An Europa scheiden sich die Geister jenseits aller unterschiedlichen

Globalisierung als Herausforderung Eberhard Eichenhofer Möglichkeiten und Grenzen europäischer Sozialpolitik A. Einleitung A n Europa scheiden sic...
Author: Ulrich Abel
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Globalisierung als Herausforderung

Eberhard Eichenhofer

Möglichkeiten und Grenzen europäischer Sozialpolitik A. Einleitung

A

n Europa scheiden sich die Geister – jenseits aller unterschiedlichen politischen Grundansichten. Den einen erscheint es als marktradikale Veranstaltung, den anderen dagegen als bürokratisches Ungeheuer voller ungezügelter Regulierungswut. Die einen können sich Europa nur als Binnenmarkt vorstellen, die anderen beschwören dagegen: Europa muss sozial sein oder es wird nicht sein! Drei 2005 und 2008 in den Niederlanden, Frankreich und Irland abgehaltene Referenden zeigen jedenfalls eine tiefe Zerrissenheit in der europäischen Gesellschaft im Hinblick auf die Zukunft der europäischen Integration. Enthüllte das dreifach negative Votum ein Nein zu Europa, zur Regierung des jeweiligen Mitgliedstaates oder erklärt es sich aus dem beim irischen Votum offenbar zündenden Slogan: „If you do not know, vote no!“? Eine besonders schwierige Frage wirft die Sozialpolitik auf. Sie spielt in den Mitgliedstaaten eine große Rolle. Denn sie prägt das Arbeitsleben, gewährleistet den Schutz vor sozialen Risiken und bezweckt soziale Integration, weil sie die Menschen vor Verarmung, Vereinzelung und Verwahrlosung schützen soll. Die Sozialpolitik war und ist jedoch eng mit der Entwicklung des Nationalstaates verknüpft. Bismarcks Appell von 1881 zur Schaffung der Sozialversicherung sollte „Bürgschaften inneren Friedens“ begründen – also den sozialen Zusammenhalt des noch fragilen, 1871 geschaffenen Reiches festigen. Deshalb wird sie von Historikern auch als wichtiger Beitrag zur „inneren Reichsgründung“ angesehen.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die damalige Sozialwissenschaft2 in der Sozialpolitik der Staaten die Ausformung der sozialen Bürgerstellung (social citizenship) gesehen. Nach dieser Vorstellung bedeutet der Sozialstaat die

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Vgl. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 1991, 2. Auflage, S. 60 ff. Vgl. Marshall, Citizenship and social class, 1949, in ders., Sociology at the Crossroads and other Essays, London 1963, S. 67 et sequ.

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Vollendung des Nationalstaates, weil sie diesen zum Solidarverband formt und damit festigt. Was sollte angesichts dessen Europa in der Sozialpolitik zu leisten imstande sein? Diese Frage stellten sich bereits die Gründer der EWG. Es war bei deren Schaffung zwischen Frankreich und den übrigen Staaten umstritten, ob ein gemeinsamer Markt ohne eine gemeinsame Sozialpolitik je möglich sein könnte. Die Franzosen bezweifelten dies, wogegen die anderen Gründerstaaten von einer Gemeinschaftszuständigkeit in der Sozialpolitik abzusehen vorschlugen. Denn der gemeinsame Markt gleiche die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten einander an und schaffe dadurch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine in sämtlichen Mitgliedstaaten ähnliche Sozialpolitik. Der Disput endete in einem Kompromiss,3 in dem die EWG nur auf den Gebieten der Gleichberechtigung von Mann und Frau4 sowie der Entschädigung der Arbeitnehmer/-innen für Feiertage eigene Zuständigkeiten5 eingeräumt waren, die Mitgliedstaaten ansonsten aber im Einvernehmen mit der EWG eine gemeinsame und gemeinschaftliche Sozialpolitik betreiben durften.6 Von der letztgenannten Kompetenz machten die Mitgliedstaaten freilich in der Folgezeit mit wachsender Intensität Gebrauch. Wiederholt wurde der E(W)G-Vertrag ausgeweitet und es wurden neue eigene sozialpolitische Zuständigkeiten für die E(W)G geschaffen. Heute nimmt die EG, künftig: die EU, in der Sozialpolitik eine gewichtige Rolle ein. Diese wird sich nach Verabschiedung des Lissabonner Vertrages7 sogar noch verstärken. Dies soll im Folgenden in Umrissen anhand des die EG/EU verfassenden primären (II) und des von jenen hervorgebrachten sekundären EG-/EU-Rechts (III) nachgezeichnet werden. Die weiteren Überlegungen gehen also davon aus, dass die seit Jahren versuchte Reform der EU schließlich doch und auf der Basis der vorliegenden Reformverträge zu einem gelungenen Abschluss kommen wird.

