitzen, bezeichnet Pollmann als Selbsttreue. Dabei geht es um den Versuch, ein Leben in Einklang mit den eigenen Werten zu führen. (vgl. S. 84-85) Wobei Pollmann klar festhält: „Das ethisch-existentielle Selbstbild einer Person ist folglich immer auch als Summe starker Wertungen aufzufassen, deren Ablehnung bedeuten würde, sich selbst abzulehnen.“ (S. 134)

Dies würde bedeuten, dass die Person sich über diese, ihnen eigenen Werte identifiziert. Aufgrund der Ressourcen, die anhand von Aussagen von Erwachsenen mit ADHS gesammelt wurden, wie schon an früherer Stelle erwähnt, können für sie geltende wichtige Werte wie u.a. Gerechtigkeit, Respekt, Hilfsbereitschaft, Fürsorge und Empathie abgeleitet werden. Da diese Werte vor allem im Umgang mit anderen Menschen eine grosse Bedeutung erfahren, kann daraus abgeleitet werden, dass für Erwachsene mit ADHS soziale Beziehungen sehr wertvoll sind. Ebenso wurde erkannt, dass ihr Verhalten aufgrund der ihnen eigenen Informationsverarbeitung eine kreative Problemlösung darstellt. Aufgrund ihrer lösungsorientierten Prinzipien entspricht ihr Verhalten somit ihren Werten für ein für sie gutes Leben. Weiter vorne wurde festgehalten, dass Sie jedoch durch ihre kreativen Problemlösungsstrategien immer wieder Situationen erleben, in denen sie an Grenzen stossen. Nach Pollmann zeigt sich Integrität gerade da, wo die Selbstverpflichtungen auf Widerstand und Hindernisse stossen (vgl. S. 136). Hierzu zeigt sich sehr gut, dass Erwachsene mit ADHS ihren Werten und ihrem Potenzial grundsätzlich weiterhin vertrauen, auch wenn sie beginnen, wie aus Erfahrungsberichten von Betroffenen zu entnehmen ist, ihr Selbstbild in Frage zu stellen (vgl. Hallowell & Ratey, 2013, S. 20, 32, 38, 51, 141). Die Flexibilität, die eigenen Ideale zu reflektieren und evaluieren setzt Pollmann (2005) für Integrität dieser Ebene voraus (vgl. S. 87-88). So wird aus den Schilderungen von Betroffenen, die von Hallowell und Ratey (vgl. 2013, S.34-36, 38, 51-55, 139-143) festgehalten werden, ein grosses Reflexionsvermögen von Erwachsenen mit ADHS erkennbar. Aus diesen Ausführungen wird erkannt, dass man Erwachsenen mit ADHS ein eigenes ethisch-existentielles Selbstbild aus ihrer Innenperspektive zuschreiben kann. 27

Die Werte, welche Erwachsene mit ADHS aufweisen sind gleichzeitig auch Werte, die auf der moralischen Ebene Gültigkeit aufweisen, wie im kommenden Abschnitt zu sehen ist. So können Werte der ethisch-existentiellen Dimension nach Pollmann (2005) nicht vollumfänglich von den Werten der moralischen Dimension losgelöst betrachtet werden (vgl. S. 97), denn durch die Sozialisation werden die ethisch-existentiellen Werte von den moralischen Werten mit beeinflusst und geprägt (vgl. S. 247).

3.1.2 Die moralische Dimension der Integrität Die moralische Dimension beinhaltet nach Pollmann die Reflexion über die gesellschaftlichen Werte und Erwartungen, welche als normative Forderungen vorgeben, was zu tun ist, damit alle Menschen ein gutes Leben haben (vgl. S. 79-80). So umschreibt Pollmann Integrität auf der moralischen Ebene als Rechtschaffenheit. Dabei geht es nach dem Autor um ein Bemühen, die eigenen Lebensvollzüge sozialkompatibel auszugestalten, sich über die eigene Lebensweise in die Gemeinschaft einzubringen und sich dadurch als ein Recht schaffendes Mitglied derer zu erfahren. Dabei ist eine Ambivalenz zwischen den eigenen Werten und Vorlieben und den Werten und Erwartungen der Gesellschaft nicht nur unumgänglich sondern innerhalb der Integrität eingeschlossen. (vgl. S. 97-99) Diese Ambivalenz wird bei Erwachsenen mit ADHS sehr deutlich, sie sind sich der Werte bewusst, die ihnen sehr wichtig sind. Gleichzeitig erfahren sie, dass sie durch ihr Verhalten an Grenzen und auf Widerstand stossen. Seien dies nun Grenzen im Bereich von Arbeit und Aufgabenerfüllung oder im sozialen Bereich, wo sie aufgrund ihrer Verhaltensweise Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahren. (Verweis auf das erste Kapitel) Die moralischen Werte sollen, so Pollmann (2005), in denen der ethisch-existentiellen Dimension als eine minimale Normenkonformität enthalten sein (vgl. S. 97). Ebenfalls bezeichnet Pollmann Einbussen der Integrität auf der moralischen Ebene als „schmutzige Hände“ und konkretisiert, dass dadurch ein Verlust an Integrität auf moralischer Ebene bewusst in Kauf genommen wird, um die Integrität in ihrer Gesamtheit zu wahren (vgl. S. 103). Gleichzeitig genügt es nach Pollmann, dass die Gründe für das Verhalten, um als rechtschaffen zu gelten hinreichend gut und damit nachvollziehbar sein müssen (vgl. S.100). Dabei ist grundlegend, dass der Mensch vom Guten ausgehen muss und das bedeutet, die Entscheidung für eine Handlung muss auf guten Absichten basieren, wenngleich auch die Konsequenz seines Handelns oder die Handlung selber nicht als gut bezeichnet werden kann (vgl. S. 105). Wie schon im ersten Kapitel festgestellt wurde, bestehen grosse Bemühungen seitens Erwachsenen mit ADHS, sich entsprechend den sozialen Regeln zu verhalten und damit den für alle verträglichen Werten zu entsprechen. Diese Bemühungen gehen teilweise soweit, dass sie Erschöpfungszustände erleben. Daraus wird deutlich sichtbar, dass die Bemühungen, sich den sozialen Regeln entsprechend zu verhalten eine 28

Abkehr von ihren eigenen Lösungsprinzipien darstellt, die für sie notwendig wären, um ein gutes Leben zu führen. Ebenfalls wurde weiter vorne schon erwähnt, dass sie gerade durch ihre neuen und kreativen Problemlösungsstrategien häufig auf äusseren Widerstand stossen und ihr Verhalten als nicht sozialkonform gewertet wird. Aufgrund dieses Widerstandes erleben sie oft, in Gruppen ausgeschlossen oder bei der Arbeit gekündigt zu werden und erfahren dadurch Einbussen ihrer Integrität auf der moralischen Ebene. Wenn sie somit ihre kreativen Problemlösungen umsetzen erleben sie eine soziale Ausgrenzung. Hier ist die Ambivalenz zwischen ethisch-existenziellen Werten und Prinzipien und den moralischen Werten und Idealen bei Erwachsenen mit ADHS deutlich sichtbar. Gleichzeitig zeigen die grossen Bemühungen, dass ihre Entscheidung für ihr Handeln auf guten Absichten basiert, obwohl es ihnen nicht gelingt ihr Verhalten entsprechend der sozialen Normen umzusetzen. Dies würde eigentlich für Integrität auf moralischer Ebene sprechen. An dieser Stelle macht es durchaus Sinn, auf die Fremdperspektive hinzuweisen. Die Diagnose ADHS, welche aufgrund von Verhaltensmerkmale Symptome umschreibt, zeigt damit auf nicht sozialkonformes Verhalten hin. Aus der Fremdperspektive besitzt eine Person nach Pollmann Integrität auf moralischer Ebene, wenn das Umfeld der Person nichts vorzuwerfen hat (vgl. S. 102). Hier wird an die Unterstellung des Umfelds gegenüber Erwachsenen mit ADHS erinnert, dass sie sich nicht gemäss den sozialen Regeln verhalten wollten. Damit wirft ihnen das soziale Umfeld böse Absicht vor. Diese kann als eine Einbusse der Integrität auf moralischer Ebene aus der Fremdperspektive betrachtet werden. So äussert sich dazu Pollmann, dass der scheinheilige Mensch Anderen über seine wahren Beweggründe täuscht (vgl. S. 104). Die Zuschreibung des nicht Wollens des Umfeldes von Erwachsenen mit ADHS entgegen der Äusserungen des sich Bemühens von Seiten der Betroffenen drückt eben diese Einbusse von Integrität auf moralischer Ebene aus. So erleben Erwachsene mit ADHS diese Zuschreibung des nicht Wollens bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihnen ADHS diagnostiziert wird. Die offizielle Diagnose entlastet Erwachsene mit ADHS auf dieser Ebene und spricht ihnen aus der Fremdperspektive Integrität zu, in dem ihnen, der böse Wille abgesprochen wird und ein nicht Können medizinisch bestätigt wird. Daraus kann festgehalten werden, dass die Diagnose ADHS in dieser Dimension integritätsfördernd aus der Fremdperspektive sein kann, weil sie Erwachsenen mit ADHS zuschreibt, nicht anders handeln zu können, auch wenn sie wollten. Damit werden der betroffenen Person aus der Fremdperspektive ihre Verhaltensmerkmale als nicht veränderbar anerkannt. Gleichzeitig darf hier die Defizitorientierung bezüglich des sozialen Verhaltens von Erwachsenen mit ADHS nicht ignoriert werden. Sie werden einerseits von der bösen Absicht entlastet, jedoch gleichzeitig werden ihre kreativen Problemlösungsstrategien als nicht sozialverträglich beurteilt. 29

An dieser Stelle wird wieder die Innenperspektive der moralischen Ebene betrachtet, denn es fragt sich nun, wie sich dieser Konflikt zwischen dem eigenen ethisch-existentiellem Selbstbild und der durch die Diagnose festgehaltenen defizitorientierten Verhaltensmerkmale auf die Integrität auswirken kann. Hier wird auf die Aussage von Retz et al. aus dem ersten Kapitel zurückgegriffen, in der sie bei Menschen mit ADHS Störungen des Selbstwertgefühls, Selbstzweifel und Versagensängste festgestellt haben. Dies drückt sich in Bezug auf die Integrität derart aus, dass Erwachsene mit ADHS beginnen, ihr eigenes Selbstbild in Frage zu stellen und genau darin ist der Konflikt zwischen den ethisch-existenziellen und den moralischen Werten erkennbar, der ja laut Pollmann innerhalb der Integrität selbst vorzufinden ist (vgl. S. 99). So wäre das Hinterfragen des eigenen Selbstbildes vor dem Hintergrund der moralischen Forderungen Ausdruck von Integrität. Doch ein derart tiefes Selbstwertgefühl von Erwachsenen mit ADHS, das schon als Störung bezeichnet wird, lässt dies wiederum anzweifeln, weil darin keine stimmige Ausgewogenheit erkennbar ist. Diesen Aspekt wird im Folgenden noch genauer erläutert. So stellt Pollmann fest, dass gerade diese Konflikte die Betrachtung der Integrität auf der psychologischen Dimension bedingen (vgl. S. 81,107).

3.1.3 Die psychologische Dimension der Integrität In der psychologischen Dimension stehen nach Pollmann die innerpsychologischen Vorgänge im Vordergrund (vgl. S. 81). Mit Integriertheit umschreibt er Integrität als einen stimmigen Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte, welcher durch Reflexion der Selbststreue und Rechtschaffenheit vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte erlangt werden kann (vgl. S. 108-109). Zum Streben nach dem stimmigen Gesamtzusammenhang äussert sich Pollmann kurz und prägnant wie folgt: „Das immer schon „zerrissene“ Leben lässt den Wunsch spürbar werden, „dass man es in der Erzählung ordnen will“.“(S. 108)

Hier kommt klar zum Ausdruck, dass es beim stimmigen Gesamtzusammenhang nicht darum geht, ein problemfreies Leben anzustreben, sondern dass gerade Unstimmigkeiten, Brüche im Lebensverlauf in der Rückschau an ihren Platz kommen und dadurch erklärbar werden. Menschen mit ADHS erleben vielfach Brüche in der Biographie (siehe soziale Folgen) und können diese nicht in eine sinnstiftende Einheit bringen, weil sie die Widersprüche zwischen ihren eigenen Werten nicht mit ihren Erfahrungen mit den moralischen Erwartungen der Gesellschaft in Einklang bringen können. Der tiefe Selbstwert kann ein Ausdruck dafür sein. So handeln sie in gutem Glauben für eine Sache und stossen immer wieder auf Widerstand und scheitern. Wird nun einer erwachsenen Person ADHS diagnostiziert, stellt dies für sie eine grosse Erleichterung dar (Ryffel-Rawak, 2010, S. 118; 30

Hallowell & Ratey, 2013, S.39, 49, 127, 128, 139). Die Diagnose ermöglicht es ihr, über die Autobionarration ein integriertes Selbstverständnis zu erlangen, indem sie Erklärungen für ihr Verhalten erhält. Wobei Pollmann (2005) als Autobionarration definiert, dass die einzelnen Teile der eigenen Biografie über die erzählende Form aus einer Metaperspektive verbunden werden (vgl. S. 108-109). Damit verhilft die Diagnose ADHS Integrität auf der psychologischen Ebene zu erlangen. Jedoch muss hier erneut ein wichtiger Aspekt festgehalten werden, auch wenn das Verhalten nun erklärbar ist wird es über die medizinische Diagnose zu einer Auffälligkeit und als ein Defizit definiert. Dies lässt aus der Sicht der Sozialen Arbeit fragen, wie kann aus dem Defizit eine Ressource werden und was kann das Umfeld dazu beitragen. Der erstere Teil der Frage wird im späteren Verlauf mit Hilfe des Passungsmodells beantwortet werden können, während über die vierte Dimension der Integrität nach Pollmann, in der er eine vollständige Stimmigkeit im Sinne der Integrität im Ganzen umschreibt (vgl. S. 82) einen Zusammenhang mit dem Umfeld aufgezeigt werden kann.

