Anlaufmanagement in der Automobilindustrie erfolgreich umsetzen

Anlaufmanagement in der Automobilindustrie erfolgreich umsetzen Günther Schuh · Wolfgang Stölzle · Frank Straube Hrsg. Anlaufmanagement in der Auto...
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Anlaufmanagement in der Automobilindustrie erfolgreich umsetzen

Günther Schuh · Wolfgang Stölzle · Frank Straube Hrsg.

Anlaufmanagement in der Automobilindustrie erfolgreich umsetzen Ein Leitfaden für die Praxis

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Prof. Dr.-Ing. Dipl. Wirt.-Ing. Günther Schuh Werkzeugmaschinenlabor (WZL) RWTH Aachen Steinbachstraße 19 52074 Aachen Deutschland [email protected] www.wzl.rwth-aachen.de

Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Stölzle Lehrstuhl für Logistikmanagement Universität St. Gallen Dufourstraße 40a 9000 St. Gallen Schweiz [email protected] www.logistik.unisg.ch

Prof. Dr.-Ing. Frank Straube Bereich Logistik TU Berlin Straße des 17. Juni 135 10623 Berlin Deutschland [email protected] www.logistik.tu-berlin.de

ISBN 978-3-540-78406-7

e-ISBN 978-3-540-78407-4

DOI 10.1007/978-3-540-78407-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 Springer-Verlag Berlin Heidelberg „Die Strategie der integrierten Wertschöpfungskette zur Anlaufsteuerung bei der Vorserienlogistik der AUDI AG“ hat abweichend hiervon © AUDI AG 2008 mit freundlicher Genehmigung an SpringerVerlag. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z. B. DIN, VDI, VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen. Einbandgestaltung: deblik, Berlin Satz und Herstellung: le-tex publishing services oHG, Leipzig Gedruckt auf säurefreiem Papier. 987654321 springer.com

Geleitwort

Die Automobilindustrie ist mit etwa fünf Millionen Direkt- und Indirektbeschäftigten einer der größten Arbeitgeber und einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Deutschland. Die Globalisierung und Internationalisierung des Wettbewerbs sowie die hohe Exportabhängigkeit der deutschen Automobilindustrie von nahezu 70% haben Markt- und Produktstrategien verändert. Die deutsche Automobilindustrie versucht sich mithilfe einer Strategie der Innovations- und Qualitätsführerschaft unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Kosteneffizienz vom ausländischen Wettbewerb zu differenzieren. Gerade die Innovationsfähigkeit ist dabei die Schlüsselkomponente, um dauerhaft qualitatives und quantitatives Wachstum zu erzielen sowie Beschäftigung zu sichern. Die deutsche Automobilindustrie entwickelt sich zum Kern des deutschen Wirtschaftsgeflechts und übt damit eine Strahlwirkung auf andere Industrien aus. Die Folgen des Wettbewerbs äußern sich in einer deutlich ansteigenden Modellund Variantenvielfalt bei parallel sinkenden Modellzyklen. Vor diesem Hintergrund gewinnt vor allem der Serienanlauf an Bedeutung, da nicht nur infolge vermehrter Markteinführungen von Produkten zwangs-läufig die Anzahl der Serienanläufe ansteigt, sondern diese auch in immer kürzeren Zeiten zu bewältigen sind. Allerdings gelingt es gegenwärtig nicht allen Unternehmen, ihre Serienanläufe – den Vorgaben und Zielen in den Dimensionen Effizienz, Termin und Zuverlässigkeit entsprechend – erfolgreich zu bewerkstelligen. Genau hier setzt dieses Buch mit den dargestellten Forschungsergebnissen und Unternehmenserfahrungen an. Diese sollen für die wesentlichen Aspekte des Anlaufmanagements sensibilisieren und anhand von an-schaulichen Fallstudien die wichtigsten Bestandteile thematisieren. Die skizzierten Instrumente und Praxiserfahrungen dienen den Lesern als Anregung und Hilfestellung zur Verbesserung des eigenen Serienanlaufmanagements, um die Lücke zu den erfolgreichen Unternehmen zu schließen sowie nachhaltige Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten zu erzielen. Das vorliegende Werk liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung von Produkt- und Prozessinnovationen und hilft somit deutsche Ingenieurleistungen kosteneffizient und kundenorientiert am Markt zu platzieren.

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Geleitwort

Der Verein Deutscher Ingenieure e.V. wünscht diesem Buch eine positive Resonanz und den Lesern eine erkenntnisreiche Lektüre. Verein Deutscher Ingenieure e.V. Dr.-Ing. Willi Fuchs Direktor und geschäftsführendes Mitglied des Präsidiums des VDI Düsseldorf, im Juni 2008

Vorwort

Die Automobilindustrie erlebte in den vergangenen zehn Jahren eine bis dato unbekannte Dynamik in der Gestaltung ihrer Modellpalette: Der Wettbewerb um Marktanteile und attraktive Nischenmärkte zwingt Automobilhersteller und Zulieferer gleichermaßen, Modelllebenszyklen zu verkürzen und stärker als je zuvor die Modellpalette mit neuen Fahrzeugvarianten zu erweitern. Serienanläufe sind daher nicht nur häufiger, sondern auch in immer kürzer werdenden Zeitabständen zu bewältigen. Diesen Trend haben drei Forschungsinstitute – das Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der Rheinisch-Westfälischen Hochschule Aachen, der Lehrstuhl für Logistikmanagement der Universität St. Gallen und der Bereich Logistik der Technischen Universität Berlin – frühzeitig erkannt und sich dem Thema wissenschaftlich angenommen. Mit dem Benchmarking-Projekt „Anlaufmanagement für Automobilzulieferer“ wurde die Basis zur Erarbeitung eines integrierten Anlaufmanagementmodells gelegt, mit der die verschiedenen Gestaltungsbereiche von Serienanläufen ganzheitlich aufbereitet werden konnten. Auf Grundlage der in diesem Rahmen gewonnenen Erkenntnisse konnten zwei Industriearbeitskreise „Anlaufmanagement erfolgreich umsetzen“ durchgeführt werden. Mit Vertretern aus insgesamt über 20 Firmen der Automobilzulieferindustrie wurden über einen Zeitraum von jeweils einem knappen Jahr die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten diskutiert und umsetzungsorientierte Lösungen für die jeweiligen Unternehmen erarbeitet. In diesem Rahmen entstand – unter anderem initiiert durch den Wunsch der Unternehmensvertreter nach einem kompakten Nachschlagewerk zum Thema Anlaufmanagement – die Idee, die Erkenntnisse aus den Projekten in ein kompaktes und aussagekräftiges Werk einfließen zu lassen, welches sowohl Wissenschaftlern einen Überblick über den aktuellen Stand des Anlaufmanagements bietet, als auch Praktikern durch das Aufzeigen der vielfältigen Interdependenzen im Produktentstehungsprozess einen Leitfaden für Anlaufprojekte im Arbeitsalltag an die Hand gibt. Der Dank der Herausgeber gilt an erster Stelle den Praxisautoren, die durch ihre Beiträge dem vorliegenden Band die Praxisorientierung geben, die für ein umfassendes Buch im Bereich Anlaufmanagement unerlässlich ist. Wir danken den Mitarbeitern unserer Institute, die in mühevoller und intensiver Arbeit das Thema An-

