Herausgeber:

DIE NEUE ORDNUNG

Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V.

Redaktion: Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Heinrich Basilius Streithofen OP † Bernd Kettern

begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP Nr. 3/2007

Juni

Redaktionsbeirat:

61. Jahrgang

Editorial Wolfgang Ockenfels, Das Kreuz mit der Krippe

Stefan Heid Martin Lohmann Edgar Nawroth OP Herbert B. Schmidt Manfred Spieker Rüdiger von Voss

Redaktionsassistenz:

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Andrea und Hildegard Schramm

Druck und Vertrieb: Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831 53708 Siegburg Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891

Manfred Spieker, Lebensschutz als Aufgabe der katholischen Soziallehre

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Thomas D. Williams, Abtreibung und katholische Soziallehre

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Helen Alvare, Probleme der Assistierten Reproduktion

Die Neue Ordnung erscheint alle 2 Monate Bezug direkt vom Institut oder durch alle Buchhandlungen Jahresabonnement: 25,- € Einzelheft 5,- € zzgl. Versandkosten

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ISSN 09 32 – 76 65

Ursula Nothelle-Wildfeuer, Wert der Familie zwischen Ethik und Ökonomie

Bankverbindungen:

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Bericht und Gespräch

Sparkasse Köln-Bonn Konto-Nr.: 11704533 (BLZ 370 501 98) Postbank Köln Konto-Nr.: 13104 505 (BLZ 370 100 50)

Hans-Peter Raddatz, Ökumene mit dem Islam? Dokumente der DBK und der EKD

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Walter Brandmüller, Vorbereitungsjahr für Seminaristen

Anschrift der Redaktion und des Instituts: Simrockstr. 19 D-53113 Bonn

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Manfred Bunte, Neuordnung der Arbeitslosenversicherung

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Tel.: 0228/21 68 52 Fax: 0228/22 02 44 Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgesandt. Verlag und Redaktion übernehmen keine Haftung Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Nachdruck, elektronische oder photomechanische Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion http://www.die-neue-ordnung.de

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Editorial Das Kreuz mit der Krippe „Kinder sind Zukunft“ lautet jetzt parteiübergreifend, „flächendeckend“ und phrasendreschend die Beschwörung der Familienpolitiker, seitdem sie vom demographischen Erdrutsch unserer „Gesellschaft“ Kenntnis erlangt haben. In diesem und in anderen Zusammenhängen vom „deutschen Volk“ als dem Souverän zu reden, fällt den deutschen Volksvertretern, die immerhin dem Grundgesetz besonders verpflichtet sind, kaum mehr ein. Wenn auch der Bestand dieses Volkes und seines Grundgesetzes gewiß nicht als gesichert gelten kann, hätten wenigstens einige Artikel dieser Verfassung bleibende Anerkennung verdient. Zumal jene, die von der Katholischen Soziallehre inspiriert wurden, und zwar in besonderer Weise die Artikel 1 und 6. Was von Ewigkeitsgarantien im juristischen Sinne zu halten ist, läßt sich gerade am Schicksal dieser beiden Artikel ablesen. Hätte man, so darf kontrafaktisch spekuliert werden, die Sache der Menschenwürde im strengen Wortsinn ernstgenommen, wäre uns das „verabscheuungswürdige Verbrechen“ massenhafter Abtreibung erspart geblieben – und „würde“ man sich heute nicht über den Mangel an Kindern und Zukunft die Köpfe zerbrechen. Doch dieser Zug ist bereits abgefahren und droht inzwischen auch den Lebensschutz für Embryonen, Komapatienten und Greise zu überrollen, ohne daß die christlichen Kirchen in Deutschland öffentlich wirksamen Widerstand leisten (können). Und wer sich auf das Bundesverfassungsgericht oder auf den Bundespräsidenten als „Hüter der Verfassung“ verlassen wollte, könnte schnell verlassen sein. Auch der Verfassungsschutz hat offensichtlich nicht die Aufgabe, die Verfassung in ihrem originären Kernbestand zu schützen, sondern folgt vorrangig den (partei)politischen Vorgaben machterhaltungsinteressierter staatlicher Ministerien, denen der Dienst an der Bewahrung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung manchmal sehr lästig, weil unzeitgemäß, vorkommt. Man kann ja schließlich nicht immer „mit dem Grundgesetz unter dem Arm“ daherkommen, wie schon das alte Schlitzohr Hermann Höcherl meinte. Leichter und plausibler, d.h. des öffentlichen Beifalls sicher, kommen jene Staatsdiener zum Ziel, die sich des Grundgesetzes bedienen, indem sie es umgehen oder verbiegen. Wer das Verfassungsfundament hingegen beim Wort nimmt und seine ursprüngliche Intention beachtet, kommt heute schnell in den Verdacht, „Fundamentalist“ oder gar „Extremist“ zu sein und zieht die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes auf sich. Konsequente Verfechter des Lebensschutzes Ungeborener gelten heute – auch innerkirchlich – nicht selten als „Fundamentalisten“. Das ist eine Schande, über die schon aus verfassungspatriotischen Gründen (nicht nur aus spezifisch christlichen Erwägungen heraus) dermaleinst bitter gerichtet werden wird. Was für die Mißachtung des Artikels 1 gilt, wird sich ähnlich auch für den Mißbrauch des 162

Artikels 6 ergeben. Dieser stellt Ehe und Familie unter den besonderen Rechtsschutz des Staates, weil das ursprüngliche, d.h. „natürliche“ Recht von Ehe und Familie dem Recht des Staates vorausgeht und ihn verpflichtet. Unterminiert wurde der Artikel 6 bereits durch die weitgehende Gleichstellung dieser den Staat konstituierenden Institutionen mit gleichgeschlechtlichen Verbindungen, die zwar keine Familien hervorbringen, jedoch an deren Privilegien parasitär partizipieren wollen. Neben diesem Hohn hat sich freilich hinreichend erwiesen, daß die den Familien zukommenden „Privilegien“ eigentlich gar keine sind, sondern nur symbolische Entschädigungen für Leistungen, die die Familien für die Gesellschaft weithin unentgeltlich erbringen. Statt die Kinderlosen finanziell stärker zu belasten, um den kinderreichen Familien mehr Lebenschancen zu geben, will man nun durch staatliche Kinderkrippen die Familien „entlasten“, damit die Eltern durch ihre Erwerbstätigkeit diese Krippen auch finanzieren können. Die angestrebte Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit soll wesentlich durch den Verzicht auf familiäre Erziehungsarbeit erreicht werden. Der Prozeß des modernen Funktionsverlusts der Familie strebt damit ihrer endgültigen Zerstörung zu, und manche glauben auch noch, die Familie dadurch retten zu können, daß man ihr die wichtigste Aufgabe, nämlich die Erziehung der Kinder, entzieht. Dagegen gibt es einen starken Einwand: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Dieser Vorbehalt wird nicht etwa allein durch Bischof Walter Mixa erhoben, der die linke Phrase von den Frauen als „Gebärmaschinen“ umkehrte und auf die Kinderkrippenpolitik der Bundesregierung kritisch-polemisch anwandte, sondern er findet sich bereits wortwörtlich im Grundgesetz (Art. 6, Abs. 2). Selten und seltsam, daß das Grundgesetz von Pflichten spricht. Das haben sich unsere heutigen Politiker völlig abgewöhnt. Natürlich würden unsere Eliten, die ihrer eigenen familiären Erziehungspflicht nicht nachkommen wollen oder können, und die nun die „flächendeckende“ Einrichtung von Krippenplätzen und einen entsprechenden Rechtsanspruch für die misera plebs fordern, niemals ihre eigenen Kindern einer anonymen Krippe anvertrauen, sondern lieber Ammen, Kindermädchen und Tagesmütter in Anspruch nehmen. Quod licet Jovi, non licet bovi. Erziehungshilfen dieser Art hat es in „besseren Kreisen“ für überforderte Mütter immer gegeben. Und der freiheitliche Staat täte gut daran, zur Abwehr kollektivistischer Milieuschädigungen à la DDR, den Rechtsanspruch nicht auf einen Krippenplatz, sondern auf die häusliche, besonders mütterliche Erziehung zu richten. Durch subsidiäre Hilfen aller Art. „Wie altmodisch!“ wenden hier SPDS-Politiker ein und faseln von „Herdprämie“. Sie haben Probleme mit dem Grundgesetz, das lapidar festhält: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Es wird Zeit, den Verfassungsschutz gegen die Diskriminierung der Mütter und Familien zu mobilisieren. Auf dem Weg in die mutterlose Gesellschaft laufen wir Gefahr, die „Keimzelle der Gesellschaft“ und die Familie als „kleine Kirche“ zu verlieren. Die Verluste an Glaube, Moral und Kultur wären nicht mehr kompensierbar.

Wolfgang Ockenfels 163

Manfred Spieker

Der Schutz des menschlichen Lebens als Aufgabe der katholischen Soziallehre Die Soziallehre der Kirche fragt nach den strukturellen und institutionellen Bedingungen für das Gelingen des menschlichen Lebens.* Sie entwickelt Leitlinien für die gute und gerechte Gesellschaftsordnung, die den Menschen eine personale Entfaltung ihres Lebens ermöglicht. Sie hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen um die sozialen Folgen der Industrialisierung als eigenständige theologische Disziplin aus der Moraltheologie entwickelt. Die Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. 1891 war das Fanal für ein sehr intensives Engagement des kirchlichen Lehramtes in sozialen Problemen bis heute. Die Christliche Gesellschaftslehre, deren akademische Karriere zwei Jahre später mit einer eigenen Professur an der Universität Münster in Deutschland begann, unterstützt das kirchliche Lehramt in diesem Engagement. Sie entwickelte sich zu einer tragfähigen Brücke zwischen der kirchlichen Verkündigung einerseits und sozialwissenschaftlichen Disziplinen sowie gesellschaftlichen Verbänden, Parteien und Institutionen andererseits. Sie hat zumindest in der industrialisierten Welt dazu beigetragen, die soziale Frage zu lösen, d. h. die Arbeitsbeziehungen zu humanisieren, die sozialen Pflichten des Staates zu begründen und die Wirtschaftsordnung so zu gestalten, daß sie sowohl der Freiheit des Wettbewerbs als auch dem sozialen Ausgleich gerecht wurde. Ziel aller Reflexionen der Christlichen Gesellschaftslehre wie auch der sozialen Verkündigung der Kirche ist seit Rerum Novarum das Gemeinwohl als die Gesamtheit der sozialen und politischen Voraussetzungen für die personale Entfaltung des Menschen.1 Dieses Ziel erweiterte den Fokus der Christlichen Gesellschaftslehre im 20. Jahrhundert auf Fragen von Krieg und Frieden, auf die Probleme der Entwicklung der Dritten Welt, der Globalisierung und der Legitimitätsbedingungen der Demokratie. Durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch verstand es die Christliche Gesellschaftslehre, deutlich zu machen, daß die Legitimität einer politischen Ordnung von unverzichtbaren Voraussetzungen abhängig bleibt: dem Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte, der institutionalisierten Solidarität der Bürger und der Subsidiarität staatlicher Intervention in die Gesellschaft. Das personale Menschenbild und die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls wurden so die Markenzeichen der Christlichen Gesellschaftslehre. Sie halfen, die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts zu bekämpfen und zu überwinden. Die Christliche Gesellschaftslehre ist aber bisher nahezu blind gegenüber den sozialethischen Problemen des Lebensschutzes am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens, also gegenüber Abtreibung und Euthanasie, der embryonalen Stammzellforschung, dem Klonen und der Präimplantationsdiagnostik. Sie 164

hat die Ankündigung von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Evangelium Vitae, daß das Lehramt der Kirche seine Interventionen zur Verteidigung der Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens verstärken will,2 bisher nicht aufgegriffen. Indizien für die Blindheit der Christlichen Gesellschafslehre sind zum Beispiel, daß sich von den Lehrstühlen für Christliche Gesellschaftslehre in den deutschsprachigen Ländern kaum einer mit Problemen des Lebensschutzes befaßt und daß die Sammelbände mit Sozialenzykliken, die in vielen Sprachen veröffentlicht wurden, die Enzyklika Evangelium Vitae in der Regel aussparen. Kardinal Renato Raffaele Martino erklärte in einer Rede in Rimini im August 2005, die Problematik des Lebensschutzes gehöre zu den wichtigsten Themen der Soziallehre der Kirche. Dies war für die Internationale Vereinigung für Christliche Soziallehre der Anlaß, für die Jahresversammlung 2006 dieses Thema zu wählen und eine gemeinsame Konferenz mit dem Päpstlichen Rat Justitia et Pax zu organisieren. Auch das vom Päpstlichen Rat Justitia et Pax 2004 veröffentlichte Kompendium der Soziallehre der Kirche unterstreicht die Bedeutung des „Rechts auf Leben vom Moment der Empfängnis bis hin zu seinem natürlichen Ende“ für die Soziallehre und das kirchliche Handeln.3 Um Mißverständnissen vorzubeugen: die Blindheit der Christlichen Gesellschaftslehre für die Problematik des Lebensschutzes bedeutet nicht, daß die Kirche sich in ihrer Verkündigung nicht dieses Problems angenommen hätte. Im Gegenteil: die Kirche hat sich seit ihren Anfängen vor 2000 Jahren für den Schutz ungeborenen und neugeborener Kinder und sterbender alter, kranker oder behinderter Menschen eingesetzt und Abtreibung und Euthanasie deshalb ausnahmslos und überall bekämpft. Aber die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Probleme war unter den theologischen Disziplinen bisher der Moraltheologie vorbehalten, deren Betrachtungsweise eine andere ist als die der Christlichen Gesellschaftslehre. Sie fragt in einer individual- und tugendethischen Perspektive nach den Gründen für das Verbot von Abtreibung und Euthanasie, für die Schutzwürdigkeit des Embryos und des Sterbenden. Sie diskutiert die Zugehörigkeit des Embryos zur biologischen Spezies Mensch, die Kontinuität seiner Entwicklung, seine Identität in allen Lebensphasen und seine Potentialität vom Augenblick der Zeugung an, also jene Gründe, die dafür sprechen, daß der Embryo Person ist und den Staat zu seinem Schutz verpflichtet. Die Christliche Gesellschaftslehre interessiert sich für diese Fragestellungen nur, wenn sie sich mit den Menschenrechten beschäftigt, deren erstes und grundlegendes das Recht auf Leben ist. Das aber genügt nicht, um der Bedeutung des Problems gerecht zu werden. Daß die Problematik des Lebensschutzes nicht im Fokus der Christlichen Gesellschaftslehre stand, war verständlich, solange die Rechts- und Verfassungsordnungen der zivilisierten Staaten die Menschenrechte geschützt und Abtreibung und Euthanasie verboten haben. Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aber hat sich dies grundlegend geändert. Zahlreiche Staaten haben das Abtreibungsverbot und manche, wie Belgien und die Niederlande, auch das Euthanasieverbot gelockert oder ganz aufgehoben. Nachdem die künstliche Be165

