Ausnahmezustand. von Chris Franklin

Ausnahmezustand von Chris Franklin A m Nachmittag hatte ich den Rekord an der Rudermaschine gebrochen. Knapp acht Kilometer in etwa zwanzig Minuten ...
Author: Miriam Schubert
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Ausnahmezustand von Chris Franklin

A

m Nachmittag hatte ich den Rekord an der Rudermaschine gebrochen. Knapp acht Kilometer in etwa zwanzig Minuten war recht beachtlich für einen 52jährigen Mann. Abends gönnte ich mir im WENDEL drei Bier und fühlte mich noch besser. Zufrieden mit der Welt und mir ging ich gegen 23 Uhr schlafen. Zweieinhalb Stunden später wurde ich wieder wach und hatte eine seltsame Ahnung, die mich nicht trog. Mein Körper schien sich im Schlaf völlig verändert zu haben. Schieres Entsetzen packte mich mit Eiseskälte. Ich rief nach meiner Lebensgefährtin Veronika. Heraus kam ein kaum verständliches Lallen. An normales Sprechen war überhaupt nicht zu denken. Ich wankte ins Wohnzimmer und ließ mich in den Sessel vor dem Fernseher fallen. Mein Leben erschien mir sinnlos und leer, was ich unter Tränen stammelnd äußerte. Nichts würde mir je wieder Freude machen. Ich hatte das Gefühl, soeben gestorben zu sein. Ins Krankenhaus wollte ich dennoch auf keinen Fall. Meine Abneigung gegen Ärzte und Kliniken hatte sich nicht geändert. Veronika war entsetzt und versuchte mich zu überreden, ins Krankenhaus zu fahren. Ich war sicher, dass es mir am folgenden Tag wieder besser gehen würde. Der nächste Morgen bestätigte unsere Befürchtungen. Ich hatte einen Schlaganfall erlitten!

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All meine Körperkraft und Beweglichkeit hatte mich verlassen, jeder Volltrunkene hatte eine deutlichere Artikulation als ich. Irgendwann fuhren wir ins WestendKrankenhaus, wo man mich gründlich untersuchte. Anschließend wies man mir eine Bleibe für die Nacht an. Ich versuchte mich zusammenzureißen, aber ich fühlte mich einsam und unglücklich. Mein Zimmernachbar war ein freundlicher Rheinländer. Seltsamerweise schlief ich tief und fest und erwachte erst zu den üblichen morgendlichen Untersuchungen, die ich mit widerwilliger Gelassenheit über mich ergehen ließ. Auf dem Weg zu einem weiteren Test, zu dem eine Schwester mich im Rollstuhl schob, musste ich kurz vor einem Ärzte- oder Schwesternzimmer warten. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr und glaubte, langsam zu ersticken. Ich spürte, wie sich mein Gesicht in eine schreckliche und gleichzeitig groteske Grimasse verwandelte. Mit letzter Kraft rief ich nach der Schwester und verlor danach das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, hörte ich eine junge Stimme sagen: „Ich hab´ ihn jetzt!“. Das Rucken an meinem Körper hörte auf. Ich lag rücklings auf dem Flur vor jenem Zimmer, umgeben von jungen Ärzten und Schwestern. Später sagte ich zu Veronika, dass ich mir „wie Schumis Ferrari in der Boxengasse“ vorgekommen wäre. Ich wurde zu der erwähnten Untersuchung gebracht, wo man mich bald darauf in eine große Röhre schob, worauf ich mit freundlichen Worten

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vorbereitet wurde. Alles in allem hatte ich schon mehr Spaß, als an jenem Tag... Ich wusste, dass diese Untersuchung sehr wichtig war und wollte niemandem meine Angst zeigen. Mit geschlossenen Augen versuchte ich meiner Beklemmung Herr zu werden und lauschte den fremden Geräuschen. Meine Liege glitt langsam in die Röhre. Als ich an der Endposition angekommen war, hörte ich die Stimme der Schwester, die mir einen Kopfhörer aufgesetzt hatte, da keine andere Kommunikation möglich war. Ich war nun von der Außenwelt getrennt und konnte mich nur durch eine Alarmklingel bemerkbar machen, was hoffentlich nicht nötig sein würde. Bald darauf setzte ein infernalischer Lärm ein. Ich glaubte einem Presslufthammer ohne Ohrenschutz ausgeliefert zu sein. Zu all meinem Unbehagen kam die Angst um mein (musikalisches) Gehör, da ich fürchtete, den schützenden Kopfhörer zu verlieren. Die zwanzig Minuten vergingen in entsetzlich langsamer Gleichförmigkeit. Ich war allein und beherrschte mich unter allmählicher Abschaltung meiner Gefühle. Nur den Medizinern meine wahren Emotionen nicht zeigen! Irgendwann wurde ich in ein anderes Zimmer gebracht, in dem ich allein war. Ich konnte und mochte sowieso nicht reden. Nach Minuten oder Stunden schlief ich ein, träumte oder träumte nicht, fühlte mich fremd und leer. Natürlich wusste ich nicht, wie lange dieser Zustand andauern würde. Wie auch, es war den bislang untersuchenden Medizinern nicht annähernd klar, was mir fehlte oder mit mir los war. Ich beobachtete mich 3