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Geleitwort

laufmanagement über mehrere Jahre Schritt für Schritt aufbereitet haben. Insbesondere danken wir den Herren Stefan A. Doch, Bastian Franzkoch, Dr.-Ing. Sebastian Gottschalk, Axel Hoeschen, Dr. oec. Joerg S. Hofstetter, Phillip Kirst, Dr.-Ing. Axel Mayer, Nils Peters und Florian Rösch, ohne deren Mithilfe die Erstellung dieses Buchs nicht möglich gewesen wäre. Auch den Praktikern, die durch die Beteiligung an dem Benchmarking-Projekt und an den Industriearbeitskreisen immer wieder für neue Impulse gesorgt haben, sprechen wir unseren Dank aus. Zu guter Letzt sind wir den Mitarbeitern des Springer-Verlags, Herrn Thomas Lehnert und Frau Ulrike Butz, zu Dank verpflichtet, ohne deren geduldige Beratung dieses Buch nicht in der vorliegenden Form hätte realisiert werden können. Wir wünschen dem vorliegenden Buch „Anlaufmanagement in der Automobilindustrie erfolgreich umsetzen“, dass es eine angemessene Verbreitung in der Unternehmenspraxis ebenso wie in der Wissenschaft findet, und freuen uns auf Rückmeldungen sowie eine weitere Diskussion des Themas. Im Juni 2008 Aachen St. Gallen Berlin

Günther Schuh Wolfgang Stölzle Frank Straube

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen des Anlaufmanagements: Entwicklungen und Trends, Definitionen und Begriffe, Integriertes Anlaufmanagementmodell Günther Schuh, Wolfgang Stölzle, Frank Straube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I Anlaufstrategie Konzepte und Erfolgsfaktoren für Anlaufstrategien in Netzwerken der Automobilindustrie Nils Peters, Joerg S. Hofstetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Strategie der Integrierten Wertschöpfungskette zur Anlaufsteuerung bei der Vorserienlogistik der AUDI AG Ralf Beetz, Alexander Grimm, Timo Eickmeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Verbesserung der Anlaufperformance durch den Einsatz von Frontloading-Maßnahmen Stephan Beer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II Anlauforganisation Anlauforganisation Bastian Franzkoch, Sebastian Gottschalk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Moderne Projektsteuerung in einer mehrdimensionalen Matrixorganisation Edwin Tom, Stephan Uske, Karl Lindenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Anlaufmanagement in der Nutzfahrzeugindustrie am Beispiel Daimler Trucks Frank H. Lehmann, Andreas Grzegorski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

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Inhaltsverzeichnis

III Lieferantenmanagement Lieferantenintegration im Produktentstehungsprozess Phillip Kirst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Fahrzeuganlaufmanagement bei Volkswagen am Beispiel des VW Tiguan Bernd Martens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Lieferantenmanagement in der Anlaufphase eines 0.5-Tiers Michael Druml, Jörg Blechinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Lieferantenmanagement im Serienanlauf am Beispiel des Plattformprojekts CP4 der Robert Bosch GmbH Peter Rumpf, Werner Wölfler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 IV Logistikmanagement Logistikmanagement im Anlauf Stefan A. Doch, Florian Rösch, Axel Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Strategische Netzwerkplanung als notwendiger Beitrag zur Lieferantenauswahl: Supply Chain Design im Produktentstehungsprozess Christian Nieters, Stefan Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Taktische Logistikplanung vor Start-of-Production (SOP) – Aufgabenumfang und softwarebasierte Unterstützung im Rahmen der Virtuellen Logistik bei der AUDI AG Dr. Markus Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 V Produktionsmanagement Produktionsmanagement im Anlauf Sebastian Gottschalk, Axel Hoeschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Gestaltung von Serienanläufen im globalen Entwicklungsund Produktionsverbund Markus Bergholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Schnell und einfach Hochfahren Achim Kampker, Gregor Tücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 VI Änderungsmanagement Grundlagen des Änderungsmanagements im Anlauf Florian Rösch, Axel Mayer, Stefan A. Doch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Inhaltsverzeichnis

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Änderungsmanagement im Anlauf am Beispiel des Mercedes-Benz-Werks Bremen Frederik König, Joachim Betker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Änderungsmanagement bei einem Systemlieferanten – Der Globale Technische Änderungsdienst der Behr GmbH & Co. KG Michael Behn, Achim Trojan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 VII Kostenmanagement Kostenmanagement im Anlauf – Aufgaben und Instrumente Klaus Möller, Martin Stirzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Zusammenfassung und Ausblick Günther Schuh, Wolfgang Stölzle, Frank Straube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Grundlagen des Anlaufmanagements: Entwicklungen und Trends, Definitionen und Begriffe, Integriertes Anlaufmanagementmodell Günther Schuh, Wolfgang Stölzle, Frank Straube RWTH Aachen; Universität St. Gallen; Technische Universität Berlin

Entwicklungen und Trends in der Automobilindustrie Die (west-)europäische und nordamerikanische Automobilindustrie wird nach Jahren des Wachstums mit stagnierenden oder sogar schrumpfenden Absatzmärkten sowie einem fortschreitenden Strukturwandel konfrontiert. Durch den damit einhergehenden, harten Wettbewerb um Marktanteile befinden sich die Unternehmen in einem Innovationswettlauf, der sich in einer deutlich ansteigenden Modell- und Variantenvielfalt sowie in sinkenden Modellzyklen und Entwicklungszeiten widerspiegelt (Schuh et al. 2002). Diese Entwicklungen betreffen nicht nur die Automobilhersteller, sondern aufgrund ihres hohen Wertschöpfungsanteils auch die Automobilzulieferer. Um den steigenden Anforderungen der Kunden gerecht werden zu können, bedarf es vermehrter Innovationsanstrengungen, insbesondere Markteinführungen von neuen Produkten in höherer Frequenz. In diesem Zusammenhang steigt zwangsläufig auch die Anzahl von Serienanläufen. Gleichzeitig entscheidet ein um nur wenige Monate verschobener Verkaufsstart über Erfolg oder Misserfolg eines Produktes. Maßgeblich für den Erfolg ist somit, das Management des Serienanlaufs vor dem Hintergrund von Time-to-Market und Time-to-Volume sowie von Kosten, Qualität und Produktkomplexität zu beherrschen (Straube 2004). Zwischen dem Wunsch und der Wirklichkeit klafft jedoch eine große Lücke: Einer internationalen Studie zufolge verfehlten im Jahr 2004 60% der Serienanläufe in der europäischen Automobilindustrie ihre technischen und/oder wirtschaftlichen Ziele. Lediglich 40% aller untersuchten Serienanläufe waren sowohl wirtschaftlich als auch technisch erfolgreich (Fitzek u. Straube 2004).

Begriffliche Einordnung und Phasen des Serienanlaufs Der Serienanlauf beschreibt den Zeitraum zwischen abgeschlossener Produktentwicklung und der vollen Kapazitätserreichung. Er lässt sich als die Phase charakteG. Schuh et al. (Hrsg.), Anlaufmanagement in der Automobilindustrie erfolgreich umsetzen © Springer 2008