fruchtung 1978 mit der Geburt von Louise Brown in Großbritannien zum ersten Mal Erfolg hatte, sich seitdem weltweit ausbreitete und zu zahllosen kryokonservierten Embryonen führte, die keine Chance auf einen Transfer in einen Uterus haben, haben viele Staaten der Forschung mit embryonalen Stammzellen, dem Klonen und der Präimplantationsdiagnostik den Weg geebnet. Sie haben den Embryo zu einer Sache degradiert und das Verbot privater Gewaltanwendung und der Tötung unschuldiger Menschen seiner Verbindlichkeit beraubt. Die Christliche Gesellschaftslehre ist deshalb aus mehreren Gründen herausgefordert. Sie kann die Problematik des Lebensschutzes nicht länger ignorieren: Die Christliche Gesellschaftslehre hat gegenüber der Lockerung bzw. Aufhebung des Abtreibungs- und Euthanasieverbotes die zentrale Legitimitätsbedingung eines demokratischen Rechtsstaates zur Geltung zu bringen: das Verbot privater Gewaltanwendung und der Tötung unschuldiger Menschen. Wenn im Abtreibungsstrafrecht das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren im Konfliktfall über das Lebensrecht des Kindes gestellt, mithin privater Gewaltanwendung zur Konfliktlösung der Weg geebnet wird, hebt sich der Rechtsstaat selbst auf.4 Das Verbot, seine eigenen Interessen mit Gewalt gegen Unschuldige durchzusetzen und um dieser Interessen willen gar einen Unschuldigen zu töten, hat den Rechtsstaat konstituiert. Die Aufhebung dieses Tötungsverbotes auch noch rechtsstaatlich regeln zu wollen, ist ein Widerspruch in sich.5 Ein Rechtsaat kann die Zerstörung seiner Konstitutionsbedingung nicht rechtsstaatlich regeln. Dies ist der Grund, weshalb die Debatten um die Legalisierung der Abtreibung nie an ein Ende kommen werden, auch wenn Gesetzgeber, Parteien und Regierungen noch so sehr bemüht sind, eine Diskussion über die Reformen des Abtreibungsstrafrechts zu vermeiden und die Legalisierung der Abtreibung nicht mehr in Frage stellen zu lassen. 2. Auch die modernen bioethischen Probleme, die durch die Reproduktionsmedizin entstanden sind und die die Gesetzgeber nicht weniger beschäftigen als die klassischen Probleme der Abtreibung und der Euthanasie, die es gibt, seit Menschen existieren, also die embryonale Stammzellforschung, das Klonen und die Präimplantationsdiagnostik werfen eine Reihe von Fragen auf, die sich geläufigen moraltheologischen Perspektiven entziehen und sozialethische Antworten verlangen. Schon die assistierte Reproduktion in Form der In-Vitro-Fertilisation oder der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion widerspricht einer wesentlichen Voraussetzung humaner zwischenmenschlicher Beziehungen: dem Gleichheitsprinzip. Das aus ihr hervorgehende Kind wird zwar von seinen Eltern gewünscht. Das unterscheidet es nicht von den meisten natürlich gezeugten Kindern. Aber es ist im Unterschied zu diesen nicht die Frucht eines ehelichen Liebesaktes, die zwar erhofft, aber nie gemacht werden kann, sondern das Produkt des Reproduktionsmediziners und des Willens der Eltern, die sich ihm anvertrauen. Kant würde sagen, es ist ihr „Gemächsel“.6 Es verdankt seine Entstehung einem technischen Verfügungs- und Herrschaftswissen, einer „instrumentellen Vernunft“ (M. Horkheimer), die schon Aristoteles als Poiesis deutlich von der Praxis als dem richtigen Handeln der Menschen im Hinblick auf sein letztes Ziel unterschied. 166

Als „Gemächsel“ aber befindet sich der Mensch in einer existentiellen Abhängigkeit von denen, die ihn machen. Der Beginn seiner Existenz steht unter dem Vorbehalt des Willens seiner Eltern und des Wissens des Fortpflanzungsingenieurs. Dies gilt für jede IVF-Behandlung, also nicht nur für jene, die mit einer Präimplantationsdiagnostik verbunden wird. Diese bedingte Existenz widerspricht der Symmetrie der Beziehungen, die eine wesentliche Voraussetzung für interpersonale Beziehungen und für den egalitären Umgang von Personen ist.7 Sie widerspricht seiner fundamentalen Gleichheit wie auch seiner Freiheit. Sie verletzt auch das Prinzip der Gerechtigkeit, das sich in der Goldenen Regel niederschlägt, denn jeder will von den Mitmenschen anerkannt werden, „nicht weil seine Existenz einem Wunsch oder Gefallen dieser anderen entspricht, …sondern …aufgrund seiner bloßen Existenz“.8 Die künstliche Befruchtung widerspricht deshalb nicht nur dem Gleichheitsprinzip, sondern auch der Menschenwürdegarantie, auch wenn der künstlich erzeugte Mensch zum geliebten Kind seiner Eltern wird und als Mitbürger die gleichen Rechte und Pflichten hat wie jeder andere. 3. Die Forschung mit embryonalen Stammzellen schließlich wirft ebenfalls nicht nur moraltheologische, sondern auch sozialethische Probleme auf. Sie bedient sich der so genannten „überzähligen“ oder „verwaisten“ Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung entstehen und aus welchen Gründen auch immer keine Chance mehr haben, in eine Gebärmutter transferiert zu werden. Sie gelten als Rohstoffressource für die Entwicklung neuer Therapien für bisher unheilbare Erkrankungen. Diesen Zugriff auf die kryokonservierten Embryonen kritisiert die Soziallehre der Kirche zusammen mit der Moraltheologie als Instrumentalisierung des Menschen in seiner frühesten Lebensphase, eine Instrumentalisierung, die ebenso gegen die Menschenwürde wie gegen das Recht auf Leben verstößt. Die so genannte Ethik des Heilens hat wie das Recht auf Forschungsfreiheit immer eine Grenze am Lebensrecht des Embryos. Die von der Wissenschaft und der Medizin gern zitierte Alternative „Verwerten oder Verwerfen“ ist eine falsche Alternative, der entgegengehalten werden muß, daß der „nutzlose“ Tod eines kryokonservierten Embryos kein „sinnloser“ Tod ist. Aber die Christliche Gesellschaftslehre hat über diese Einwände hinaus noch weitere spezifisch sozialethische Einwände zu erheben. Wer das Verfügungsrecht über die kryokonservierten Embryonen beansprucht, setzt voraus, sie seien wie eine Sache zu behandeln, über die wie über jedes Eigentum frei verfügt werden kann. Aber weder die Eltern noch die Reproduktionsmediziner sind Eigentümer der „überzähligen“ Embryonen. Eigentumsansprüche können sich nur auf Sachen, nie auf Menschen beziehen, auch wenn diese noch so klein, äußerungsunfähig und hilflos sind.9 Eigentumsansprüche auf Menschen zu erheben, heißt sie versklaven. Angesichts der Verfügungsansprüche der Wissenschaft und der Medizin über die kryokonservierten Embryonen muß deshalb die Frage gestellt werden, ob die Life Sciences nicht dabei sind, die so mühsam abgeschaffte Sklaverei wieder einzuführen und die künstlich erzeugten, so genannten überzähligen Embryonen zu den Sklaven des 21. Jahrhunderts zu machen. Die Entste167

hung der rechtsstaatlichen Demokratie ist von der Abschaffung der Sklaverei und der Gleichheit der Menschenwürde nicht zu trennen. Deshalb gehört auch die mit der Tötung der Embryonen einhergehende embryonale Stammzellforschung zu den Entwicklungen, die wie Abtreibung und Euthanasie die Legitimität der rechtsstaatlichen Demokratie in Frage stellen. Keine Mehrheitsentscheidung kann sie rechtfertigen. Solchen Entwicklungen entgegenzutreten ist die Aufgabe der Christlichen Gesellschaftslehre und der kirchlichen Verkündigung. Johannes Paul II. ist in seinem Pontifikat diesem Auftrag in großartiger Weise gerecht geworden. Er war Repräsentant einer Kultur des Lebens, der sich nie gescheut hat, die Legitimitätsbedingungen einer rechtsstaatlichen Demokratie gegen einen ethischen Relativismus zu verteidigen,10 für das Lebensrecht und die Menschenwürde der Ungeborenen und der Schwachen einzutreten und die Politiker an ihre Verantwortung zu erinnern. Den deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ermahnte er anläßlich seines Abschiedsbesuches im Vatikan am 3. März 1994: „Die Debatte über den Lebensschutz kann bisweilen auch bei christlichen Politikern die Angst vor dem klaren Wort des Widerspruchs mit sich bringen, wenn der Eindruck entsteht, eine demokratische Mehrheit sei für die Tötung bedrohten und schutzbedürftigen, ungeborenen oder sterbenskranken menschlichen Lebens… Der Verlust vorgegebener Wertmaßstäbe kann niemals ein Schweigen des Politikers rechtfertigen, der sich Gott gegenüber für die Menschen und die sittliche Ordnung verantwortlich weiß. Die Klugheit des in der politischen Verantwortung Stehenden zeigt sich in dem Maß, in dem er einer vermeintlich applaudierenden Mehrheit auch dann entgegenzutreten in der Lage ist, wenn es um die Grundwerte menschlicher Kultur geht. Gerade in Grenzfragen des Lebens, in denen nicht mehr unbedingt ein gesellschaftlicher Konsens besteht, muß bisweilen ein unbequemes Wort gesprochen werden.“11 Auch die amerikanischen Bischöfe haben mit ihrem Hirtenbrief „Living the Gospel of Life“ vom 24. November 1998 ein herausragendes Beispiel für die Verteidigung des Lebensrechtes der ungeborenen Kinder und einer freiheitlichen Verfassungsordnung gegeben,12 ein Beispiel, das deutlich machte, daß die Aufgabe des Lebensschutzes gegenwärtig das Schlüsselthema für die Sicherung einer rechtsstaatlichen Demokratie ist. Anmerkungen * Einführung in das Symposion „Der Schutz des menschlichen Lebens als Aufgabe der katholischen Soziallehre“ der Internationalen Vereinigung für Christliche Soziallehre und des Päpstlichen Rates Justitia et Pax am 15. und 16. September 2006 in Rom. 1) II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 26 und 74; Päpstlicher Rat Justitia et Pax, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Vatikanstaat 2004 (deutsch Freiburg 2006) 164. 2) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 57. 3) Kompendium der Soziallehre der Kirche, 553. Vgl. auch die Ziffern 155 und 233. 4) Vgl. auch Manfred Spieker, Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa, Paderborn 2005.

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5) Johannes Paul II. spricht in Evangelium Vitae 11 von der Tendenz, daß die Angriffe auf das ungeborene und das zu Ende gehende Leben „im Bewußtsein der Öffentlichkeit den ‚Verbrechenscharakter’ verlieren und paradoxerweise ‚Rechtscharakter’ annehmen“. 6) Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, § 28, in: Ders., Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, S. 394. 7) Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt 2001, S. 62. 8) Martin Rhonheimer, Die Instrumentalisierung des menschlichen Lebens. Ethische Erwägungen zur In-Vitro-Fertilisierung, in: Franz Bydlinski / Theo Mayer-Maly, Hrsg., Fortpflanzungsmedizin und Lebensschutz, Innsbruck 1993, S. 54f. 9) Das deutsche Embryonenschutzgesetz von 1990 stellt deshalb in § 2 die „mißbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen“ unter Strafe. Indem es sie dem Handel, der Forschung und der therapeutischen Nutzung entzieht, gibt es zu verstehen, daß sie nicht als Sache zu betrachten sind. 10) Johannes Paul II., Centesimus Annus 46 und 47; Evangelium Vitae 70. 11) Johannes Paul II., Ansprache an Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 3.3.1994, in: Der Apostolische Stuhl 1994, S 484. 12) Deutsche Übersetzung „Das Evangelium des Lebens leben. Eine Herausforderung für die amerikanischen Katholiken“, in: Die Neue Ordnung, 54. Jg. (2000), S 244ff.

Manfred Spieker ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück und seit 2002 Präsident der Internationalen Vereinigung für Christliche Soziallehre

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Thomas D. Williams

Abtreibung und katholische Soziallehre Die Soziallehre der Kirche, so Kardinal Renato Martino in seinem Einladungsschreiben zu einer Konferenz zum Thema „Der Schutz des Lebens als Aufgabe der katholischen Soziallehre“ im September 2006, hat bis heute nicht mit der notwendigen Deutlichkeit die Verteidigung des Lebens – von der Empfängnis bis zum natürlichen Ende – thematisiert.* Die Tatsache, daß das Problem der Abtreibung außerhalb des Kanons der heutigen katholischen Soziallehre liegt, bleibt beunruhigend. Die Problematik der Abtreibung ist ein Thema der katholischen Soziallehre, die sich der Bedeutung dieses Themas noch viel mehr bewußt werden muß. Vier eng verbundene Themen sind deshalb zu erörtern: 1. Der Nachweis, daß die Abtreibung gegenwärtig de facto aus dem Kanon der katholischen Soziallehre ausgegrenzt wird. 2. Die Gründe für diese Ausgrenzung. 3. Die Begründung der Forderung, die Abtreibung in die Fragestellungen der katholischen Soziallehre einzuschließen und verstärkt zu behandeln. 4. Eine Darstellung der besonderen Kompetenzen der katholischen Soziallehre zu Erörterung der Abtreibungsproblematik.