B. Überblick über das EU-Primärrecht auf dem Gebiet der Sozialpolitik

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n Artikel 2 des Vertrages über die EU in der Fassung des Lissabonner Vertrages (EUV) wird bestimmt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, 3 4 5 6 7

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa, 2007, S. 68, 73 ff. Artikel 119 EWG-Vertrag. Artikel 120 EWG-Vertrag. Artikel 136 EWG-Vertrag. Streinz/Ohler/Hermann, Der Vertrag von Lissabon, München 2008, 2. Aufl.

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sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gemeinschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“. Schon diese Umschreibung zeigt die sozialpolitische Tragweite der EU. Denn Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern können nur mittels Sozialpolitik verwirklicht werden. Schon die elementare Ziel- und Aufgabenbestimmung der EU setzt mithin eine umfassend angelegte, den genannten Werten verpflichtete Sozialpolitik als Vorgegebenheit voraus. In dem die Ziele der EU beschreibenden Artikel 3 III EUV heißt es: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt … Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes“. Diese Zielbestimmung ist für die aufgeworfene Frage nach einer möglichen europäischen Sozialpolitik doppelt wichtig. Denn sie stellt eine produktive Antwort auf die schon bei der Gründung der EWG aufgeworfene Streitfrage dar. Sie gibt nämlich zunächst zu erkennen, dass der Binnenmarkt nicht um seiner selbst willen errichtet wird, sondern dieser seinerseits im Dienste sowohl wirtschaftlicher, als auch gesellschaftlicher Ziele steht. Zu letzteren rechnen namentlich die Bekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung und sozialem Fortschritt, die als das Ergebnis des Binnenmarktes erscheinen. Unter sozialem Fortschritt ist danach zu verstehen, was im geltenden Artikel 2 EG-Vertrag (EG) mit „ein hohes Maß an sozialem Schutz, … die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ umschrieben ist. Der Binnenmarkt hat danach umfassend sozial zu wirken.

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Außerdem – und das ist neu – weist der EUV der EU künftig global und pauschal sozialpolitische Aufgaben eigenständig zu, hält sie namentlich zur „Bekämpfung“ sozialer Ausgrenzungen und Diskriminierungen an und verpflichtet sie damit zu einer auf sozialen Einschluss zielenden Politik. Die weiteren Pflichten zur Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes zielen auf Schaffung einer auf den sozialen Ausgleich ausgerichteten rechtlichen Rahmenordnung und die Fortentwicklung sozialer Sicherheit. Das Bekenntnis zur Gleichstellung von Frauen und Männern geht über die konventionelle Politik der Gleichberechtigung der Geschlechter weit hinaus, denn sie zielt auf die faktische Gleichstellung der Geschlechter im gesellschaftlichen Leben. Die Verpflichtung zur Solidarität unter den Generationen und zum Schutz der Rechte des Kindes ist die Basis für die sich auf einen Generationenvertrag stützende Sozialversicherung, in der freilich die Belange nachwachsender Generationen gebührend beachtet und respektiert werden müssen. Für das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten gelten die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung, Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Artikel 4, 5 EUV). Hinsichtlich ihres eigenen Handelns unterwirft sich die EU den in der Grundrechtecharta niedergelegten menschenrechtlichen Gewährleistungen, die solchermaßen in verbindliche und gegenüber allen EU-Behörden wirkenden Menschenrechte überführt werden (Artikel 6 EUV). In Artikel 4 II des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) sind Gegenstand der zwischen EU und Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten der Binnenmarkt (lit. a), die Sozialpolitik hinsichtlich der im AEUV genannten „Aspekte“ (lit. b) und der „wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“ (lit. c). Ferner bestimmt Artikel 5 II AEUV: „Die Union trifft Maßnahmen zur Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten, insbesondere durch Festlegung von Leitlinien für diese Politik“. Schließlich heißt es in Artikel 5 III AEUV: „Die Union kann Initiativen zur Koordinierung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ergreifen“. Aus diesen Formulierungen wird ersichtlich, dass die EU in der Sozialpolitik zwar nicht allein zu entscheiden vermag, jedoch in weiten Feldern der Sozialpolitik das Handeln der Mitgliedstaaten durch eigene Maßnahmen zu ergänzen befugt und berufen ist. Die Themengebiete und Handlungsformen solcher sozialpolitischer Kooperationen wird in den nachgeordneten Teilen des AEUV näher bezeichnet.