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risieren, in der ein vormals im Designstadium befindlicher Prototyp in die Serienproduktion überführt wird (Wiesinger u. Housein 2002). Offenbar existiert bislang keine eindeutige Begriffsdefinition des Serienanlaufs: Zum Teil werden Vor- und Nullserien als Serienanlauf bezeichnet, zum Teil wird nicht zwischen Produktionsanlauf und Produktionshochlauf getrennt. Dennoch unterteilen die meisten Unternehmen den Serienanlauf in drei Hauptphasen (siehe Abb. 1: Gentner 1994; Wangenheim 1998). In der Vorserie werden Prototypen in großer Stückzahl unter seriennahen Bedingungen hergestellt. In der Automobilindustrie findet diese Phase zum Teil auf separaten Pilotlinien (Fertigungsbänder für Test- und Präsentationszwecke), zum Teil auf der späteren Fertigungsstraße statt. Charakteristisch ist, dass noch nicht alle Teile mit Serienwerkzeugen produziert werden. Die Vorserie wird insbesondere zur Problemfrüherkennung, zur Prozessverbesserung und zur Mitarbeiterqualifikation genutzt (Baumgarten u. Risse 2001; Clark u. Fujimoto 1991; Gentner 1994; Wangenheim 1998). An die Phase der Vorserie schließt sich die seriennahe Produktion der Nullserie an. Diese Phase kann in separaten Pilotwerken, auf Pilotlinien oder auf Serienproduktionslinien stattfinden. Die verwendeten Teile entstammen zu 100% den späteren Serienwerkzeugen, die Zulieferer fertigen bereits unter Serienbedingungen (Wangenheim 1998; Baumgarten u. Risse 2001). Aufgrund des erheblichen Aufwands der beiden Serien werden in der Automobilindustrie oftmals die Phasen der Vor- und der Nullserie zu einer Pilotserienproduktion zusammengefasst. Nach der Vor- und Nullserie bzw. nach der Freigabe für die Serie beginnt mit dem Start of Production (SOP) der Produktionshochlauf mit dem ersten kundenfähigen Produkt. Für diesen Zeitpunkt wird in der Automobilindustrie auch der Begriff „Job Nr. 1“ verwendet. Die Beschleunigung der Produktion spiegelt sich in der sogenannten Anlaufkurve wider. Das Ende des Hochlaufs und somit des Serienanlaufs ist erreicht, wenn eine stabile Produktion oder ein eingeschwungener Zustand vorliegt und die Planstückzahl bzw. -kapazität, die der geplanten Tagesproduktion unter Serienbedingungen entspricht, gefertigt wird (Wangenheim 1998; Baumgarten u. Risse 2001).

Abb. 1 Phasen des Serienanlaufs

Grundlagen des Anlaufmanagements

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In der Vergangenheit sind im Speziellen die Phasen der Produktentwicklung und Serienproduktion kontinuierlich optimiert worden. Die Mehrzahl der Verbesserungsaktivitäten wurde allerdings phasenspezifisch und separat initiiert, sodass insbesondere der Serienanlauf als Verbindungselement der beiden Phasen von den Optimierungsmaßnahmen weitestgehend unberücksichtigt blieb. Gerade in dieser Phase existieren jedoch zahlreiche Handlungsfelder und Stellhebel, um sowohl der steigenden Komplexität zu begegnen als auch wesentliche Verbesserungs- und Einsparpotenziale zu erschließen. Die Komplexität resultiert vornehmlich aus der Vielzahl interdependenter Gestaltungsobjekte (bspw. Technologien, Produkt, Prozesse, Produktionssystem, Personal, Logistikkette) und Funktionalbereiche (insbesondere Produktentwicklung, Produktion, Logistik, Einkauf), die während eines Serienanlaufs sowohl auf Automobilhersteller- als auch auf Lieferantenseite erstmals vernetzt ineinandergreifen müssen und sich dabei signifikant beeinflussen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Gesamtsystem weder leistungsfähig noch besitzt es einen angemessenen Reifegrad. Außerdem ist in dieser Phase ausgesprochen qualifiziertes Personal erforderlich, in der dafür notwendigen Anzahl aber selten frühzeitig verfügbar. Zur Bewältigung dieses Dilemmas werden oft weitere personelle Ressourcen in die Serienanlaufaktivitäten involviert, wodurch die Anzahl an Schnittstellen und demzufolge auch an Reibungsverlusten zunimmt sowie hohe zusätzliche Kosten durch ganzheitliche Fehlerbehebung (Trouble Shooting) entstehen. Anstelle eines beherrschten Serienanlaufs führt die reaktive Fehlerbekämpfung zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten (Schuh et al. 2005). Die Beherrschung dieser kritischen Phase setzt ein ganzheitliches und kontinuierliches Anlaufmanagement voraus. Hierfür müssen sämtliche Aktivitäten zur Planung, Steuerung und Durchführung sowie zur Kontrolle des Serienanlaufs unter Einbeziehung der vor- und nachgelagerten Prozesse gebündelt werden (Kuhn et al. 2002).

Integriertes Anlaufmanagementmodell Das integrierte Anlaufmanagementmodell hat sich in Wissenschaft und Praxis als wertvolle Strukturierungshilfe bewährt und ist in den vergangenen drei Jahren durch die drei Hochschulinstitute mit der Automobilindustrie kontinuierlich weiterentwickelt worden. Dieses Anlaufmanagementmodell besteht aus drei Komponenten: • Akteure im Serienanlauf (Lieferanten, interne Bereiche und Kunden), • Managementdimensionen des Serienanlaufs sowie • Zieldimensionen des Serienanlaufs (Qualität, Zeit und Kosten). Die Zusammenhänge dieser drei Bestandteile des integrierten Anlaufmanagementmodells sind in Abb. 2 dargestellt. Die sieben Dimensionen des Anlaufmanagementmodells, die als besonders erfolgskritisch in Bezug auf den Serienanlauf identifiziert worden sind, offerieren spezifische Methoden und Instrumente, um einen reibungslosen Serienanlauf rea-

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Abb. 2 Integriertes Anlaufmanagementmodell

lisieren zu können. Sie bilden den theoretischen Rahmen für das vorliegende Buch und werden jeweils in einem separaten Kapitel behandelt. Im Kapitel „Anlaufstrategie“ wird die Notwendigkeit einer richtungsweisenden, übergeordneten Strategie für Anlaufprojekte verdeutlicht. Eine Anlaufstrategie definiert den generellen Standpunkt des Unternehmens auf lange Sicht für sämtliche Anläufe und koordiniert somit die unterschiedlichen Aktivitäten in der Umsetzung der einzelnen Anläufe. Anhand ausgewählter Strategien des Flexibilitäts-, Komplexitäts-, Qualitäts- und Kostenmanagements in und von Supply Chains werden konkrete Gestaltungsmöglichkeiten dieser Anlaufstrategie in Netzwerken abgeleitet und anhand empirischer Ergebnisse reflektiert. Das Kapitel „Anlauforganisation“ beschäftigt sich im Speziellen damit, wie im Serienanlauf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht und Effizienz- sowie Effektivitätsverluste an den Schnittstellen zwischen den Funktionalbereichen verringert werden. Dies betrifft auch organisatorische Konzepte für das Anlaufmanagement sowie deren Verankerung in bestehende Organisationsstrukturen. Außerdem werden die Themen funktionsübergreifende Zusammenarbeit, Anlaufteam und Anlaufmanager adressiert. Abschließend finden sich Unterstützungsinstrumente für die ablauforganisatorische Strukturierung von Serienanläufen. Das Kapitel „Lieferantenmanagement“ zeigt auf, wie anlaufkritische Lieferanten früh identifiziert und integriert werden können: Lieferanten können insbesondere in der Anlaufphase ein erhöhtes Risiko darstellen, da viele Kaufteile ebenfalls eine Anlaufphase durchwandern, wodurch sich die Risiken potenzieren. Um die eigenen Anlaufprozesse nicht durch Fehlleistungen der Lieferantenbasis zu gefährden, müssen anlaufkritische Lieferanten frühzeitig identifiziert und in die Abläufe des Herstellers integriert werden, um gemeinsam Produkt und Prozess auf den angestrebten Reifegrad zu bringen. Das Kapitel „Logistikmanagement“ problematisiert den durch die hohe logistische Komplexität des Serienanlaufs determinierten Bedarf nach stabilen und standardisierten Logistikprozessen. Hierzu werden die zum Einsatz kommenden Methoden des Logistikmanagements systematisiert dargestellt und die Anforderungen