I. Die Ausgrenzung der Abtreibung Es gilt zunächst nachzuweisen, daß die katholische Soziallehre der Abtreibungsproblematik keinen Ort zugewiesen hat. Im Unterschied zu anderen Gebieten, wie etwa der Sexualethik oder der Christologie, ist die katholische Soziallehre direkt mit einem Korpus des päpstlichen Lehramtes verbunden.1 Obwohl sie von zusätzlichen Texten und Materialien Gebrauch macht, wird ihr Kern von diesen päpstlichen Enzykliken bestimmt. Da sie zuallererst eine „Lehre“ und kein Forschungsgebiet ist, macht es auch Sinn, daß diese päpstlichen Enzykliken einen abgrenzenden Charakter haben. Folglich sind die Vorlesungsangebote im Bereich der katholischen Soziallehre darauf ausgerichtet, Entwicklung und Gehalt dieses wachsenden Lehrgebäudes näher darzustellen. Hierbei stehen die Editionen der Sozialenzykliken als Referenz im Zentrum der Aufmerksamkeit. Pius XII. hat den Begriff „Sozialenzyklika“ erstmals in einer Radioansprache zum 50. Jahrestag von Rerum Novarum von Leo XIII. am 1. Juni 1941 benutzt.2 Dieser Begriff wurde dann 1961 erneut von Johannes XXIII. in Mater et Magistra gebraucht.3 Von dort fand er Eingang in das Vokabular des kirchlichen Lehramtes. Später nahm Johannes Paul II. Bezug auf die Enzyklika Pauls VI. Populorum Progressio als „Sozialenzyklika“ und das gleiche gilt auch für seine Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis (1987) zum 20. Jahrestag von Populorum Progressio.4 Obwohl das päpstliche Lehramt keine Definition des Begriffs „Sozialenzyklika“ anbietet, ist klar, daß dieser Begriff auf jene Enzykliken bezogen ist, die vorwie170

gend und oft ausschließlich von der gerechten Ordnung der Gesellschaft handeln. So läßt sich verallgemeinernd sagen, daß die Sammlung der Sozialenzykliken den Korpus des sozialen Lehramts der Kirche ausmacht mit der bemerkenswerten Ausnahme der Rundfunkbotschaft Pius’ XII. zum Pfingstfest 1941, in welcher des 50. Jahrestages von Rerum Novarum gedacht wurde. Obwohl offenkundig keine Enzyklika, wird dieser Text dem Korpus der katholischen Soziallehre zugerechnet. Obwohl bestimmte Aspekte der Soziallehre auch in anderen päpstlichen Texten zu finden sind, werden sie selten in die akademische Soziallehre eingeschlossen. Nahezu alle Sozialenzykliken beginnen mit einem Rückblick auf die vorausgegangenen Texte. Diese beständig wachsende Liste stellt also den informellen „Kanon“ der Sozialenzykliken dar. Dennoch besteht unter den Listen der verbindlichen Texte eine gewisse Variationsbreite, die auf eine flexible Handhabung hinweist.5 So hat z. B. Benedikt XVI. in Deus Caritas Est seine eigene Liste einschlägiger Enzykliken aufgestellt. Nach einer Aufzählung der für die Entwicklung des sozialen Lehramtes bedeutsamen Meilensteine schreibt Benedikt: „Mein großer Vorgänger Johannes Paul II. hat uns eine Trilogie von Sozialenzykliken hinterlassen: Laborem Exercens (1981), Sollicitudo Rei Socialis (1987) sowie schließlich Centesimus Annus (1991).“6 Hier fällt auf, daß jeder Hinweis auf Evangelium Vitae als Sozialenzyklika fehlt. Die Durchsicht des Inhalts der Sozialenzykliken verdeutlicht das Fehlen der Abtreibungsproblematik. In den insgesamt neun Sozialenzykliken tritt der Begriff „Abtreibung“ ganze vier Mal auf, wobei in keinem Fall eine tiefer reichende Erörterung zu finden ist. Rerum Novarum, Quadragesimo Anno, Mater et Magistra, Pacem in Terris, Populorum Progressio und Laborem Exercens enthalten überhaupt keinen Hinweis auf die Abtreibung. In Octogesima Adveniens (18) erwähnt Paul VI. die Abtreibung im Kontext der Ideen des Maltusius zur Lösung der Arbeitslosigkeit. Johannes Paul II. gibt einen Hinweis auf das Problem der Abtreibung in Sollicitudo Rei Socialis (26), und zwar als Gegenbeispiel zur sonst wachsenden Wertschätzung des Lebens und der menschlichen Würde. In Centesimus Annus finden sich zwei Hinweise: Erstens in Bezug auf die weitreichende Propagierung der Kinderlosigkeit, womit angeblicher Überbevölkerung entgegengewirkt werden soll (29) und zweitens im Rahmen der Menschenrechte als notwendiger Grundlage einer rechtsstaatlichen Demokratie (47). Sofort aber ist hinzuzufügen, daß die Abwesenheit der Abtreibungsproblematik im Lehrgebäude der päpstlichen Sozialenzykliken nicht bedeutet, daß die Päpste dazu geschwiegen hätten. Johannes Paul II. hat sich wiederholt äußerst eindringlich mit dieser Problematik beschäftigt. In seiner 1995 vorgelegten Enzyklika Evangelium Vitae hat er die Frage der Abtreibung ausführlich behandelt. Aber Evangelium Vitae wird im gegenwärtigen Lehrbetrieb nicht als Sozialenzyklika betrachtet. Obgleich die Päpste die Abtreibung auf das schärfste verurteilen, haben sie dies nie mittels der katholischen Soziallehre ausgedrückt. Was sind die Gründe? Welche Gründe haben zur systematischen Ausgrenzung der Abtreibungsproblematik aus dem Korpus des sozialen Lehramtes geführt?

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II. Warum schweigt die katholische Soziallehre? Die Frage, weshalb die katholische Soziallehre zum Thema Abtreibung schweigt, kann zunächst aus einer historischen und dann aus einer systematischen Perspektive beantwortet werden. Die große Mehrzahl der Sozialenzykliken bezieht sich direkt auf Rerum Novarum und deren Inhalt. Sie wurden zu bedeutenden Jahrestagen dieser bahnbrechenden Enzyklika veröffentlicht.7 Von Rerum Novarum ausgehend, aktualisieren diese Enzykliken die ethische Analyse der sozialen Frage im Hinblick auf neue Probleme. Dabei halten sie sich an die von Leo XIII. vorgegebenen Kategorien. Dies hat zur Folge, daß die Soziale Frage der Arbeiterschaft nach wie vor im Zentrum steht.8 Gewiß ist eine langsame Ausweitung des sozialen Lehramtes festzustellen, aber diese Ausweitung bleibt eng mit Rerum Novarum verbunden. Das päpstliche Lehramt hat Rerum Novarum wiederholt zur „Magna Carta“ der katholischen Soziallehre erklärt. Zum 40. Jahrestag schrieb Pius XI., Leos Enzyklika habe „sich bewährt als Magna Carta, als die sichere Unterlage aller christlichen Sozialarbeit“.9 Johannes Paul II. schrieb 1991: „Auf diese Weise setzte Leo XIII., dem Vorbild seiner Vorgänger folgend, ein bleibendes Beispiel für die Kirche“.10 Obgleich Bedeutung und Originalität von Rerum Novarum nicht zu bezweifeln sind, darf nicht übersehen werden, daß die Erhebung eines derartigen Textes zum normativen Vorbild eine einschränkende Wirkung auf spätere Dokumente der katholischen Soziallehre ausübt. Gewiß gelang es Rerum Novarum, das Problem der Arbeiterschaft zu analysieren, die sozialistischen Lösungsvorschläge zu kritisieren und die katholische Position vom Naturrecht auf Privateigentum zu bekräftigen. Aber eine große Zahl andere Grundfragen der sozialen Gerechtigkeit behandelte Rerum Novarum nicht. Leo XIII. beabsichtigte auch nicht, einen umfassenden Traktat zu christlichen Sozialethik vorzulegen. Rerum Novarum stellt eine sorgfältige Antwort auf ein dringendes pastorales Problem dar. Aber zu erwarten, die Enzyklika liefere ein Muster für die Beantwortung aller die Kirche herausfordernden sozialen Probleme, kommt einer enormen Überforderung des Dokumentes gleich. Wenn ein kirchliches Dokument den Titel „Magna Carta“ der katholischen Soziallehre erhalten soll, dann schon eher die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes“. Dieser Text ist vermutlich der wichtigste Text der katholischen Soziallehre im 20. Jahrhundert. Während Rerum Novarum sich auf die Arbeiterfrage konzentrierte, behandelt Gaudium et Spes das gesamte Spektrum der katholischen Soziallehre. In systematischer Weise wird hier die Grundlage der Soziallehre in der Menschenwürde und in der Berufung der menschlichen Person dargelegt, dann wird die gegenseitige Abhängigkeit von Person und Gesellschaft erörtert, die Bedeutung des menschlichen Schaffens in der Welt, die soziale Natur von Ehe und Familie, die Bedeutung der Kultur und der wirtschaftlichen Entwicklung, der politischen Ordnung und das Projekt des Friedens. Ein zweiter Grund für das Fehlen der Abtreibungsproblematik im Korpus der katholischen Soziallehre liegt in den Kategorien der Moraltheologie, als deren 172

Zweig die katholische Soziallehre gelegentlich bezeichnet wird.11 Die Moraltheologie wird traditioneller Weise in die Fundamentalmoral und in die Spezialmoral aufgeteilt, wobei letztere wiederum in drei Bereiche eingeteilt wird: 1. die Ethik von Sexualität und Ehe, 2. die Bioethik und 3. die Sozialethik, der die katholische Soziallehre zugeordnet wird. Mittels dieser Kategorien läßt sich die Struktur theologischer Studien im Bereich der Moraltheologie gewiß festlegen. Sie hat zugleich eine pädagogische Funktion. Spezifisch moralische Fragen fallen gewöhnlich in die eine oder andere dieser Kategorien. Um nutzlose Wiederholungen zu vermeiden, werden diese Fragen dann nicht mehr weiter in anderen Bereichen untersucht. Abtreibung ist wesentlich eine Sünde gegen das fünfte Gebot. Sie besteht darin, daß hier ein unschuldiger Mensch vor der Geburt getötet wird. Der entsprechende moralische Diskurs ist der Bioethik zugeordnet. Da nun die Abtreibungsproblematik in der Bioethik ihren Platz gefunden hat, wird sie gemeinhin aus der Sozialethik ausgeschlossen.

III. Warum gehört Abtreibung in den Bereich der Soziallehre? Hat die katholische Soziallehre die Abtreibung und andere bioethische Themen zu behandeln? Oder grundsätzlicher gefragt, welchen Umfang, welche Reichweite, welche Kompetenz und welche Grenzen hat die katholische Soziallehre? Ganz offenkundig hat die katholische Soziallehre nicht alles zu behandeln, was zur christlichen Moral gehört. Warum aber gehört das Thema Abtreibung zu ihrem spezifischen Kern? Akademische Grenzziehungen, die die Moraltheologie in verschiedene Bereiche einteilen, sind einerseits sehr nützlich, um unsere Aufmerksamkeit zu lenken und verschiedene Disziplinen zu beschreiben, andererseits schädlich, weil sie zu einem unfruchtbaren Denken in Schubladen verführen. Johannes Paul II. warnte in „Fides et Ratio“ (1998) vor einer Überspezialisierung, welche die Einheit des Wissens bedrohe: „Da die Bruchstückhaftigkeit des Wissens eine fragmentarische Annäherung an die Wahrheit mit der sich daraus ergebenden Sinnzersplitterung mit sich bringt, verhindert sie die innere Einheit des heutigen Menschen.“12 Tatsächlich sind die Begrenzungen verschiedener Bereiche der Moraltheologie bei weitem nicht so klar wie es zunächst erscheint. Sowohl die Sexualethik als auch die Bioethik überschneiden sich in wichtigen Bereichen mit der Sozialethik. Im engeren Sinne fragt die Sexualethik nach der rechten Nutzung der menschlichen Freiheit im Bezug auf sexuelles Verhalten und legt besonderen Wert auf die Tugend der Keuschheit als die rechte Ordnung und die Integration der Sexualität in das menschliche Leben. Die Natur der menschliche Person als sexuelles Wesen, der Zweck der reproduktiven Fähigkeit, die Sexualmoral für Ehepartner, für Unverheiratete, für Personen des gleichen Geschlechts und für einen selbst, all dies macht den Bereich dieses Forschungsfeldes aus. Doch gleichzeitig gehört die Ethik des sexuellen und ehelichen Lebens auch in den Bereich der katholischen Soziallehre, denn die Sexualmoral hat wesentlich eine soziale und somit eine öffentliche Dimension. So ist die Familie die ursprüngliche menschliche Gemeinschaft und die Basiszelle der Gesellschaft; die Ehe findet ihren Ort im 173

Sozialgefüge; sie bedarf, ebenso wie ihre Auflösung, der gesetzlichen Bestimmungen. Zivile Verbindungen zwischen Menschen gleichen Geschlechts und die Adoption von Kindern stellen einige der Fragen dar, die in die Kompetenz der katholischen Soziallehre fallen. Eine vergleichbare Analyse könnte für den zweiten Bereich der speziellen Moraltheologie erfolgen, die Bioethik. Während dort enger gefaßte Fragen erörtert werden, erstens die auf den Anfang des Lebens bezogenen moralischen Dimensionen menschlichen Handelns, zweitens medizinisches und biologisches Handeln, das auf die Erhaltung und Besserung der menschlichen Gesundheit abzielt und drittens die Ethik des Lebensendes, so fehlt es auch hier nicht an wichtigen sozialen Dimensionen. Spezifisch bioethische Fragen verwandeln sich in soziale Fragen, wenn sie im Zusammenhang mit der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung behandelt werden und dabei das Gemeinwohl und die soziale Gerechtigkeit tangieren. Dazu gehören die Krankenversicherung und ihre Dynamik im Bereich der Beitragssätze, die öffentlich finanzierte Embryonenforschung, Regelungen zur Euthanasie und Beihilfe zum Suizid. Auch die Abtreibung gehört zu diesem weiten Fragenbereich. Da die Abtreibung, die unschuldiges ungeborenes Leben zerstört, Sünde gegen das fünfte Gebot ist, gehört sie in den Bereich der Bioethik. Wenn also – moralisch gesprochen – der Status der menschlichen Person des ungeborenen Kindes über alle Zweifel erhaben ist, wird die Beurteilung der Abtreibung durch den Bioethiker zur eindeutigen Sache, die sich im moralischen Unwerturteil ausdrückt. Die zahlreichen, hiermit verbundenen moralischen Fragen sind in sozialer und politischer Hinsicht weitreichend und verlangen eine sorgfältige Untersuchung. Im Lichte der intensiven juristischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Debatten zum Problem der Abtreibung dürfte es angebracht sein, den Problemkomplex eher dem Bereich der Sozialethik als dem der Bioethik zuzuweisen. Soziale Gerechtigkeit ist die zentrale Tugend der katholischen Soziallehre und bestimmt die Reichweite der Disziplin. Sie erstreckt sich auf mehrere Felder: Die Kultur, die Politik, die Wirtschaft und die Familie. Der interpersonale Charakter der Gerechtigkeit bedeutet, daß Gerechtigkeit immer schon sozial ist. Das päpstliche Lehramt hat jedoch den Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit“ und den der „Sozialen Liebe“ benutzt, um die rechte Ordnung jener Strukturen und Institutionen zu verdeutlichen, die unmittelbare Auswirkungen auf das Gemeinwohl haben. Pius XI. hat „Soziale Gerechtigkeit“ und Gemeinwohl als nahezu synonym gesetzt.13 Ähnlich sagt der Katechismus der katholischen Kirche: „Die Gesellschaft sichert die ‚Soziale Gerechtigkeit’, indem sie die Bedingungen schafft, die es den Verbänden und jedem einzelnen ermöglichen, das ihnen Zustehende zu erhalten“ (1943). Diese Beschreibung stimmt nahezu mit dem Begriff des Gemeinwohls überein. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage: In welchem Grade und in welcher Weise ist Abtreibung eine Frage der „Sozialen Gerechtigkeit“? Die Abtreibung ist tatsächlich ein typisches und einzigartiges sozialethisches Problem. Um dies zu illustrieren, ist auf sechs Charakteristika hinzuweisen, die Abtreibung von verwandten sozialen Phänomenen unterscheiden. 174