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Zur Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung kann die EU „geeignete Vorkehrungen“ treffen (Artikel 19 AEUV). Ferner steht der EU das Recht zu, auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit die für die Herstellung der Freizügigkeit für zu- und abwandernde Arbeitnehmer und Selbständige notwendige Maßnahmen zu treffen. Namentlich sind hier die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften zurückgelegten Zeiten für den Erwerb, die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs und die Berechnung der Leistungen sowie die Zahlung der Leistungen an Personen, die außerhalb des zuständigen Staates wohnen (Artikel 48 AEUV), zu nennen. Zwischen EU und Mitgliedstaaten wird eine „koordinierte Beschäftigungsstrategie“ (Artikel 145 AEUV) entwickelt, welche die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer/-innen sowie die Anpassungs- und Aufnahmefähigkeit der Arbeitsmärkte erhöhen soll. Zu solcher Beschäftigungsförderung beizutragen, ist gemeinsame Pflicht und Aufgabe von Mitgliedstaaten und EU (Artikel 146 f. AEUV). Beide entwickeln im Zusammenwirken beschäftigungspolitische Leitlinien (Artikel 148 f. AEUV). Im Hinblick auf die Sozialpolitik ist bestimmt, dass sich EU und Mitgliedstaaten zu den in der europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegten sozialen Grundrechten bekennen und zur Verwirklichung der folgenden Ziele verpflichten: Die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzung (Artikel 151 AEUV). Es heißt dann weiter: „Zu diesem Zweck führen die Union und die Mitgliedstaaten Maßnahmen durch, die der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten sowie der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union zu erhalten, Rechnung tragen. Sie ist der Auffassung, dass sich eine solche Entwicklung sowohl aus dem eine Abstimmung der Sozialordnung begünstigenden Wirken des Binnenmarktes, als auch aus den in den Verträgen vorgesehenen Verfahren sowie aus der Angleichung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergeben wird“

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(Artikel 151 AEUV). Die danach anzustrebende Kooperation soll also weder an der sozialpolitischen Vielfalt der Mitgliedstaaten rühren, noch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft überfordern. Ferner wird darin der Gründerstaatenkompromiss erneuert, wonach der Binnenmarkt selbst die soziale Angleichung befördere, diese aber auch durch die Rechtsetzung im Rahmen der europäischen Sozialpolitik zu verwirklichen sei. Entsprechend der originären sozialpolitischen Grundausrichtung der EU (vgl. Artikel 153 III AEUV) kommen ihr auf dem Gebiet der Sozialpolitik also eine Vielzahl von Zuständigkeiten zu. Diese sind für die EU nicht ausschließlich begründet, sondern werden von dieser mit den Mitgliedstaaten geteilt. Andererseits sehen Artikel 151, 153 AEUV zahlreiche sozialpolitische Materien vor, in denen die EU die Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben unterstützt und ergänzt. Diese Befugnisse erstrecken sich auf folgende Gebiete (vgl. Artikel 153 I AEUV)8: - Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer (lit. a), - Arbeitsbedingungen (lit. b), - soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer (lit. c), - Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags (lit. d), - Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer (lit. e), - Kollektive Formen der Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung mit Ausnahme von Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht (lit. f, V), - Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen (lit. g), - Berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt Ausgegrenzten (lit. h), die neben die Zuständigkeit für die berufliche Bildung tritt (Artikel 166), - Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung (lit. i), - Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung (lit. j) und - Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes (lit. k). Der Gestaltungsspielraum der EU wird des Weiteren durch unterschiedliche Anforderungen an die für EU-weites Handeln notwendigen Mehr-

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Vgl. Streinz, Europarecht, 2008, 8. Auflage, Rn. 1093; Streinz/Eichenhofer, EUV/EGV, 2003, Artikel 137 EGV Rn. 4 ff.; vgl. umfassend zum europäischen Sozialmodell: Vaughan-Whitehead, EU Enlargement versus Social Europe?, Cheltenham, 2003.