gleichzeitig selbst, versuchte meine verlangsamten körperlichen Reaktionen einzuordnen und damit umzugehen. Wie oft in seltsamen oder extremem Situationen spürte ich als einzige Emotion eine undefinierbare Ruhe. Die Menschen, die in diesem Krankenhaus arbeiteten würden sich alle Mühe geben, mich körperlich wieder genesen zu lassen, sagte ich mir. Wie ich, waren sie alle Profis und würden sicher einen guten Job machen wollen. Ich dachte über mein bisheriges Leben nach, ärgerte mich entgegen meiner sonstigen Angewohnheit nicht über meine (begangenen) Fehler und versuchte, mir mein weiteres Dasein auszumalen. Mir war nicht zum Lachen, auch nicht zum Weinen, noch tat ich mir leid. Alles würde so passieren, wie es (mir) bestimmt war. Immerhin schien mein Verstand nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Alle Adressen meiner bisherigen Domizile fielen mir nach und nach ein, ebenso das Passwort von meinem Computer und einige andere geheime Daten. Ich glaubte irgendwann Veronikas Stimme auf dem Flur zu hören. Sie kam jedoch nicht ins Zimmer und schien sich blendend zu unterhalten. Wenigstens sie hatte Spaß. Ich fühlte mich zutiefst gekränkt. Offensichtlich schien sie weder meinen Zustand ernst zu nehmen, noch machte sie sich anscheinend die geringsten Sorgen um mich. Nach einigen Minuten sah ich sie vorbeigehen. Es war nicht Veronika. 4

Wenige Minuten später betrat sie mein Zimmer. Ich weinte vor Freude. Nie in meinem Leben hatte ich mich zuvor einsamer und körperlich schwächer gefühlt. Ähnlich war es mir nur in HamburgWandsbek als kleiner Junge gegangen. Veronika war trotz meiner Traurigkeit betont heiter, aber nicht überschwänglich, wozu es auch keinen Anlass gab. Ihre positive Art tat mir gut. Irgendwie würde sicher alles wieder in Ordnung kommen. Ich war auch vor ihrem Besuch nicht gewillt gewesen, mich meinem Schicksal kampflos zu ergeben. Nur fiel es mir jetzt leichter, da ich sicher sein konnte, nicht im Stich gelassen zu werden. Das würde sie mir nicht antun. Meine Aussprache war undeutlich und klang in dem Maße angestrengt, wie es mir schwer fiel, jedes einzelne Wort zu formen. Wir unterhielten uns über meinen Zustand, das Krankenhaus und über die Neuigkeiten von zuhause. Wie gerne wäre ich in der Lage gewesen, irgendwelche profane Tätigkeiten, wie das Holen einer Zeitung, unfallfrei zu erledigen ! Nach einigen Tagen wurde ich mittels einer fahrbaren Liege zu einer weiteren Untersuchung in ein anderes Gebäude gebracht. Die Krankenpfleger unterhielten sich ungeniert über private Dinge, da sie annahmen, ich würde sie nicht verstehen. Als sich einer von ihnen sich über den Nieselregen beschwerte, sagte ich: „ Ich würde gerne mit meinem Mountainbike durch die Stadt fahren und nass werden.“ Meine Transporteure schwiegen betreten. Lag ich im Bett, war ich mit einem hochkomplizierten Blutdruckmessgerät verbunden, das 5

bei jedem höheren Wert sofort einen stationären Alarm auslöste, da mein Leben immer noch akut gefährdet war. Der obere (systolische) Wert lag seinerzeit bei 230! Am Wochenende hatten Krankenpfleger und Schwestern die beste Laune, lachten mehr als sonst und unterhielten sich angeregt über die bevorstehenden zwei Tage. Überhaupt war der allgemeine Umgangston auch den Patienten gegenüber freundlich und heiter. Heute spielte mein FC Bayern gegen Borussia Dortmund. Obwohl ich mehr tot als lebendig war, interessierte mich dieses Match brennend. Ich bat daher einen der Krankenpfleger, mich am nächsten Tag über das Spielergebnis zu informieren. Es fiel mir schwer, ihn überhaupt auf mich aufmerksam zu machen, da der allgemeine Geräuschpegel der geführten Gespräche gegen Abend stieg. Der Mann interessierte sich nicht für Fußball, versprach aber, mich zu informieren. Am nächsten Tag erfuhr ich die für mich freudige Nachricht, dass mein FCB gewonnen hatte. Als die Ärzte in der Westend-Klinik zu keinen abschließenden Ergebnissen, meinen Fall betreffend kamen, wurde ich in die Charité verlegt. Der Transport dorthin strengte mich sehr an. Das Transportfahrzeug erschien mir sehr eng, dazu ließ der russische Fahrer keine schlechte Wegstrecke mit Kopfsteinpflaster aus. Er und sein polnischer Beifahrer stritten sich auf deutsch während der ganzen Fahrt. Hätte ich einen weiteren Anfall, wie am zweiten Tag meines Klinikaufenthalts erlitten, 6