1. Abtreibung ist auf die Zerstörung unschuldigen Lebens ausgerichtet. Die Abtreibungsdiskussion unterscheidet sich darin von verwandten Themen, bei den moralische Abwägungen notwendig sind – wie etwa im Kriegsfall die Tötung von Angreifern oder bei der Todesstrafe die Tötung „schuldigen Lebens“. Obgleich allem Leben hoher Wert gebührt, hat die Moraltheologie immer darauf bestanden, die Zerstörung unschuldigen Lebens als besonders abscheulich und verdammungswürdig hervorzuheben.14 Daher gilt: Personen dürfen „unter keinen Umständen das Recht für sich in Anspruch nehmen, einen unschuldigen Menschen direkt zu zerstören.“15 Niemand ist unschuldiger und hilfloser als ein ungeborenes Kind. 2. Ein weiteres unterscheidendes Merkmal ist die schiere Größe des Problems. Weltweit werden pro Jahr etwa 46 Millionen gesetzlich sanktionierter Abtreibungen durchgeführt. Eine derartige Ziffer macht Abtreibung zu einem Problem von unvorstellbarem Ausmaß. Dazu schrieb Johannes Paul II. in Evangelium Vitae: „Die heutige Menschheit bietet uns ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel, wenn wir nicht nur an die verschiedenen Bereiche denken, in denen die Angriffe auf das Leben ausbrechen, sondern auch an ihr einzigartiges Zahlenverhältnis.“16 Ein einzelner Mord stellt ein soziales Problem dar, allerdings auf unterer Ebene; ein Serienmörder wäre schon ein ernsthafteres soziales Problem. Aber jährliche Tötungen, die in die Millionen gehen, schreien nach sofortigem und wirkungsvollem Handeln. Die riesigen Zahlen unterstreichen die soziale Natur des Problems und machen Abtreibung zu einem der gravierendsten Themen „Sozialer Gerechtigkeit“. 3. Im Unterschied zu anderen Fällen von Massenmord, wie dem Terrorismus oder den Serienmorden, bei denen die Gesetzlosigkeit auf der Hand liegt, erfreut sich die Abtreibung der gesetzlichen Billigung. Dies bedeutet die systematische, hygienische und legale Tötung menschlichen Lebens. Johannes Paul II. wies auf die Neuheit dieser Bedrohung aufgrund ihrer Legalität hin: „Es handelt sich nicht nur um Bedrohungen des Lebens von außen, von den Kräften der Natur her oder von weiteren ‚Kains’, die die ‚Abels’ töten, nein, es handelt sich um wissenschaftlich und systematisch geplante Bedrohungen.“17 Er weist ferner auch auf die Besonderheit der Abtreibung als „Rechtsgut“ hin. Nach Aufzählung einer Reihe von schrecklichen Bedrohungen für das menschliche Leben, wie Armut, Hunger, Krieg und Waffenhandel, hebt Johannes Paul II. deren Unterschied zu einer neuen Klasse von Bedrohungen des Lebens hervor. Nicht nur, daß diese Angriffe auf das Leben nicht länger als Verbrechen betrachtet werden, „paradoxerweise erhalten sie den Status von Rechten, und zwar bis zu einem Punkte, an welchem der Staat dazu aufgerufen wird, ihnen rechtliche Anerkennung zu erteilen und durch kostenlose Benutzung im System der Gesundheitsversicherung zu verankern.“18 4. Abtreibung zielt nicht nur auf die willkürliche Tötung nicht verwandter Individuen, sondern auch auf die Ausgrenzung einer ganzen Klasse von Menschen, nämlich den Ungeborenen, als rechtlos – ausgegrenzt aus dem Geltungsbereich der Grundrechte und der allen anderen Menschen gewährten Fürsorge. Auf diese Weise steht Abtreibung in der Tradition der großen historischen Tragödien, die 175

immer damit begannen, daß einer ganzen Klasse von Menschen das Recht auf Leben oder Freiheit verwehrt wurde. 5. Abtreibung unterscheidet sich von verwandten bioethischen Problemen wie Euthanasie und assistiertem Suizid, weil es keine Möglichkeit gibt, einen „informed consent“ zu unterstellen. Der Status der Ungeborenen – stimmlos und überaus verletzbar – bringt eine zusätzliche Dimension in die Diskussion über die Moralität und den Ernst der Abtreibung. Die bioethische Kategorie der „Autonomie“ kann hier keine Anwendung finden. 6. Die Abtreibung unterscheidet sich von anderen sozialen Übeln wie Arbeitslosigkeit und Ehescheidung durch die relative Unsichtbarkeit. Nicht nur, daß die Opfer jeglicher Stimme entbehren, auch die an dem Verbrechen Beteiligten haben keinerlei Interesse, öffentlich darüber zu sprechen. Das Gleiche gilt für die Frauen, die sich der Abtreibung unterziehen. Der Eingriff erfolgt hinter verschlossenen Türen. Er stützt sich auf das Schweigen der beteiligten Personen und Institutionen.

IV. Die Kompetenz zur Behandlung der Abtreibungsfrage Wenn die katholische Soziallehre tatsächlich die Abtreibungsfrage zu ihren ureigenen Themen zählt, welchen Beitrag kann sie zur Lösung dieser Problematik leisten? Hat sie einen spezifischen Beitrag anzubieten, der nicht schon von anderer Seite angeboten worden wäre? Die katholische Soziallehre bringt zwei spezifische Dimensionen in die Abtreibungsdebatte ein: Erstens wird zwischen der Moraltheologie und dem öffentlichen Diskurs eine Brücke geschlagen. In ihrer langjährigen Erfahrung mit sozialen Fragen hat die Kirche nicht nur die christliche Wahrheit dargestellt, sonder immer auch das Ziel verfolgt, Christen und alle Menschen guten Willens beim Aufbau einer Zivilisation der Gerechtigkeit und der Liebe zu bestärken. Zu diesem Zweck bedient sich die katholische Soziallehre oft eines naturrechtlichen Vokabulars und entwickelt ihre Argumente mittels solcher Begriffe, die allgemein zugänglich sind und im moralischen Diskurs einer konfessionsfremden Umgebung verstanden werden. Zum zweiten ist die Kirche – vielleicht mehr als jede andere Institution – darauf bedacht, in ihrer Soziallehre eine Reihe von Prinzipien zu entwickeln, die es erlauben, komplexe moralische Fragen der Sozialordnung zu erörtern. Selbst unter Bedingungen einer sich ständig wandelnden sozialen und politischen Umwelt hat die Kirche eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, neuen Situationen Rechnung zu tragen, ohne dabei die Verteidigung der Würde der menschlichen Person und der Familie zu vernachlässigen. 1. Das Gemeinwohl Ein Schlüsselbegriff des reichen Erbes der katholischen Soziallehre ist das Gemeinwohl. Das II. Vatikanische Konzil definiert in Gaudium et Spes das Gemeinwohl als „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und reicheres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“.19 Der Katechismus unterteilt diese Bedingungen des sozialen Lebens in dreifacher Weise: Die erste 176

bedeutet Respekt für die menschliche Person und folglich Respekt für deren „unveräußerliche Grundrechte“.20 Johannes Paul II. hat diesen Punkt weiter entwickelt: „Für das Leben eintreten heißt zur Erneuerung der Gesellschaft durch den Aufbau des Gemeinwohls beitragen. Denn ohne Anerkennung und Schutz des Rechtes auf Leben, auf dem alle unveräußerlichen Rechte des Menschen beruhen und sich entwickeln, läßt sich das Gemeinwohl unmöglich aufbauen.“21 Das Lebensrecht ist nicht nur im Begriff des Gemeinwohls eingeschlossen, das das Ziel jeder Gesellschaftsordnung ist, sondern es stellt auch eine tragende Säule dieser Ordnung dar. Johannes Paul II. zog daraus den Schluß: „Die Leugnung des Rechts auf Leben widerspricht am frontalsten und irreparabel der Möglichkeit einer Verwirklichung des Gemeinwohls“, in dessen Dienst zu stehen die Gesellschaft ja den Grund ihres Bestehens hat.22 2. Das Gleichheitsprinzip Das System der Demokratie beruht auf dem Gleichheitsprinzip, d. h. der radikalen ontologischen und staatsbürgerlichen Gleichheit aller Bürger. Die Lehre von der universalen menschlichen Gleichheit ist der heutigen Generation als ein spezifisch christlicher Beitrag zum Verständnis der Politik vermittelt worden. Der Gedanke, daß jeder Mensch ein Kind Gottes ist, erschaffen als sein Abbild, berufen zum Status eines Gotteskindes und zu ewiger Seligkeit, begründete das Verständnis der Menschen als Brüder und Schwestern mit gleichem Anteil an der Menschenwürde. Selbst all jene, die Kirche und Christentum verwerfen – wie etwa die Architekten der Französischen Revolution – standen in großer Schuld gegenüber dem Christentum, ohne welches das Motto „Liberté, Egalité und Fraternité“ niemals entstanden wäre. In einem demokratischen Gemeinwesen verdienen auch staatenlose Individuen die gleiche menschliche Behandlung und besitzen die gleichen Menschenrechte wie die Vollbürger, selbst dann, wenn ihnen nicht alle bürgerlichen Rechte (z. B. Arbeit, Wahlrecht, öffentliche Ämter) zustehen. Historisch betrachtet haben die großen, gegen die Menschheit ausgeführten Verbrechen, wie z. B. Genozid, Rassismus, Abtreibung, Antisemitismus, Sexismus, Sklaverei – immer gegen das Gleichheitsprinzip verstoßen. Hier wurden breite Sektoren der menschlichen Gemeinschaft auf einen niedrigeren Status relegiert mit einer gegenüber allen anderen deutlich verminderten Würde. Da sich die Menschenrechte von der Menschenwürde herleiten, können die Rechte nach einer Einschränkung der Würde nur noch dasselbe Schicksal erfahren. Wenn Menschwürde von anderen Kriterien als der einfachen Zugehörigkeit zur Menschheit abhängig gemacht wird – sei es Intelligenz, athletische Fähigkeiten, Sozialstatus, Rasse, Alter oder Gesundheit – sind wir sofort mit einer Lage konfrontiert, in welcher Unterscheidungen zwischen Personen vorzunehmen sind. Jede Person würde hiermit Träger einer höheren oder niedrigeren Würde und damit auch unterschiedlicher Rechte. Die Gleichheit von Personen entspricht der unparteilichen Gerechtigkeit. Darstellungen des 16. Jahrhunderts zeigen die göttliche Justitia mit verbundenen Augen, eine Waage in der linken und ein Schwert in der rechten Hand haltend. Ihre Augenbinde repräsentiert Unparteilichkeit: die gerechte Behandlung aller 177

Menschen ohne Unterschied der Person. Hier ist nicht entscheidend, wer vor dem Richtstuhl steht, sondern die einfache Tatsache, daß jemand dasteht. „Wie kann man noch von der Würde jeder menschlichen Person reden, wenn die Tötung des schwächsten und unschuldigsten Menschen zugelassen wird? Im Namen welcher Gerechtigkeit begeht man unter den Menschen die ungerechteste aller Diskriminierungen, indem man einige von ihnen für würdig erklärt, verteidigt zu werden, während anderen diese Würde abgesprochen wird?“23 3. Die bevorzugte Option für die Armen Die bevorzugte Option für die Armen – ein biblisches Prinzip – bezieht sich auf die Aufmerksamkeit für diejenigen mit den dringendsten Bedürfnissen. Johannes Paul II. sprach von einer „Option oder einer bevorzugten Art und Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird“, die das Leben eines jeden Christen beeinflussen sollte.24 Das päpstliche Lehramt hat wiederholt klargestellt, daß es sich bei den hier angesprochen „Armen“ nicht um eine soziale Klasse handelt oder lediglich um solche, die materieller Güter entbehren. Es geht vielmehr um alle Formen des Elends und der Bedürftigkeit des Menschen. „Darum hat es das Mitleid Christi, des Erlösers, geweckt, der dieses Elend hat auf sich nehmen und sich mit den Geringsten seiner Brüder hat identifizieren wollen.“25 Ganz so wie eine Mutter oder ein Vater eine unverhältnismäßige Menge von Zeit und Energie auf ein krankes Kind verwendet – ohne dabei die anderen Kinder etwa weniger zu lieben – sind Christen dazu aufgerufen, ihre Bemühungen bevorzugt auf die Schutzlosesten in unserer Mitte zu richten. Auf die gegenwärtige Gesellschaft angewendet, bedeutet dies, jener sozialen Ungerechtigkeit entgegenzutreten, die am stärksten gegen das christliche Gewissen verstößt. Dies ist der überlegte und massive Angriff auf die verletzlichsten Glieder der Gesellschaft: Die Ungeborenen. 4. Die Lehre der Kirche über den Rechtsstaat Die katholische Soziallehre steht im Einklang mit der paulinischen Lehre vom Respekt vor dem bürgerlichen Recht und dem ihm geschuldeten Gehorsam.26 Die Kirche lehrt jedoch gleichzeitig, daß das menschliche Gesetz nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn es Gottes ewiges Gesetz widerspiegelt. Der Katechismus bedient sich hierzu eines Zitats des Hl. Thomas von Aquin: „Insofern das menschliche Gesetz der rechten Vernunft entspricht, hat es das Wesen eines Gesetzes; dementsprechend leitet es sich offenbar vom ewigen Gesetz her. Aber insofern es von der Vernunft abweicht, heißt es ungerechtes Gesetz; und so hat es nicht das Wesen eines Gesetzes, sondern vielmehr das einer Gewalttat.“27 Das Verständnis der Kirche von Reichweite und Begrenzung des menschlichen Gesetzes wirft ein klares Licht auf die heutige Lage, in welcher der Abtreibung in der Mehrzahl aller Länder rechtlicher Schutz gewährt wird. Dieses Verständnis führt zu einer Reihe von Fragen, für deren Beantwortung die Kirche die notwendigen Prinzipien anbietet: - Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn die systematische Vernichtung ungeborener Kinder rechtlich gebilligt wird?