3.1.4 Die sozialphilosophische Dimension Integrität auf dieser Ebene wird von Pollmann als Ganzheit bezeichnet, die gerade den Aspekt der Verletzbarkeit in allen Dimensionen der personalen Integrität betont (vgl. S. 115). Wobei Pollmann Ganzheit folgendermassen versteht: „Ganzheit ist demnach weniger als Zustand integren Lebens, sondern vielmehr als Stimmung zu interpretieren, in der das Leben als „Ganzes“ in den Blick kommt und Personen ihre „Beziehung zur Welt subjektiv wertend vor dem Hintergrund des eigenen Wollens“ als insgesamt affirmierungswürdig erfahren.“ (S. 117)

So muss das Leben als Ganzes gewollt und bejaht werden. Darunter kann verstanden werden, dass die Person ihr Leben in allen unterschiedlichen Aspekten vollumfänglich anerkennen kann und dies positiv beurteilt. Das würde bedeuten, dass Erwachsene mit ADHS sich mit diesem Konflikt zwischen ethisch-existenzieller und moralischer Ebene und damit mit den eigenen Vorzügen und Defiziten gleichzeitig als rechtschaffene Menschen fühlen. Pollmann umschreibt diese Gefühle mit Zufriedenheit, Stolz, Freude und Glück in nicht abschliessender Aufzählung (vgl. S. 118). Wir haben gesehen, dass die Diagnose ADHS den Betroffenen eine Erklärung liefert, um damit auf der psychologischen Ebene einen sinnvollen Zusammenhang in der Lebensgeschichte zu erhalten. Jedoch sagt dies noch nichts aus wie die Betroffenen sich selber dadurch erfahren. Pollmann erwähnt Angst, Selbstfremdheit, Verzweiflung und Scham als Gefühle, die Personen erleben, welche ihr Leben nicht grundsätzlich bejahen können (vgl. S. 118). So können die Versagensängste und der betonte Selbstzweifel von Erwachsenen mit ADHS als eine Erweiterung der 31

Aufzählung dieser Empfindungen gesehen werden. Somit erleben Erwachsene mit ADHS eine Einbusse ihrer Integrität in ihrer Ganzheit. Gleichzeitig macht Pollmann darauf aufmerksam, dass diese Stimmigkeit im Ganzen aus der Innenperspektive nur entstehen kann, wenn der Person auch aus der Aussenperspektive Integrität zugesprochen wird, welche er als Unversehrtheit bezeichnet. Pollmann umschreibt mit dem Begriff der Unversehrtheit minimale psychophysische Bedingungen des menschlichen Personseins, Grenzen die von der Umwelt gewahrt werden müssen. Ob diese Grenzen gewahrt oder verletzt werden verbindet Pollmann mit der Erfahrung von förderlichen Lebensbedingungen aus der Umwelt der Person. (vgl. S. 118-119) Hier kann sehr klar die Relevanz der Umwelt für eine intakte Integrität erkannt werden. Gleichzeitig stellt sich hier die Frage was förderliche Lebensbedingungen sind und wie diese für Erwachsene mit ADHS aussehen. Dabei hebt Pollmann eine Abhängigkeit der Integrität von integren Sozialbeziehungen hervor und damit von einem schonenden Umgang untereinander (vgl. S. 115, 238). Daraus kann geschlossen werden, dass Sozialbeziehungen, welche auf Respekt und einem würdevollen Umgang miteinander gründen zu den förderlichen Lebensbedingungen gezählt werden können. Wie wir anhand der Verhaltensmerkmale und den sozialen Folgen gesehen haben, sind bei den Sozialbeziehungen Schwierigkeiten für Erwachsene mit ADHS zu sehen. Somit ist die Ausgestaltung von Sozialbeziehungen grundsätzlich für jedermann von Bedeutung, jedoch für Erwachsene mit ADHS ein sehr zentraler Aspekt im Zusammenhang mit dem Wunsch nach einem ungestörten Selbstsein, wie Pollmann die Ganzheit ebenfalls umschreibt (vgl. S. 115). Da viele der Stärken von Erwachsenen mit ADHS gerade im sozialen Bereich zu finden sind, kann daraus abgeleitet werden, dass die Sozialbeziehungen durch die Dominanz der Verhaltensmerkmale, die als Auffälligkeiten von dem sozialen Umfeld wahrgenommen werden, überschattet sind. Gleichzeitig wird an dieser Stelle an die Aussage erinnert, die im Zusammenhang mit dem tiefen Selbstwert geäussert wurde, dass Erwachsene mit ADHS sich oft durch die Sichtweise der Mitmenschen sehen und beurteilen. So wird hier auf einen wichtigen Aspekt in Sozialbeziehungen aufmerksam gemacht, die Anerkennung, die von Pollmann gerade durch das zentrale Spannungsfeld zwischen ethisch-existentiellen Vorlieben und moralischen Werten eine wichtige Voraussetzung darstellt, um Integrität im Ganzen zu erlangen (vgl. S. 251-253). Diese differenzierte Betrachtung der vier Perspektiven des Integritätskonzepts zeigt, dass eine bedeutende Wechselbeziehung mit dem Umfeld stattfindet. Einerseits im zentralen Spannungsfeld zwischen ethisch-existentiellen Vorlieben und moralischen Werten, andererseits in der Erklärbarkeit dieses Spannungsfeldes auf der Ebene der psychologischen Dimension durch die Anerkennung über die Diagnose ADHS, ebenso wie 32

im Erlangen einer stimmigen Bejahung des gesamten Lebens als Integrität im Ganzen. So kann durch die Diagnose ADHS eine Integriertheit als Vereinbarkeit von Brüchen im gesamten Lebensverlauf auf der rationalen Ebene geschaffen werden, die emotionale Ebene wird jedoch erst durch die sozialphilosophische Dimension der Integrität angesprochen. Dabei wird ersichtlich, dass Selbstzweifel und Versagensängste bei Erwachsenen mit ADHS anzeigen, dass keine Integrität in ihrer Ganzheit vorliegt. Es wird die Bedeutung von Sozialbeziehungen hervorgehoben und damit auf die Rolle der Anerkennung verwiesen, die nun im folgenden Kapitel genauer betrachtet wird.

3.2

Anerkennung nach Honneth

Honneth (2014) unterscheidet drei verschiedene Anerkennungsweisen, Liebe, Recht und soziale Wertschätzung. Dabei schafft er eine Verbindung zwischen den Anerkennungsformen und dem Bezug einer Person zu sich selbst her. (vgl. S. 151) Die Liebe, die als emotionale Bindung in persönlichen Beziehungen, wie Eltern-KindBeziehungen, Intimbeziehungen oder freundschaftliche Beziehungen erkennbar wird, zeigt sich als ein gegenseitiges Anerkennen der Personen für ein Alleinsein mit sich selber innerhalb der Verbundenheit der Beziehung. (vgl. S. 153, 173) Die rechtliche Anerkennung zeigt sich durch das Zusprechen von Rechten an Personen in einer Gesellschaft, die diese handlungsfähig machen und ihnen ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dabei geht es um eine Anerkennung eines Menschen als Person und nimmt Bezug auf Eigenschaften, die allen Menschen gemeinsam sind. Die Erfahrung von rechtlicher Anerkennung wirkt sich in Form einer Selbstachtung auf die einzelne Person aus. (vgl. S. 190-195) Die soziale Wertschätzung unterscheidet sich von der rechtlichen Anerkennung dadurch, dass sie den Menschen mit seinen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten und damit verbundenen Leistungen in der Gesellschaft anerkennt (vgl. S. 197-198). Sie wird durch solidarische Beziehungen sichtbar (vgl. S. 208-210). Aus dem Blickwinkel der Fragestellung, welche Anforderungen sich an Sozialarbeitende in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS stellen, ist die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung von grosser Bedeutung, da sich einerseits die professionelle Beziehung von der persönlichen Beziehung unterscheidet. Die professionelle Beziehung wird später genauer ausgeführt. Andererseits weil sich diese Anerkennung auf die individuellen Fähigkeiten und Leistungen, die sich explizit von deren der Anderen unterscheiden bezieht. Dies ist im Zusammenhang mit Erwachsenen mit ADHS von zentraler Bedeutung, da sie gerade durch ihre grosse Verknüpfungsleistung als eine ihrer individuellen Fähigkeiten kreative Problemlösungsstrategien entwickeln, mit denen sie in ihrem sozialen Umfeld auf Widerstand und Grenzen stossen. 33

Ebenfalls ist ersichtlich, dass Honneth sich in seiner Auseinandersetzung mit Anerkennung durch soziale Wertschätzung auf die Ebene der Gesellschaft bezieht. Im Folgenden wird jedoch der Begriff der Gesellschaft auf das soziale Umfeld von Erwachsenen mit ADHS übertragen. Dies ermöglicht eine Nutzung der Theorie für die konkrete Handlungsebene im Alltag von Erwachsenen mit ADHS. In der direkten Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS und Fachkräfte der Sozialen Arbeit ist die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit nicht konkret fassbar und für eine Veränderung schwer zugänglich. Jedoch das soziale Umfeld von Erwachsenen mit ADHS als einen Teil der Gesellschaft kann konkret gefasst, definiert und in die Zusammenarbeit mit einbezogen werden. Somit wird die Gesellschaft aus der Perspektive einer höher abstrahierten Ebene auf die Mikroebene von Erwachsenen mit ADHS heruntergebrochen.

3.2.1 Soziale Wertschätzung Wie schon erwähnt richtet sich die soziale Wertschätzung nach Honneth auf die Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen, durch die er sich von anderen Menschen unterscheidet (vgl. S. 183). Gleichzeitig ist laut Honneth diese Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung damit verbunden, inwieweit sich diese individuellen Fähigkeiten und Leistungen der Umsetzung der kulturell definierten Werte der Gesellschaft beteiligen (vgl. S. 198). Die Fähigkeit der grossen Verknüpfungsleistung von Erwachsenen mit ADHS ermöglicht ihnen kreative Problemlösungen zu entwickeln mit denen sie in ihrem sozialen Umfeld auf Widerstand und an Grenzen stossen. Dadurch wird sichtbar, dass diese individuellen Leistungen von Erwachsenen mit ADHS durch ihr soziales Umfeld keine Anerkennung und Wertschätzung erfahren und diese Leistungen somit nicht den definierten Werten ihres sozialen Umfeldes entsprechen. Damit Erwachsene mit ADHS soziale Wertschätzung erfahren können, bedingt dies, dass ihr soziales Umfeld ihre Verknüpfungsleistung und damit ihre Fähigkeit zur Entwicklung von kreativen Problemlösungsstrategien anerkennt und diese als einen Beitrag für die Umsetzung der kulturellen Werte erkennt. Honneth geht weiter der Frage nach, wie sich der Wert von derart unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen bestimmen lässt. Hierfür benötigt es eine Bezugsgrösse, die Honneth in den ethisch-moralischen Vorstellungen einer Gesellschaft festlegt. So ermittelt sich der soziale Wert eines Menschen im jeweiligen Mass, wie seine individuellen Persönlichkeitsmerkmale der Umsetzung dieser ethisch-moralischen Vorstellungen einer Gesellschaft dienen. (vgl. S. 197- 198) Der soziale Wert und somit die soziale Wertschätzung wird damit nach Honneth durch das soziale Ansehen oder Prestige gemessen. In Verbindung mit der Individualisierung stellt Honneth fest, dass sich die soziale Wertschätzung nicht mehr an vorgegebenen Lebensweisen, sondern anhand von lebensgeschichtlich entwickelten 34

Fähigkeiten des einzelnen oder wie er ebenfalls ausdrückt an der individuellen Selbstverwirklichung orientiert. Daraus folgert Honneth, dass das soziale Ansehen als Mass der sozialen Wertschätzung bestimmt, wie weit die individuelle Selbstverwirklichung die Umsetzung der Wertvorstellung der Gesellschaft begünstigt. (vgl. S. 203- 204) Daraus kann abgeleitet werden, dass die fehlende Anerkennung durch das soziale Umfeld von Erwachsenen mit ADHS darauf beruht, dass ihre Art, sich auszudrücken und ihre Fähigkeiten umzusetzen, nicht der Umsetzung von Wertvorstellungen der sozialen Gemeinschaft entspricht. Wobei hier daraus geschlossen werden kann, dass es sich dabei um eine begrenzte Wertvorstellung handelt, denn es bezieht sich vor allem auf Verhaltenswerte. Daraus kann weiter ausgeführt werden, dass es eine Frage der Perspektive ist, aus welcher Sicht ein Verhalten als einen Mehrwert für die Gemeinschaft betrachtet wird. Auf diesen Aspekt wird in den Schlussfolgerungen nochmals eingegangen, denn aus der Herleitung der Anforderungen an Fachkräfte der Sozialen Arbeit kann auf die Frage nach dem Beitrag von Erwachsenen mit ADHS an die gemeinschaftlichen Werte durch ihre individuelle Leistungen und Fähigkeiten eine mögliche Perspektive aufgezeigt werden. Weiter umschreibt Honneth (2014), wie der einzelne diese soziale Wertschätzung in Bezug zu sich selber wahrnimmt, wie folgt: „Insofern geht (…) mit der Erfahrung sozialer Wertschätzung ein gefühlsmässiges Vertrauen darin einher, Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als „wertvoll“ anerkannt werden; wir können eine solche Art der praktischen Selbstbeziehung, für die umgangssprachlich der Ausdruck „Selbstwertgefühl“ vorherrscht, in kategorialer Parallele zu den bislang verwendeten Begriffen

des

„Selbstvertrauens“

und

der

„Selbstachtung“

sinnvollerweise

„Selbsteinschätzung“ nennen.“(S. 209)

Damit wird klar und deutlich der Einfluss des Umfeldes auf das Selbstwertgefühl des Einzelnen aufgezeigt. So schafft Wertschätzung des sozialen Umfeldes ein Vertrauen des Einzelnen, dass seine Leistungen wertvoll sind und damit wird ein Selbstwertgefühl entwickelt. Gleichzeitig kann daraus abgeleitet werden, dass der tiefe Selbstwert von Erwachsenen mit ADHS einen Ausdruck von fehlendem Vertrauen darstellt, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen von ihrem Umfeld anerkannt werden. Dieses fehlende Vertrauen wird darauf zurückgeführt, dass sie wenig soziale Wertschätzung erfahren. In Verbindung damit, dass Erwachsene mit ADHS sich selber aus der Perspektive ihres Umfeldes beurteilen und sich selber dadurch negativ beurteilen bekräftigt dies die Ableitung. Gleichzeitig wird dadurch der moralischen Dimension der Integrität von Erwachsenen mit ADHS und damit den gesellschaftlichen Erwartungen eine dominante Rolle zugesprochen.