hätten sie es sicher nicht einmal bemerkt. Ich war froh, als die Fahrt vor der Charité endete und ich an meinen neuen Aufenthaltsort gebracht wurde. Da ich zwei Taschen dabei hatte, wurde oben in der Intensivstation gleich gefragt: „Zieht der mit seiner Schrankwand ein?“ Überhaupt war hier der allgemeine Umgangston gefühlte drei Grad rauer, was ich zu ignorieren trachtete. Irgendwie verging der Tag mit Untersuchungen und anderem. Die Ärzte hatten noch längst keinen abschließenden Befund. Ich lag in einem offenen Raum in der Intensivstation, der voller medizinischer Apparaturen war. Dieser grenzte an einen der Durchgangsflure zu anderen Zimmern und Stationen. Ich war angespannt, da ich ja höchst unfreiwillig hier war und wusste, dass nichts mehr wie noch vor wenigen Tagen sein würde. Mein bisheriges Leben ging mir durch den Sinn ; Erinnerungen an Frauen, Erfolge, frühere Ansichten und Bedürfnisse verloren sich in nie geahnten Relativitäten. Es zählte nur der Augenblick, die momentane Situation, in der ich mich befand. Ich wusste nicht einmal, ob ich wieder singen oder Gitarre spielen würde. Meine Mitteilungen an Schwestern und Pfleger waren ein schwer verständliches Lallen. Bei alldem war mein Geist ruhig und klar. Bei einer der Untersuchungen wurde mir Rückenmarksflüssigkeit entnommen. Da ich geschwächt war und ich keine örtliche Betäubung erhalten hatte, ertrug ich die Schmerzen nicht sehr lange und bat darum, die Entnahme einzustellen.

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Ich hatte das Gefühl, wie ein Fisch entgrätet zu werden. Morgens hatte ich versucht, mich zu rasieren. Ich konnte den Nassrasierer nicht halten und musste diese Aufgabe einem jungen Pfleger überlassen. Auch konnte ich mich nicht ohne Hilfe waschen. Man hat ja sein Personal, dachte ich mit einem grimmigen Lachen. Einige Tage später wurde mein Herz untersucht. Ich wurde zu diesem Zweck in eine Art Operationssaal gefahren, auf eine andere Trage gehoben (wobei ich ein wenig mithelfen konnte)und an einen von der Decke hängenden Monitor angeschlossen. Die Schwestern und der Arzt, ein Professor, erledigten all das unaufgeregt und in einem freundlichen Ton mir gegenüber. Man duzte sich, und die Klassische Musik, die halblaut aus versteckten Lautsprechern erklang, tat ein Übriges für meine innere Ruhe. Nach einer Weile machte der Professor mich darauf aufmerksam, dass nun mein Herz im Monitor zu sehen war. Seltsam und gleichzeitig interessant. Die Ärztin, die meinen Rücktransport begleitete, war zum Verlieben. Eine große attraktive Blondine um die Vierzig, die Intelligenz und Sensibilität ausstrahlte. Auch schien sie bei aller Souveränität überhaupt nicht eingebildet zu sein, was mir ihre freundliche Art bestätigte. Eine unwiderstehliche Kombination! Dass ich diese Frau auf diese Art wahrnahm, war ein gutes Zeichen, also war ich emotional noch nicht völlig blockiert. Allerdings hatte sich ansonsten einmal mehr eine rationelle Kühle meiner be8

mächtigt, da ich auf meine Grundbedürfnisse zurückgeworfen worden war. Die Abende und Nächte waren von einer für mich unnatürlichen Länge aufgrund meiner Verlassenheit oder deshalb, weil ich mich allein fühlte wie nie zuvor. Mein ehemaliger abendlicher, nächtlicher Rhythmus war außer Kraft gesetzt, nach 19 Uhr begann hier die Nacht. Ich hatte mehr Zeit zum Nachdenken, als mir lieb war, da weder ein Gespräch, meine Arbeit oder ein Fernsehfilm mich ablenkten und ich meine Gedanken und Gefühle mit niemandem teilen konnte. Gelegentlich kam ein Pfleger über den Flur, erschien und verschwand bald darauf wie eine nächtliche Erscheinung in Weiß. Seine eiligen Schritte verloren sich im Nirgendwo, gedämpfte Stimmen entfernten sich oder kamen für kurze Momente in meine Nähe. Das Licht war gedämpft, medizinische Instrumente surrten in teilnahmsloser Regelmäßigkeit. Ich sah das alles und dachte gleichzeitig an meine Familie, den Sinn all dessen, an Gott und Tod. Wunderbarerweise verfiel ich nicht in Depression oder Verzweiflung und spürte eine seltsame Ruhe. War ich endlich eingeschlafen, weckten mich alsbald Schwestern, wuschen mich, nahmen mir etwas später Blut ab, richteten dies und das in meiner Nähe. Nach einer weiteren Woche wurde ein Türke mittleren Alters auf die Intensivstation gefahren, der einen äußerlich gesunden Eindruck machte. Irgendwann kamen wir ins Gespräch, wobei er mir erzählte, dass er einen Suizidversuch unternommen hatte, weil er kein Ziel mehr zu haben glaubte. Die 9