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- Worin besteht die geeignete Antwort auf ein ungerechtes Gesetz in einer demokratischen Staatsordnung? - Da dem Gesetz bei der Ausbildung moralischer Verantwortung der Bürger eine pädagogische Funktion zukommt – besonders angesichts der modernen Neigung, rechtliche und moralische Fragen zu vermischen – stellt sich die Frage, wie der deformierende Einfluß der ungerechten Abtreibungsgesetze verhindert und zurückgedrängt werden kann. - Worin besteht die eigentliche Rolle des Zivilrechts für den Lebensschutz? - Wann sind ziviler Ungehorsam und im Gewissen begründete Verweigerungen erlaubt oder sogar geboten, und welche Formen dürfen sie annehmen? - Wenn gesetzliche Regelungen Böses zulassen, ohne es jedoch zu oktroyieren, wie ändert sich dadurch die moralische Verpflichtung der Bürger? - Worin besteht der Unterschied zwischen aufgezwungener religiöser Doktrin und der Verteidigung des Gemeinwohls, das mit einem religiös gebildeten moralischen Urteil übereinstimmt? Diese Fragen stellen nur einen Ausschnitt aus den zu behandelnden Problemen dar. Sie verdeutlichen jedoch die Wichtigkeit der katholischen Soziallehre im Umgang mit den enormen sozialen Konsequenzen der Abtreibung im Bereich von Gesetz und Rechtssprechung. 5. Die kirchliche Lehre über die Politik im allgemeinen und die Pflichten katholischer Mandatsträger in der Legislative im besonderen Wie schon im Falle der Rechtsordnung, so hat die Kirche auch zur Natur und zur Aufgabe der politischen Gewalt eine Reihe von Leitlinien formuliert. Von zentraler Bedeutung ist die Lehre, daß die Ausübung politischer Gewalt allein der Durchsetzung und Erhaltung des Gemeinwohls dient.28 Politiker, die ihrer Verpflichtung auf das Gemeinwohl nicht gerecht werden, verlieren ihre Daseinsberechtigung. Wie schon bei der Abtreibung als Beispiel eines ungerechten Gesetzes, so ergibt sich auch bei Politikern, die Abtreibungsgesetze unterstützen, eine Reihe von Fragen. Hier sei nur eine repräsentative Auswahl vorgelegt, ohne den Versuch zu unternehmen, Vollständigkeit zu erreichen oder alles darzulegen, was die katholische Soziallehre zur Beantwortung dieser Fragen zur Verfügung stellt. - In welcher Weise beteiligt sich ein Befürworter der Abtreibung an einer bösen Tat (einer cooperatio formalis ad malum)? - Da Parlamentsabgeordnete über die Macht verfügen, Tatbestände als gesetzlich oder als ungesetzlich zu definieren, ist diese Macht nicht noch strenger zu bewerten als die direkte Ausführung von Abtreibungen? - In welchen Fällen ist die Konzentration der Politik auf ein einziges Thema legitim oder gar notwendig? Kann und sollte ein einziges Thema über alle anderen Themen dominieren, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Stellt die Abtreibung ein derartiges Problem dar?

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- Welche Auswirkungen hat die Befürwortung der Abtreibung durch einen katholischen Politiker für sein Verhältnis zur Kirche? Gibt es Gründe, die eine Teilnahme solcher Politiker an der Eucharistie ausschließen? - Welche moralische Legitimität wohnt dem Ansatz einer „nahtlosen Ethik“ (seamless garment) im Bereich des Lebensschutzes inne? - Ist es moralisch erlaubt, die Abtreibung zwar „persönlich“ abzulehnen, ihr jedoch als Politiker zuzustimmen – wie dies etwa der katholische Gouverneur des Staates New York Mario Cuomo (1983-1994) vertrat? - Weisen die unterschiedlichen, sich jedoch ergänzenden Rollen von Gesetzgebung und Rechtsprechung einen geeigneten Weg zur Behandlung des Abtreibungsproblems? - Wo liegen die Voraussetzungen und Grenzen demokratischer Willensbildung? Sind alle Grundsatzfragen dem wechselhaften Mehrheitswillen zu unterwerfen? Wie schon dargelegt, dient diese kurze Aufzählung von Fragen nur der Darstellung der Komplexität der durch die Abtreibung geschaffenen sozialethischen Probleme. Gleichzeitig wird die Bedeutung der katholischen Soziallehre für die Lösung dieser Frage deutlich.

Fazit Wenn die katholische Soziallehre für die Erörterung der Abtreibungsproblematik von solcher Bedeutung ist, was kann getan werden, um sie zur Geltung zu bringen? Zwei Wege bieten sich an: Der erste wäre eine Ausweitung des Korpus der katholischen Soziallehre über die Grenzen der Sozialenzykliken hinaus, der Einschluß alles dessen, was die Kirche zu sozialen Fragen lehrt. Dies würde viel Arbeit für alle mit sich bringen, die die katholische Soziallehre unterrichten, da eine systematische Untersuchung aller Texte des päpstlichen Lehramtes aus der Perspektive der sozialen Gerechtigkeit notwendig wäre. Der zweite Weg wäre die Aufnahme der Enzyklika Evangelium Vitae Johannes Pauls II. in den Kanon der Sozialenzykliken. Johannes Paul II. hat selbst gute Gründe dafür vorgelegt. Zu Beginn seiner Erörterung der gegenwärtigen Angriffe auf das Lebensrecht, vor allem der Abtreibung, erinnerte er ausdrücklich an Rerum Novarum und verglich die Problematik des Lebensschutzes heute mit jener der Arbeiterfrage zur Zeit Leos XIII.: „Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalen Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, in dem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein. Für immer hat sie sich den Ruf des Evangeliums nach dem Schutz der Armen zu eigen gemacht, deren Menschenrechte bedroht, mißachtet und verletzt werden.“29 Der hier zitierte Text aus der Einleitung von Evangelium Vitae stellt die gesamte Abtreibungsproblematik in den Rahmen der Soziallehre der Kirche. Während die 1891 verfaßte Enzyklika Leos XIII. für die Sache der verelendeten Lohnarbeiter eintrat, die damals jene soziale Gruppe waren, die am dringendsten der mutigen Vertei180

digung bedurfte, muß sich die Aufmerksamkeit des päpstlichen Lehramtes heute einer neuen Klasse von Unterdrückten zuwenden. Johannes Paul II. hat dies erkannt, wenn er erklärt: „Das fundamentale Recht auf Leben wird heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten. Wenn die Kirche am Ende des vorigen Jahrhunderts angesichts der damals vorherrschenden Ungerechtigkeiten nicht schweigen durfte, so kann sie heute noch weniger schweigen, wo sich in vielen Teilen der Welt zu den leider noch immer nicht überwundenen sozialen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit noch schwerwiegendere Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen gesellen, die möglicherweise mit Elementen des Fortschritts im Hinblick auf die Gestaltung einer neuen Weltordnung verwechselt werden.“30 Ein erster Schritt zur Verwirklichung dieses Zieles bestünde darin, die Worte Johannes Pauls II. ernst zu nehmen und die Abtreibung als das soziale Problem zu behandeln, das sie ist. Wer sich tatsächlich um Gerechtigkeit und Frieden in dieser Welt kümmern will, der findet, um dies zu tun, keinen geeigneteren Anknüpfungspunkt als die Abtreibungsproblematik. Anmerkungen * Text eines Vortrages beim Symposion der Internationalen Vereinigung für Christliche Soziallehre und des Päpstlichen Rates Justitia et Pax zum Thema „Der Schutz des menschlichen Lebens als Aufgabe der katholischen Soziallehre“ am 15. September 2006 in Rom. Übersetzung: Peter Petzling und Manfred Spieker. 1) Johannes Paul II. schrieb in Sollicitudo Rei Socialis (1), daß in der katholische Soziallehre „angefangen mit dem hervorragenden Beitrag von Leo XIII. und durch die folgenden Beiträge des Lehramtes bereichert, nunmehr ein zeitgemäßes Lehrgebäude gebildet“ wurde. 2) Rundfunkansprache Pius’ XII. zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der Veröffentlichung der Sozialenzyklika Leos XIII. Rerum Novarum, in: AAS 33 (1941), S. 196. 3) Johannes XXIII., Mater et Magistra 15 „In diese geschichtliche Entwicklung hinein stellte Leo XII. mit der Veröffentlichung von Rerum Novarum seine soziale Botschaft. Sie greift zurück auf die Forderungen der menschlichen Natur und entspricht der Lehre und dem Geist des Evangeliums.“ 4) Johannes Paul II., Sollicitudo Rei Socialis, 5 „Zunächst aber möchte ich mich mit dem Datum jener Veröffentlichung befassen: Dem Jahr 1967. Die Tatsache selbst, daß Papst Paul VI. in jenem Jahr den Entschluß faßte, eine eigene Sozialenzyklika herauszugeben, lädt dazu ein, das Dokument in seiner Beziehung zum II. Vatikanischen Konzil zu sehen, das ja am 8. Dezember 1965 abgeschlossen war.“ 5) Benedikt XVI. stellt in Deus Caritas Est seinen eigenen Katalog sozialer Enzykliken auf. Ausgelassen werden hier die Rundfunkansprache Pius’ XII. vom 1. Juni 1941 sowie die von Johannes XXIII. verfaßte Enzyklika Pacem in Terris. Mater et Magistra ist dagegen Teil des Katalogs. In Populorum Progressio nimmt Paul VI. sowohl die Ansprache Pius XII. vom 1. Juni 1941 als auch Pacem in Terris in die Liste der Sozialenzykliken auf. In Laborem Exercens bezieht sich Johannes Paul II. auf Pacem in Terris und erwähnt den Konzilstext Gaudium et Spes, läßt jedoch die Radioansprache Pius’ XII. vom 1. Juni 1941 aus. In Sollicitudo Rei Socialis zählt Johannes Paul II. die Rundfunkansprache Pius’ XII. wieder auf.

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6) Benedikt XVI., Deus Caritas Est 27. 7) In Centesimus Annus verknüpft Johannes Paul II. die Soziallehre der Kirche mit dem von Leo XIII. verfaßten Text und den päpstlichen Dokumenten, die dazu Kommentare liefern: „Das Gedenken, das hier begangen wird, betrifft die Enzyklika Leos zusammen mit den anderen Enzykliken und Schreiben meiner Vorgänger, die mit der Grundlegung und dem Aufbau der ‚Soziallehre’ bzw. des ‚Sozialen Lehramtes’ der Kirche dazu beigetragen haben, Rerum Novarum in der heutigen Zeit gegenwärtig und wirksam zu machen.“ 8) So schreibt Johannes Paul II. in Laborem Exercens 2: „Die Arbeit als menschliche Angelegenheit steht eindeutig im Mittelpunkt jener ‚Sozialen Frage’, der in den fast 100 Jahren seit der Veröffentlichung der genannten Enzyklika die Lehre der Kirche und ihre vielfältigen Initiativen in besonderer Weise galten, die mit ihrer apostolischen Sendung in Zusammenhang stehen.“ 9) Pius XI., Quadragesimo Anno 39. Diese Würdigung erneuerte Johannes XXIII. in Mater et Magistra 26. 10) Johannes Paul II., Centesimus Annus 5. 11) In Sollicitudo Rei Socialis 41 schrieb Johannes Paul II., daß die Soziallehre der Kirche in den Bereich „der Theologie und insbesondere der Moraltheologie“ gehört. 12) Johannes Paul II., Fides et Ratio 85. 13) Pius XI., Quadragesimo Anno 58 und 110. 14) Der Katechismus der katholischen Kirche behält diese Unterscheidung bei und hebt das Adjektiv „unschuldig“ in der Verurteilung besonders hervor: „Der willentliche Mord an einem Unschuldigen ist ein schwerer Verstoß gegen die Menschenwürde, die goldene Regel und die Heiligkeit des Schöpfers.“ (2261) 15) Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum Vitae, Einführung, Ziffer 5. 16) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 17. 17) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 17. 18) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 11. 19) II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 26. 20) Katechismus der katholischen Kirche 1907. 21) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 101. 22) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 72. 23) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 20. 24) Johannes Paul II., Sollicitudo Rei Socialis 42. 25) Katechismus der katholischen Kirche 2448. 26) Röm 13, 1-3; Tit 3, 1. 27) Katechismus der katholischen Kirche 1902, zitiert nach Thomas von Aquin, Summa Theologica I-II, 93,3, ad 2. 28) Johannes XXIII., Pacem in Terris 54: „Die Existenzberechtigung aller öffentlichen Gewalt ruht in der Verwirklichung des Gemeinwohls…“ 29) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 5. 30) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 5.

Thomas D. Williams L.C. ist Professor für Moraltheologie und katholische Soziallehre sowie Dekan der Theologischen Fakultät der Päpstlichen Universität Regina Apostolorum in Rom 182

Helen Alvare

Probleme der Assistierten Reproduktion Aus der Sicht der Katholischen Soziallehre bestehen enge Zusammenhänge zwischen den Normen rechtlich sanktionierter Abtreibungen einerseits und der unregulierten Praxis der Assistierten Reproduktion andererseits.* Die scheinbar geringere Schädlichkeit der auf den Beginn des Lebens konzentrierten Assistierten Reproduktion ist in Frage zu stellen. Ganz wie die Abtreibung stellen die Eingriffe der Assistierten Reproduktion eine akute Bedrohung grundlegender sozialer Normen dar, insbesondere im Hinblick auf die Institution Familie. Da die Assistierte Reproduktion im Vergleich zur Abtreibung geringeren Widerwillen hervorruft, ist die Wahrscheinlichkeit einer beträchtlichen Ausweitung des hiermit verbundenen Marktes nicht zu unterschätzen. Hinzu tritt eine zunehmende Gewöhnung an Methoden, die moralischen Werten entgegenstehen. In mehrfacher Hinsicht spiegeln die Normen der Assistierten Reproduktion jene der gesetzlich sanktionierten Abtreibungen wieder. Die Bereitschaft, menschliches Leben im Namen der Freiheit zu zerstören, steht dabei an erster Stelle. Die Übereinstimmung reicht jedoch weiter. Nach einer Darstellung dieser Kongruenz (I) ist nach den Einflüssen der Assistierten Reproduktion auf Ehe, Familie und Gesellschaft zu fragen (II): Spezifische Aspekte der katholischen Soziallehre werden durch die Assistierte Reproduktion herausgefordert; auch rechtliche Probleme sind zu beachten (III). Schließlich sind die Möglichkeiten realistischer Antworten der katholischen Soziallehre auf die Assistierte Reproduktion unter den Bedingungen der gegenwärtigen Rechtslage und der gegenwärtigen Kultur ins Auge zu fassen (IV). Hierzu gehört die Stellung der Assistierten Reproduktion im geltenden öffentlichen Recht und den für die Eltern-Kind-Beziehung verbindlichen Normen.