Grundlagen des Anlaufmanagements

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an die IT-seitige Unterstützung der Logistikplanung beleuchtet. Aufgrund des integrativen Charakters des Logistikmanagements im Anlauf werden Schnittstellen zu anderen Unternehmensfunktionen und die Bedeutung der Logistik als zentrale Koordinationsinstanz in Unternehmen dargelegt. Das Kapitel „Produktionsmanagement“ behandelt Fragestellungen zum Vorgehen der Werksstruktur- und Betriebsmittelplanung sowie zur Standardisierung in der Produktion, um vor dem Hintergrund nicht vollständig ausgereifter Prozesse und starker Kapazitätsschwankungen ein hohes Maß an Flexibilität zu gewährleisten. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Befähigung der Mitarbeiter zum Umgang mit den komplexen Koordinationsaufgaben im Serienanlauf. Das Kapitel „Änderungsmanagement“ stellt die Bedeutung und die Bestandteile eines integrativen Änderungsmanagements dar. Als wesentliche Basis des Änderungsmanagements werden hierzu, neben den präventiven Maßnahmen der Änderungsplanung, die Implementierung und Nutzung eines Standardänderungsprozesses sowie dessen Vernetzung mit dem Produktdatenmanagement erarbeitet. Darüber hinaus werden die Besonderheiten eines werks- und unternehmensübergreifenden Änderungsmanagements adressiert und Anregungen für den Umgang mit den daraus resultierenden Herausforderungen angeboten. Das Kapitel „Kostenmanagement“ thematisiert die Steuerung der Kosten in der Anlaufphase. Beginnend mit der Abgrenzung der in der Anlaufphase anfallenden Kosten erfolgt im Anlaufmanagement eine möglichst klare Zuordnung nach dem Verursacher-Prinzip. Dementsprechend werden geeignete Instrumente des Kostenmanagements aufgezeigt, welche eine Steuerung der Anlaufphase in definierten Zielkostenkorridoren ermöglichen. Jedes Buchkapitel umfasst nach einer Einführung in die jeweilige Thematik Beiträge von Praxisautoren, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen darlegen. Dabei spiegeln die Praxisbeispiele in erster Linie Erfolgsfälle wider, zeigen aber auch, was die Unternehmen aus Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Somit bietet das Buch wissenschaftlich fundierte Ansätze zur erfolgreichen Gestaltung des Serienanlaufs und zeigt praxisorientierte Methoden und Instrumente für eine flexible, exakte und vor allem termintreue Abwicklung des Serienanlaufs systematisiert auf.

Literaturverzeichnis 1. Baumgarten H, Risse J (2001) Logistikbasiertes Management des Produktentstehungsprozesses. In: Hossner R (Hrsg) Jahrbuch der Logistik 2001. Verlagsgruppe Handelsblatt, Düsseldorf, S 150–156 2. Clark KB, Fujimoto T (1991) Product development performance: strategy, organization, and management in the world auto industry. Harvard Business School Press, Boston 3. Gentner A (1994) Entwurf eines Kennzahlensystems zur Effektivitäts- und Effizienzsteigerung von Entwicklungsprojekten. Dissertation, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen 4. Kuhn A, Wiendahl HP, Eversheim W, Schuh G (2002) „fast ramp-up“ – Schneller Produktionsanlauf von Serienprodukten. Verlag Praxiswissen, Dortmund

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5. Schuh G, Kampker A, Franzkoch B (2005) Anlaufmanagement – Kosten senken, Anlaufzeit verkürzen, Qualität sichern. wt Werkstattstechnik online 95/5:405–409 6. Schuh G, Riedel H, Abels I, Desoi J (2002) Serienanlauf in branchenübergreifenden Netzwerken. Eine komplexe Planungs- und Kontrollaufgabe. wt Werkstattstechnik online 92/12:656– 661 7. Straube F (2004) e-Logistik – Ganzheitliches Logistikmanagement. Springer, Berlin Heidelberg New York 8. Fitzek D, Straube F (2004) Management Report zur St. Galler Anlaufmanagementstudie: Logistikorientiertes Management von Serienanläufen – Handlungsfelder und Erfolgskonzepte für Automobilzulieferer. Verlag E. Klock, Stadecken-Elsheim 9. Wangenheim S von (1998) Integrationsbedarf im Serienanlauf dargestellt am Beispiel der Automobilindustrie. In: Horváth P; Fleig G (Hrsg) Integrationsmanagement für neue Produkte. Schäffer-Poeschel, Stuttgart, S 57–86 10. Wiesinger G, Housein G (2002) Schneller Produktionsanlauf von Serienprodukten. Wettbewerbsvorteile durch ein anforderungsgerechtes Anlaufmanagement. wt Werkstattstechnik online 92/10:505–508

Teil I

Anlaufstrategie

Konzepte und Erfolgsfaktoren für Anlaufstrategien in Netzwerken der Automobilindustrie Nils Peters, Joerg S. Hofstetter Lehrstuhl für Logistikmanagement, Universität St. Gallen

Strategische Relevanz des Serienanlaufs in der Automobilindustrie Die Automobilindustrie verfolgt das Ziel, im Markt angekündigte neue Fahrzeugbaureihen nach einer zeit- und kosteneffizienten Anlaufphase termin- und qualitätsgerecht auszuliefern. Dies bedingt eine enge Abstimmung der an der Leistungserstellung beteiligten internen wie externen Akteure. Hierzu dient die Formulierung und konsequente Einhaltung einer Anlaufstrategie auf Unternehmensebene wie auch deren Ausbreitung auf sämtliche am Serienanlauf beteiligte Unternehmen. In der Literatur finden sich kaum umfassende Beiträge zur inhaltlichen Ausgestaltung einer Anlaufstrategie, welche sowohl der Aufgabenvielfalt des Anlaufmanagements als auch der Menge und Arten der zu berücksichtigenden Lieferantenverhältnisse hinreichend gerecht werden. Viele aktuelle wissenschaftliche wie auch praxisnahe Beiträge beschränken sich auf den Hinweis auf die strategische Relevanz eines Managements des Serienanlaufs (Fitzek 2006; Kirst 2006; Risse 2002; Witt 2006) oder gehen auf spezifische Teilaspekte einer Anlaufstrategie ein (Di Bennedetto 1999; Fitzek 2006; Pfohl u. Gareis 2000; Schuh et al. 2005; Schuh u. Franzkoch 2004; Wildemann 2006). Dieser Beitrag erarbeitet mögliche Konzepte für die Formulierung einer Anlaufstrategie und zeigt anhand empirischer Untersuchungen Erfolgsfaktoren für die konkrete Ausgestaltung von Anlaufstrategien auf. Der Beitrag schließt mit einem Blick in die Praxis und zeigt anhand zweier Fallstudien, wie Hersteller und Lieferanten Serienanläufe mit Erfolg strategisch managen.