Familie war gesund, er hatte keine finanziellen Probleme, zumal das eigene Haus nun endlich komplett abgezahlt war. Ich wurde rasch zornig, warf ihm den Grund meines Hierseins an den Kopf und schalt ihn einen undankbaren Narren. Solche Probleme hätte ich auch gerne gehabt! In den folgenden Tagen erwies er sich als schwieriger Patient, der öfter als nötig nach der Schwester klingelte und ständig neue Klagen vorbrachte. Ich strafte ihn mit Missachtung. Als ich schließlich in einem normalen Krankenzimmer untergebracht wurde, freute ich mich zunächst darüber, dass ich dort allein war. Fremde Menschen wollte ich nicht sehen. Veronika begann mich nun fast täglich zu besuchen, was mir gut tat. Einige Male brachte sie eine Fischplatte von Rogacki mit, einem Fischspezialitätengeschäft aus unserer Gegend, weil sie mir eine Freude machen wollte. Das war mal wieder typisch (für mich): Halbtot, aber erstklassig essen! In ihrer Großzügigkeit schenkte sie mir auch noch einen kleinen Schach-Computer. Endlich wieder Schach zu spielen machte mir große Freude und war ein gutes Training für meine geistigen Fähigkeiten. Die Nächte wurden nun etwas kürzer, da ich mich immer noch nicht daran gewöhnt hatte, dass ab 19 Uhr allgemeine Nachtruhe sein sollte. Um diese Zeit hatte ich oftmals mein erstes Bier getrunken und Musik gemacht, stundenlang mit Freunden geredet oder Schach gespielt.

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Es strengte mich immer noch zu sehr an, das Gewicht eines Buch über eine längere Zeit zum Lesen in der Hand zu halten. Wenn ich auf das Spielen mit dem SchachComputer keine Lust mehr hatte oder müde wurde begann ich, mir andere gedankliche Aufgaben zu stellen. Dazu gehörte die Aufzählung der Hauptdarsteller meiner Lieblingsfilme, die Erwähnung der wichtigsten Nebenrollen oder Ähnliches. Auch führte ich mir die Wege der Figuren auf dem Schachbrett vor Augen, benannte insgeheim die Linien und Reihen und mehr. Glücklicherweise kam ich nicht auf die Idee, Partien gegen mich selbst (in meiner bloßen Vorstellung) spielen zu wollen. Der Protagonist aus Stefan Zweigs „Schachnovelle“ kam mir als warnendes Beispiel in den Sinn. Wahrscheinlich würde ein strenggläubiger Christ und überzeugter Kirchgänger mich nicht als fromm bezeichnen, aber ich dachte in jenen Tagen oft an meinen Schöpfer, haderte nicht einen Moment mit ihm und behielt eine gewisse innere Ruhe, glaubte an einen Sinn dieser Erfahrung und wusste, keiner vermeintlichen Zufälligkeit zum Opfer gefallen zu sein. Ich hatte vielmehr die Ahnung, dass auch ich irgendwann einen Teil dieses Sinns würde erfassen können. Ein zweites Mal nach 1987 lag ich nun danieder und war unfähig, die einfachsten Dinge zu tun. Veronika besuchte mich fast täglich, wir lachten oft und doch wussten wir beide, dass sich fast alles geändert hatte. 11

Es wurden weitere Tests und neue Untersuchungen an mir vorgenommen. Eines Morgens standen drei Ärzte nach der üblichen Visite in der Nähe meines Bettes und unterhielten sich über meinen Fall im üblichen sachlichen, professionellen Ton. Das meiste verstand ich nicht, doch wurde mein kritischer Geist durch das Verhalten der Ärzte zu Einwand und Widerspruch herausgefordert. „Entschuldigung, meine Herren“, begann ich mit schwerer Stimme. Die Ärzte drehten sich etwas überrascht um. „Ich bin zwar krank, aber nicht schwachsinnig. Bitte informieren sich mich!“, fuhr ich fort. Den Herren in Weiß wurde augenblicklich das Problem der mangelnden Kommunikation zwischen uns klar. Sie erklärten mir ruhig und freundlich ihren bisherigen Befund, was mir gut tat, da ich mich nun auch von den leitenden Ärzten her wahrgenommen fühlte. Von nun an wurden mir die Gründe für ihr Handeln wesentlich genauer erklärt, was niemandem etwas auszumachen schien. So sollte an mir eine Angiographie* vorgenommen werden, zu der ich später mein schriftliches Einverständnis geben sollte. Der behandelnde Arzt machte mich auf die Risiken einer solchen Untersuchung aufmerksam und gab mir einige Tage Bedenkzeit. In meinem Falle sollten weitere Gründe für meine Erkrankung festgestellt oder ausgeschlossen werden, da die Symptome keine eindeutigen Diagnosen zuließen. Es war eine sehr schwere Entscheidung für mich. Ging etwas schief, konnten Lähmungen die Folge 12