I. „Assistierte Reproduktion“ und Abtreibung Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen den Befürwortern der Abtreibung und jenen der Assistierten Reproduktion? Beide sind sich darin einig, daß die Interessen der Erwachsenen über jenen der Kinder stehen, daß also die Starken das Recht hätten, die Schwachen zu beherrschen. „Selbstbestimmung“ (Choice) und nicht etwa Treue oder Verantwortung definiert die Beziehung der Erwachsenen zu den Kindern. Erwachsene sind nicht, wie Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Familiaris Consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute von 1981 (Ziffer 14) schreibt, für die „Gabe einer neuen Verantwortung“ bestimmt, im Gegenteil, die Assistierte Reproduktion vollendet, was die Abtreibung einleitete. Mit der Abtreibung beanspruchen Erwachsene die Macht, über den Tod der Kinder bestimmen zu können. Mit der Assistierten Reproduktion beanspruchen sie die Macht, Leben zu erschaffen bis hin zur Bestimmung seiner genetischen Blaupause. 183

Sowohl die Abtreibung als auch die Assistierte Reproduktion bewerten die Moral einer Handlung aus der Perspektive „bester“ persönlicher Absichten, die höher gewertet werden als die zerstörerischen physischen Taten und deren Konsequenzen. Wie Kardinal Ratzinger in seinem Dokument „über die Zusammenarbeit von Mann und Frau“ schrieb, stehen wir vor einer völligen Verleugnung der Möglichkeit einer naturrechtlichen Ethik. Gott hat uns also in eine Welt versetzt, in der unser Weg nur in Blindheit zu erahnen sei. Wir sind ohne jeglichen Orientierungspunkt. Die Abtreibung ist daher durch die gute Intention der handelnden Person gerechtfertigt. Die klare Erkenntnis, nämlich das manifeste Böse der Tat selbst, wird schlicht ignoriert. Seitdem die Abtreibung rechtlich codifiziert ist, sehen viele keinerlei Schwierigkeiten beim bloßen Experimentieren mit menschlichen Embryonen, bei deren unwillkürlicher Schädigung oder der Trennung der Zeugung vom Liebesakt zwischen den Ehepartnern. Solche Umstände erscheinen als geringer Preis, der durch die Absicht, ein lange gewünschtes Kind zu erzeugen, gerechtfertigt sei. Die Befürworter der Abtreibung und der Assistierten Reproduktion behaupten fest, daß beide Handlungen im Kern privater Natur seien. Auf Seiten der Abtreibung ist dieser Trick erfolgreich benutzt worden – besonders vor Gerichten in den Vereinigten Staaten – obwohl es sich bei der Handlung um die Tötung Dritter handelt. Der Anspruch auf ein privates Recht hat in der Regel zwei Aspekte: Er billigt den Eltern das Recht auf reproduktive und den Ärzten das Recht auf medizinische Entscheidungen zu. Die Anwälte der Assistierten Reproduktion haben mit noch größerem Erfolg das Recht beansprucht, ihr Handeln von staatlicher Überprüfung und Regulierung freizuhalten, indem sie erklärten, daß die Medizin nicht in die Kompetenz des Gesetzgebers falle. Da die Assistierte Reproduktion auch eher für ihre produktive als für ihre zerstörerische Leistung bekannt ist, kommt ihr der beim Recht der Eltern auf Reproduktionsfreiheit geltend gemachte Anspruch auf die Privatsphäre ebenfalls zugute. Jenseits der hier hervorgehobenen Gemeinsamkeiten von Abtreibung und Assistierter Reproduktion bergen die Techniken der Assistierten Reproduktion zusätzliche Gefahren, insbesondere in Bezug auf die Familie, die erste Zelle der Gesellschaft. Sie stellen eine besondere Herausforderung für die katholische Soziallehre dar.

II. Die Verfahren der Assistierten Reproduktion Wer sind die Handlungsträger der Assistierten Reproduktion? Neben dem medizinischen Personal sind dies eine ganze Reihe von Erwachsenen: Individuen oder Paare, die auf legale Weise Eltern eines Kindes werden wollen, möglicherweise ein oder mehrere Spender von Gameten und zuweilen eine Ersatzmutter, welche nur eine Gebärmutter oder Ei und Gebärmutter zusammen zur Verfügung stellt. Während es eine Vielzahl von Methoden für die Befruchtung des weiblichen Eis mit dem Sperma des Mannes gibt, sind die geläufigsten Methoden die In-Vitro-Fertilisation (die Zusammenfügung der getrennt von Mann und Frau gewonnenen Gameten außerhalb des Leibes der Eltern in der Petrischale) oder die Intrauterine Insemination der Frau mit dem Sperma des Mannes. Eine Ersatzmutter kann in beide Methoden involviert sein.

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Über den Kreis verheirateter Paare hinaus haben heute in vielen Ländern sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Einzelpersonen Zugang zur Assistierten Reproduktion. Das gleiche gilt für unverheiratete Paare. Einzelpersonen und Paare können eigene Gameten oder Embryonen nutzen, in den Vereinigten Staaten diese von Freunden oder Familienmitgliedern erhalten oder sie von Fremden käuflich erwerben. Käufe werden über das Internet getätigt oder aber durch Besuch einer Samen- oder Eierbank sowie mit Hilfe eines Fertility-Spezialisten ausgeführt. Gametenspender geben alle Rechtsansprüche auf und entledigen sich aller rechtlichen Verpflichtungen gegenüber ihren natürlichen Kindern. Sie unterzeichnen dazu einen von der Gametenbank oder dem Fertility-Center vorgelegten Vertrag. Die Abweichung vom traditionellen Familienrecht ist nicht zu übersehen. Ist es doch normalerweise ein Grundsatz des Rechts und der behördlichen Praxis, alle gangbaren Mittel und Wege zum Eintreiben der Unterhaltszahlungen beider Elternteile für natürlich gezeugte Kinder zu beschreiten. Hierbei schreckt man auch vor der Abnahme eines Führerscheins, der Einbehaltung von Steuerrückzahlungen oder der Konfiszierung von Immobilien nicht zurück. Der männliche Samen wird normalerweise durch eine pornographisch stimulierte Masturbation gewonnen. Die Anzahl der Samenspenden ist unbegrenzt. Dieser Aspekt der Samengewinnung ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur bisher mit Schweigen übergangen worden. Die Eispendung ist langwieriger und oft schmerzhaft. Sie erfordert eine Serie von Hormonspritzen, die eine Hyperovulation (die Reifung vieler Eier in einem Monatszyklus), Stimmungsschwankungen und andere Risiken hervorrufen. Studien zeigen, daß Eispenderinnen jünger und finanziell schlechter gestellt sind als Eiempfänger; Ersatzmütter zeigen das gleiche Profil. In den USA gehören in 30% aller Fälle die Ersatzmütter einer anderen Rasse an als die Mütter, die das ausgetragene Kind in Pflege nehmen. Britische Untersuchungen haben einen blühenden internationalen Eihandel aufgedeckt, in dem die Eier junger, in Armut lebender Frauen aus der Ukraine und aus Zypern an Frauen in wohlhabenderen westlichen Ländern verkauft werden. In der Regel werden die Preise für Gameten auf der Basis folgender Charakteristika der Spender gebildet: Schönheit, Erziehung, berufliche Leistungen, körperliche Größe und Gesundheitszustand. Über den Zeitraum eines Jahres bin ich im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Erstellung eines Gameten-Spenderprofils mit verschiedenen Fertility-Centern in Kontakt gestanden. Hier zeigte sich, daß der Preis für männlichen Samen wesentlich vom Intelligenzgrad bestimmt ist, während der Preis weiblicher Eier sich am Grad der Schönheit orientiert. Die alte Erfahrung von zweierlei Maß ist auch bei der Klassifizierung von Gameten festzustellen. Von den in der Reproduktionsindustrie erzielten, sehr hohen Profiten erhalten die Spenderinnen den kleinsten Anteil. Obwohl die in den USA an Spenderinnen gezahlten Prämien zwischen 5.000 und 50.000 US-$ liegen – je nach Körpergröße, Bildung und Schönheit – geht der Löwenanteil des Profits an die beteiligten Kliniken und Gametenbanken sowie ihre Ärzte. Der Gesamtumsatz der Reproduktionsindustrie beläuft sich auf mehrere Milliarden USDollar. Eine von Insidern oft zitierte Bemerkung besagt, daß Geld für die verzweifelten Kunden der Assistierten Reproduktion „überhaupt kein Problem“ sei.

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Neue Entwicklungen bei den Techniken der Assistierten Reproduktion führen in ein weiteres moralisches Dilemma: Die Kryokonservierung von Eiern wird jungen Frauen zunehmend als Möglichkeit angeboten, wenn sie den Wunsch haben, ihre Eier aus einer jungen Lebensphase zu konservieren – nicht nur im Angesicht einer Erkrankung, sondern auch dann, wenn sie sich auf eine relativ lange berufliche Karriere vorbereiten, bevor sie Ihren Kinderwunsch realisieren wollen. Die Kryokonservierung von Embryonen, die nach einer In-Vitro-Fertilisation übrig bleiben, ist weit verbreitet. In den USA liegt die Zahl dieser eingefrorenen Embryonen 2006 bei ca. 400.000. Einfrieren sowie Auftauen beschädigt und tötet viele Embryonen. Ein Teil dieses Embryonenvorrats wird destruktiven Forschungszwecken zugeführt; andere werden durch absichtliches Auftauen getötet oder sie werden auf unabsehbare Zeit konserviert. Eine zunehmend verbreitete Technik der Assistierten Reproduktion ist die Präimplantationsdiagnostik. Ursprünglich zur Aussonderung von Embryonen mit Krankheitsdispositionen entwickelt, dient diese Technik heute gesunden Paaren als Mittel der Geschlechtsbestimmung ihrer Kinder. Mit der Zunahme medizinischer Entdeckungen über die Krankheiten verursachenden Gene gibt die Präimplantationsdiagnostik Ärzten die zusätzliche Fähigkeit, Embryonen auszusondern und zu zerstören, wenn sie genetische Schäden aufweisen. Gleichzeitig sind wir Zeugen der Einführung fremder, d. h. nicht elternspezifischer Gene in Embryonen. Der folgenreiche Versuch, Defekte zu korrigieren, nimmt damit seinen Lauf. Die Konsequenzen dieser Techniken für die erzeugten Kinder sind weitgehend unbekannt. Während meiner Zugehörigkeit zum wissenschaftlichen Beirat des „National Institute of Health“ (2000/2001), dem die Aufsicht bei der Vergabe von Projekten zur Embryonenforschung obliegt, habe ich zu meinem großen Erstaunen feststellen müssen, daß selbst dieses hochrangige Forschungsinstitut die verschiedenen Techniken der Assistierten Reproduktion nicht durch Tierversuche getestet hat, obwohl derartige Techniken seit 1978 regelmäßig beim Menschen Anwendung finden. Eine weitere, bisher wenig beachtete Entwicklung ist die Tatsache, daß 35-50% aller Schwangerschaften nach Assistierter Reproduktion zu Mehrlingsgeburten führen. Mehrlingsgeburten aber führen zu schwierigen Entbindungen und zusätzlichen langfristigen Gesundheitsrisiken. Angesichts dieser Risiken raten die Reproduktionsmediziner den Schwangeren, sich einer „Selektiven Reduktion“ zu unterziehen. Dies kommt einer Abtreibung gleich. Ärzte zerstören dann eines oder mehrere der ungeborenen Kinder, je nach Größe, Lage im Uterus oder möglichen Behinderungen, um die Prognose für das Kind oder die Kinder, die übrig bleiben, zu verbessern. Untersuchungen, die zeigen, daß nicht nur Mehrlingsgeburten, sondern auch Einzelgeburten nach künstlicher Befruchtung Schädigungen aufweisen, nehmen zu. In den Vereinigten Staaten liegt die Zahl der Geburten nach künstlicher Befruchtung bei jährlich etwa 50.000.

III. Assistierte Reproduktion in Hinsicht auf Ehe und Familie Der Schlüssel zur Erörterung dieser Herausforderungen ist die Würde der Person, die in der Instruktion der Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden 186

menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung „Donum Vitae“ (1987) zwei verschiedene Perspektiven hat: Die Würde des Kindes zum einen und den konkreten Akt der Zeugung, der notwendigerweise dieser Würde Ausdruck geben muß, zum anderen. Die Würde des Kindes beruht auf seiner Erschaffung nach dem Bilde Gottes. Die menschliche Person steht an höchster Stelle in der Natur. Sie stellt ferner eine Einheit von Leib und Seele dar. Eingriffe in den menschlichen Leib sind stets gemäß dieser Einheit zu bewerten. Wird dem Rechnung getragen, zeigt sich sofort, daß die Assistierte Reproduktion mit der Würde der menschlichen Person nicht in Einklang zu bringen ist. Das Kind wird nicht als Geschenk verstanden, sondern vielmehr erschaffen nach dem Bild des Menschen und im Einklang mit den Normen des Marktes und der entsprechenden Technologie. Eine genetische Blaupause wird gewählt oder auch verworfen. Der Preis für Gameten und Embryonen wird nach den gerade geltenden gesellschaftlichen Präferenzen festgelegt. Die Vielzahl der physischen oder gar experimentellen Eingriffe, denen das Kind ausgesetzt ist, wird selten im Hinblick auf das physische Wohl des Kindes geprüft, ganz zu schweigen von den Wirkungen auf die leib-seelische Einheit des Kindes, die völlig ausgeblendet werden. „Donum Vitae“ zeigt, daß die Assistierte Reproduktion einen weiteren Aspekt der Menschenwürde berührt: Die Weitergabe des menschlichen Lebens. Der Zeugungsakt muß zum Ausdruck bringen, daß Menschen ihren Ursprung in der Liebe Gottes haben – einer selbstlosen und treuen Liebe – und zum Bund mit Gott bestimmt sind. Die einzige Beziehung, in der dies in der Welt, wenn auch unvollkommen, Ausdruck finden kann, ist die Ehe. Die Ehe erlaubt die Zeugung durch einen bewußten und persönlichen Akt menschlicher Liebe. Die eheliche Beziehung ist definiert durch dauerhafte, aufopfernde Liebe und die Fähigkeit, ein Kind im Rahmen dieser Liebe zum Erwachsenen zu erziehen. Im Gegensatz hierzu erfolgt die Zeugung durch die künstliche Befruchtung völlig getrennt vom Akt der Liebe. Die menschliche Person, deren Erschaffung, Reifung und Bestimmung mit der Liebe verbunden sind, tritt nun an einem von der Liebe völlig getrennten Schauplatz ins Leben. Die beiden Aspekte der Menschenwürde sind die Grundlage für die Beurteilung der Assistierten Reproduktion durch die katholische Soziallehre. Angesichts ständig zunehmender Geburten nach künstlicher Befruchtung und neuerer sozialwissenschaftlicher Untersuchungen zur Praxis der künstlichen Befruchtung ist es angebracht, zusätzliche Aspekte der Würde der menschlichen Person zu erörtern. Sieben neue Entwicklungen sind in den Blick zu nehmen. Angesichts der häufigen Inanspruchnahme der Assistierten Reproduktion durch nichttraditionelle Haushalte, z. B. Alleinstehende und homosexuelle Partner, ist das Recht des Kindes auf ein Heranwachsen in einer stabilen, aus zwei Elternteilen unterschiedlichen Geschlechts bestehenden Ehe zu unterstreichen. Der leichte Zugang zur künstlichen Befruchtung für homosexuelle Paare hat in den USA zu einer Rechtsprechung geführt, die zu der Annahme zwingt, sie hätte jegliches Interesse an der Erhaltung des Zusammenhangs von Ehe und Fortpflanzung verloren. Amerikanische Bundesstaaten begründen das Privileg für Ehen von Partnern unterschiedlichen Geschlechts in der Regel mit dem Argument, daß hierin das unabweisbare staatliche Interesse an der Verbindung der Ehe mit der Fortpflanzung Ausdruck findet. Jene Gerichte, die sich für die Gleichstellung homosexueller Paare mit der Ehe einsetzen, 187