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N. Peters, J.S. Hofstetter

Grundlagen von Anlaufstrategien in Netzwerken Zielsetzung einer Anlaufstrategie in Netzwerken Der Serienanlauf (kurz: Anlauf) in der Automobilindustrie ist durch die sukzessive Überführung eines neuen Produktes aus den Laborbedingungen der Konzeption und Entwicklung in ein stabil zu produzierendes Produkt in der Serienproduktion gekennzeichnet (exemplarisch: von Wangenheim 1998). Dabei ist der Serienanlauf als jene Zeitperiode definiert, die mit der Einführung eines Produktes in eine Produktionseinrichtung beginnt und mit dem Erreichen einer stabilen Serienfertigung endet. Der Serienanlauf verfolgt somit das Ziel, den Ausstoß der Produktion bis zum nachhaltigen Erreichen der Normalproduktivität, der sog. „Kammlinie“, zu erhöhen (Terwiesch u. Bohn 2001; von Wangenheim 1998), welche zum einen durch eine hohe Auslastung der Betriebsmittel sowie eines vorab definierten Qualitätsniveaus charakterisiert ist. Die grafische Darstellung des jeweils aktuellen Produktionsvolumens über die Anlaufperiode hinweg wird als Anlaufkurve bezeichnet. Die Unternehmensstrategien der Automobilhersteller zielen vornehmlich darauf ab, Produktinnovationen schnell in den Markt zu bringen (Time-to-Market) und die Nutzungszeit der Produktionsanlagen zu maximieren (Time-to-Volume). Zahlreiche Untersuchungen zeigen die Relevanz des Faktors Zeit bei der Umsetzung von Produktinnovationen für die Generierung nachhaltiger Wettbewerbsvorteile auf (Clark u. Fujimoto 1992; Petry 2006; Risse 2002; Schneider u. Lücke 2002). Unter Voraussetzung der Konstanz von Kosten und Qualität ermöglicht ein solcher „First Mover“-Strategieansatz einem Automobilhersteller, auf dem Markt Monopolrenten („Pioniergewinne“) zu erwirtschaften (Wiesinger u. Housein 2002), attraktive Märkte zu besetzen und somit höhere Verkaufszahlen zu erreichen (von Wangenheim u. Dörnemann 1998; Wiendahl et al. 2002) sowie die maximal zu generierenden Deckungsbeiträge über den Produktlebenszyklus hinweg abzuschöpfen (Risse 2004) (s. Abb. 1). Das Verhalten eines Automobilherstellers im Serienanlauf hat direkte Auswirkungen auf seine Zulieferanten. Die Verkürzung der Anlaufperiode beim Automobilhersteller fordert, dass die Zulieferanten die Bedarfe ihrer Kunden im eigenen Zuliefernetzwerk abbilden, um die Gesamtperformance des Serienanlaufs nicht zu beeinträchtigen (Fitzek 2006; Handfield et al. 1999; Wildemann 2006; Witt 2006). Neben der Sicherstellung der Verfügbarkeit der Zulieferkomponenten spielen die Einhaltung der Qualität und die Minimierung der Kosten eine entscheidende Rolle. Weitreichende Komplexität entsteht durch zahlreiche konstruktive Änderungen während des Anlaufs, die in der Regel eine enge Koordination mit eigenen Zulieferanten, mit Lieferanten beeinträchtigter Subsysteme und dem Automobilhersteller erfordern – idealerweise auf Basis der Anlaufstrategie des Herstellers. Eine Anlaufstrategie, welche zur verbesserten Wettbewerbsposition eines Automobilherstellers beitragen soll, muss eine integrierte Betrachtungsweise der drei Zieldimensionen Zeit, Kosten und Qualität vorweisen (s. Abb. 2) und zudem die

Konzepte und Erfolgsfaktoren für Anlaufstrategien in Netzwerken der Automobilindustrie

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Abb. 1 Auswirkungen eines schnellen Anlaufs auf den Product-Life-Cycle-Ertrag

Abb. 2 Integration der Zieldimensionen in der Anlaufstrategie (in Anlehnung an Schneider u. Lücke 2002)

Anschlussfähigkeit an die vor- und nachgelagerten Entwicklungs- und Produktionsprozesse sowie die dabei beteiligten Akteure gewährleisten. Es entspricht somit dem Zielsystem des Supply Chain Management, welches auf der Formalzielebene ebenfalls die Wettbewerbsfähigkeit des Wertschöpfungsverbunds (Christopher u. Ryals 1999) und auf Sachzielebene die Steigerung des Endkundennutzens durch Zeit-, Kosten-, und Qualitätsvorteile in den Vordergrund stellt (Stölzle et al. 2005; Mentzer et al. 2001; Kotzab 2000).

Rolle von Anlaufstrategien in Netzwerken Unter einer Strategie werden in der Betriebswirtschaft die langfristig geplanten Aktivitäten von Unternehmen zur Erreichung ihrer Ziele verstanden. Klassisch umfasst

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eine Strategie neben dem strategischen Plan auch dessen Realisierung, indem sie Ziele vorgibt und anhand von Leitsätzen und Regeln den Weg zur Erreichung dieser Ziele darlegt (Mintzberg et al. 2002; Pfohl u. Stölzle 1997). Eine Anlaufstrategie operationalisiert die Ziele der Unternehmensstrategie auf den Serienanlauf und ist als übergeordnetes Regelwerk für sämtliche Anläufe an allen Standorten eines Unternehmens zu verstehen. Die Anlaufstrategie dient sowohl als Brücke zwischen der Produktentwicklungs- und der Produktionsstrategie eines Unternehmens als auch in der Verbindung zu den jeweiligen funktionalen Schnittstellen der Supply-Chain-Partner (Pfohl u. Gareis 2000). Sie stellt sicher, dass die dafür nötigen Ressourcen identifiziert und aufgebaut werden (Hungenberg 2006). Eine Produktentwicklungsstrategie definiert durch das Produktdesign den Innovationsgrad der Kaufteile und somit Konfiguration der Supply Chain (Bullinger 1996). Die Produktionsstrategie umfasst die Standortentscheidung, die Beschaffenheit und Auslastung der Anlagen sowie die logistischen Prozesse des Produktionssystems (Schuh et al. 1996). Allgemein ist festzustellen, dass sowohl in der Produktentwicklungsphase als auch in der Produktionsphase die Fertigungstiefe bei den Herstellern sinkt (McK 2003). In diesem Zusammenhang erfolgt in der Produktentwicklung immer häufiger die Vergabe von komplexen Modulen und Systemen an Zulieferanten (McK 2003, VDA 2004), welche die Module selbstständig als sogenannte „Black box“- oder Systemlieferanten weiterentwickeln und diese auch folgend in der Serie zuliefern (Liker u. Choi 2004). Es kann auch vorkommen, dass die Lieferkette der Serie von derjenigen der Entwicklungsphase abweicht und der Lieferant der Entwicklungsphase nicht mit demjenigen der Serienphase übereinstimmt. Da die Anlaufstrategie in der Praxis der Produktentwicklungs- wie auch der Produktionsstrategie untergeordnet ist, muss sie die grundsätzlichen Entscheidungen beider Strategien aufgreifen und sie integrieren (von Wangenheim 1998). Allerdings können auch Entscheidungen innerhalb der Anlaufstrategie Anpassungen der angrenzenden Strategien zur Folge haben. Die Anlaufstrategie leistet somit die phasenund funktionsübergreifende Koordination innerhalb eines Unternehmens (Pfohl u. Gareis 2000) und stellt die Anschlussfähigkeit der Funktionen und Bereiche weiterer Produktionsstandorte sowie die der vor- und nachgelagerten Supply-ChainPartner sicher (s. Abb. 3).