sein. Negative Folgeerscheinungen wären allerdings äußerst selten, hieß es. Es ging sozusagen um meinen Kopf! Nach zwei Tagen entschied ich mich für die Untersuchung, da ich die größtmögliche Gewissheit haben wollte. Mit aller Hoffnung und allem Optimismus ließ ich die Angiographie an mir vornehmen. Irgendwann erwachte ich, es hatten sich keine Folgeerscheinungen gezeigt, was mich beruhigte und mit tiefer Dankbarkeit erfüllte. Veronika besuchte mich weiterhin fast täglich, was sehr beruhigend war. Ich versuchte mich an leichten Kraftübungen und bekam regelmäßige physiotherapeutische Behandlungen, in denen ich unter anderem das richtige Sitzen und Aufstehen lernte. Ich begann, meinen Körper neu oder überhaupt kennenzulernen, was gleichzeitig interessant und spannend war. Ich hatte keineswegs die Hoffnung auf Genesung aufgegeben, wusste aber, dass all meine Geduld dafür erforderlich sein würde. Der junge Physiotherapeut, mit dem ich regelmäßig arbeitete fragte mich, ob es mir recht sei, wenn er seine Abschlussarbeit über meinen Fall schriebe. Es war mir natürlich recht. Ich schaffte es inzwischen allein unter die Dusche, wo ich von einer jungen Krankenschwester gewaschen wurde. Es war mir gleichgültig und so erotisch wie ein Routinebesuch beim Arzt. Die letzten Tage vor meiner Entlassung wurden zwei weitere Patienten in mein Zimmer (ich war

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inzwischen auf einer anderen Station) gebracht. Es war mir nicht recht. Am Entlassungstag wurde ich von meinem Freund Frank abgeholt, was mich überraschte und über die Maßen freute. Ich wurde von einer Schwester mit dem mir verhassten Rollstuhl bis zu seinem Auto geschoben und schaffte es mit Veronikas Hilfe einzusteigen. Die Fahrt durch den morgendlichen Verkehr empfand ich als aufregend im positiven Sinne. Als wir vor dem grauen Haus in der Otto-SuhrAllee ausstiegen, wobei Frank uns mit dem Gepäck half und Veronika den Fahrstuhl geholt hatte, wollte ich unbedingt meine körperliche Verfassung ein wenig testen und so wenig Hilfe wie möglich annehmen. Ich schaffte es, mich am Geländer festhaltend, bis in den ersten Stock, wo sich unsere gemeinsame Wohnung befand. Auf diese erste bewältigte Anstrengung war ich ein wenig stolz. Frank brachte meine Sachen nach oben. Ich dankte ihm und war froh, wieder in meiner vertrauten Umgebung zu sein. Als ich später einige Minuten allein in der Wohnung war, nahm ich meine Spanische Gitarre in die Hand, setzte mich aufs Bett und versuchte ein paar Akkorde. Das Ergebnis war entsetzlich. Alle Koordination hatte mich verlassen und ich glaubte in Knetmasse zu fassen. Die Kraft meiner Hände existierte nicht mehr, ich konnte nicht einmal die simpelsten Akkorde sauber greifen. So war es mir im Sommer ´64 gegangen, als ich mit dem Gitarrespielen begann. 14

Ich weinte vor Enttäuschung und Schwäche und hätte die Gitarre fast an die Wand geworfen. Nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte, beschloss ich, einen Neuanfang zu wagen. Es klang zwar immer noch nicht besser, aber ich stellte zu meiner Freude fest, dass ich zwar nicht mehr spielen konnte, mich aber an Fingersätze und Griffe genau erinnerte. DAS brauchte ich also nicht neu zu lernen, sondern meine Hände mussten sich Schritt für Schritt daran erinnern, was sie einst gekonnt hatten. Aber wie? Ich wollte es mindestens ein halbes Jahr versuchen. Sollte ich bis dahin keinerlei Fortschritte gemacht haben, würde ich es aufgeben. Wie vor Jahrzehnten waren meine ersten Akkorde C-Dur und A-Moll. Nach Tagen oder Wochen bekam ich den Wechsel zwischen ihnen hin. Meine Spannkraft nahm durch das ständige Üben zu. Nach weiteren Wochen bewältigte ich den Anfang von “The house of the rising sun“, zwar nur im „Arbeitstempo“ (also langsamer), aber immerhin. Sobald die Krankengymnastik erledigt war, machte ich mich ans Üben neuer und gleichzeitig mir längst bekannter Akkorde und Griffe, entdeckte das Instrument neu und wusste doch, was als Nächstes kommen müsste und was zu tun war. Eines Morgens wollte ich eine Zeitung kaufen. Der Weg zum Laden war keine zweihundert Meter entfernt, kam mir aber so lang vor, wie nie. Ich setzte einfach einen Fuß vor den anderen, ignorierte die Blicke der Passanten, die mich offensichtlich für betrunken hielten, da ich ein wenig schwankte. Würde ich stürzen, würde ich hoffentlich 15