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heiten konkretisiert, so dass lediglich für die soziale Sicherheit, den Kündigungsschutz, die kollektive Interessenvertretung von Arbeitnehmerund Arbeitgeberbelangen und die Beschäftigungsbedingungen für Drittstaatsangehörige das Einstimmigkeitserfordernis gilt; in den übrigen Materien kann dagegen mit Mehrheit entschieden werden. Wie das geltende (Artikel 137 IV EG) wird auch das künftige Recht die „anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherung festzulegen“, nicht berühren (Artikel 153 IV AEUV). Ferner ist bestimmt, dass EU-Recht auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit weder das finanzielle Gleichgewicht der Systeme sozialer Sicherheit beeinträchtigen darf, noch die Mitgliedstaaten deswegen daran gehindert wären, ein höheres Maß an Schutz zu verwirklichen. Die auf EU- und mitgliedstaatlicher Ebene tätigen Sozialpartner erhalten bei der Formulierung und Gestaltung der europäischen Sozialpolitik eine wichtige Rolle (vgl. Artikel 152, 154, 155 AEUV). Die auf europäischer Ebene angesiedelten und dort tätigen Sozialpartner sind vor Schaffung von EU-Regeln anzuhören und EU- wie mitgliedstaatliche Sozialpartner können auf ihren Wunsch anstelle von Rat und Mitgliedstaaten eine Maßnahme europäischer Sozialpolitik in eigener Verantwortung verwirklichen. Weitere Zuständigkeiten bestehen im Hinblick auf die Fortentwicklung des sozialen Schutzes, der einem beim Rat angesiedelten Ausschuss für den sozialen Schutz (Artikel 160 AEUV) speziell überantwortet ist, den die Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedstaaten finanziell fördernden Europäischen Sozialfonds (Artikel 162 – 164 AEUV) sowie schließlich die Maßnahmen der beruflichen Bildung (Artikel 165 AEUV) – zu der auch die Förderung der Mobilität von Studierenden und Professoren an Hochschulen gehört. Ausweislich des Artikel 6 EUV anerkennt die EU die in der seit 2000 gültigen, aber bisher unverbindlich gebliebenen Charta der Grundrechte niedergelegten Rechte, Institutionen und Grundsätze als ein den Verträgen im Range gleichstehendes Recht an. Die in der Charta enthaltenen Grundrechte werden damit rechtsverbindlich für die EU, die sich in allen ihren Maßnahmen daran messen lassen muss. Diese Charta soll die gerade vom BVerfG einst beanstandete menschenrechtliche Lücke in der EU-Rechtsordnung schließen helfen, also gewährleisten, dass sich die EU-Rechtsetzung an den von den Mitgliedstaaten wie weltweit anerkannten Menschen-

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rechten ausrichtet und auch in ihrem eigenen Handeln leiten lässt.9 Auf diese Weise soll erreicht werden, dass EU-Recht mit dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten im Einklang steht und so Kollisionen vermieden werden. Die Charta-Grundrechte sind, gemessen an dem auf den Kern bürgerlicher und politischer Grundrechte beschränkten Grundrechte-Katalog des deutschen Grundgesetzes (GG) weiter und in seiner Orientierung an modern verstandenen Gleichheitspostulaten auch sozialpolitisch gehaltvoller. Insoweit könnten die auf Schaffung eines EU-Grundrechtekatalogs gerichteten Bestrebungen, durch die Formulierung von Grundrechten auf EUEbene Lücken im EU-Recht wegen nicht zureichender Beachtung der in den Verfassungen der Mitgliedstaaten gewährleisteten Menschenrechte zu schließen, angesichts der Zeitgemäßheit der EU-Menschenrechte die ursprünglichen Absichten in ihr Gegenteil verkehren. Statt auch die EU an den Menschenrechtsstandard der Mitgliedstaaten zu binden, wird dieser durch die EU-Menschenrechte selbst und unmittelbar fortentwickelt! Aus dem EU-Menschenrechte-Katalog ergeben sich nämlich mögliche Neuausrichtungen der Sozialpolitik, die auch Rückwirkungen auf die deutsche Rechtsordnung und – entgegen den mit der Formulierung und Rangerhöhung der Grundrechte – das GG haben können. So ist mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit ein thematisch weiter als Artikel 3 III GG gefasstes Nichtdiskriminierungsverbot enthalten. Dieser geht sogar über den Katalog der in Artikel 13 EG (= 19 AEUV) genannten Gesichtspunkte hinaus (Artikel 21 Grundrechtecharta); er untersagt namentlich auch Diskriminierungen wegen der sozialen Herkunft, genetischer Merkmale, politischer Anschauungen, Vermögen oder Geburt. Einen speziellen Nachdruck mit der Forderung der Gleichheitsrechte wird im Hinblick auf die Rechte von Kindern und älteren Menschen (Artikel 24 f. Grundrechtecharta) wie auf berufliche Eingliederung der behinderten Menschen (Artikel 26 Grundrechtecharta) gelegt. Auf diese starke Betonung der sozialen Gleichheit wird die europäische Sozialpolitik in ihrem Rahmen mit neuen Prioritäten zu reagieren haben. Anders als das GG kennt die Grundrechtecharta in deren Kapitel IV über die Solidarität einzelne soziale Grundrechte (Artikel 27 – 38 Grundrechtecharta). Sie legen den Hauptakzent auf das Arbeitsrecht, namentlich die Rechte auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer/-innen, Kol-

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Vgl. BVerfGE 22, 293; 31, 145; 37, 271; 52, 187; 73, 389; 89, 155; 102, 147; 113, 237.