35

Die mangelnde Anerkennung wird im folgenden Abschnitt konkreter auf Erwachsene mit ADHS dargestellt wobei nach Honneth auf Formen der Missachtung als fehlende Anerkennung eingegangen wird.

3.3

Formen der Missachtung

Honneth unterscheidet drei Formen der Missachtung, die leibliche Missachtung, die Erniedrigung und die Beleidigung. (vgl. S. 213-217) Im Zusammenhang mit Erwachsenen mit ADHS und ihrem Selbstwert sind konkret die Erniedrigung und Beleidigung genauer zu betrachten.

3.3.1 Erniedrigung Nach Honneth erfährt ein Mensch Erniedrigung, wenn er nicht im gleichen Ausmass wie andere vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gleichberechtigt partizipieren kann. Dies kann durch sozialen Ausschluss gegeben sein, wodurch sich die ausgeschlossene Person nicht als vollwertiger, moralisch gleichberechtigter Interaktionspartner fühlt. (vgl. S. 215-216) Honneth macht auf den kategorialen Unterschied und den unterschiedlichen Tiefengrad der psychischen Verletzung aufmerksam zwischen Vorenthaltung elementarer Grundrechte und der subtilen Demütigung und bezieht sich bei der Erniedrigung auf die Kategorie der Verletzung der rechtlichen Anerkennung (vgl. S. 212). Honneth spricht hier den sozialen Ausschluss auf höherer struktureller Ebene an. Dieser Ausschluss wird auf eine tiefere Ebene in zwischenmenschlichen Interaktionen bezüglich Anschluss und Mitspracherechten in sozialen Gruppen übertragen und mit Situationen von Erwachsenen mit ADHS verglichen. Daraus wird erkannt, dass Erwachsene mit ADHS aufgrund ihrer häufigen und längeren Arbeitslosigkeit, Scheidungen oder Beziehungsproblemen und Suchtproblematik gehäuft sozialen Ausschluss erleben. Wie Honneth weiterfolgert, erleben die Personen einen Verlust an Selbstachtung, im Sinne, dass sie sich nicht als fähige und gleichberechtige Interaktionspartner erkennen (vgl. S. 216). Die weiter vorne erwähnten Selbstzweifel ebenso wie der tiefe Selbstwert bei Erwachsenen mit ADHS können Ausdruck dieses Verlustes an Selbstachtung darstellen. Gleichzeitig drückt die Diagnose ADHS durch das Festhalten unveränderbaren biologischen Ursachen für die Verhaltensmerkmale eine, wie Honneth es nennt, „kognitive Achtung einer moralischen Zurechnungsfähigkeit“ (vgl. S. 216) aus. Weil dadurch den Erwachsenen mit ADHS durch die Diagnose nicht mehr weiter ein böser Wille unterstellt wird, der eine fehlende kognitive Achtung der moralischen Zurechnungsfähigkeit darstellen würde. Dadurch, dass Erwachsenen mit ADHS durch die Diagnose ein Recht auf Unterstützung oder Behandlung zugesprochen wird, kann darin eine Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten in sozialen Gemeinschaften gesehen werden. Hier zeigt sich auf,

36

dass sich die Anerkennung auf das nicht anders Können bezieht und Erwachsene mit ADHS dadurch von ihrem bösen Willen befreit werden.

3.3.2 Beleidigung- Entwürdigung Die Beleidigung oder Entwürdigung, so Honneth, als eine Missachtung des sozialen Wertes der individuellen Fähigkeiten und Leistungen wird von der einzelnen Person als einen Verlust der persönlichen Selbstschätzung wahrgenommen. Ihr wird dabei die soziale Zustimmung für eine Form von Selbstverwirklichung entzogen, wodurch negative Gefühlsreaktionen zum Ausdruck kommen, die Honneth als Scham oder auch Wut bezeichnet. (vgl. S. 217-219) Wenn dies nun auf Erwachsene mit ADHS übertragen wird, kann das hitzige Gemüt mit den explosiven Ausbrüchen als einen Ausdruck eben dieser Wut durch mangelnde Anerkennung der eigenen Selbstverwirklichungsform verstärkt werden. Ebenso wie der tiefe Selbstwert mit der Scham einhergehen kann, sich nicht nach den Erwartungen der Gesellschaft verhalten zu können. Damit wäre ebenso erklärbar, wie das psychosoziale Umfeld einen Einfluss auf ein minderes Ausmass der Symptomatik hat, nämlich durch eine anerkennende und wertschätzende Haltung gegenüber Fähigkeiten und Leistungen von Erwachsenen mit ADHS. Diese Erfahrung an intersubjektiver Anerkennung der eigenen Leistungen und Fähigkeiten betrachtet Honneth als eine notwendige Voraussetzung für eine unversehrte Selbstbeziehung. Er begründet dies dadurch, dass der Mensch, der in seinem Handeln zurückgewiesen wird oder auf Grenzen stösst sich dafür schämt, wobei die Scham auf sich selbst bezogen wird. (vgl. S. 220-223) Hier findet eine Übertragung von der Handlung auf die Person statt, durch die sich die betroffene Person als Mensch mit geringem sozialem Wert erlebt. Dabei unterscheidet Honneth, wer die Enttäuschung von normativen Erwartungen auslöst, die negative Gefühle mit sich bringen und zu einem minderen Selbstwert führen. Bei der Selbstverursachung fühlt sich die Person minderwertig, weil sie selber eine moralische Norm verletzt hat und dies gegen ihre eigene Selbstüberzeugung verstösst. (vgl. S. 223) Wir haben weiter vorne gesehen, dass Erwachsene mit ADHS sich grosse Mühe machen, sich entsprechend der sozialen Normen zu verhalten, dabei jedoch immer wieder scheitern oder sich bis zur Erschöpfung verausgaben. Dies zeigt auf, dass aufgrund dieses Scheiterns trotz grosser Bemühungen ein minderer Selbstwert durch die Enttäuschungen eigener Erwartungen an sich selber erklärt werden kann. Gleichzeitig muss das Fremdverschulden beachtet werden. Dieses führt Honneth aus, indem die Person sich verletzt fühlt, weil der Interaktionspartner sich nicht an die moralischen Normen hält, welche die Person in Bezug auf sich selber als sehr wertvoll betrachtet (vgl. S. 223). Wie wir weiter vorne aus den Ressourcen von Erwachsenen mit ADHS entnommen haben, sind ihnen soziale Werte wie Gerechtigkeit, Empathie, Hilfsbereitschaft und Respekt sehr wichtig. Es kann nun davon ausgegangen werden, dass sie die Einhaltung dieser Werte 37

somit auch von Mitmenschen ihnen gegenüber erwarten. Jedoch durch den Ausschluss und die Widerstände, die sie durch ihr Verhalten in Interaktionen erfahren, werden ihnen gegenüber diese Werte verletzt. Dadurch wird das Gefühl für den eigenen Wert über die Reaktion des Umfeldes mitbeeinflusst. Da Erwachsene mit ADHS sich selber durch die Fremdperspektive bewerten zeigt dies deutlich, dass Anerkennung und Wertschätzung des Umfeldes einen wichtigen Faktor darstellt, damit Erwachsene mit ADHS ein Gefühl für den eigenen Wert erleben und dadurch Selbstschätzung erfahren. Nach Honneth kann die Person die Spannung der Gefühle, die er durch die Missachtung erleidet nur durch aktives Handeln auflösen (vgl. S. 225). Wird dieses aktive Handeln auf die Verhaltensmerkmale von Erwachsenen mit ADHS bezogen, zeigt sich hier eine verstärkende wechselseitige Wirkung. Daraus kann abgeleitete werden, dass das Umfeld über Anerkennung und Wertschätzung Erwachsene mit ADHS unterstützen kann, die Symptomatik zu reduzieren. Dadurch, dass Erwachsene mit ADHS durch die eigenen Erwartungen an sich selber und dadurch selbstverursacht am tiefen Selbstwert aktiv beteiligt sind, ist die Relevanz der anerkennenden und wertschätzenden Haltung des Umfeldes zu betonen.

3.4

Anerkennung über soziale Beziehungen

Damit nun jede Person die Möglichkeit soziale Wertschätzung in der Form von Ansehen erfahren kann, benötigt es nach Honneth (2014) Solidarität, die er grundsätzlich wie folgt definiert: …; denn unter „Solidarität“ lässt sich in einem ersten Vorgriff eine Art von Interaktionsverhältnis verstehen, in dem die Subjekte wechselseitig an ihren unterschiedlichen Lebenswegen Anteil nehmen, weil sie sich untereinander auf symmetrische Weise wertschätzen. (S. 208)

Damit wird die Solidarität als eine Beziehungsbindung ausgedrückt, welche Empathie gegenüber der Selbstverwirklichung eines jeden auf der Grundlage von gleichwertiger und gegenseitiger Wertschätzung beinhaltet. Dabei soll erinnert werden, dass gerade den unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten der Einzelnen diese Wertschätzung und Anerkennung gebührt. Honneth präzisiert, dass diese Anteilnahme nicht nur eine passive Toleranz gegenüber der Unterschiedlichkeit des Anderen sein muss damit von solidarischen Bindungen gesprochen werden kann, sondern bedingt ebenso einen emotionalen Anteil. Dieser emotionale Anteil bewirkt nach Honneth eine aktive Bemühung, die ermöglichen soll, dass die unterschiedlichen Eigenschaften im Anderen sich entfalten können, damit die gemeinsamen Ziele verwirklicht werden. (vgl. S. 210) Somit wird soziale Wertschätzung über eine empathische Beziehungsbindung mit einem emotionalen Anteil übermittelt, welcher ein 38

aktives Bemühen ausdrückt, die Eigenschaften und Fähigkeiten des Anderen zur Entfaltung zu bringen. Es wird festgehalten, dass das tiefe Selbstwertgefühl und die Versagensängste von Erwachsenen mit ADHS Ausdruck mangelnder Integrität darstellen. Um Integrität in ihrer Ganzheit zu erfahren und damit das Leben als stimmiges Ganzes zu bejahen, bedürfen Erwachsene mit ADHS Anerkennung durch ihr soziales Umfeld. Erst durch diese Anerkennung für ihre Fähigkeiten und Leistungen als einen wertvollen Beitrag zur Umsetzung der kulturellen Werte kann ein unversehrtes Selbstwertgefühl aufgebaut werden. Es wurde aufgezeigt, dass Erwachsenen mit ADHS gerade diese Anerkennung und Wertschätzung abgesprochen wird durch sozialen Ausschluss ebenso wie durch Zurückweisung ihrer Handlungen. Dabei erleben sie einerseits die Zurückweisung, aus einer Enttäuschung nicht den normativen Erwartungen entsprochen zu habe, wobei sie sich selber dafür verurteilen. Und andererseits erleben sie die Zurückweisung, weil ihnen durch das Verhalten der anderen nicht den gleichen Respekt und die gleiche Achtung entgegengebracht wird, wie sie es von ihren Mitmenschen erwarten. Damit kann eine verstärkende Wirkung des sozialen Umfeldes auf Verhaltensmerkmale von Erwachsenen mit ADHS erklärt werden, weil durch die fehlende Anerkennung Scham und Wut verursacht wird und diese inneren unangenehmen Gefühle nur über eine aktive Handlung bewältigt werden kann. Gleichzeitig wird die Anerkennung über soziale Beziehungen, die durch ihren emotionalen Anteil ein aktives Bemühen ausdrücken, die Entfaltung der Fähigkeiten des Anderen zu ermöglichen, übermittelt. Daraus wird für die Soziale Arbeit und ihr professionelles Handeln die Anforderung einer anerkennenden und wertschätzenden Haltung gegenüber ihrer individuellen Leistungen und Fähigkeiten abgeleitet, damit die Integrität von Erwachsenen mit ADHS ermöglicht und gewahrt wird. Gleichzeitig müssen die Leistungen mit einem Beitrag zur Umsetzung von kulturell definierten Werte oder einem gemeinsamen Ziel in Verbindung gebracht werden. Ebenso wird eine Beziehung, die ein aktives Bemühen beinhaltet, Erwachsenen mit ADHS die Entfaltung ihrer Verknüpfungsleistung ebenso wie ihrer weiteren Fähigkeiten ermöglicht. Während die Beziehungsgestaltung im letzten Kapitel betrachtet wird, wird im folgenden Kapitel auf die wertschätzende, anerkennende Haltung im professionellen Beratungssetting der Sozialen Arbeit eingegangen werden. In diesem Zusammenhang wird auf das Handlungsmodell der Passung von Maja Heiner genauer eingegangen.