wieder aufstehen können, aber ich wollte zumindest versuchen, einige Meter mehr als sonst zu gehen. Auch in der Wohnung wollte ich keine Hilfe annehmen, strafte den bereitgestellten Rollstuhl mit Missachtung und benutzte auch sonst keine Gehhilfen. Ich schaffte es tatsächlich, unfallfrei eine Zeitung zu holen, war sehr stolz auf mich und freute mich später über Veronikas Überraschung, die durch ihre Abwesenheit nichts von meinem kleinen, aber für mich ungeheuer wichtigen Ausflug bemerkt hatte. Derart ermutigt beschloss ich, am Wochenende mein erstes Bier bei WENDEL zu trinken. Der Weg zum Richard–Wagner-Platz war ja auch nicht viel weiter, als der Zeitungsladen. Am Samstagabend kleidete ich mich anders als sonst. Dieses erste Bier in unserem Stammlokal wollte ich zelebrieren. Schließlich war das ein Grund zum Feiern, da ich noch in der Charité zeitweilig nicht geglaubt hatte, je wieder dort hingehen zu können. Ich suchte mir ein weißes Hemd aus, band eine Krawatte um und zog einen Anzug an. Veronika und ich machten uns auf den Weg. Ich hatte mit dem Gehen etwas weniger Schwierigkeiten als noch vor einigen Tagen. Als ich in bester Stimmung ins Lokal trat und mich Reinhold, der langjährige Kellner erblickte, kam er auf mich zu, umarmte mich mit bewegender Herzlichkeit wie einen verloren geglaubten Freund. Wir sahen uns an und hatten beide feuchte Augen. Dieser Abend war der Beginn vieler positiver Momente.

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An einem Nachmittag im Vorfrühling rief mich mein Kollege Christoph Rinnert an. Dieser Anruf sollte mein Leben verändern. Danke, Christoph! Er hatte von meinem Krankheitsfall gehört und wusste, dass meine Hände in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Ein ihm naher Mensch hatte sich bei einem Arbeitsunfall fast einen Finger abgesägt und konnte inzwischen wieder Klavier spielen! Geholfen hatte ihm seine Lebensgefährtin Michaela Tenyér, die als außerordentliche Handtherapeutin galt, wie ich (aus dem Internet) erfuhr. Das wäre die richtige medizinische Fachkraft für mich! Veronika besorgte mir eine Überweisung und so ich ging wenige Tage später zur ersten Behandlung. Die kurze Fahrt mit der U-Bahn strengte mich an, da alles im Zeitraffer abzulaufen schien. Die Menschen bewegten sich sicherlich nicht anders als sonst, die U-Bahn fuhr auch nicht etwa mit doppelter Geschwindigkeit, nur hatten sich meine Bewegungsabläufe deutlich verlangsamt. Die sehr große Praxis in einer Altbauwohnung machte einen einladenden Eindruck, die dort arbeitenden Frauen waren mir sympathisch und wirkten freundlich und sehr kompetent. Schließlich wurde ich in ein Behandlungszimmer geführt, wo ich die mich behandelnde Therapeutin kennenlernte. Wir verstanden uns sofort. Nachdem wir gemeinsam diverse Formulare ausgefüllt hatten und ich ihr viele Fragen beantwortet hatte, die für ihre anzuwendende Therapie wichtig waren, begann die Behandlung. Nach langen Massagen meiner Hände, bei denen wir uns bald wie alte Freunde unterhielten, ging es 17

zu einem anderen wichtigen Teil der gemeinsamen Arbeit, der Elektro-Akupunktur. Der Patient sollte dafür bereit sein, weil der(die) Therapeut(in) auf Kooperation angewiesen ist. Andernfalls würden geringere Aussichten auf Heilung bestehen. Es ging - einfach ausgedrückt - darum, meine Hände mittels Elektrizität zu reaktivieren und die abgebrochene Verbindung zu meinem Gehirn wiederherzustellen. Mein Verstand erinnerte sich an jeden Fingersatz und jeden Akkord auf der Gitarre, aber meine Hände und somit die Finger vermochten dieses Wissen nicht anzuwenden. Wurde das Akupunkturgerät, einem großen Schreibstift nicht unähnlich, auf eine bestimmte Stelle der Hand gesetzt und die Stromspannung erhöht, begann die Hand immer stärker zu zittern. Es kam auch vor, dass das Gerät bei hoher Spannung für etwa zehn Sekunden auf einen Punkt der Hand gedrückt wurde, was mehr als unangenehm war. Als Jugendlicher hatte ich einmal versehentlich die Zigarettenglut eines Freundes berührt. Daran erinnerte ich mich, da der Schmerz ähnlich war. Nun war ich bei Wiederholungen dieser wichtigen Behandlung darauf vorbereitet und sagte bei solchen Gelegenheiten, wenn Michaela mich fragte, ob ich das aushielte: „Alles, was nötig ist!“ Nach einer Behandlung wurde ich einen Raum geschickt, in dem etwa ein Dutzend größerer, flacher Schalen stand, die unterschiedliche Sorten Kies enthielten. Einem Gefühl folgend ging ich auf die Schale zu, deren Inhalt mir vertraut erschien. Als ich meine Hände in den Kies grub, kamen mir fast die Tränen. Meine Hände und mein Herz 18