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lektivverhandlungen und -maßnahmen, Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz sowie Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit. Daneben stehen ferner relativ neue Grundrechte sozialrechtlichen Gehalts, so die Rechte auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst, Leistungen sozialer Sicherheit,10 sozialer Dienste, auf Gesundheitsschutz sowie Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Darunter fallen die Einrichtungen öffentlicher Daseinsvorsorge. Ferner bestehen Grundrechte auf Umwelt- und Verbraucherschutz. Aus den Bürgerrechten sind die Rechte auf gute Verwaltung (Artikel 41 Grundrechtecharta) und Zugang zu Dokumenten (Artikel 42 Grundrechtecharta) zu erwähnen, weil sie auch für die Sozialverwaltung und durch diese zu verwirklichen sind. Es ist in der bisherigen deutschen Diskussion noch nicht hinreichend in das allgemeine Bewusstsein getreten, dass die in der Grundrechtecharta formulierten sozialen Menschenrechte auf Zugang zu den Einrichtungen der Sozialversicherung und den sozialen wie medizinischen Diensten, ohne Ansehen von sozialem Rang und sozialer Stellung der Menschen formuliert sind. Was folgt daraus für das gegliederte System sozialer Sicherheit in Deutschland – zumal unter einer sozialpolitischen Agenda der EU, in der Chancen, Zugänglichkeit und Solidarität die Leitbilder und -größen sind? Dieser gesamte Regelungskomplex wird im Ergebnis menschenrechtlich fundierte Anforderungen an die europäische Sozialpolitik richten. Angesichts der aus dem heutigen internationalen Stand der Diskussion um Menschenrechte rührenden Entwicklung wird die Grundrechtecharta der EU möglicherweise auch in Kollision zum GG geraten. Die Diskussion um das deutsche, inzwischen im „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) niedergelegte Antidiskriminierungsrecht hat womöglich schon einen Vorgeschmack auf die künftigen Debatten gegeben. Steht ein auf Nichtdiskriminierung setzender und Anschluss an die internationale Diskussion um soziale Gleichheit und Schutz vor sozialer Ausgrenzung suchendes Menschenrechtsverständnis womöglich im Widerstreit mit einem gegen Antidiskriminierungsregeln gerichteten traditionellen Verständnis von Privatautonomie und -recht, in dem die Menschenrechtsfragen von der alles beherrschenden Frage nach dem Schutz der Privatautonomie überlagert und verdrängt wurden?

10 Vgl. Nußberger, in Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Artikel 34, Rn. 8, 10, 52, 64 ff.

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Das Soziale hat also in dem gewiss umfangreichen Regelwerk des EURechts schon heute eine beachtliche Stellung inne. Vieles von dem, was Europa sozialpolitisch ermöglicht, ist bislang seitens der EU und der Mitgliedstaaten noch gar nicht wahrgenommen worden. Jedenfalls zeigt der Blick auf das Primärrecht, dass die EU die Mitgliedstaaten weder aus ihrer sozialpolitischen Verantwortung entlässt, noch sie umgekehrt bei Wahrnehmung ihrer sozialpolitischen Verantwortung von EU-rechtlichen Einflüssen gänzlich frei wären. Das mit dem Lissabonner Vertrag geschaffene Regelwerk erlegt vielmehr den Mitgliedstaaten eine Fülle von EU-rechtlichen Prinzipien, gerade auch zur sozialpolitischen Beachtung, auf.

C. Überblick über das EU-Sekundärrecht auf dem Gebiet der Sozialpolitik

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as EU-Recht machte und macht indessen nicht nur vieles möglich, sondern hat auf dem Gebiet der Sozialpolitik auch schon manches verwirklicht. Dabei müssen zur Kennzeichnung des Erreichten freilich Andeutungen genügen. Die Schwerpunkte der EU-rechtlich ermöglichten Annäherungen in der Sozialpolitik liegen im Arbeitsrecht (1), in der zwischenstaatlichen Koordination (2) wie „Offenen Methode der Koordinierung“ sozialer Sicherheit (3).