39

4 Handlungsmodell für die Soziale Arbeit Wie aus dem vorangegangenen Abschnitt erkannt wurde benötigen Erwachsene mit ADHS ein wertschätzendes und anerkennendes Umfeld in Bezug auf ihre individuellen Leistungen und Fähigkeiten. Gleichzeitig benötigen sie ausreichend Raum, damit sie ihre Fähigkeiten ausbilden und verwirklichen können. In diesem Kapitel wird nun kurz auf den autoritativ – partizipativen Erziehungsstil eingegangen, der sich in der Zusammenarbeit mit Kindern mit ADHS als Beitrag des Umfeldes zur Verminderung der Verhaltensmerkmale gesehen wird. Es werden dabei die Charakteristika von Anleitung, Anregung und Anerkennung hervorgehoben. Danach wird auf das Handlungsmodell der Passung für professionelles Handeln, als ein Äquivalent zum Erziehungsstil, in der Sozialen Arbeit eingegangen. Dabei wird das professionelle Handeln aus der Perspektive von methodischem Vorgehen in der Sozialen Arbeit als Anleitung und die Ressourcenorientierung in der Sozialen Arbeit als Anregung aus dem autoritativ – partizipativen Erziehungsstil auf Erwachsen mit ADHS übertragen. Wobei auf den Ausdruck und die Umsetzung der Ressourcenorientierung genauer eingegangen wird. Aus dieser Betrachtung werden Anforderungen an Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS abgeleitet.

Da die Auseinandersetzung mit ADHS in Bezug auf Kinder auf einen längeren Erfahrungsweg zurückgreifen kann als diejenige für Erwachsene sollen hier einige Erkenntnisse im Umgang mit Kindern mit ADHS aufgenommen und auf Erwachsene übertragen werden. Die Übertragung und insbesondere der Vergleich von Erziehungsstil mit der professionellen Handlungsweise in der Sozialen Arbeit ist dadurch begründet, dass es in der Diskussion über die verschiedenen Erziehungsstile um dieselben Charakteristika geht, wie sie sich auch in der Diskussion über professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit ergeben. So zeigen sich die verschiedenen Erziehungsstile anhand ihrer unterschiedlichen Anteile von zwei Charakteristika, das eine ist die Zuwendung und Unterstützung und das andere ist die Lenkung und Kontrolle (vgl. Hänig, 2014, S. 13). Während in der Sozialen Arbeit das doppelte Mandat, als ein Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur, ein Spannungsfeld von Handeln zwischen den gegenüberstehenden Polen von Hilfe und Kontrolle umschreibt (vgl. Von Spiegel, 2008, S. 37). Somit kann der Erziehungsstil als ein Äquivalent zu Handlungsmodellen der Sozialen Arbeit gesehen werden.

4.1

Der autoritativ – partizipative Erziehungsstil bei Kinder mit ADHS

In der Auseinandersetzung mit Kindern mit ADHS stellt Hänig (2014) fest, dass sich der autoritative Erziehungsstil als Schutzfaktor gegen die Verstärkung der Verhaltensmerkmale darstellt. Dieser Erziehungsstil ermöglicht ein klares, regelgeleitetes, wohlwollendes und 40

autonomieförderndes Umfeld (vgl. S. 18). Ergänzend wird dieser Erziehungsstil von Hurrelmann (2006) autoritativ - partizipativ genannt und umschreibt drei zentrale Pole: Anerkennung, Anregung und Anleitung. Bei der Anerkennung hebt Hurrelmann emotionale Zuwendung und Akzeptanz hervor. Die Anregung charakterisiert Hurrelmann durch positive Rückmeldungen bezüglich des Entwicklungsstandes und durch Impulse für eine Weiterentwicklung, während er unter Anleitung eine Festlegung klarer Vereinbarungen und Umgangsformen versteht. (vgl. S. 164-165) Entscheidend in der Umsetzung ist nach Hurrelmann der Aufbau von Beziehung, welche durch Offenheit, Aufrichtigkeit, Konsequenz, gegenseitiges Vertrauen und Achtung der unterschiedlichen Bedürfnisse aufgebaut wird. Ebenso hält der Autor Empathie, freundliches Begleiten mit ständiger Partizipationsmöglichkeiten und konsequenten Sanktionen fest. (vgl. S. 166-167) In der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS sind Sanktionen eher in der Art zu betrachten, als dass der Erwachsene für sein Handeln selbstverantwortlich ist und mögliche Konsequenzen dafür selber tragen muss. Diese erforderlichen Charakteristika umschreiben eine wertschätzende, anerkennende und autonomiefördernde Haltung der Eltern gegenüber ihren Kindern. Übertragen auf die Soziale Arbeit kann diese Haltung der Fachkraft gegenüber der Klientel im Passungsmodell nach Heiner erkannt werden. Gleichzeitig können darin auch Elemente der Anerkennung, Anregung und Anleitung gesehen werden.

4.2

Handlungsmodell der Passung in der Sozialen Arbeit

Die Ausgangslage der Unterscheidungen der verschiedenen Handlungsmodelle von Maja Heiner (2010), welche sie aus empirischen Fallstudien erarbeitet hat, bildet die Haltung der Fachkraft. Diese Haltung wird von Heiner differenziert betrachtet, einerseits gegenüber der Klientel und andererseits gegenüber dem eigenen methodischen Handeln und damit auch dem institutionellen Dienstleistungsangebot. Dabei unterscheidet Heiner die Haltung der Fachkraft gegenüber der Klientel durch die Kriterien der Ressourcenorientierung, Beziehungsbereitschaft und Motivationsorientierung. Während sie die Haltung der Fachkraft gegenüber dem eigenen professionellen Handeln und der Dienstleistungsangebot der Institution durch die Kriterien der Effektivität und Qualität unterscheidet. (vgl. S. 406-407)

4.2.1 Anleitung im professionellen Handeln der Sozialen Arbeit Laut Heiner drückt sich die Haltung der Fachkraft im Passungsmodell durch eine hohe Ressourcenorientierung, eine grosse Bereitschaft zu persönlicher Nähe sowie einer grossen Motivationsorientierung gegenüber der Klientel aus (vgl. S. 407). In Anbetracht, dass Erwachsene mit ADHS sich selber aufgrund der Reaktionen auf ihre Verhaltensmerkmale und aus der Perspektive ihres Umfeldes negativ beurteilen, zeigt sich hier durch diese 41

Haltung der Fachkraft ein Potential zur Veränderung. Gleichzeitig, so ergänzt Heiner, verfügt die Fachkraft über eine feste Überzeugung, dass Effizienz und Qualität des Angebotes und des eigenen Handelns vorhanden ist (vgl. S. 411). Hier betont die Autorin, dass es sich dabei nicht um die Überzeugung handelt, welche die gegebenen Angebote und ihr Handeln harmonisch stimmig und makellos für die Klientel eignet, sondern im Gegenteil, dass auch Schwierigkeiten, Unsicherheiten und Niederlagen beachtet werden (vgl. S. 411). Es zeichnet sich schon an dieser Stelle ab, dass die Grundlage für die Überzeugung in der Art und Weise besteht, wie Angebot und professionelles Handeln umgesetzt werden. Wie dies nun nach dem Passungsmodel konkret ausgestaltet wird, zeigt Heiner deutlich in der folgenden Aussage auf: „Sie (Fachkräfte P.W.) gehen dabei nicht davon aus, dass ihr Angebot schon immer auf die Bedürfnisse der Klientel zugeschnitten ist und dass die üblichen Interventionen auch für diesen Fall die angemessene Lösung darstellen. Sie bemühen sich vielmehr darum, diese Passung durch einen fallspezifischen Zuschnitt ihrer Interventionen zu erreichen, und sie überprüfen immer wieder die Qualität ihres Angebotes auf der Grundlage kontinuierlicher Erkundigungen des Möglichen und einer interventionsbezogenen Evaluation ihres eigenen Tuns.“ (S. 411)

Diese Aussage kann als die Grundvoraussetzung für die Grundhaltung der Fachkraft des Passungsmodells betrachtet werden, denn sie zeigt einen dynamischen Prozess auf. In diesem Prozess muss die Fachkraft flexibel und offen Interventionen auf die Bedürfnisse der Klientel abstimmen und immer wieder alle Möglichkeiten ausloten und auswerten. Dies ist notwendig, damit eine Stimmigkeit, einerseits für die Klientel und andererseits im Anspruch an die Qualität der Intervention erreicht werden kann. Diese Stimmigkeit kann die Fachkraft jedoch nicht allein bewirken, so dass dies eine Kooperation der Klientel bedingt. Diese Kooperation umschreibt Heiner deutlich mit folgenden Worten: „Sie (Fachkräfte P.W.) schreiben den KlientInnen viele Ressourcen zu, handeln die Ziele und Anforderungen mit ihnen aus und bemühen sich um ihre Motivierung.“ (S. 412)

Dieses Aushandeln von Zielen und Anforderungen stellt die Fachkraft gerade in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS vor Herausforderungen. Da Erwachsene mit ADHS Informationen umfassender kombinieren und vernetzen können und auf Lösungswege kommen können, denen unter Umständen die Fachkraft nicht folgen kann, benötigt es gerade dabei ein grosses Interesse, die Gedankengänge von Erwachsenen mit ADHS nachvollziehen zu können, um daraus auch Ressourcen zu erkennen. Dabei kann das Wissen bezüglich der Informationsverarbeitung von Erwachsenen mit ADHS der Fachkraft helfen, ihnen diesbezüglich auch Ressourcen zu zusprechen. Dadurch zeigen sich 42

Anforderungen an die Fachkraft, die über Interesse an der Individualität der Klientel und Offenheit für neue Lösungsstrategien verfügen sollte. In diesem methodischen Handeln der Fachkraft von Festlegen der Intervention, einer Evaluation und Anpassung kann eine Übertragung der Anleitung gemäss dem Erziehungsstils gesehen werden. So werden hier Vereinbarungen festgelegt und bei der Umsetzung immer wieder darauf Bezug genommen. Wobei die Partizipation und Kooperation der Klientel notwendig ist. Dieses Handeln der Fachkraft kann Erwachsene mit ADHS einerseits führen und andererseits Ablenkungen ausgleichen, damit Aufgaben bewältigt werden können. Ergänzend räumt Heiner in diesem Handlungsmodell der Beziehung zwischen Fachkraft und Klientel eine zentrale Rolle ein (vgl. S. 412). So ist darin eine weitere Parallele zum autoritativ - partizipativen Erziehungsstil zu erkennen. Erwachsene mit ADHS erfahren in Sozialbeziehungen grosse Schwierigkeiten, obwohl sie über viele soziale Ressourcen verfügen. Daher stellt die Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS bezüglich Beziehungsarbeit einen weiteren wichtigen Aspekt dar und wird im letzten Kapitel noch ausführlicher betrachtet. Im Weiteren wird auf die Haltung der Fachkraft gegenüber der Klientel bezüglich Ressourcen- und Motivationsorientierung näher eingegangen.

4.2.2 Anregung durch Ressourcenorientierung Die Haltung der Ressourcenorientierung wird von Heiner als einen Punkt von zentraler Bedeutung hervorgehoben. Einerseits zeigt sich diese Haltung, in dem Fachkräfte in Defiziten der Klientel Stärken erkennen und Fähigkeiten aufdecken. Andererseits ergänzt Heiner, dass die Fachkräfte auch in anspruchsvollen Fallverläufen positive Entwicklungen erkennen können. Diese positive Sichtweise der Fachkraft kann durch die Rückmeldung an die Klientel eine motivationsfördernde Wirkung haben und dadurch bei der Klientel Hoffnung und eigene Kräfte mobilisieren. (vgl. S. 412) Somit kann diese positive Sichtweise der Fachkraft als eine Hilfe zur Selbsthilfe angesehen werden, indem die Klientel dadurch einen Anstoss für mögliche Veränderungen gegeben wird. Diese ressourcenorientierte Haltung von Professionellen der Sozialen Arbeit kann die individuellen Fähigkeiten und Leistungen von Erwachsenen mit ADHS anerkennen und wertschätzen und sie dadurch in ihrem Selbstwert bestärken. So können Verhaltensmerkmale zu kreativen Problemlösungsstrategien werden und daraus Stärken abgeleitet werden. Darin wird eine weitere Übertragung vom autoritativ - partizipativen Erziehungsstil auf das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit erkennbar. So kann in dieser Handlungsweise der Fachkraft eine Anregung gemäss dem autoritativ - partizipativem Erziehungsstil gesehen werden. 43