erinnerten sich augenblicklich an den Strand des Priwalls bei Lübeck. Eines Tages begannen wir mit Kraftübungen für meine Hände. Ich sollte einen gebrauchten Tennisball so weit wie möglich zusammendrücken. Der Ball überlebte das nicht, da ich ihn unabsichtlich zerstörte. Michaela und ich waren überrascht. Nach weiteren Tagen und Wochen arbeiteten wir ebenfalls an der Geschicklichkeit meiner Hände. Auf einem runden Holztablett mit einer etwa ein Zentimeter hohen Umrandung sollte ich einen kleinen Holzkreisel mittels Daumen und Mittelfinger in Bewegung bringen, was ich vorher durch Fingerschnippen geübt hatte. Ich probierte dies mit beiden Händen abwechselnd, und nach einer Weile schaffte ich es, zwei Kreisel gleichzeitig oder kurz nacheinander in Schwung zu bringen, worauf ich stolz war. Wenn ich nicht bei Michaela in Behandlung war, machte ich unter anderem meine gymnastischen Übungen und wagte mich eines Tages ins FitnessStudio, in dem ich noch vor Monaten dreimal wöchentlich trainiert hatte. Die steile Treppe in den Empfangsraum verlangte mir viel Kraft ab. Nach dem Umziehen begann ich ein leichtes Aufwärmprogramm, das sich hier wesentlich leichter schreibt und liest, als ich es seinerzeit ausführen konnte. Ich versuchte mein Bestes, wieder in Form zu kommen. Einer der Trainer, dessen Name ich leider vergessen habe, sprach mich an, da er meine veränderten Bewegungsabläufe bemerkte. Er bot mir ein spezielles Aufbautraining an und hatte eine 19

Menge wirksamer Übungen in seinem Trainingsplan. Er war ausgebildeter Physiotherapeut, wollte aber kein Geld für sein Extratraining mit mir haben, wofür ich mich eigentlich nie angemessen bedanken konnte. Da ich wenig Geld hatte, brannte ich ihm ein paar CDs als kleines Dankeschön. Eine der Übungen zur Wiederherstellung meiner Kraft und Koordination bestand darin, dass ich mich auf den Bauch zu legen hatte und z.B. das linke Bein und den rechten Arm so weit heben sollte, wie ich konnte. Das wurde mir zusätzlich erschwert, weil mein nicht gerade leichtgewichtiger Trainer mir sein Knie in den Rücken drückte. Ich kämpfte und schwitzte, aber ich dachte nicht einen Moment an Aufgabe. Diese und andere spezielle Übungen halfen mir dabei, mich körperlich zu stärken und meine Koordination zu verbessern. Auch tat es mir psychisch gut, körperlich an meiner Genesung zu arbeiten und zu schwitzen. Das tägliche Übungspensum an der Gitarre war eine andere Art der Anstrengung und betraf mehr den feinmotorischen Bereich. Nach weiteren Wochen wollte ich unbedingt mein geliebtes Mountainbike bewegen. Entgegen Veronikas Rat, es zunächst im nahen Schlosspark zu versuchen, schob ich mein Rad bis zur Wilmersdorfer Straße, fasste allen Mut zusammen und ordnete mich in den Straßenverkehr ein. Ich war nicht einen Moment wirklich nervös und hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Die übliche Verkehrsdichte forderte meine ganze Konzentration. Mein Körper erinnerte sich an die nötigen 20

Bewegungen des Fahrens und bereitete mir kaum Schwierigkeiten. Auch das Schalten verrichtete ich wie sonst und musste darüber nicht nachzudenken. All das war aufregend und erfüllte mich mit Freude und Lebenslust. Ich fühlte mich wie ein Junge, dem ein lange gewünschtes Fahrrad geschenkt worden war und der seine erste Probefahrt unternahm. Abends legte ich mir gewöhnlich eine CD mit Songs ein, die ich besonders gut kannte. Ich war überrascht, alle Songs von “Beatles for sale“ noch nach Jahrzehnten begleiten zu können. Ebenfalls sehr dankbar für eine begleitende Akustikgitarre, aber harmonisch größtenteils anspruchsvoller, als die frühen BEATLES, waren die Aufnahmen der WALKER BROTHERS. Das “Playback“ hatte ich im Kopfhörer und spielte dazu Gitarre. Es war ein wenig wie früher im Studio bei Aufnahmen. Als ich die richtigen Akkorde zu dieser Musik spielen konnte, freute ich mich jedes Mal wie einst als Teenager, wenn ich einen neuen Song gelernt hatte. Diese und andere Songs spielten ich immer wieder, was Veronika im Zimmer nebenan nicht störte. Sie freute sich über meine Fortschritte. Zu meinen Übungen im Fitness-Studio kamen bald die regelmäßigen Behandlungen bei einer Logopädin. Meine Gesangsstimme war noch sehr schwach und ungeübt. Meinen einstigen Tonumfang würde ich wahrscheinlich nicht einmal annähernd wieder erreichen, doch gab ich auch hier nicht auf. Es hatte sich zu allem ein mir fremdes Vibrato gesellt, was mir im Gegensatz zu meiner attraktiven Therapeutin nicht gefiel, da es 21