Abb. 3 Koordinationsbedarfe im Serienanlauf zwischen Entwicklung und Produktion der einzelnen Supply-Chain-Partner

Konzepte und Erfolgsfaktoren für Anlaufstrategien in Netzwerken der Automobilindustrie

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Konzepte für Anlaufstrategien in Netzwerken Die Zielsetzung einer möglichst frühen und steilen, gleichzeitig jedoch zuverlässigen Anlaufkurve wird durch eine kosteneffiziente Minimierung bzw. Vermeidung von produkt- und supply-chain-seitigen Fehlerquellen und Störungen wie z. B. Änderungsvorhaben1 angestrebt (Petry 2006; Terwiesch u. Bohn 2001). Zur Vermeidung von Fehlern bzw. Störungen bietet es sich aus strategischer Sicht an, im Vorfeld die Komplexität eines Serienanlaufs zu reduzieren (Kaluza et al. 2006) sowie die Qualität der einzelnen Bauteile und Prozesse konstruktiv abzusichern (Seghezzi 2003). Da ein reibungsloser Serienanlauf per se eine Utopie darstellt (Wiendahl et al. 2002), muss ein Anlaufprojekt von vorneherein mit ausreichend Flexibilitätspotenzialen versehen werden, damit das Wertschöpfungsnetzwerk Störungen zeiteffizient ausgleichen (Fitzek 2006) und somit zur verstärkten Wettbewerbsposition beitragen kann (Hitt et al. 1998). Zudem erwächst der Bedarf nach Ansätzen zur langfristigen unternehmensübergreifenden Kostensteuerung, um die Profitabilität des Gesamtserienanlaufs sicherzustellen (Stölzle et al. 2005). Im Folgenden soll nun auf die Konzepte des strategischen Flexibilitäts-, Komplexitäts-, Qualitäts- und Kostenmanagements in und von Supply Chains eingegangen werden.

Flexibilität im Serienanlauf ermöglichen Strategische Flexibilität zeichnet sich durch die Verfügbarkeit einer Vielzahl strategischer Optionen („Handlungsspielräume“) zur Reaktion auf zukünftige Entwicklungen aus (Picot u. Wolff 2005). Unternehmen sollten diese strategische Flexibilität insbesondere durch den Aufbau von flexiblen Ressourcen und flexiblen Koordinationsmechanismen im Serienanlauf anstreben, um bei auftretenden Störungen oder Umweltveränderungen in der Anlaufphase genügend Handlungsspielräume aufzuweisen. Im Zuge der Fragmentierung heutiger Supply Chains sind diese Ressourcen und Mechanismen zunehmend auf unternehmensübergreifender Ebene verortet (exemplarisch: Kumar et al. 2006; Sánchez u. Pérez 2005). Somit kann die Supply-Chain-Flexibilität als die Fähigkeit von Netzwerken verstanden werden, sich kontinuierlich an verändernde Zustände anzupassen (Hofmann 2006) und somit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit eines Netzwerks beizutragen (Sánchez u. Pérez 2005). Grundsätzlich werden zwei unterschiedliche strategische Ansätze zur Generierung von Flexibilitätspotenzialen auf Supply-Chain-Ebene diskutiert, welche zum Teil unterschiedliche Ausgestaltungsformen nach sich ziehen (s. Abb. 4). 1

Insbesondere Änderungen an Bauteilen können in diesem Zusammenhang als besonders häufig auftretende Störungen des „Fast Ramp-Up“ gesehen werden (Westkämper 2002), welche zeitintensive Abstimmungs-, Freigabe- und Rüstzeiten beim Hersteller, dem entsprechenden Lieferanten und gegebenenfalls Lieferumfängen für angrenzende Bauteile mit sich führen. Eine Übersicht über Störungsursachen im Rohbau liefert auch Schmahls (Schmahls 2001).

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Abb. 4 Charakterisierung der generischen Strategien des Supply-Chain-Flexibilitätsmanagements (in Anlehnung an Hofmann 2006)

Flexibilität in Supply Chains bezieht sich auf die dyadische Betrachtung zwischen einzelnen Supply-Chain-Akteuren (Hofmann 2006). Eine starke Integration der beteiligten Akteure in die jeweiligen Anlaufprozesse des anderen durch die Verknüpfung komplementärer Fähigkeiten, die Tätigung spezifischer Investitionen z. B. in Form von Lieferantenentwicklungsmaßnahmen, den Austausch von Wissen und die Implementierung von transaktionskosten-reduzierenden Maßnahmen, wie z. B. Vertrauen (Dyer u. Singh 1998; Lavie 2006) wirkt sich positiv auf die Flexibilität im Serienanlauf aus (Bagchi u. Skjøtt-Larsen 2005; Christopher 2000; Sánchez u. Pérez 2003a). So lassen sich bspw. Volumenschwankungen zeit- und kosteneffizienter ausgleichen, wenn die Akteure gemeinschaftlich Postponement-Konzepte realisieren oder in transparenzfördernde IT-Strukturen investieren (Christopher 2000). Auch können Fähigkeiten zur Produktentwicklung und -neueinführung besser zur Geltung kommen (Hofmann 2006), da eine frühzeitige und offene Kommunikation die Integration der Lieferanten in den Produktentstehungsprozess („Early Supplier Involvement“) fördert und die Lieferanten befähigt, flexibel auf Bauteil- oder Prozessänderungen zu reagieren (Risse 2004; von Wangenheim 1998). Flexibilität von Supply Chains referenziert auf die Modularisierung von Netzwerken (Hofmann 2006). Ein bausteinartiges Supply Chain-Design (Fine 1998) ermöglicht es im Serienanlauf, die Konfiguration der Supply Chain kurzfristig neuen Gegebenheiten anzupassen. Dies kann zum einen durch die Notwendigkeit eines Lieferantenwechsels bedingt sein, zum anderen können sich die Lieferanten der Entwicklungsphase und der Serie von vorneherein unterscheiden. Um einen Lieferantenwechsel im Serienanlauf managen zu können (Hofmann 2006; Kirst u. Hofmann 2007), muss bereits eine starke Standardisierung der Schnittstellen und Prozesse zwischen den Akteuren sowie eine aktive Aufrechterhaltung von spezifischen Redundanzen (z. B. durch Dual Sourcing oder Sicherheitsbestände, etc.) vorhanden sein. So kann bei Störungen wie z. B. Qualitätsproblemen bzw. Opportunitäten in Form

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eines besseren Lieferanten im Sinne eines „Plug&Play“-Mechanismus zeitnah der entsprechende Lieferant gewechselt werden. Ansatzpunkte des Flexibilitätsmanagements für Anlaufstrategien sind: • • • •

Aufbau von strategischen Supply-Chain-Partnerschaften (Vertrauen) Integration der Partner in die Planung und Infrastruktur (z. B. IT) Gemeinschaftliche Investition in flexibilitätsfördernde Maßnahmen Definition eines Lieferantenwechsel-Managements, um den schnellen Übergang bei nötigen Lieferantenwechseln sicherzustellen (z. B. Standardisierung von Schnittstellen und Prozessen zwischen Supply-Chain-Partnern) • Aufbau von spezifischen Redundanzen (Dual Source, Sicherheitsbestände)