I. Arbeitsrecht Die elementarste Errungenschaft europäischer Sozialpolitik liegt zunächst in der Öffnung der Arbeitsmärkte für sämtliche EU-/EWR-Bürger. Auf diese Weise wurde die wirtschaftliche wie soziale (Selbst-)Abkapselung der Mitgliedstaaten überwunden, die Freizügigkeit (Artikel 45 AEUV) verwirklicht und auf diese Weise gewährleistet, dass alle EU-/EWR-Bürger unbesehen ihrer Staatsangehörigkeit arbeitsrechtlich umfassend gleichzustellen sind.11 Des Weiteren zählt seit Jahrzehnten die effektive Gleichstellung von Männern und Frauen in der Beschäftigung zu den zentralen Anliegen europäischer Sozialpolitik. Unmittelbare wie mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts sind bei der Bezahlung, dem Zugang zum Beruf, den Arbeitsbedingungen und beim beruflichen Aufstieg untersagt. Ebenso steht eine gezielte Förderung von Frauen gegenüber Männern mit dem Gebot der Gleichbehandlung im Einklang, weil auf diese Weise 11 Vgl. Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 2006, 2. Aufl.; Oetker/Preis, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Loseblatt; Schmidt, Das Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2001.

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vorangegangene Benachteiligungen von Frauen ausgeglichen werden (Artikel 157 AEUV). Zahlreiche Materien des deutschen Arbeitsrechts mussten im Lichte dieser europarechtlichen Vorgaben verändert werden. Der Schutz der Arbeitnehmer/-innen vor Massenentlassungen, Betriebs(teil) und Unternehmensübergängen sowie bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers ist heute weitgehend durch europäisches Recht verwirklicht. Dies hat den zuvor durch deutsches Recht realisierten Schutz verbessert und seine nähere Ausgestaltung der Rechtsprechungsmacht des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) überantwortet. Sozialpartnerübereinkommen über den Europäischen Betriebsrat und Elternurlaub haben die betriebliche Mitbestimmung in den EU-weit tätigen Unternehmen verbreitet und zur Förderung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit (Artikel 34 Grundrechtecharta) beigetragen. Der Arbeitsschutz - einst Ursprung und nach wie vor zentrales Anliegen des Arbeitsrechts jeden Mitgliedstaates – wurde inzwischen durch EU-Recht weitgehend und umfassend und zwar im sozialen wie technischen Arbeitsschutz harmonisiert, ohne dass dies bislang der Öffentlichkeit je bewusst geworden wäre. Die vor Jahren verwirklichten Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung von Arbeitnehmer-/innen aus vielerlei Gründen (Rasse, ethnische Herkunft, Behinderung, Alter oder sexuelle Identität), die im AGG12 ihren Niederschlag gefunden haben, wären niemals auch nur im Ansatz verwirklicht worden, hätte nicht eine drastische Strafdrohung aus Brüssel den deutschen Gesetzgeber zum Handeln bewegt. II. Zwischenstaatliche Koordination sozialer Sicherheit Seit über 50 Jahren besteht das europäische koordinierende Sozialrecht.13 Es war der allererste substanzielle Rechtsetzungsakt, welchen die EWG erließ. Es ist in seiner hohen Technizität ein Regelwerk von allergrößter Tragweite für die europäische Integration auf dem Gebiet der Sozialpolitik – namentlich der sozialen Sicherheit. Hunderte von Entscheidungen des EuGH sind inzwischen zu seiner Auslegung ergangen. Durch seine Normen werden die Sozialleistungsträger aller EU-/EWR-Staaten an einheitliche Prinzipien gebunden. Sie haben namentlich sicherzustellen, dass auf die soziale Sicherung eines Arbeitnehmers oder Selbständigen oder dessen Familienangehörigen nur das Recht eines Mitgliedstaates angewendet wird und damit Rechtsanwendungskonflikte zwischen mehreren 12 Vgl. Bell, Antidiscrimination law and the European Union, 2002; Däubler/Bertzbach, AGG, 2. Auflage, 2008; Rust/Falke, AGG, 2007; Schiek, AGG, 2007. 13 Vgl. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, 4. Auflage, 2009.