Heiner geht weiter davon aus, dass der Motor für diese positive Haltung und Motivierungsbereitschaft der Fachkraft der Glaube an den Veränderungswillen der Klientel ist. So sehen die Fachkräfte, gemäss Autorin, die Bemühungen der Klientel ihr Leben auf ihre Weise zu meistern als einen positiven Versuch der Selbstverwirklichung an, selbst wenn dieser misslingt. (vgl. S. 413-414) Das würde für Erwachsene mit ADHS bedeuten, dass sie gerade durch ihre Verhaltensmerkmale ihr Leben auf ihre Art zu meistern versuchen. So kann konkret das Unvermögen, Dinge zu Ende zu führen auch so angesehen werden, dass für den eigenen Entwicklungsweg die betroffene Person genügend erkennt hat und das zu Ende bringen sich für sie erübrigt. So kann im Zusammenhang mit der Fähigkeit der Hyperfokussierung auch abgeleitet werden, dass die Sache für die Betroffenen keine Herausforderungen mehr ist oder kein genügend grosses Interesse mehr besteht, um die Sache zu Ende zu bringen. Woraus eine Stärke abgeleitet werden kann, da sie erkennen, wann es für sie stimmig ist aufzuhören. Dieses Umformulieren kann Erwachsenen mit ADHS die Möglichkeit geben, ihre individuellen Fähigkeiten und Leistungen zu entfalten und bewusst einzusetzen, weil es ihnen den Druck nehmen kann, anders sein zu müssen. So erfahren Erwachsene mit ADHS, dass ihre Verhaltensmerkmale nicht nur Defizite sind, die so gut wie möglich abgebaut werden müssen, sondern ebenfalls Ressourcen sind, die bewusst eingesetzt werden können. Dies eröffnet einen grösseren Handlungsraum für die Entfaltung. Gleichzeitig ist der Abbau von Defiziten mit Druck und Arbeit verbunden, während die Nutzung von Ressourcen mit Lust und Freude assoziiert wird. Ebenso wird damit ein Lernerfolg möglich, weil, so Hüther (2014) in seinem Vortrag festhält, dass das menschliche Hirn nur lernt was für dieses bedeutsam ist und diese Lernprozesse im Hirn gleichzeitig nur über die Begeisterung angeregt werden. Über die direkte Wirkung der Haltung der Fachkraft auf die Klientel selber führt Heiner (2010) weiter aus, dass durch die ressourcenorientierte Handlungsweise der Fachkraft gemäss dem Passungsmodell gleichzeitig weitere aktive Kräfte des Systems mit beeinflusst werden. So erwähnt Heiner, dass damit der Druck der Gesellschaft vermindert oder produktiv genutzt und das Unterstützungspotenzial beteiligter Organisationen erhöht werden kann. (vgl. S. 423-424) Hier muss hinzugefügt werden, dass als extern beteiligte Organisationen, wie Heiner die Schule als Beispiel erwähnt (vgl. S. 418) bei Erwachsenen mit ADHS ebenso das persönliche Umfeld, wie Familie oder Arbeitgeber miteinbezogen werden kann. Diese Entlastung durch das direkte Umfeld, welche indirekt über eine passende Intervention erwirkt wird, kann für Erwachsene mit ADHS mehr Raum für ihre individuellen Fähigkeiten anbieten. Es wird hier festgehalten, dass die konsequente ressourcenorientierte Haltung der Fachkraft gegenüber Erwachsenen mit ADHS hohe Anforderungen an die Person stellt. So muss sie stets Positives erkennen, offen sein für Unbekanntes, flexibel im Handeln sein und die 44

kleinsten Details wahrnehmen, die den Glauben an die Veränderungsfähigkeit von Klientel oder Dienstleistungsangebot aufrecht erhalten.

4.2.3 Ausdruck der ressourcenorientierten Haltung Heiner zeigt auf, dass die ressourcenorientierte Haltung einerseits geprägt wird durch ein konsequentes Reframing und andererseits durch ein teilweises Übernehmen der Sichtweise des Klienten. So erwähnt sie das Reframing, indem konkret Defizite zu Ressourcen und aus Verhaltensauffälligkeiten spannende Problemlösungen umformuliert werden. Dadurch können Rollen, wie diejenige von Versager oder Opfer, aus ganz anderer Perspektive neu wahrgenommen und umgedeutet werden. Die neue Sichtweise ermöglicht, dass Versager oder Opfer zu Akteuren mit individuellen Kompetenzen werden. Wenn auch keine äusserliche Veränderung stattfindet, wird zumindest der Entscheid dies nicht zu wollen offen dargelegt und dadurch Eigenverantwortung durch die Klientel übernommen. (vgl. S. 412413) Diese Übernahme von Eigenverantwortung kann gerade in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS bewirken, dass sie sich durch ihre eigene Sichtweise wahrnehmen und die Möglichkeit erfahren, sich von der Beurteilung und Reaktionen des Umfeldes teilweise zu lösen. Ergänzend zum Reframing verhilft nach Heiner, das teilweise Übernehmen der Sichtweise der Klientel, durch die Fachkräfte, wie sie es mit folgenden Worten anschaulich darstellt: „(…) in der Art der KlientInnen, ihr Leben zu gestalten, zumindest ein positives Element von Eigensinn und Überlebensmut entdecken und den Willen, irgendwie seinen eigenen Weg

zu

gehen,

wertschätzen.

(…)

und

sogar

das

Scheitern

wird

zum

anerkennenswerten, wenn auch missglückten Versuch, dem Leben Sinn zu geben.“ (S. 413)

Dies zeigt einen respektvollen Umgang mit der Wirklichkeitskonstruktion der Klientel auf, indem ihre Sichtweise übernommen wird, um daraus wiederum Stärken und Ressourcen abzuleiten. Für Erwachsene mit ADHS bedeutet dies, dass sie in ihrer Sichtweise und damit in ihrem Wissen über das eigene Potenzial bestärkt und wertgeschätzt werden. Dies erfordert jedoch, so Heiner, eine hohe mehrdimensionale und mehrperspektivische Reflexionskompetenz (vgl. S. 413). Einerseits zeigt diese Voraussetzung auf, dass sich die ressourcenorientierte Haltung über Reflexion angeeignet werden kann. Andererseits setzt die Notwendigkeit zur Reflexion eine ressourcenorientierte Sichtweise und eine differenzierte und vielseitige Verknüpfungsfähigkeit der Fachkraft voraus. Die konsequente Anwendung der positiven Umformulierung, sowie des fragmentierten Übernehmens der Sichtweise der Klientel, um daraus Stärken abzuleiten drückt eine ressourcenorientierte Haltung durch die Fachkraft aus. Gleichzeitig wird damit auch ein 45

Vorgehen beschrieben, mit dessen Hilfe sich Professionelle der Sozialen Arbeit die ressourcenorientierte Haltung aneignen oder verfestigen können. Daraus stellen sie wiederum neue Anforderungen an die Fachkraft hinsichtlich eines umfassenden Reflexionsvermögens und einer damit einhergehenden vielseitigen und differenzierten Verknüpfungsleistungen und der Fähigkeit zu Perspektivenwechsel. Zusammenfassend betrachtet kann Wertschätzung und Anerkennung gegenüber der Fähigkeiten und Leistungen von Erwachsenen mit ADHS von Professionellen der Sozialen Arbeit durch professionelles Handeln nach dem Passungsmodell, welches durch eine ressourcenorientierte Haltung der Fachkraft geprägt ist, ausgedrückt werden. Dafür werden von Fachkräften folgende Kompetenzen gefordert: Stärken auch in Defiziten zuerkennen, Offenheit für Unbekanntes, Flexibilität im methodischen Handeln, Aufmerksamkeit für Details, Interesse für die Sichtweise der Klientel, differenzierte Reflexion und ein Glaube an die Veränderungsfähigkeit der Klientel sowie an die Effizienz der Dienstleistungsangebote und methodischen Handelns. Das kooperative Vorgehen von Fachkräften und Klientel für eine stimmige Intervention als eine wichtige Voraussetzung einerseits sowie die erforderlichen Kompetenzen der Fachkraft weisen auf die Bedeutung der Beziehung zwischen Fachkraft und Klientel hin. Daher wird im nächsten Kapitel näher auf die Beziehung zwischen Sozialarbeitende im freiwilligen Beratungssetting eingegangen, um aus der Beziehungsarbeit weitere Anforderungen an die Fachkraft in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS abzuleiten.

46

5 Professionelle Beziehung aus der Sicht von Nähe und Distanz Bisher wurde festgestellt, dass ein anerkennendes und wertschätzendes Umfeld von Erwachsenen mit ADHS, dazu beitragen kann, damit sie sich mit ihren ganz individuellen Fähigkeiten und Leistungen als ein wertvolles Gesellschaftsmitglied sehen und einbringen können. Es wurde abgeleitet, dass die Anerkennung und Wertschätzung über eine solidarische Beziehung übermittelt werden, deren affektiven Anteil ein aktives Bemühen ausdrückt, die Fähigkeiten und Leistungen der anderen Person zu fördern. Ebenfalls konnte aufgezeigt werden, dass das Handlungsmodell der Passung in der Sozialen Arbeit nach Heiner ein professionelles Handeln von Fachkräften der Sozialen Arbeit umschreibt, welches in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS ein förderliches Umfeld darstellt. Da die konsequente ressourcenorientierte Haltung von Fachkräften eine wertschätzende, anerkennende und autonomiefördernde Zusammenarbeit ermöglicht, die anregt und Erwachsenen mit ADHS dazu verhelfen kann ihren Selbstwert zu stärken und ihre Fähigkeiten zu entfalten. Dabei wird der Beziehung in diesem professionellen Handeln eine wichtige Rolle zugetragen, die eine grosse Bereitschaft an persönlicher Nähe der Fachkraft gegenüber der Klientel fordert, damit die Fachkraft die Klientel in der Entfaltung ihres Potenzials motivieren kann. Dies zeigt einerseits, dass die ressourcenorientierte Haltung stark mit einer Beziehungsgestaltung verbunden ist, in der persönliche Nähe zugelassen werden muss. Andererseits verweist die Gemeinsamkeit von einer gefühlsmässigen Anteilnahme, die ein aktives Bemühen bewirkt, in solidarischen Beziehungen wie auch in professionellen Arbeitsbeziehungen, dass über die Arbeitsbeziehung Anerkennung und Wertschätzung übermittelt werden kann. In diesem Kapitel wird die Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Erwachsener mit ADHS unter dem Blickwinkel von Nähe und Distanz genauer betrachtet. Dafür werden die folgenden Charakteristika einer professionellen Beziehung, die Institutionalisierung der Beratung, die Aufgabenorientierung und das Rollenverhalten in Bezug auf ihren distanzschaffenden Anteil an der Arbeitsbeziehung dargelegt. Es wird ebenfalls auf die persönliche Nähe in der Arbeitsbeziehung eingegangen, die eine Kooperation und Partizipation ermöglicht. Es wird dabei aufgezeigt, dass die Fachkraft in ihrer Beziehungsgestaltung persönliche Nähe durch das reflektierte Einbringen der eigenen Person und durch die Personenorientierung an der Klientel einbringen kann. Gleichzeitig wird aufgezeigt, dass in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS eine Arbeitsbeziehung mit einem grossen Anteil an persönlicher Nähe erforderlich ist, um das ausgeprägte distanzschaffende Setting der freiwilligen Beratung für eine tragende Arbeitsbeziehung auszugleichen. Dies erfordert von der Fachkraft eine hohe Reflexion über die eigene Person, eine grosse Empathie und Authentizität. Dies stellt die Anerkennung aus 47

der Übertragung vom autorititativ – partizipativen Erziehungsstil ins Handlungsmodell der Sozialen Arbeit dar.

5.1

Distanz in professionellen Beziehungen

Nach Heiner (2010) können einer professionellen Beziehung die charakteristischen Merkmale der Aufgabenorientierung, eines Rollenverhaltens mit einem damit verbundenen Machtgefälle und einer Institutionalisierung zugeordnet werden. Gleichzeitig hält Heiner fest, dass die Aufgabenorientierung mit einer Personenorientierung und die Asymmetrie des Machtgefälles mit einer Beziehungsgestaltung, die eine Ebene schafft auf der sich Fachkraft und Klientel ebenbürtig sind, ausgeglichen werden muss. (vgl. S. 460-467) Daraus wird festgehalten, dass es die Charakteristika Aufgabenorientierung, Rollenverhalten und Institutionalisierung auf eine persönliche Distanz hindeuten, weil aus diesen Begriffen eine Orientierung an allgemeingültigen Strukturen, Sachorientierung und Funktionen suggeriert wird. Ebenfalls wird eine persönliche Distanz dieser Charakteristika übermittelt, indem als gegenüberliegende Pole die Personenorientierung und eine gemeinsame Handlungsebene für eine Zusammenarbeit erwähnt werden, die eine persönliche Nähe ausdrücken. Somit bewegt sich die Fachkraft in der Beziehungsgestaltung zwischen den zwei Polen von persönlicher Nähe und Distanz.

5.1.1 Distanz durch Institutionalisierung Arbeitsbeziehungen sind, so die Heiner (2010), eingebettet in Rahmenbedingungen von Organisationen und dadurch ein Stück weit institutionalisiert. Die Institutionalisierung drückt Heiner deutlicher aus, indem sie Arbeitsbeziehungen als zeitlich, inhaltlich und emotional begrenzt bezeichnet. Wodurch Arbeitsbeziehungen in Bezug auf den Austausch von Gedanken und Gefühlen vor allem von Seiten der Fachkraft distanziert und selektiv sind. (vgl. S. 462) Dies zeigt deutlich auf, dass ein Beratungssetting innerhalb einer Organisation Distanz zur Klientel schafft. Diese Distanz kommt dadurch zum Ausdruck, dass allgemein gültige Abläufe und Strukturierung der Beratung durch Vorgaben der Organisation definiert werden, innerhalb dieser die Arbeitsbeziehung zwischen Klientel und Fachkraft stattfindet. So wird einerseits für die Beratung ein definiertes Zeitfenster gewährt und der zuständige Themenbereich der Organisation ist ebenso definiert. Andererseits wird durch die Institutionalisierung der Beratung eine Distanz zur Alltagsnähe geschaffen, indem die Klientel zur Beratungsstelle kommt und nicht die Fachkraft die Klientel zuhause in ihrer Lebenswelt aufsucht (vgl. S. 458).