Komplexität des Serienanlaufs beherrschen Die Komplexität von Serienanläufen wird von einer Vielzahl von beteiligten Akteuren, interdependenten Prozessen sowie interdisziplinären Schnittstellen zwischen den verschiedenen Akteuren innerhalb der Supply Chain der Anlaufphase geprägt (exemplarisch: von Wangenheim 1998). Bedingt wird sie sowohl von internen als auch von externen Treibern (Milgate 2001). Interne Treiber dieser Supply-ChainKomplexität sind Managemententscheidungen an bzw. zwischen den einzelnen Knoten der Supply Chain. Diese können sich auf das Produktdesign, auf das Prozessdesign, auf die Supply-Chain-Konfiguration sowie auf organisatorische Fragestellungen, wie z. B. die Festigkeit von Beziehungen, die implementierten Informationssysteme oder die Governance-Struktur der Supply Chain beziehen (Klaus 2005; Miragliotta et al. 2001). Zu den externen und somit schwer beeinflussbaren Einflussgrößen auf die Supply-Chain-Komplexität zählen hingegen vornehmlich Unsicherheiten im Hinblick auf die Nachfrage und die Dynamik im Marktumfeld automobiler Supply Chains (wie z. B. Mergers & Acquisitions zwischen Automobilzulieferunternehmen). Zum proaktiven Management von Supply-Chain-Komplexität bieten sich im Serienanlauf grundsätzlich zwei Strategien an (Kaluza et al. 2006).2 Die Reduzierung von Supply-Chain-Komplexität in der Anlaufphase setzt an der Minimierung der Anzahl, Varianz und Konnektivität der Supply-Chain-Objekte und Akteure sowie der Erhöhung der Visibilität innerhalb der Supply Chain an (Kaluza et al. 2006). Dies kann im Serienanlauf operativ zum einen durch die Eliminierung unspezifischer Redundanzen im Bezug auf Akteure, Ressourcen oder Informationssysteme geschehen, zum anderen kann eine Harmonisierung und Standardisierung der Schnittstellen zwischen den Akteuren der Supply Chain weitere Komplexität im Serienanlauf verringern. Die Strategie der Vermeidung von Supply-Chain-Komplexität setzt bereits bei der Konfiguration von Supply Chains an. In diesem Zusammenhang weisen etliche 2 Die reaktiven bzw. passiven Strategien des Komplexitätsmanagements „Akzeptanz“ und „Controlling“ werden an dieser Stelle nicht weiter diskutiert (zur weiteren Vertiefung dieser Strategien: Kaluza et al. 2006).

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Beiträge auf die Relevanz des Aufbaus von strategischen Supply-Chain-Netzwerken hin (exemplarisch: Arnold u. Warzog 2001; Stölzle 1999). So erlaubt eine gemeinschaftliche Strukturierung von Produkt, Produktion und Supply Chain mit ausgewählten Akteuren die Etablierung eines gemeinschaftlichen Zielsystems. Dementsprechend können die bei der Reduzierungsstrategie erwähnten Methoden der Komplexitätsreduktion bewusst vorab mit den gewählten Supply-Chain-Partnern geplant und ausgestaltet sowie später mittels Controlling- und Koordinationssystemen gesteuert werden (Kaluza et al. 2006). Im Hinblick auf die Produkt- sowie Prozessgestaltung trägt eine Modularisierung von Produkten zur Vermeidung von Komplexität bei. Durch das sogenannte „Tiering“ der Supply Chain und die Vergabe von komplexen Systemen an Lieferanten kann ein Unternehmen seine Komplexität in die Upstream Supply Chain umschichten und sie für die Supply Chains insgesamt besser verteilen und ausbalancieren (Klaus 2005, S. 372). Insbesondere werden jedoch dem Variantenmanagement Potenziale zur Vermeidung von Komplexität beigemessen (Blecker u. Abdelkafi 2006; Risse 2004). So verringert die Nutzung von „Carry over parts“ aus anderen Vormodellen sowie von Gleichteile- und Plattformkonzepten in mehreren Produkten die Komplexität der Supply Chain insgesamt, und somit auch des Serienanlaufs, da die Teilevielfalt insgesamt und damit die Vielzahl neuer Prozesse (z. B. das logistische Teilehandling) reduziert wird (von Wangenheim 1998). Ansatzpunkte des Komplexitätsmanagements für Anlaufstrategien sind: • Reduzierung der Anzahl und Varianz von Supply-Chain-Partnern • Aufbau von Beziehungen zu Supply-Chain-Partnern zur Erhöhung der Transparenz und zum Aufbau eines gemeinsamen Zielsystems • Harmonisierung und Standardisierung der Schnittstellen zu Supply-Chain-Partnern • Reduzierung der Anzahl und Varianz von neuen Bauteilen („Carry over parts“, Gleichteile- und Plattformkonzepte)

Qualität im Serienanlauf sichern Unter Qualität wird üblicherweise die Erfüllung der expliziten und impliziten Kundenwünsche verstanden (Weule 2002). Sie bezieht sich dabei auf Funktionalität und Abstimmung mit anderen Subsystemen eines Produkts, die Montierbarkeit, die Dauerbelastbarkeit sowie die Herstellbarkeit des Produkts. Für den Lieferanten umfasst sie die Erfüllung der Spezifizierung des Herstellers sowie der eigenen internen Anforderungen. In der Anlaufphase müssen Qualitätsaspekte berücksichtigt und Bereiche des Qualitätsmanagements in die strategische Ausrichtung des Anlaufnetzwerks integriert werden (Wildemann 2006). Anknüpfungspunkte liefern Industriestandards wie die ISO 9001-Richtlinie, welche Anforderungen an ein kundenorientiertes Qualitätsmanagement regelt, oder ISO u. TS 16949, welche weitere allgemeine Anforderungen der Automobilhersteller an die Unternehmensprozesse ihrer Lieferanten enthält (Seghezzi 2003; VDA 2005). Die Planung des anzustrebenden Qualitätsniveaus beinhaltet die Abstimmung der in der Anlaufphase für die Qualität relevanten Supply-Chain-Akteure (Seghez-

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zi 2003). Bei der Qualitätsvorausplanung, in den USA als einheitlicher Standard unter dem Namen „Advanced Product Quality Planning“ (APQP) bekannt, geht es um ein strukturiertes Herangehen mit standardisierten Werkzeugen, welches dafür sorgt, dass die Überführung der jeweiligen Kundenanforderungen in ein gemeinschaftliches Qualitätsmanagementsystem stattfindet und alle dabei definierten Ablaufschritte in der Produktentstehung rechtzeitig abgeschlossen werden. Ein prominentes Instrumentarium zur Abstimmung des Qualitätsniveaus mit den Kundenbedürfnissen stellt das „Quality Function Deployment“ dar. Über sog. „Houses of Quality“ werden Kundenerwartungen ermittelt und sukzessive in Prozessparameter und Prüfpunkte überführt (Akao 1990). Dabei müssen explizit die Prozesse des Serienanlaufs berücksichtigt werden. Die Prozessparameter können weiterhin mit einem Reifegrad- bzw. Meilenstein-Controlling ergänzt werden (VDA 2005). Indem die Zusammenarbeit der in der Lieferkette beteiligten Parteien sichergestellt wird, kann das Meilenstein-Controlling umfassend durch konkrete Zusammenarbeitsmodelle und definierte Eskalationsprozesse erweitert werden (VDA 2005). Ein weiteres in der Automobilindustrie häufig eingesetztes Instrument ist die Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA). Sie folgt dem Grundgedanken der präventiven Fehlerverhütung. Durch eine frühzeitige und systematische Identifikation potenzieller Fehlerursachen bereits in der frühen Entwicklungsphase werden potenziell anfallende Kontroll- und Fehlerfolgekosten im Serienanlauf vermieden (Wildemann 2006). Dieses Instrumentarium kann auch im Rahmen von LieferantenAudits Anwendung finden. Gängige Ansätze für Qualitätssteigerungsvorhaben sind der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP, Kaizen) und der „Plan-do-act-check“ (PDAC)-Zyklus. Sie erlauben eine strukturierte Bewertung, Auswahl und Überführung vorgeschlagener Qualitätsverbesserungen in die organisatorischen Anlaufprozesse. Für den Fall, dass Lieferanten nicht über das nötige Know-how oder die Ressourcen für ein operatives Qualitätsmanagement verfügen, nutzen viele Automobilhersteller und Tier 1-Lieferanten Konzepte der Lieferantenentwicklung (Liker u. Choi 2004; Wagner 2002). Ansatzpunkte des Qualitätsmanagements für Anlaufstrategien sind: • Strukturierte Planung des Qualitätsniveaus und der Prüfparameter anhand von konkreten Kundenanforderungen • Inhaltliche und prozessuale Abstimmung der Qualitätsplanung mit SupplyChain-Partnern mittels standardisierter Techniken (QFD, Reifegrad- und Meilenstein-Controlling) • Frühzeitige Identifizierung potenzieller Prozessschwachstellen über die Supply Chain hinweg (FMEA, Lieferantenaudits/-zertifizierung) • Nutzung von Industriestandards (ISO 9001; TS2) zur Vermeidung von zusätzlichen Zertifizierungskosten in der Supply Chain • Implementierung von KVP- und Lieferantenentwicklungsprozessen zur kontinuierlichen Steigerung der Qualität des Serienanlaufs