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Mitgliedstaaten vermieden werden. Des Weiteren sichert das europäische koordinierende Sozialrecht, dass die in einem Sozialrecht eines Mitgliedstaates gründenden Berechtigungen europaweit wirken. Dieses Regelwerk hat deswegen eine große praktische Bedeutung. Es bestimmt, dass etwa ein in Frankreich wohnender und in Deutschland beschäftigter Arbeitnehmer der deutschen Sozialversicherung unterliegt und für diesen auch das deutsche Eltern- und Kindergeld zu entrichten ist – selbst wenn die Kinder in Frankreich wohnen. Die Regelung bestimmt weiter, dass die in Deutschland versicherten Arbeitnehmer bei Krankheit in Spanien oder Italien ohne Bezahlung wie ein dort Versicherter Behandlungsleistungen erhalten oder eine deutsche Unfallrente ohne Abzug auch zu zahlen ist, wenn das Unfallopfer inzwischen in Griechenland, Polen oder Slowenien lebt. Hat ein Arbeitnehmer oder Selbständiger in mehreren Mitgliedstaaten sein Erwerbsleben verbracht, bewahrt ihn das europäische koordinierende Sozialrecht vor dem Verlust von Rentenanwartschaften, weil für die Bestimmung der Leistungsberechtigung die verschiedenen Anwartschaften zusammenzurechnen sind. Bei Familienleistungen bewirkt das europäische koordinierende Sozialrecht, dass der Familie der höchstmögliche Schutz durch Familienleistungen zuteil wird. Für zwei in Deutschland wohnende Kinder, deren Mutter in Deutschland und deren Vater in Luxemburg arbeitet, sind deshalb die gegenüber Deutschland höheren Luxemburger Kindergeldbeträge zu zahlen, allerdings wird auf diese das in Deutschland zu zahlende Kindergeld angerechnet. Das europäische koordinierende Sozialrecht schafft damit für die infolge mehrmaliger EU-Erweiterungen an Bedeutung deutlich zunehmenden grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnisse einheitliche Regeln für die soziale Sicherung der Beschäftigten, ganz ebenso wie für die Selbständigen und damit eine gesicherte Rechtsgrundlage von hoher Technizität. Außerhalb der EU blickt die Welt auf dieses Regelwerk voller Bewunderung; es sieht in ihm das Vorbild für die zwischenstaatliche Koordination der Leistungen sozialer Sicherheit schlechthin - ein Anliegen, dessen Bewältigung eine Wirtschaftsordnung dringend der Weltgemeinschaft aufgibt, die sich unter den Bedingungen der Globalisierung betätigt und demgemäß in ihr steht; namentlich auch deren sozialpolitischen Folgen lösen muss.

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III. Offene Methode der Koordinierung der Systeme sozialen Schutzes Gestützt auf Artikel 153 (I lit. k) AEUV ist der Ausschuss für sozialen Schutz (Artikel 160 AEUV) angehalten, beruhend auf Berichten und Aktionsplänen der Mitgliedstaaten und im Zusammenwirken mit diesen, deren Systeme sozialer Sicherheit auf Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Leistungsfähigkeit, Zielgenauigkeit und Zeitgemäßheit zu überprüfen. Die Modernisierung des Sozialstaats wird damit zu einer eigenständigen, umfassenden und permanenten Aufgabenstellung der EU! In Form eines auf empirische Daten gestützten Selbstfindungsprozesses werden seit etwa einem Jahrzehnt neben der Beschäftigungspolitik14 auch die Kernmaterien der Sozialpolitik namentlich im Hinblick auf die Systeme der Armuts-, Alters- und Gesundheitssicherung - einem gesamteuropäischen Bewertungs- und Überprüfungsverfahren unterzogen.15 Die EU nimmt hier nicht eigene Zuständigkeiten zur Rechtsetzung wahr, wohl aber ist sie befugt, diesen Prozess im Rahmen der „Offenen Methode der Koordinierung“ der Systeme sozialer Sicherheit in Gang zu setzen, fortzuführen und auf konkrete Ergebnisse hin zu lenken. Zahlreiche Sozialreformen in den europäischen Mitgliedstaaten – namentlich die in Deutschland so umstrittenen Arbeitsmarktreformen, aber auch die nicht minder kontroverse Rentenpolitik – sind unverkennbar das Ergebnis derartiger Koordinierungsmaßnahmen. Die dargestellten Einzelempfehlungen fügen sich zu einem sozialpolitischen Gesamtbild. Sie beruhen auf der Erkenntnis, dass ein auf Anhebung von Transferleistungen ohne Gegenleistung setzendes Sozialleistungssystem seine eigenen wirtschaftlichen Grundlagen auf die Dauer gefährdet.16 Es wird das Leitbild eines investiven, aktiven und aktivierenden, vorsorgenden Sozialstaats sichtbar, der an die Stelle des überkommenen, konsumtiven Sozialstaats treten müsse.17 Er beruht auf der Grundlage aller sozialer Sicherheit, dass der Einzelne zur Aufrechterhaltung seines Daseins auf die Erwerbsarbeit verwiesen ist und bleibt. Der vorsorgende Sozialstaat beruht auf der Überzeugung, dass soziale Risiken auch sozial verursacht wie begründet und