betrachten diesen Rechtsvorbehalt mit kaum verhüllter Verachtung. Die Gerichte haben Bundesstaaten des öfteren darauf hingewiesen, daß staatlicherseits die künstliche Befruchtung und die Adoption jedermann zugänglich gemacht werden müsse, unabhängig davon, ob er oder sie ledig oder verheiratet, heterosexuell oder homosexuell sei. Diese Tatsache kommt einer Trennung von Ehe und Fortpflanzung gleich. In dieser Frage findet die katholische Soziallehre wichtige Unterstützung in sozialwissenschaftlichen Studien zum Wohl des Kindes. Eine große Anzahl von Untersuchungen verknüpft das Wohl der Kinder mit der Präsenz stabiler, verheirateter Eltern unterschiedlichen Geschlechts. Obwohl keine vergleichbaren Studien über die Wirkungen gleichgeschlechtlicher Elternpaare existieren, gibt es Grund zur Annahme, daß eine Abweichung von der Normalsituation des Kindes nicht zu ähnlich positiven Resultaten führt. Daraus hätte die Politik Konsequenzen zu ziehen. Die Würde des Kindes spielt auch in jenen Studien eine Rolle, die sich mit den problematischen physischen und psychischen Auswirkungen der Assistierten Reproduktion auf die Kinder befassen. Psychische Probleme werden dann offenkundig, wenn Kinder, die durch anonyme Gametenspenden erzeugt wurden, die Identität ihrer Eltern ausfindig machen wollen. Bisher hat die reproduktionsmedizinische Industrie zu diesem Problem nicht Stellung genommen. Es ist auch unklar, ob in den Informationsmaterialien über die Einverständniserklärung, die Eltern zu unterzeichnen haben, auf dieses Problem hingewiesen wird. In jedem Fall wird dieses Problem nicht im Hinblick auf das Wohl des Kindes diskutiert. Die Entwicklung der Praxis der Assistierten Reproduktion in den letzten zwei Jahrzehnten gibt Anlaß, dringende Fragen im Hinblick auf die Bewahrung der Menschenwürde der Frau zu stellen, die sich dieser Prozedur unterzieht. Es liegt eindeutiges Beweismaterial zum internationalen Handel mit den Eiern verarmter Frauen zum Nutzen wohlhabender Frauen vor. Die zur Herbeiführung der Eireifung eingesetzten Methoden tragen viele Risiken in sich. Ein informiertes Einverständnis der Frauen, die ihre Eier spenden, liegt oft nicht vor. Entscheidend bleibt jedoch, daß der finanzielle Anreiz ärmere Frauen dazu veranlaßt, die Risiken einer Eispende auf sich zu nehmen. Es ist ferner bekannt, daß die Eier nach der physischen Schönheit der Spenderin bewertet und gehandelt werden. Schönheit, Erziehung und der Nachweis einer erfolgreichen Schwangerschaft bestimmen dann den Preis der Ware „Menschenei“. Ein weiterer Trend der Assistierten Reproduktion – die hohen und ständig wachsenden Kosten – zeigt der katholischen Soziallehre, daß sie sich nicht vor deutlichen Worten zum Problem des Konsumismus scheuen darf. Die Berichterstattung der Medien hat in der amerikanischen Öffentlichkeit den Eindruck entstehen lassen, daß gesunde Babys mit dem gewünschten Geschlecht auf Bestellung für wohlhabende Eltern produziert werden können. Neue Techniken der Assistierten Reproduktion werden zunehmend auch dann benutzt, wenn keine Unfruchtbarkeit vorliegt. Dies erlaubt es den Eltern, eine größere Rolle bei der Bestimmung der Eigenschaften des Kindes zu spielen. In diesen Bereich fallen die Präimplantationsdiagnostik zur Vermeidung der Geburt behinderter Kinder, aber ebenso zur Geschlechtsauswahl zwecks „Family balancing“, d. h. der Wahl des Geschlechts des Kindes unter dem Vorwand, die Geschlechter zwischen den verschiedenen Kindern ausgleichen zu müssen. Mit der wachsenden Zahl der 188

Gametenspender ist ein deutlicher Zuwachs an künstlichen Befruchtungen zu verzeichnen. Damit vergrößert sich auch die Skala der Preise und der Bewertungen. Die Assistierte Reproduktion ermöglicht die Geburt von Kindern mit Erbanlagen, die nicht von den biologischen Eltern stammen. Die Geburt geklonter menschlicher Wesen zeichnet sich als eine wahrscheinliche Entwicklung ab. Die Lehre der katholischen Kirche über den transzendenten Ursprung der menschlichen Person und über die Kluft zwischen göttlicher und menschlicher Vernunft bedarf dringend der Verbreitung. Es gilt, das Humanum der Person nicht dem Ansturm rein menschlicher Manipulationen auszuliefern. Die Auswirkungen der Assistierten Reproduktion auf die physische und psychische Gesundheit der Kinder sowie die Sackgasse der Geschlechtsauswahl (am Beispiel der dramatischen Asymmetrie der Geschlechter in China und Indien) müssen zu Bewußtsein gebracht werden. Eine weitere Entwicklung mit Konsequenzen für die Gesetzgebung und die Praxis der Assistierten Reproduktion ist der Bevölkerungsrückgang, der vor allem in westlichen wohlhabenden Nationen weit verbreitet ist. Einerseits führt dieser Bevölkerungsrückgang zu einer größeren Aufmerksamkeit für die öffentlichen Konsequenzen individueller Entscheidungen bzgl. der Fortpflanzung. Keine Gesellschaft und keine Kultur existieren ohne Fortpflanzung. Andererseits verschärft diese Entwicklung die Tendenz, Kinder rein instrumental zu betrachten als notwendige Güter für den ökonomischen Fortschritt oder die Bewahrung der Kultur. Es ist dann nur folgerichtig, daß einige Nationen derzeit staatliche Mittel für die Nutzung der Assistierten Reproduktion und als Teil einer Bevölkerungspolitik einsetzen. Unter solchen Bedingungen dürfte der Kindern einwohnende Wert, ihre Existenz als ein Geschenk zu sehen, für das Erwachsene Verantwortung übernehmen, völlig verloren gehen. Von großer Bedeutung ist schließlich die Tatsache, daß der gesamte Bereich der Assistierten Reproduktion sich in manchen Ländern seit mehreren Jahrzehnten ohne Aufsicht und nur mit minimaler gesetzlicher Regelung entwickelt hat. Die Experten der künstlichen Befruchtung, wie auch eine breitere Öffentlichkeit sind zunehmend davon überzeugt, daß in diesem Feld keine gesetzliche Überprüfung geboten ist. Um dem entgegenzutreten, ist die katholische Soziallehre gefordert. Die Aufgabe ist von hoher Dringlichkeit. Der letzte Teil dieser Ausführungen ist den entsprechenden Möglichkeiten und Grenzen der katholischen Soziallehre auf diesem Feld gewidmet.

IV. Trends der Familienpolitik und die Antwort der Kirche Die Lehre der Kirche zur Assistierten Reproduktion stößt gegenwärtig ebenso wie die Lehre zur Empfängnisverhütung auf einen ausgeprägten Unwillen. Dies hat zur Folge, daß auch die Lehre der Kirche zum Naturrecht und zur Sexualität, insbesondere zum Geschlechtsverkehr nicht beachtet wird. Weitgehend abgelehnt wird die natürliche Einheit von geschlechtlicher Vereinigung und Fortpflanzung. Insbesondere in der Assistierten Reproduktion wird der notwendige Zusammenhang von Liebe und neuem Leben verneint. Der Unwille, Liebe so zu verstehen, wie Benedikt XVI. sie in seiner großartigen Enzyklika „Deus Caritas Est“ dargelegt hat, führt zu weiteren Problemen. Benedikt schreibt in dieser Enzyklika selbst, daß sich der Leser zunächst von seiner Neigung befreien muß, Liebe allein mit Emotionen und sexueller 189

Verzückung zu identifizieren, bevor er dazu übergehen kann, die Liebe als das darzustellen, was sie in ihrem Kern und von Natur aus ist: Dauerhaft und treu auf das Wohl des anderen ausgerichtet sein. In keinem anderen Bereich läßt sich deutlicher zeigen, wie der Mensch das verfälscht, ja verunstaltet hat, was seinen wahren Ursprung und seine Bestimmung ausmacht, nämlich Liebe. Durch die Empfängnisverhütung wird die grundlegende Beziehung von Mann und Frau gestört, wenn die Fortpflanzung von ihrer geschlechtlichen Vereinigung getrennt wird. Die Assistierte Reproduktion ermöglicht Leben völlig getrennt von der liebenden Vereinigung von Mann und Frau zu erzeugen. Die Liebe zwischen Mensch und Gott ist ebenfalls betroffen. Das dem menschlichen Leib eingeschriebene göttliche Gesetz wird abgelehnt und damit auch der von Gott vorgegebene Weg zur Weitergabe des Bildes Gottes an die menschliche Person. Die Assistierte Reproduktion zielt darauf ab, den Menschen nach dem Bild des Menschen zu machen, nicht nach dem Bilde Gottes zu zeugen. Oft wird die Frage gestellt, worin denn das Übel bestehe, wenn Mittel der Empfängnisverhütung oder der künstlichen Befruchtung benutzt werden. Wenn ich diese Frage beantworte, möchte ich die Erfahrungen von Frauen meiner eigenen Generation, selbst von Freundinnen heranziehen. Sie haben in vorehelichen Beziehungen Kontrazeptiva benutzt und in manchen Fällen auch Samen von Spendern käuflich erworben, um Kinder ohne Ehemänner zu bekommen. Wenn ich ihre Ehen und ihre schönen, künstlich erzeugten Kinder sehe, kann ich verstehen, wenn viele sagen, das waren gute Entscheidungen. Aber sowohl bei der Empfängnisverhütung als auch bei der Assistierten Reproduktion zeigen sich die schädlichen Konsequenzen erst nach einer längeren Frist. Die Empfängnisverhütung hat längerfristig zu einer radikalen Abkopplung der Fortpflanzung von der Sexualität geführt, zu einem enormen Zuwachs des außerehelichen Geschlechtsverkehrs und damit verbundener Schwangerschaften und Abtreibungen und zu einer weit reichenden Sexualisierung von Jugendlichen. Immer deutlicher wird die Erkenntnis eines Zusammenhangs von vorehelichem Geschlechtsverkehr und Scheidung, von gesundheitlichen Schäden bei der Frau und die staatliche Bereitschaft, die Empfängnisverhütung zur Einschränkung der Fortpflanzung bestimmter Teile der Bevölkerung einzusetzen. Die amerikanische Regierung hat den rezeptfreien Verkauf hoch dosierter Empfängnisverhütungspillen selbst an ältere Männer erlaubt, die sie für ihre minderjährigen Sexualpartner kaufen. Als Reaktion hierauf ist immerhin eine größere Bereitschaft festzustellen, die Fragwürdigkeit und darüber hinaus auch die soziale Schädlichkeit der Empfängnisverhütung zu sehen. Im Hinblick auf die Assistierte Reproduktion, die ihre langfristigen ökonomischen Ziele und menschlichen Konsequenzen immer deutlicher offenbart, scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein, wo die katholische Soziallehre deutlich Stellung nehmen muß, zumal das Klonen am Horizont auftaucht. Einige Entwicklungen im Familienrecht sind hier ermutigend. Sie lenken sowohl die Gesetzgebung als auch die praktische Sozialarbeit in eine kindzentrierte und ehefreundliche Richtung. Man könnte darin eine Rückkehr zu den Gesetzen und Normen des frühen 20. Jahrhunderts sehen. Eltern werden gedrängt, zuallererst auf die Interessen der Kinder zu achten, uneheliche Schwangerschaften zu vermeiden, sich um die Stabilität der Ehen zu 190

bemühen und auch im Falle von Scheidungen kooperative Beziehungen zu pflegen. Große rechtliche Anstrengungen werden gemacht, um beide biologischen Eltern emotional und finanziell an ihre Kinder zu binden. Wenn solche Maximen zur Respektierung natürlich gezeugter Kinder bemüht werden, fragt sich, ob ein derartiger Respekt nicht auch den künstlich erzeugten Kindern gebührt. Eine große Zahl von Erwachsenen und Kindern ist unzufrieden mit dem Familienrecht und seinen Normen. Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Wohlbefinden von Eltern und Kindern beschäftigen, haben dieser Unzufriedenheit ein empirisches Profil zukommen lassen: Leichte Scheidungen, uneheliche Elternschaft, vaterlose Haushalte und Kohabitation verursachen das Mißbehagen. Um dem entgegenzuwirken, sind erstmals in der amerikanischen Geschichte öffentliche Mittel für Vaterschaftsprogramme, sexuelle Enthaltsamkeit und Programme zur Ehevorbereitung eingesetzt worden. Der Kontrast zur Assistierten Reproduktion könnte nicht stärker ausfallen, arbeitet die Assistierte Reproduktion doch mit einem offen zugegebenen Konzept der Trennung von Fortpflanzung und Ehe. Sie gibt dem Verlangen der Eltern nach einem Kind Vorrang vor dem Wohlergehen des Kindes und agiert so, als seien die Beziehungen der Eltern zu den Kindern am besten mit dem Begriff „Recht“ statt mit dem Begriff der „Verantwortung“ zu beschreiben. Die Assistierte Reproduktion weist den selbstverständlichen Vorrang zurück, den die Gesellschaft immer den biologischen Eltern gegenüber den „als ob – Eltern“ eingeräumt hat. Die der Assistierten Reproduktion innewohnenden Normen stehen in einer engen Verbindung mit vielen Gesetzen und Gewohnheiten, die uns am Ende des 20. Jahrhunderts überrollt haben. An diese Entwicklungen sei noch einmal kurz erinnert: Leichte Scheidungen, leichter Zugang zu Verhütungsmitteln auch für ledige und minderjährige Personen, Abtreibung auf Verlangen und in jüngster Zeit die rechtliche Anerkennung des ehelosen Zusammenlebens und der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Dies führt zum Anstieg und zur Billigung unehelicher Geburten und verschiedenster, nicht traditioneller sexueller Beziehungen sowie zur Abnahme der Eheschließungen und der Geburtenraten. Als Amerikanerin sollte ich hinzufügen, daß zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst Sodomie zu einem verfassungskonformen Recht erklärt wurde. Der Trend geht dahin, die Interessen der Erwachsenen über die der Kinder zu stellen, die Fortpflanzung von der Sexualität zu trennen, den Nutzen einer zunehmenden Kontrolle über die Fortpflanzung zu betonen, die Rechte des Individuums über Gruppenrechte zu stellen und die Werte der Selbsthingabe abzuwerten. In dieser Entwicklung spiegeln sich die Normen der Assistierten Reproduktion. Eine letzte Tendenz sei hier noch erwähnt: Die traditionelle Bereitschaft, verbindliche Normen für die Familie aus deren gewachsener Gestalt abzuleiten, ist geschwunden. An Ihre Stelle trat die Neigung, Entscheidungen, die für die Familie höchste Bedeutung haben, an technische Experten abzutreten. Auf diese Weise ergänzen und bestärken sich die Assistierte Reproduktion und das moderne Familienrecht sowie Familienformen gegenseitig in ihren schlechtesten Trends. Darüber hinaus steht die Lehre der Kirche zur Assistierten Reproduktion vor 191