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Kosten des Serienanlaufs steuern Übergeordnetes Ziel eines produktbezogenen Kostenmanagements ist die Minimierung der Lebenszykluskosten. Unternehmen stellen sich zunehmend der Herausforderung, Anlaufkosten in diese Betrachtung einfließen zu lassen. Allerdings lassen sich Anlaufkosten schwer von Entwicklungs- und Produktionskosten abgrenzen. Auch eine Vergleichbarkeit zwischen den Anlaufkosten der am Serienanlauf beteiligten Supply-Chain-Partner ist derzeit selten vorzufinden (Möller 2002). Die Abgrenzungsproblematik führt häufig zu einer einseitigen Fokussierung auf unternehmensinterne Kosten, welche in der jeweils definierten Anlaufphase anfallen. Dabei werden häufig Zuschläge global auf die Material-, Personal- und die variablen Maschinenkosten verteilt (Möller 2002). Eine optimale Allokation der Anlaufkosten im Hinblick auf Gesamtlebenszykluskosten des Produkts ist mit diesem Vorgehen jedoch schwierig. Sowohl aus der Anlaufphase resultierende zeitliche Verzögerungen wie auch qualitative Mängel haben Auswirkungen auf die direkten und indirekten Kosten des Serienanlaufs (Möller 2002; Schneider u. Lücke 2002). Häufig kann schon ein um nur kurze Zeit verschobener Verkaufsstart über den finanziellen Erfolg eines Produktes am Markt entscheiden (Kuhn et al. 2002). Zudem werden in der Produktentstehungsphase schon 80 – 95% der Gesamtkosten eines Produktes manifestiert (Berliner u. Brimson 1988; Ehrlenspiegel et al. 1998). Eine Produktlebenszyklusbetrachtung in der Kostenrechnung bietet Möglichkeiten diese Problematik aufzulösen (Möller 2002; Stölzle et al. 2005). So muss das Kostenmanagement bereits in einer frühen Phase der Produktentwicklung beginnen. Dies hat zur Folge, dass auch die von den involvierten Supply-ChainAkteuren erbrachten Leistungen wertmäßig erfasst werden müssen, und dies im Bezug auf Kosten in der Vor-, Markt- und Nachlaufphase. Weiterhin erlaubt die Produktlebenszykluskostenrechnung Substitutionsmöglichkeiten zwischen Vorlaufkosten, zu denen auch die Anlaufkosten zählen, sowie Herstell- und Nachlaufkosten zu analysieren (Stölzle et al. 2005). Die Lebenszyklusrechnung findet aufgrund fehlender Daten in der Praxis beschränkt Anwendung und wird nur selektiv zu Investitionsentscheidungen genutzt (Möller 2002). Daher bietet es sich an zur Generierung von Daten eine Prozesskostenrechnung als eingebettetes Instrumentarium anzustreben (Möller 2002; Stölzle et al. 2005). Die Prozesskostenrechnung verfolgt durch eine veränderte Gemeinkostenzurechnung eine verbesserte Kostentransparenz im Serienanlauf. Die systematische Erfassung der betroffenen Prozesse (Pfohl u. Gareis 2000), die Identifikation von Kostentreibern sowie die Definition leistungsbezogener Größen für die Prozesse in den indirekten Bereichen ermöglicht es, die Gemeinkosten auf definierte Anlaufprozessleistungen zuzurechnen anstatt mit pauschalen Gemeinkostenzuschlägen zu operieren (Stölzle et al. 2005). Unternehmensübergreifend trifft dieses Vorgehen jedoch bislang noch auf starke Widerstände, welche mit der Komplexität und mangelnden Vergleichbarkeit der Prozessschritte und verbundenen Kostensätzen zu erklären sind. Daher bedarf es einer starken Abstimmung, Vertrauen und Transpa-

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renz zwischen den beteiligten Akteuren, um eine gemeinsame „Sprache“ für die Anlaufprozesse zu finden, welche die gemeinschaftliche Definition von Prozessen, Prozessleistungen, Kostenkategorien und Kostentreibern beinhaltet (Stölzle et al. 2005). Ein weiteres Konzept zur Steuerung der Anlaufkosten stellt das „Frontloading“ dar, bei dem Probleme frühzeitig im Entwicklungsprozess identifiziert und behoben werden, um spätere Folgekosten zu minimieren (Thomke u. Fujimoto 2000; Wildemann 2006). Neben der Berücksichtigung von Anforderungen der Logistik und Produktion („Design for Manufacturing u. Logistics“) sowie den „klassischen“ technischen Produkt- und Produktionstests werden in diesem Zusammenhang insbesondere Technologien des Prototypings wie z. B. der Nutzung von „Digital MockUps“3 (CAD u. CAE, Simulationssoftware) sowie Methoden der digitalen Fabrik große Potenziale im Hinblick auf die kostenminimale Überführung des Produkts in die Serienproduktion beigemessen (Hart et al. 2003; Sánchez u. Perez 2003a; Sánchez u. Perez 2003b; Westkämper 2002). Ansatzpunkte des Kostenmanagements für Anlaufstrategien sind: • Integration der Anlaufkosten in das Product-Life-Cycle-Costing • Aufbau von Vertrauen mit Supply-Chain-Partnern zur gemeinschaftlichen Entwicklung und Implementierung einer Anlauf-Prozesskostenrechnung • Einsatz von Frontloading-Konzepten (Design for Manufacturing u. Logistics, digitale Simulation, Produkt- und Produktionstests) als Investitionsentscheidung, um Folgekosten im späteren Produktentstehungsprozess zu minimieren

Erfolgsfaktoren von Anlaufstrategien in Netzwerken der Automobilindustrie Die vorgestellten Konzepte des Supply Chain Management sind idealtypische Ansatzpunkte für die Formulierung einer Anlaufstrategie. In der Praxis sind sie in den Managementdimensionen des integrierten Anlaufmanagementmodells verankert (Schuh et al. 2008). Im Rahmen der bisherigen Forschungsaktivitäten des Lehrstuhls für Logistikmanagement der Universität St. Gallen (LOG-HSG) wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Forschungsprojekte mit der Automobilindustrie durchgeführt, welche die strategischen Konzeptbestandteile einer Anlaufstrategie untersucht haben. In diesem Zusammenhang wurden Studien, Arbeitskreise und Benchmarkings durchgeführt, welche empirisch die Erfolgsfaktoren im Hinblick auf einen erfolgreichen und rei-

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Unter „Digital Mock Ups“ wird die Entwicklung und der Aufbau von virtuellen Bauteilen bis hin zu gesamten Fahrzeugen mithilfe von Software zur Entwicklung und Simulation verstanden (Thomke u. Fujimoto 2000).

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