5.1.2 Distanz durch Aufgabenorientierung Das weitere Merkmal der Aufgabenorientierung von professionellen Beziehungen zeigt sich nach Heiner darin, dass das Bewältigen einer Aufgabe und somit das Verfolgen einer 48

Zielvorstellung die Grundvoraussetzung für eine berufliche Beziehung darstellt (vgl. S. 460). Dies wird ebenfalls deutlich sichtbar durch die Hilfsprozessplanung, bei der nach von Spiegel (2008) Schritt für Schritt die Bewältigung eines Problems oder einer Situation erarbeitet wird (vgl. S. 124). Es wird erkannt, dass eine zielgerichtete und strategisch geplante Aufgabenbearbeitung Gegenstand der gemeinsamen Zusammenarbeit zwischen Klientel und Fachkraft darstellt und diese Zusammenarbeit eine Beziehung zwischen Fachkraft und Klientel ermöglicht. Dabei macht Heiner darauf aufmerksam, dass eine strikte Verfolgung der strategischen Aufgabenerfüllung eine Beziehung funktionalisieren kann (vgl. Heiner, 2010, S. 465) Wird eine Beziehung funktionalisiert, so wird diese zu einem Instrument mit dessen Hilfe ein Ziel erreicht werden möchte. Fraglich ist, ob in einer funktionalisierten Beziehung der Mensch mit seiner Persönlichkeit und emotionalen Anteilen noch wahrgenommen wird und darauf eingegangen werden kann. So hängt es davon ab, wie diese Beziehung gestaltet wird, ob darin persönliche Nähe zugelassen wird, oder von der Fachkraft nur auf der Basis der Aufgabenerfüllung argumentiert wird. Dabei besteht die Möglichkeit einer Distanzierung der Fachkraft zur Klientel, wenn der persönliche und emotionale Anteil innerhalb der Beziehung reduziert wird und die Aufgabenorientierung im Zentrum steht. Somit kann eine allzu starke Fokussierung auf die Aufgabenerfüllung eine persönliche Distanz in der Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Klientel schaffen.

5.1.3 Distanz durch Rollenverhalten Das charakteristische Rollenverhalten von Fachkräften in beruflichen Beziehungen leitet Heiner aus der Aufgabenorientierung ab. So stellt sie fest, dass das Rollenverhalten von Fachkraft und Klientel aufeinander abgestimmt und für die Aufgabenbewältigung komplementär sein sollte (vgl. ebd. S. 463). So kann also das methodische Vorgehen der Fachkraft bezüglich des Hilfsprozesses als ein ergänzendes Verhalten betrachtet werden, welches Erwachsene mit ADHS in der kontinuierlichen Verfolgung der Aufgaben begleitet. Heiner erwähnt gleichzeitig, dass die Rolle der Fachkraft und diejenige der Klientel nicht austauschbar sind. Dies ist mit Asymmetrie der Wissensmacht zu begründen. So verfügt die Fachkraft über ein professionelles Fachwissen während die Klientel über andere Fähigkeiten und Wissensbestände verfügt. (vgl. ebd. S. 264) Grossmass verwendet ebenfalls die Bezeichnung der Rollenbeziehung als professionelle Beziehung mit einer Asymmetrie zwischen Fachkraft und Klientel in therapeutischen Beziehungen (vgl. Grossmass, 2009, S. 545). Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit verfügt die Fachkraft über differenziertes Theorieund Fachwissen wie z.B. dem methodischem Vorgehen und Führen eines Hilfsprozesses und tritt dadurch in ihrer Rolle als Fachkraft auf. Ebenso verfügen Erwachsene mit ADHS über viele Fähigkeiten, die für den Hilfsprozess in seiner Ausgestaltung sehr hilfreich und notwendig sind. Dabei ist die grosse Verknüpfungsleistung, die Entwicklung von kreativen Problemlösungsstrategien und damit die lösungsorientierte Haltung hervorzuheben. Jedoch 49

kann aufgrund des unterschiedlichen Wissenshintergrundes die Rolle der Fachkraft und diejenige von Erwachsenen mit ADHS nicht ausgetauscht werden. Hier wirkt das Rollenverhalten und dem damit verbundenen Machtgefälle zwischen Professionellen und Erwachsenen mit ADHS als Klientel distanzfördernd in der Arbeitsbeziehung, weil auf unterschiedliche Rollen Bezug genommen wird und Klientel und Fachkraft sich gegenseitig in ihren Rollen wahrnehmen und dadurch eine persönliche Distanz in der Arbeitsbeziehung geschaffen wird. Daraus wird erkannt, dass diese Charakteristika definierte Rahmenbedingungen für eine Arbeitsbeziehung in einer freiwilligen Beratung darstellen und diese gleichzeitig grosse Distanz in der Arbeitsbeziehung schaffen, weil sie sich auf allgemeingültige Funktionen und Prozessstrukturierung sowie auf eine Aufgabenerfüllung beziehen. Dadurch tritt die Persönlichkeit in der Fachkraft wie auch in der Klientel in den Hintergrund und damit wird eine Distanz zwischen der Fachkraft und der Klientel in der Arbeitsbeziehung ausgedrückt.

5.2

Persönliche Nähe in professionellen Beziehungen

Eine gute Beziehung zwischen Klientel und Fachkraft wird allgemein als notwendig und für einen gelingenden Hilfsprozess als eine unerlässliche Voraussetzung betrachtet. Dabei wird die Beziehung von Heiner (2010) als etwas schwer Fassbares, Individuelles, Subjektives und situationsabhängiges Element umschrieben, welches grundsätzlich intuitiv gestaltet wird und dadurch schwerlich planbar wird. Gleichzeitig setzt Heiner dafür eine Bereitschaft der Fachkraft voraus, sich mit ihrer ganzen Person einzubringen. (vgl. S. 459) Diese Umschreibung drückt eine Beziehung aus, die eine persönliche Nähe zulässt, weil die Ausdrücke individuell, subjektiv und intuitiv darauf hinweisen, dass sie mit den daran beteiligten Persönlichkeiten zusammenhängen. Ebenso das Einbringen der ganzen Person als Fachkraft bedingt, dass sich die Fachkraft in ihrer Arbeitsweise und damit auch in der Beziehungsgestaltung nicht nur auf ihr Fachwissen beziehen kann, sondern sich ebenso auf ihre Persönlichkeit beziehen muss. Grossmass (2009) führt die Rolle des Anteils an persönlicher Beziehung in einer Arbeitsbeziehung für das therapeutische Setting genauer aus, indem sie diese als eine Grundvoraussetzung für eine Zusammenarbeit bezeichnet, die auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt gründet. Dafür ist es ebenfalls notwendig, eine Ebene zu schaffen, in der Klientel und Fachkraft sich gleichrangig gegenüberstehen. (vgl. S. 545) Dies sagt aus, dass eine ebenbürtige Ebene geschaffen werden muss, damit persönliche Nähe zugelassen werden kann und gleichzeitig wird dem persönlichen Beziehungsanteil eine tragende Rolle für eine Zusammenarbeit zugesprochen. Gleichzeitig hält Heiner (2010) fest, dass eine symmetrische Teilbeziehung, die sich durch ein geringes Machtgefälle bei einer 50

gleichzeitigen komplementären Beziehung, die durch gemeinsame Ziele und sich ergänzende Verhaltensmuster geprägt ist, eine sehr produktive und autonomiefördernde Beziehung im Gesamten darstellt (vgl. S. 468). Ebenfalls deutet damit eine symmetrische Teilbeziehung mit einem geringen Machtgefälle auf eine Ebene hin, auf der sich Fachkraft und Klientel begegnen. Gleichzeitig ergänzt Heiner eine gute Arbeitsbeziehung durch einen einander ergänzenden Beitrag für eine gemeinsame Aufgabe (vgl. S. 468). Dies kann mit einer einander ergänzenden Zusammenarbeit umschrieben werden. Daraus wird festgehalten, dass es für eine vertrauensvolle und autonomiefördernde Beziehung einen Anteil an persönlicher Nähe, insbesondere eine Ebene, auf der sich Fachkraft und Klientel ebenbürtig begegnen können, und ebenfalls eine einander ergänzende Zusammenarbeit notwendig ist.

5.2.1 Persönliche Nähe durch Einbringen der eigenen Person Heiner bezieht sich auf Rogers (vgl. 1977, zit. in. Heiner, 2010, S. 463), welcher die persönliche Nähe im Kontext einer therapeutischen Beziehung mit Empathie, Authentizität und Akzeptanz umschreibt. Sie relativiert diese Merkmale gleichzeitig für die Soziale Arbeit und stützt sich auf eine reflektierte Empathie und den Begriff von Petzold, einer selektiven Authentizität (vgl. Petzold, 1980, zit. in Heiner, 2010, S. 463) und begründet dies im Unterschied zum therapeutischen Setting, dass die Soziale Arbeit im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle handelt, in der die Frage nach dem Mass an Akzeptanz, Offenheit und Authentizität allgegenwärtig ist. (vgl. Heiner, 2010, S. 463) Heiner führt die reflektierte Empathie genauer aus, indem die Fachkraft ihre eigenen Gefühle wahrnehmen und diese vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen, Gedanken und Handlungen reflektieren muss (vgl. ebd. S. 471). Von Spiegel (2010) spricht dabei von der Person als Werkzeug und beschreibt mit diesem Begriff einen reflektierten Umgang mit der eigenen Persönlichkeit innerhalb des professionellen Handelns. So definiert von Spiegel diesen Begriff wie folgt: „…, dass Fachkräfte ihr Können, Wissen und ihre beruflichen Haltungen mit Blick auf Wissensbestände, auf ihre Erfahrungen sowie die institutionellen Bedingungen und Vorgaben

fall-

und

persönlichkeitsbedingten

kontextbezogen Fähigkeiten

einsetzen. wahrnehmen,

Die

Fachkräfte

reflektieren

sollen und

ihre

fachlich

qualifizieren. Als Ausweis von Fachlichkeit gilt, dass sie die Art und Weise des Einsatzes ihrer Person fachlich begründen und berufsethisch rechtfertigen können.“ (S. 84)

Dies sagt aus, dass die Fachkraft ihre persönlichen Ansichten aber auch Haltungen und den damit verbundenen Gefühlen vor dem Hintergrund von wissenschaftlichen Theorien und berufsethischen Prinzipien reflektieren muss. Gleichzeitig kann daraus erkannt werden, dass diese Reflexionsarbeit der Fachkraft dazu verhilft, ihre Persönlichkeit im professionellen 51

Handeln zu verorten und bewusst einzusetzen. Diese Auseinandersetzung mit sich selber kann gerade in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS hilfreich sein, da diese sehr feinfühlig sind und die Stimmungen ihres Gegenübers aufnehmen können. Dadurch, dass sich die Fachkraft Klarheit durch die Verortung ihrer Persönlichkeit in ihrem professionellen Handeln schafft, wird es ihr gleichzeitig auch möglich werden, eine Authentizität gegenüber der Klientel zu zeigen. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS eine akzeptierende, empathische und motivierende Haltung der Fachkraft gegenüber der Kontrolle im Vordergrund steht, damit Erwachsene mit ADHS ihr Potenzial entfalten und nutzen können. So führt Heiner (2010) aus, dass eben der Glaube und die Hoffnung, die eine Fachkraft in die Potenziale der Klientel Grundvoraussetzung für ein emotionales Engagement darstellt, welches über Wertschätzung und Schaffung von Perspektiven, die Klientel zu einer Veränderung motivieren und zu einem Selbstvertrauen der Klientel führen kann (vgl. S. 470). Ebenso drückt sich Hüther (2014) aus, dass die Fachkraft, welche die Klientel zu einem Entwicklungsprozess motivieren sollte, selber daran glauben muss, damit eine Veränderung möglich wird. Daraus wird entnommen, dass die Bereitschaft zu diesem persönlichen Engagement zur Motivation auf einer eigenen inneren Überzeugung der Fachkraft basiert, dass eine Veränderung und Entwicklung durch die Aktivierung der Potenziale der Klientel möglich ist, und dadurch persönliche Nähe seitens Fachkraft in die Arbeitsbeziehung eingebracht wird

5.2.2 Persönliche Nähe durch die ressourcenorientierte Haltung Die weitere Voraussetzung für einen persönlichen Anteil in der professionellen Beziehung ist die erwähnte Ebene auf der sich Fachkraft und Klientel gleichrangig gegenüberstehen und ermöglicht, dass persönliche Nähe zugelassen werden kann. So schafft die Fachkraft durch ihre ressourcenorientierte Arbeitsweise und Haltung gegenüber den Fähigkeiten und Leistungen von Erwachsenen mit ADHS eine Ebene, auf der sich Fachkraft und Erwachsene mit ADHS ebenbürtig als Menschen begegnen können. Dies ist damit zu begründen, dass die ressourcenorientierte Haltung nicht nur motiviert und anregt, sondern auch anerkennt, dass Erwachsene mit ADHS mit ihren Fähigkeiten ihr Bestes geben. Die Fachkraft spricht damit Erwachsenen mit ADHS zu, dass sie die Experten in ihrem Leben sind und gleicht dadurch das Machtgefälle aus. Somit verhilft die ressourcenorientierte Haltung, die Distanz aufgrund des Machtgefälles zwischen Fachkraft und Klientel zu reduzieren. Gleichzeitig zeigt sich, dass dadurch eine gemeinsame Vertrauensebene geschaffen werden kann.