14 Vgl. Steinle, Europäische Beschäftigungspolitik, Berlin 2000. 15 Vgl. Eine erneuerte Sozialagenda: Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität im Europa des 21. Jahrhunderts, KOM (2008) 412 endg.; Ein erneutes Engagement für ein soziales Europa: Verstärkung der OMK für Sozialschutz und soziale Eingliederung, KOM (2008) 418 endg. 16 Anm.: Ferrera, Le Trappole del Welfare, Bologna 1998, S. 56 spricht von „fortschreitender Sklerotisierung“ der Sozialversicherung, weil höhere Leistungen höhere Beiträge nach sich ziehen, so Arbeit verteuern und damit zugleich verknappen. 17 Vgl. Ferrera, Targeting Welfare in a Soft State: Italy’s Winding Road to Selectivity, in: Gilbert (ed.), Targeting Social Benefits: International Perspective and Trends, New Brunswick, Transactions, 2000, S. 157 et sequ.

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daher auch sozial beherrscht wie überwunden werden können. Er zielt auf die präventive Gestaltung armutsgefährdender Lebensbedingungen und die Beschränkung von sozialen Risiken.18 Sie nimmt also nicht eine originäre Zuständigkeit wahr, sondern ihr Wirken gründet in der sachlichen Überzeugungskraft ihres sozialpolitischen Vorschlages. Sie agiert hier also nicht ratione imperii, sondern imperio rationis! Auf diese Weise wird durch „soft law“ ein Prozess der Angleichung der sozialpolitischen Präferenzen und Zielsetzungen eingeleitet, der insgesamt von einer sich seit dem Jahre 2000 zunehmend entwickelnden Sozialagenda getragen wird. In dieser pflegt der Rat im Zusammenwirken mit der Kommission und dem Europäischen Parlament Prioritäten für die sozialstaatliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten aufzuzeigen. Diese Prioritäten werden dann im Rahmen der „Offenen Methode der Koordinierung“ weiter behandelt und den Mitgliedstaaten zur Verwirklichung übertragen. Die von der Regierung Gerhard Schröder unter demn Namen „Agenda 2010“ betriebene Sozialreform war nichts anderes als der deutsche Beitrag zu diesem insgesamt europäisch angeleiteten Reformvorhaben.

D. Fazit

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ie europäische Sozialpolitik ist ganz ohne Zweifel möglich – einmal, weil das europäische Primärrecht die europäische Sozialpolitik nicht nur vorsieht, sondern ihr auch klare Zuständigkeiten, Verfahren und Regelungsmaximen zuweist und vorgibt. Die europäische Sozialpolitik ist aber schon längst eine Realität, die sich in allen Kernmaterien der Sozialpolitik, vor allem dem Arbeitsrecht, der zwischenstaatlichen Koordinierung der sozialen Sicherung und seit einem Jahrzehnt auch in dem Bemühen des Umbaus des Sozialstaats – jedenfalls für die Eingeweihten – klar erkennbar nachweisen lässt. Die Grenze europäischer Sozialpolitik liegt in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die ausweislich des Artikels 153 IV AEUV in der Gestaltung und Finanzierung ihrer Sozialpolitik frei sind. Keine Freiheit ist indes ungebunden. Denn schon Goethe wusste: „Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben!“. Dementsprechend ist die mitgliedstaatliche Gestaltungsfreiheit in der EU heute vielfältig gesetzlich begrenzt, zwischenstaatlich vernetzt und europarechtlich gerahmt, weil die EU spätestens mit der Verabschiedung des Vertrages von Lissabon zu einer sozial-

18 Vgl. Giddens, Anthony, Beyond Left and Right, Standford 1994, p. 18 et sequ.

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politischen Institution ersten Ranges geworden ist. Denn zu ihren originären Aufgaben zählt die Förderung der sozialen Gerechtigkeit, des sozialen Schutzes, der Vermeidung der sozialen Ausgrenzung, der Vertiefung der Solidarität (Artikel 3 III EUV) – kurzum der Verwirklichung dessen, wofür Sozialpolitik seit eh und je steht und stand.

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