unfreiwillig jeden Ton begleitete. Früher konnte ich es komplett kontrollieren und von der Form her eigentlich alles singen, was ich wollte. Bei einem Gesangscasting, den zu besetzenden Chor einer Opernproduktion betreffend, hatte ich einige ausgebildete Sänger aus dem Felde geschlagen und war engagiert worden. Das versuchte ich zu verdrängen, da ich aus meiner jetzigen Stimme gewillt war das Beste zu machen, statt wehmütig in Erinnerungen an alte Zeiten zu schwelgen. Denn das würde mir nicht helfen, im Gegenteil. In vielen Sitzungen am Klavier arbeitete ich mich mühsam allmählich in höhere Tonlagen vor, nicht ohne Tränen, wofür ich mich nicht schämte. Es war auch emotional anstrengend. Ich begann mich bei einigen mir wichtigen Menschen zurückzumelden, fuhr nach Monaten wieder zu einem Künstlerstammtisch, wo man sich über meine Rückkehr freute. Wie ich erfuhr, hatte Tom Cunningham bei einem seiner Auftritte im “Rickenbacker´s“ das Publikum dazu aufgefordert, eine Schweigeminute für mich einzulegen und sich mit positiven Gedanken auf mich zu konzentrieren. Ich war gerührt und bedankte mich bei Tom. Seine Postkarte mit den herzlichsten Genesungswünschen hängt noch immer bei mir an der Wand. Als Tom einen ähnlichen Schlag ertragen musste und in der Nähe eines Lokals ein Foto gemacht wurde, mit vielen Kollegen, die ihm alles Gute wünschten, ließ ich es mir nicht nehmen, seine Karte an mich in die Kamera zu halten. Da dies ein

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großes Poster wurde, konnte er die Karte gut erkennen. All the best, Tom !!!!! Wie ich erfuhr, hat er immer noch große Schwierigkeiten. Ans Gitarrespielen ist anscheinend immer noch nicht wieder zu denken. Diesen Job übernahmen andere bei einigen seiner Konzerte. I cross my fingers for you! Im Herbst des Jahres 2003 hatte ich einen kurzen Gastauftritt mit den GOONS, wofür ich mich nochmals herzlich bedanken möchte. Ich war etwa bei 40% meiner jetzigen Möglichkeiten und hatte dennoch Erfolg. Das Publikum in dem mir fremden Club wusste nichts von meiner Krankengeschichte. Daher war die positive Reaktion auf meine Performance umso höher einzuschätzen, denn Applaus aus Mitleid hätte ich nie gewollt. Inzwischen hatte ich erstmals „richtig“ zu üben begonnen und mir einige nachlässige Spieltechniken weitgehend abgewöhnt. So manches hatte ich über die Jahrzehnte schleifen lassen, so auch die Arbeit mit meiner Schlaghand. Ich versuchte nun die Töne eines Laufs einzeln anzuschlagen, anstatt ein, zwei gut zu treffen und den Rest nur mit Hilfe der linken Hand erklingen zu lassen. Gerade beim Spiel auf der E-Gitarre nahm ich davon Abstand und erarbeitete besonders für sehr schnelle Passagen eine mir neue Technik, in der zwar nicht alle Töne angeschlagen werden, aber mit Druck auf den folgenden Ton dieser wie angeschlagen hervorkommt. Ich schaffte es jedenfalls zu einem wesentlich besseren und somit häufigerem Bewegen der rechten Hand zu kommen. 23

Gegen Ende 2003, Anfang 2004 begannen PURPLE HAZE wieder zu proben. Wir hatten den 24.2. 2004 als Termin meines/unseres Comebacks festgelegt. Sollte es nicht gehen, würde ich zeitig genug absagen, aber daran verschwendete ich eigentlich keinen Gedanken. Meine Gesangsstimme war mir noch etwas fremd, aber sie klang ungleich sicherer als noch vor Monaten. Ich habe nicht mal als Teenager soviel geübt wie in jenen Tagen. Und dann war es soweit. Unser Trio hatte geradezu ein Heimspiel, da viele Freunde, Kollegen und Fans da waren. Auch Michaela wollte sich dieses Ereignis – denn es würde eins sein! – nicht entgehen lassen. Als unser Drummer Ralph den ersten Song einzählte gab es kein Zurück mehr. Jetzt oder nie! Det und ich peitschten das schwere Riff aus Bass und Gitarre, und dann sang ich endlich wieder live. Das klang sicher wie eigentlich immer, meine Fender-Gitarre und vor allem meine Hände ließen mich nicht im Stich. Meine Gitarren-Soli klangen besser als geprobt; ich war heiß und hungrig, wie damals mit siebzehn. Viele Zuhörer kannten mich nur mit akustischer Musik und waren über meine Jimi-Hendrix-Interpretationen überrascht. Michaela und ich strahlten um die Wette. Es machte ihr natürlich viel Freude, die positiven Ergebnisse ihrer Arbeit zu sehen. Ohne sie hätte ich all das nicht geschafft. Ich stellte sie dem Publikum vor und bedankte mich. Der Sonderapplaus machte sie ganz verlegen. In der Pause umarmten wir uns herzlich. Das Publikum war begeistert und ich glücklich und dankbar. 24

Ich brauchte sehr lange, bis ich begriff, was an diesem Abend und in den Monaten davor geschehen war und was ich geleistet hatte. Und wie viel Hilfe mir zuteil geworden war. Danke, lieber Gott und allen Schutzengeln! Ist das Leben nicht schön?

*Die Angiographie ist eine Methode, bei der ein sogenannter Katheter über die Leiste in die Schlagadern geführt wird, um diese durch ein Röntgenkontrastmittel einzufärben. So können u.a. Gefäßveränderungen, wie Verengungen, aber auch Tumore festgestellt werden.

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