5.2.3 Persönliche Nähe durch Personenorientierung Heiner (2010) fordert, dass die Aufgabenorientierung und damit die strategische Orientierung durch eine Personenorientierung ausgeglichen werden muss, damit eine tragende 52

Arbeitsbeziehung entstehen kann (vgl. S. 465). In Ergänzung dazu führt Hüther (2014) aus, dass die Fachkraft, damit sie in der Lage ist, die Klientel zu motivieren, sie als Subjekt wahrnehmen und sich dafür mit ihr auf einer ebenbürtigen Ebene begegnen muss. Somit bedingt ein motivierendes Handeln der Fachkraft gegenüber der Klientel gleichzeitig ein sich Einlassen auf die Person auf einer ebenbürtigen Ebene. Damit wird eine grosse Empathie der Fachkraft gegenüber der Klientel gefordert, die durch Verständnis und Mitgefühl ermöglicht, die Sichtweisen, Emotionen und Ambitionen ihrer Klientel zu erfassen. Somit kann festgestellt werden, dass die Empathie der Fachkraft eine Grundvoraussetzung darstellt, der Klientel auf persönlicher Ebene zu begegnen. Darauf aufbauend wirkt die ressourcenorientierte Haltung der Fachkraft, die sich ebenfalls auf die Person und ihre Fähigkeiten bezieht und damit in der Arbeitsbeziehung einen Ausgleich bei der Verfolgung der Aufgabenerfüllung verschafft. Weil gerade das zu Ende bringen von Aufgaben bei Erwachsenen mit ADHS eine Schwierigkeit darstellt und sie damit durch die Reaktionen ihres Umfeldes immer wieder konfrontiert werden, wird hier die Personenorientierung über eine ressourcenorientierte und motivierende Haltung der Fachkraft sehr wichtig, damit sie sich nicht mehr nur über ein Defizit beurteilen, sondern sich selber auch ihrer Ressourcen bewusst werden. Gleichzeitig verlangt eine produktive und autonomiefördernde Arbeitsbeziehung, so Heiner, dass sich die Verhaltensleistungen und die Verhaltensmuster von Fachkraft und Klientel ergänzen müssen, damit ein gemeinsames Ziel erreicht wird (vgl. Heiner, 2010, S. 466-468). Dies kann jedoch erst dann erfolgen, wenn die notwendigen Ressourcen auch wahrgenommen und aktiviert werden. So kann gerade in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS eine Orientierung an ihrer Person und ihren Fähigkeiten zeigen, dass die Fachkraft die Strukturierung und Anleitung in der Form der Rückführung auf die gemeinsame Aufgabe bei einem Hilfsprozess übernehmen, während die besonderen Verknüpfungsleistung und die Entwicklung von Lösungsstrategien von Erwachsenen mit ADHS für die inhaltliche Gestaltung in der Hilfsprozessplanung genutzt werden können.

5.2.4 Persönliche Nähe im Setting der freiwilligen Beratung Die institutionelle Organisation einer Beratungsstelle und deren Distanz zu Alltagsnähe ebenso wie deren Einteilung in Beratungssequenzen leisten einen grossen Beitrag zu einer persönlichen Distanz in der Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Klientel. Gleichzeitig wird das Machtgefälle zwischen Fachkraft und Klientel ein Stück weit ausgeglichen, da die Klientel entscheidet, wann sie die Beratungsstelle aufsuchen will. So liegt in der freiwilligen Beratung die Verantwortung über die Nutzung der Dienstleistung vorwiegend bei der Klientel. Sie bestimmt dadurch auch, wann sie diese Dienstleistung nicht mehr beanspruchen möchte. Dies fördert, wie schon vorab hergeleitet, die Möglichkeit einer Beziehung auf einer gleichwertigen Ebene. Gleichzeitig stellt diese gleichwertige Ebene durch das Verhalten von 53

Erwachsenen mit ADHS Aufgaben nicht zu Ende zu führen eine Herausforderung für die Fachkräfte in der Beziehungsgestaltung dar. Erwachsene mit ADHS zeigen durch ihre Ressourcen der Hilfsbereitschaft, Respekt, Empathie und der Fürsorge, dass ihnen viel an sozialen Beziehungen liegt. Daher kann eine persönliche Nähe der Fachkraft gemeinsam mit der Beziehungsbereitschaft von Erwachsenen mit ADHS für eine tragende Arbeitsbeziehung äusserst förderlich sein. So erwähnt Heiner, dass die Beziehung dafür genutzt werden kann, wenn die Klientel kein Problem sieht, damit die Fachkraft und die Klientel in eine Kooperation kommen und dadurch einen möglichen Perspektivenwechsel verfolgen können, auch wenn die Klientel kein zu bearbeitendes Problem erkennt (vgl. ebd. S. 469). Wenn dies nun auf die Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS übertragen wird, geht es nicht um eine fehlende Problemeinsicht, sondern um eine Schwierigkeit, sich nicht ablenken zu lassen und Aufgaben zu Ende zu bringen. So kann die Arbeitsbeziehung, die über eine ressourcenorientierten Haltung der Fachkraft und persönlicher Nähe geprägt ist konstruktiv genutzt werden, um Erwachsene mit ADHS zu motivieren die Beratung bis zum Abschluss der Aufgabenbewältigung wahrzunehmen. Gleichzeitig kann die Distanz der Fachkraft zur Alltagsnähe von Erwachsenen mit ADHS dafür genutzt werden, sich auf die Sichtweise der Klientel einzulassen und damit zu arbeiten. Da Erwachsene mit ADHS über eine gute Reflexionsfähigkeit verfügen, wie schon an vorgängiger Stelle erwähnt, eignet sich dieses Setting, um eine Arbeitsbeziehung zu schaffen, in der sich Fachkraft und Erwachsene mit ADHS auf einer ebenbürtigen Ebene begegnen. Zusammenfassend wird festgehalten, dass in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS die Beziehungsgestaltung eine zentrale Rolle einnimmt. Dies wird dadurch begründet, dass die distanzschaffenden Charakteristika einer professionellen Beziehung der Aufgabenorientierung, Rollenverhalten und der Institutionalisierung für eine gute kooperative Zusammenarbeit durch eine persönliche Nähe der Fachkraft in der Arbeitsbeziehung ausgeglichen werden muss. Gleichzeitig ermöglicht eine Arbeitsbeziehung mit persönlicher Nähe, dass auf die sozialen Ressourcen von Erwachsenen mit ADHS zurückgegriffen werden kann und dadurch eine kontinuierliche Zusammenarbeit zur Aufgabenerfüllung verfolgt werden kann. Die persönliche Nähe der Fachkraft zeigt sich in einem starken Glauben und einem Vertrauen in die Fähigkeiten und Entwicklungsbereitschaft von Erwachsenen mit ADHS damit sie Erwachsene mit ADHS durch ein persönliches Engagement motivieren können. Dafür wird von der Fachkraft gefordert, dass sie Erwachsene mit ADHS auf einer ebenbürtigen Ebene in ihrer Individualität wahrnehmen und damit verbunden eine empathische Haltung einnehmen. Damit kann gleichzeitig über eine Orientierung an der Person und dem reflektierten Einbringen der Persönlichkeit der Fachkraft persönliche Nähe in die Arbeitsbeziehung eingebracht werden. Diese Personenorientierung wird durch eine 54

ressourcenorientierte Haltung der Fachkraft unterstützt. Gleichzeitig wird von der Fachkraft für die Beziehungsgestaltung eine grosse Authentizität gefordert. Ebenso erhalten Akzeptanz und Empathie eine grössere Bedeutung in der professionellen Beziehung, weil die Aktivierung der Potenziale von Erwachsenen mit ADHS gegenüber einer Kontrolle im Vordergrund steht. Damit wäre ebenfalls aufgezeigt, dass die professionelle Beziehung in dieser Umschreibung dem dritten Aspekt der Anerkennung aus der Übertragung des autoritativ – partizipativen Erziehungsstils entspricht.

55

Zusammenfassung Es wird festgehalten, dass das ADHS aufgrund einer biologischen Veranlagung entsteht und seine Symptome, die als Verhaltensmerkmale festgehalten werden, unter anderen durch psychosoziale Einflüsse verstärkt oder vermindert werden können. Gleichzeitig wurde über die Ursachen des ADHS die Fähigkeit zu grosser Verknüpfungsarbeit und dadurch zur Entwicklung neuer Problemlösungsstrategien erkannt. Ebenso zeigten sich wertvolle Ressourcen der Hilfsbereitschaft, Empathie, Fürsorge, Respekt gegenüber Mitmenschen sowie einer lösungsorientierte Haltung von Erwachsenen mit ADHS. Jedoch üben die Verhaltensmerkmale einen grossen Einfluss auf wichtige Lebensbereiche aus und führen dadurch zu sozialen Folgen in den Bereichen Schule und Arbeit, Familie und Beziehungen und Sucht, in denen gleichzeitig die Beratungen der Sozialen Arbeit etabliert sind. Dadurch sind Erwachsene mit ADHS als Klientel der Sozialen Arbeit anzutreffen, wodurch eine Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit mit der Diagnose ADHS begründet wird. Gleichzeitig wurde aufgezeigt, dass Anerkennung und Wertschätzung durch das soziale Umfeld für die Leistungen und Fähigkeiten von Erwachsenen mit ADHS notwendig sind, damit sie sich durch ihre Leistungen und Fähigkeiten in ihrem Umfeld wertvoll fühlen und eine integres Leben führen können. Wobei die Voraussetzung erfüllt sein muss, dass in diesen Fähigkeiten und Leistungen ein Beitrag zur Umsetzung von gemeinsamen Werten oder Zielen durch das soziale Umfeld gesehen wird.

Daraus wurde abgeleitet, dass eine ressourcenorientierte, wertschätzende und anerkennende Haltung der Fachkraft der Sozialen Arbeit in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS gegenüber deren individuellen Leistungen und Fähigkeiten eine sehr bedeutende Rolle erhält. Diese Haltung im professionellen Handeln der Sozialen Arbeit ermöglicht, dass Erwachsene mit ADHS ihre Stärken im sozialen Bereich und ihre kreative Verknüpfungsarbeit erkennen, nutzen und zielgerichtet einsetzen können. Damit wird ihnen ermöglicht, dass sie über ihre individuellen Fähigkeiten und Leistungen einen Beitrag für das soziale Umfeld leisten können. Gleichzeitig fordert diese Haltung einen starken Glauben und ein Vertrauen der Fachkraft in die Fähigkeiten von Erwachsenen mit ADHS und ebenso in ihr eigenes Entwicklungspotenzial, diese Fähigkeiten nutzbringend einzusetzen und dadurch ihren eigenen Wert für ihr soziales Umfeld zu erkennen und zu vertreten. Weiter fordert diese Haltung ein persönliches Engagement zur Motivation über eine konsequente Ressourcenorientierung, damit einen Veränderungsprozess bei Erwachsenen mit ADHS ermöglicht werden kann. So ist gerade die ressourcenorientierte Sichtweise der Fachkraft unterstützend, damit Erwachsene mit ADHS sich selber nicht mehr nur aus einer defizitären, auf ihre Verhaltensmerkmale reduzierte Perspektive wahrnehmen, sondern sich auch als 56

Akteure mit ihren Ressourcen erleben können. Dadurch erhält die anerkennende und wertschätzende Haltung und damit die konsequent umgesetzte Ressourcenorientierung gegenüber Erwachsenen mit ADHS eine zentrale Bedeutung. Parallel dazu erhält die Arbeitsbeziehung in der Zusammenarbeit zwischen Fachkraft und Erwachsener mit ADHS eine grosse Relevanz, weil damit Erwachsene mit ADHS über ihre sozialen Ressourcen zu einer kooperativen Zusammenarbeit im freiwilligen Beratungssetting motiviert werden können und in der Zusammenarbeit weitere Fähigkeiten von Erwachsenen mit ADHS erkannt und aktiviert werden können. Von der Fachkraft wird eine Beziehungsgestaltung mit einer grossen Bereitschaft zu persönlicher Nähe, Empathie und Authentizität gefordert, welche eine gleichwertige und partnerschaftliche Ebene für eine kooperative und partizipative Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS sicherstellt. Zudem wird von der Fachkraft ebenfalls eine hohe Reflexionsfähigkeit der eigenen Persönlichkeit und Offenheit gefordert.

Es ist ersichtlich, dass diese Anforderungen an die professionelle Haltung der Anerkennung, Wertschätzung, Ressourcenorientierung und der Beziehungsgestaltung von Fachkräften in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS den allgemeinen Anforderungen an das professionelle Handeln von Sozialarbeitenden entsprechen. Jedoch wird deren Bedeutung gerade in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS und der Wahrung ihrer Integrität hervorgehoben. Damit Erwachsene mit ADHS aus einer defizitorientierten Selbstbetrachtung, zu einem konstruktiven Umgang mit ihren Ressourcen finden können und damit die Möglichkeit erhalten, sich mit ihren Vorzügen in ihrem sozialen Umfeld zu vertreten.

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Schlussfolgerungen Aus der Betonung der wertschätzenden und anerkennenden Haltung, sowie der Ressourcenorientierung und einer Beziehungsgestaltung mit persönlicher Nähe zur Wahrung der Integrität von Erwachsenen mit ADHS werden folgende Schlussfolgerungen für die Anforderungen an die Fachkraft der Sozialen Arbeit formuliert: Anwendung von ressourcenorientierten Methoden Die professionelle Haltung der Wertschätzung und Anerkennung ist in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS und der Wahrung deren Integrität der zentrale Aspekt des professionellen Handelns. Eine ressourcenorientierte Arbeitsweise der Fachkraft ermöglicht, durch ein konsequentes Reframing, Anerkennung und Wertschätzung gegenüber der Fähigkeiten und Leistungen von Erwachsenen mit ADHS zu vermitteln, indem aus jedem Handeln und jeder Situation einen positiven Nutzen abgeleitet werden kann. Dadurch kann ebenfalls den Verhaltensmerkmalen von Erwachsenen mit ADHS positiven Nutzen zugesprochen werden. Daher ist gerade in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit ADHS eine vertiefte Auseinandersetzung und konsequente Anwendung von ressourcenorientierten Methoden angebracht. Das Reframing wurde schon erwähnt, weiterführend wäre der systemisch – lösungsorientierte Ansatz in der Beratung in Betracht zu ziehen, da diesem eine grosse ressourcenorientierten Haltung zugrunde liegt. Diese Haltung der Ressourcenorientierung erfordert eine grosse Verknüpfungs- und Reflexionsleistung, Zuversicht und positive Sichtweise der Fachkraft gegenüber Erwachsenen mit ADHS und ermöglicht der Fachkraft gleichzeitig Erwachsene mit ADHS in ihrem Entwicklungsprozess, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken und zielgerichtet anzuwenden, zu motivieren. Sie werden dadurch in ihrer Eigenwahrnehmung gestärkt und die defizitorientierte Fremdwahrnehmung rückt in den Hintergrund. Die Anwendung ressourcenorientierten Methoden kann für die Fachkraft ebenso als Hilfsmittel dienen, sich damit die notwendige professionelle Haltung anzueignen oder zu verfestigen. Auseinandersetzung mit der Diagnose ADHS Weiter hat sich gezeigt, dass eine Auseinandersetzung mit der Diagnose ADHS und deren Auswirkung auf Erwachsene mit ADHS für die Fachkraft hilfreich sein kann. So wurde offensichtlich dargelegt, dass eine Auseinandersetzung mit der medizinischen Diagnose aus einer ressourcenorientierten Sichtweise, Stärken und Fähigkeiten von Erwachsenen mit ADHS erkennen liessen, welche die Fachkräfte zur Ausübung des konsequenten Reframings nutzen können. Dabei werden die kreative Verknüpfungsleistung und die lösungsorientierte Haltung ebenso wie die sozialen Ressourcen betont. Dieses Wissen bezüglich Stärken und 58

Fähigkeiten der Klientel kann der Fachkraft ebenfalls dazu verhelfen, Erwachsenen mit ADHS gegenüber einen Vertrauensvorschuss für deren Entwicklungsprozess zu leisten, auch wenn sich diese Stärken in der Zusammenarbeit noch nicht offensichtlich zeigen, weil es Erwachsenen mit ADHS oft schwer fällt die eigenen Stärken zu erkennen. Gleichzeitig kann dieses Wissen über die Potenziale von Erwachsenen mit ADHS ein emotionales Engagement zur Motivation von Erwachsenen mit ADHS seitens der Fachkraft fördern, weil dadurch die Ressourcen gegenüber den Symptomen als Defizite in den Vordergrund treten. So wird das Aktivieren von Ressourcen mit Freude und Lust verbunden, während das Beheben von Defiziten mit Arbeit, Mühe, Disziplin und Kontrolle verbunden wird. Ebenfalls eröffnet die Auseinandersetzung mit der Diagnose der Fachkraft weitere Perspektiven. So mag vielleicht ein minderes Selbstwertgefühl aufgrund von individuellen Bewältigungshandelns nicht immer offensichtlich erkennbar sein. Durch das Wissen, dass Erwachsenen mit ADHS oft an einem tiefen Selbstwertgefühl leiden, kann dieses in die Hypothesenbildung des professionellen Handelns mitberücksichtigt werden. Ebenfalls wurde erkannt, dass die Diagnose für Erwachsene mit ADHS eine Entlastung darstellen kann und eine Erklärung für ihr Verhalten liefert, wodurch es ihnen möglich wird, eine Sinnhaftigkeit ihres Lebensverlaufes herzustellen. Es wurde festgestellt, dass es viele Erwachsene gibt, denen die Diagnose niemals gestellt wurde, sich jedoch mit den genannten Schwierigkeiten auseinandersetzen. Dadurch wird die Fachkraft herausgefordert, zu prüfen inwieweit eine Diagnose förderlich für die Entwicklung der Klientel ist und ob eine Abklärung empfohlen werden sollte. Dabei ist der Aspekt der Stigmatisierung nicht unbeachtet zu lassen. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass eine Diagnose ADHS bezüglich Anerkennung ihrer Individualität für die Wahrung der Integrität förderlich ist. Jedoch muss auch hier situativ und individuell von der Fachkraft entschieden und begründet werden, ob der Mehrwert für die Klientel höher ist als der Effekt der Stigmatisierung durch die Diagnose einer psychischen Erkrankung. Anforderung an die Beziehungsgestaltung Die Beziehungsgestaltung zwischen dem Erwachsenen mit ADHS und der Fachkraft setzt von der Fachkraft eine grosse Bereitschaft voraus, sich mit Erwachsenen mit ADHS auf einer gleichwertigen Ebene einzulassen, um deren Stärken und Fähigkeiten wahrnehmen zu können und zu erkennen, was diese Menschen bewegt. Dafür ist eine empathische Haltung ebenso eine Grundvoraussetzung, damit der Erwachsene mit ADHS in seiner Sichtweise, seinen Emotionen und Ambitionen verstanden wird, wie auch eine grosse Offenheit, Flexibilität und Neugier der Fachkraft für die vielseitige Verknüpfungsleistung von Erwachsenen mit ADHS. Aufgrund der Feinfühligkeit von Erwachsenen mit ADHS ist ebenso ein authentisches Auftreten wichtig, damit sie aufgrund von widersprüchlich 59

wahrgenommenen Reizen oder Informationen nicht irritiert und damit noch mehr verunsichert werden. Für diese Authentizität wird von der Fachkraft gleichzeitig ein reflexiver Umgang und Einsatz der eigenen Persönlichkeit gefordert. Diese erforderliche persönliche Nähe und Authentizität in der Arbeitsbeziehung ist notwendig, damit Erwachsene mit ADHS über ihre sozialen Ressourcen zu einer kooperativen Zusammenarbeit im freiwilligen Beratungssetting motiviert werden können. Ebenfalls kann dadurch ihr Verhaltensmerkmal, Dinge nicht zu Ende zu führen ausgeglichen werden und sie können über die Beziehung motiviert werden, in der Beratung an einer Aufgabe festzuhalten. Anspruch an die Persönlichkeit der Fachkraft Durch die professionelle Haltung wie auch der Beziehungsgestaltung werden hohe persönliche Anforderungen an die Fachkraft gestellt. So muss sie stets, zuversichtlich, neugierig, offen für Neues, geduldig, empathisch, flexibel und authentisch sein und sich ebenfalls engagiert um Motivation bemühen. Weiter muss sie stets in jedem Handeln und in jeder Situation positive Erkenntnisse oder Ergebnisse erkennen. Parallel dazu bringt sie ihre eigenen Erfahrungen und Verhaltensmuster mit, die ihr nicht immer offen zugänglich sind. Daraus ergibt sich, dass Fachkräfte entweder schon eine stark gefestigte und reflektierte Persönlichkeit oder zumindest eine hohe Bereitschaft für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person mit sich bringen. Dieser Prozess, sich mit den eigenen Emotionen, Erfahrungen, Ansichten und Haltungen vor dem Hintergrund der Anforderungen an das professionelle Handeln mit Erwachsenen mit ADHS auseinanderzusetzen, kann je nach Fallkonstellationen ein weiteres Spannungsfeld in der Ausübung der professionellen Tätigkeit mit sich bringen und eine grosse Herausforderung darstellen. Die Tatsache, dass die eigene Persönlichkeit der Fachkraft involviert wird, macht die Psychohygiene von Fachkräften ebenso notwendig wie auch erforderlich. Gleichzeitig können Fallbesprechungen in Teams, Intervisionen und Supervisionen die Fachkraft in dieser Auseinandersetzung unterstützen und können zum Erlangen der erforderlichen professionellen Haltung nicht nur hilfreich sondern notwendig werden. Aufgrund dieser hohen Ansprüchen an die Persönlichkeit der Fachkraft und der Anforderung der reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit vor dem Hintergrund der professionellen Handelns, die in der Zusammenarbeit mit Erwachsene mit ADHS eine besonders starke Gewichtung erhält, kann folgende These abgeleitet werden: „Die Ausübung der Tätigkeit als SozialarbeiterIn ermöglicht und fördert eine bewusste Persönlichkeitsentwicklung der Fachkraft.“

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Sensibilisierungsarbeit des sozialen Umfeldes von Erwachsenen mit ADHS An dieser Stelle wird erinnert, dass Erwachsene mit ADHS durch ihre Verhaltensmerkmale keine soziale Wertschätzung durch ihr Umfeld erfahren, weil ihren Fähigkeiten und Leistungen einen Beitrag zur Umsetzung von gemeinsamen Zielen oder Werten aberkannt werden. Durch das Reframing wurde erkannt, dass aus Defiziten Ressourcen werden können, wozu es jedoch ein Bestreben und eine Haltung benötigt, hinter allen Tätigkeiten oder Situationen einen Nutzen zu sehen. Somit wäre die Forderung an das soziale Umfeld von Erwachsenen mit ADHS diese Haltung zu entwickeln und damit Erwachsenen mit ADHS Möglichkeiten zur Partizipation bieten. Diese Forderung legitimiert sich in dem Mass, wie Erwachsene mit ADHS gleichwertige Mitglieder der Gemeinschaft sind und damit gleichberechtigte Interaktionspartner sind und eine beidseitige Verantwortung für ein gelingendes Zusammenleben gefordert werden darf. Damit können die Erkenntnisse aus den Anforderungen an die Haltung der Fachkraft ebenso auf das soziale Umfeld übertragen werden. So hat sich gezeigt, dass Erwachsene mit ADHS über wertvolle soziale Ressourcen verfügen, wie auch eine äusserst lösungsorientierte Haltung aufweisen, sowie eine beachtlich kreative Verknüpfungsleistung mitbringen. Damit diese Fähigkeiten von Erwachsenen mit ADHS für die soziale Gemeinschaft nutzbar werden, müssten die Mitglieder des sozialen Umfelds die Bereitschaft zeigen, sich auf Erwachsene mit ADHS und ihre individuellen Fähigkeiten einzulassen. Jedes Mitglied im sozialen Umfeld von Erwachsenen mit ADHS mit dieser Bereitschaft würde vom Prozess einer bewussten Persönlichkeitsentwicklung profitieren können, weil sie dadurch ebenfalls eine Offenheit und eine Bereitschaft mitbringen müssten, eigene Haltungen und Einstellungen zu hinterfragen und zu überprüfen. Dadurch könnten fixe Konstruktionen in einen Prozess gelangen und Veränderungen in der Beurteilung der individuellen Fähigkeiten von Erwachsenen mit ADHS in Bezug auf einen Mehrwert für das soziale Umfeld könnten ermöglicht werden. Damit könnten „Normalitäten“ im Sinn von „man macht es einfach so“ oder „das wurde schon immer so gemacht“ hinterfragt oder gar aufgelöst werden und an deren Stelle könnten individuelle Aushandlungen zwischen den Interaktionspartner stattfinden. Damit würden Erwachsene mit ADHS als gleichberechtigte Interaktionspartner auftreten und nicht mehr als Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten betrachtet werden. Somit bieten Erwachsene mit ADHS ihrem sozialen Umfeld die Möglichkeit, einen Beitrag zu einer inklusiven Gemeinschaft zu leisten. Um nun wieder von dem sozialen Umfeld von Menschen mit ADHS als einen Teil der Gesellschaft auf die höhere Ebene zu schliessen, könnte in den individuellen Fähigkeiten und Leistungen von Erwachsenen mit ADHS einen Beitrag gesehen werden, die Werte einer inklusiven Gesellschaft umzusetzen. 61

Durch das eigene professionelle Handeln, in der Art einer Vorbildfunktion ebenso wie in der Vermittlerfunktion, und dem Einbezug des sozialen Umfeldes ermöglicht dies der Fachkraft die beteiligten Mitglieder wie z.B. Arbeitgeber oder Familie für diese Sichtweise zu sensibilisieren. Offen bleibt dabei, wie sich die Mitglieder des sozialen Umfeldes in Bezug auf die dafür benötigte Bereitschaft und Sichtweise entscheiden.

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Quellenverzeichnis

Hüther, Gerald. (2014) „Was es braucht, damit das Lernen ein Leben lang glücklich macht.“ (DVD- Video). Müllheim/Baden: Auditorium Netzwerk.

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Abbildungsverzeichnis

Titelbild:

Kristall (Quelle: http://www.geo.de/reisen/community/bild/411036/ein-sehr-grosserKristall-von-Swarovski) (letzte Aktualisierung am 3.Oktober 2015)

Abbildung l:

Ursachenmodell des ADHS (Quelle: Retz, Scherk, Rösler, 2009, S. 13)

Abbildung ll: Ressourcen von Menschen mit ADHS (Quelle: D’Amelio, Retz, Steinbach, Bender, 2009, S. 71)

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Schlussblatt

Ich erkläre hiermit: Dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe und ohne Benützung anderer als der angegebenen Hilfsmittel verfasst habe.

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Walenstadt, 5. Oktober 2015

Patricia Walser

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