zusätzlichen Hindernissen. Die Hybris und der Widerstand von Wissenschaftlern gegen „Einmischungsversuche“ von Laien sind im Zeitalter der Gentechnologie größer denn je. Der intensive und manchmal verzweifelte Wunsch von Paaren, „eigene“ Kinder zu haben, ist ebenfalls ein Hindernis für die Verbreitung der Lehre der Kirche zur Assistierten Reproduktion. Die Medien berichten immer wieder von der Verzweiflung und der Dankbarkeit ehemals unfruchtbarer Frauen. „Ich fiel auf meine Knie und weinte“ berichtet eine Frau, die sich einer In-Vitro-Fertilisation unterzogen hat, die zu einem 10-zelligen Embryo führte, auf dessen Implantation in die Gebärmutter sie nun wartet. Angesichts solcher Emotionen lassen sich Eltern durch noch so hohe Kosten für die Assistierte Reproduktion nicht abschrecken. Die Annahme der Lehre der Kirche über die künstliche Befruchtung ist auch durch die wachsende Nachfrage von Seiten unfruchtbarer Paare erschwert. Denn der Markt für die Assistierte Reproduktion basiert auf der Legalisierung gesellschaftlicher Gebräuche, die sich aus der Unfruchtbarkeit ergeben. Sie schließen voreheliche Promiskuität, hohe Raten sexuell verbreiteter Krankheiten, Abtreibung, das Hinausschieben der Eheschließung und der Schwangerschaften und homosexuelle Partnerschaften ein. Dies macht es nicht nur schwieriger, dem sehnlichen Wunsch von Paaren nach Kindern entgegen zu treten, es wird nahezu unmöglich, bestimmte Praktiken der Assistierten Reproduktion zu bekämpfen, ohne gleichzeitig eine Vielzahl anderer in der Gesellschaft üblicher Praktiken in Frage zu stellen. Einerseits ist unter Katholiken, erst recht in einer weiteren Öffentlichkeit, die Kenntnis der Lehre der Kirche zur Assistierten Reproduktion wenig verbreitet. Eine Vielzahl von Katholiken in den Pfarrgemeinden, selbst Professoren und Pro LifeAktivisten, haben die Technik der künstlichen Befruchtung selbst benutzt. Hier ist viel zu tun. Andererseits sind wir heute in einer sehr viel besseren Lage, die Lehre der Kirche zur künstlichen Befruchtung dank der von Johannes Paul II. geprägten Theologie des Leibes zu verbreiten. Sie enthält das, was Amerikaner einen „grass routes appeal“ nennen, das heißt, einen Appell, den jeder versteht. Er hat viele Katholiken erstmals befähigt, für die Verbreitung der Lehre der Kirche über die künstliche Befruchtung das notwendige Vokabular und die notwendigen Begriffe zu benutzen. Anmerkung * Text eines Vortrages beim Symposion der Internationalen Vereinigung für Christliche Soziallehre und des Päpstlichen Rates Justitia et Pax zum Thema „Der Schutz des menschlichen Lebens als Aufgabe der katholischen Soziallehre“ am 15. September 2006 in Rom. Übersetzung: Peter Petzling und Manfred Spieker.

Helen Alvare ist Professorin für Familienrecht an der Juristischen Fakultät (Columbus Law School) der Katholischen Universität der Vereinigten Staaten in Washington. Sie war lange Zeit die Sprecherin des Pro Life-Sekretariats der Amerikanischen Bischofskonferenz.

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Ursula Nothelle-Wildfeuer

Auf Kosten unserer Kinder? Der Wert der Familie zwischen Ethik und Ökonomie Familie hat einen Wert – ohne Zweifel. Kein Wahlkampf, kein Politikerstatement, keine ernstzunehmende unternehmensethische Überlegung ohne Verweis auf den Wert der Familie. Stichworte wie Humankapital und Elterngeld belegen es doch! Aber ist Familie auch ein Wert? Ist sie uns, ist sie der Gesellschaft wertvoll? Steht sie um ihres Selbstwertes oder um ihres ökonomischen Wertes willen im Mittelpunkt des Interesses? Zugegeben, ein plakativer Gegensatz, der so auch nicht aufrecht erhalten werden wird, aber er führt uns an die Problematik heran, im Zentrum des Interesses steht: Welche Dimensionen von Familie stehen bei der gegenwärtigen Familienpolitik im Vordergrund, welche Aspekte muß eine Familienpolitik berücksichtigen, wenn sie einem anthropologisch umfassenden, christlichen Verständnis von Familie gerecht werden will? Um der Beantwortung dieser Fragen etwas näher zu kommen, werde ich in einem ersten Schritt das Anliegen der Familienpolitik aus sozialethischer Perspektive bedenken, sodann mich der Frage nach den sozialethischen Grundlagen widmen, bis dann schließlich im dritten Schritt die Konsequenzen aus den vorherigen Überlegungen gezogen werden. Aus christlich-theologischer Perspektive – und das ist die fundamentale Perspektive, die ich als christliche Sozialethikerin hier einnehme – ist Familie die auf einer sakramental geschlossenen Ehe beruhende Lebensgemeinschaft von beiden Eltern mit ihren (heranwachsenden) Kindern.1 Das Proprium christlicher Sozialethik besteht nun geradezu in der Frage danach, was wir auf der Basis des christlichen Menschenbildes Genuines zur Gestaltung und zum Gelingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen beitragen können. Dabei muß natürlich das gesamte Spektrum dessen in den Blick genommen werden, was es in unserer pluralistischen Gesellschaft – sei es aufgrund von freier Entscheidung, sei es aber auch aufgrund von Schicksalsschlägen und nicht selbst zu verantwortenden Entwicklungen – an vielfältigen Familienformen gibt. Natürlich ist es das Ziel, die rechtlichen und sozialen Lebensbedingungen für Familien in unserer Gesellschaft so zu gestalten, daß es möglichst vielen erstrebenswert erscheint und auch gelingen kann, Familie im oben beschriebenen christlichen Sinn zu gründen und zu leben. Aber da gerade das christliche Menschenbild für sich in Anspruch nehmen kann, ein realistisches zu sein, gilt es gleichzeitig, das Licht der frohen Botschaft von dem Gott, der Liebe ist (Deus caritas est) in alle Verhältnisse, auch und gerade in die, die diesem Anspruch des christlichen Ideals nicht entsprechen und genügen können, hineinstrahlen zu lassen.

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I. Das Anliegen der Familienpolitik Die Ausgangslage ist klar und allenthalben bestens bekannt: Der demographische Wandel ist unübersehbar, gleichwohl wir erst die Spitze des Eisbergs erkennen können, Deutschland ist inzwischen ein äußerst kinderarmes Land, die Geburtenrate sinkt stetig – Deutschland hat mit derzeit 1,35 Kinder pro Frau (manche Statistiken sprechen schon von 1,29) eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU. Ein Drittel der heute 40-Jährigen hat keine Kinder, bei den Akademikerinnen sind es sogar über 40 Prozent.2 Es gibt hinreichend bekannte soziologische Phänomene, die in dieser Frage eine bedeutende Rolle spielen und die sich auch empirisch erheben lassen wie etwa die gestiegene Zahl der Scheidungen, der Ein-Eltern- und Patchwork-Familien etc. 1.1 Wider eine individualethische Verengung: Die Sorge um soziale Strukturen und deren Gerechtigkeit für Familien Die beschriebene demographische Krise bildet den Ausgangspunkt unserer Überlegungen und auch Anstoß für viele neuerdings laut werdende Überlegungen zur Familienpolitik. Im Blick auf die skizzierte Problematik der niedrigen Geburtenrate und der fehlenden Bereitschaft, Elternverantwortung zu übernehmen, lassen sich gegenwärtig zwei unterschiedliche Reaktionsmuster ausmachen: Ein erstes Reaktionsmuster besteht in der Analyse und Suche nach Ursachen dieser Entwicklung. Die beschriebenen Tatsachen werden dabei vielfach und – so kann man mit dem Ökonom Gerhard Kleinhenz zu Recht kritisieren – vorschnell interpretiert als „Bestätigung der Hypothesen zum Wertewandel“, womit dann auch konsequent (in monokausaler Erklärung) „das Ende der Familie infolge der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen“ (Kleinhenz 1995, 114) vorhergesagt wird. Bei dieser Analyse und Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt allerdings das Ergebnis anderer, weiter differenzierender empirischer Erhebungen völlig außer acht: Immer wieder zeigen Umfragen wie z.B. die Shell Jugendstudie von 2002 in den Antworten junger Menschen, daß diese der Ehe und Familie – eine Lebensform, die gegenwärtig oft genug als Auslaufmodell partnerschaftlicher Lebensgestaltung bezeichnet wird – nach wie vor in ihrem individuellen Lebensentwurf hohe, ja, nimmt man nur den privaten Bereich in den Blick, sogar höchste Priorität einräumen. „75% der weiblichen und 65% der männlichen Jugendlichen meinen, daß man eine Familie zum ‚Glücklich sein’ braucht. Neben ‚Karriere machen’ (82%) steht ‚Treue’ mit 78% ganz oben auf der Skala der Dinge, die von den Jugendlichen heute als ‚in’ bezeichnet werden. Über zwei Drittel der Jugendlichen wollen später eigene Kinder – in den neuen Bundesländern mit 76% sogar noch mehr als mit 64% in den alten Ländern.“ (http://www.shell-jugendstudie.de/he_02_familie.htm, abgefragt am 1.5.2003.) Allerdings muß man auf der anderen Seite realistisch feststellen, daß Wunsch und Wirklichkeit stark auseinander klaffen, die tatsächlichen Geburtenzahlen bleiben deutlich hinter den artikulierten Wünschen junger Menschen zurück. 194

Kinderwunsch und „Kinder bekommen“ sind demnach zwei sehr unterschiedliche Dinge. Daß nach den Ursachen dafür geforscht werden muß, liegt auf der Hand. Abgesehen davon, daß sich hinter diesen Problemen immer auch das Scheitern von Lebensplänen, tragische Schicksale und individuelles Leid verbergen, lassen Umfang und Art der Probleme auch auf Ursachen schließen, die jenseits eines individuellen Fehlverhaltens liegen. Der renommierte Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg konstatiert, daß ein entscheidendes Problem in „den objektiv schwieriger gewordenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Leben in einer Partnerschaft oder Familie“ liegt. „Beruflicher Erfolg und die Gründung einer Familie schließen sich in unserer Wirtschafts- und Konkurrenzgesellschaft gegenseitig aus, unser Gesellschaftstyp macht aus Lebensläufen Hindernisläufe.“ (Birg 2005, 87.) Rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Erwartungen und Gesetze der modernen Gesellschaft und ihrer Systeme sind mithin darauf hin zu befragen, inwieweit sie mitverantwortlich sind (vgl. WelskopDeffaa 2001, 1), bzw. inwieweit sie förderlich sind für die Wahrnehmung der entsprechenden Aufgaben. Eine erste sozialethische Einsicht ist hier zu formulieren: Es geht mithin weder darum, sich einfach den Sachzwängen zu beugen, die durch die demographischen Verhältnisse gegeben sind, noch die Problematik allein individualisierungstheoretisch und individualethisch auf der Ebene des Wertewandels zu behandeln. Vielmehr fordert die Frage nach den Strukturen, nach dem soziostrukturellen Bedingungsfeld allen Handelns die Sozialethik heraus, nach den Strukturen und deren Gerechtigkeit zu fragen. Familienförderung stellt sich mithin sozialethisch als Aufgabe der sozialen Gerechtigkeit dar. Genauerhin geht es folglich um die Frage, wie die Konditionen für Familien zu gestalten sind, damit sie gesellschaftlich nicht benachteiligt sind, sondern im Sinne einer Beteiligungsgerechtigkeit an allen gesellschaftlichen Vorgängen partizipieren können (vgl. Nothelle-Wildfeuer 1999, 261). 1.2 Wider eine funktionalistische Verengung: Die Sorge um die Ermöglichung einer Kultur des Lebens Das zweite, heute vorrangig in der Politik anzutreffende Reaktionsmuster auf die demographische Problematik analysiert nicht primär die Gründe für diese Entwicklung, sondern sucht vorrangig nach Lösungen. Sowohl im Diskurs der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als auch der Wissenschaften, wie er gegenwärtig in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft geführt wird, dokumentiert sich derzeit dieses Reaktionsmuster, ist doch Familie, ihre Förderung und Unterstützung, ein auf den ersten Blick zunehmend bedeutsames, ja sogar vorrangiges Thema: Es gab in der jüngeren Vergangenheit einige Urteile des Bundesverfassungsgerichts im Bereich Familie, es gab die Erhöhung des Kindergeldes sowie die beiden Familienförderungsgesetze unter der rotgrünen Bundesregierung, aktuell werden Themen wie etwa Kinderbetreuung, Ganztagsangebot bzw. -schule oder die Initiative zum Elterngeld diskutiert – all dies dokumentiert, daß die Familien, ihre sozialanthropologischen und kulturellen Leistungen sowie ihre Bedeutung für die Gesellschaft zunehmend in den 195

Blickpunkt der Öffentlichkeit gelangt sind. Geht es dabei aber um mehr als nur um Stimmenfang oder um das wohlwollende Austeilen kleinerer Staatsgeschenke, um die Aufmerksamkeit von anderen Problemen und Einschnitten abzulenken? Geht es wirklich um eine Förderung der Familie, weil sie auch einen entscheidenden Beitrag zur Gesellschaft, zum gesellschaftlichen Gemeinwohl – zumeist unerkannt und im Stillen – leistet, geht es also um ein Querschnittsthema, das bei allen sozial- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen und Entscheidungen als entscheidendes Kriterium vorzuschalten ist? Man kann sich insgesamt des Eindrucks nicht erwehren, daß Familienpolitik, zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum zentralen Punkt jedes politischen Programms geworden, in der Gefahr steht, aus Gründen der Opportunität und in Orientierung am herrschenden „Zeitgeist“ verzweckt und funktionalisiert zu werden (vgl. Genosko 1993): Man hat sicher richtig erkannt, daß Familienfreundlichkeit einen wesentlichen Beitrag leisten kann zur Ausgestaltung des Arbeitsmarktes in einer den heutigen Erfordernissen angepaßten Weise; man hat ferner erkannt, daß Familienpolitik notwendig ist, um Familien zu unterstützen, ihre für das Funktionieren der Wirtschaft konstitutive Rolle bei der Bildung von „Humankapital“ bzw. „Humanvermögen“ zu erfüllen. Man hat schließlich klar gesehen, daß Familienfreundlichkeit und familienorientierte Politik aus bevölkerungspolitischer Perspektive einen hilfreichen, wenn nicht sogar notwendigen Beitrag leisten könnte zur Verbesserung der Situation im Sozialversicherungssystem bzw. zu dessen Aufrechterhaltung. All diese politisch-pragmatischen und ökonomischen Aspekte haben – und das sei hier klar betont – zweifelsohne auch ihre Berechtigung, dürfen aber aus christlich-sozialethischer Perspektive keinesfalls vorherrschendes oder gar alleiniges Kriterium werden: Denn gegen diese Verzweckung der Familienpolitik ist ein nicht abweisbares Argument anzuführen: „alle Leistungen, die im gesellschaftlichen und staatlichen Interesse von der Familie erwartet werden ..., sind politisch nicht herstellbar, ja nicht einmal im Sinne gezielter Familienpolitik isoliert ansteuerbar“ (Baumgartner 1995, 59), denn Prozesse und Leistungen in der Familie ergeben sich aus der gesamten Lebenssituation und dem Lebensgefühl der Familie, nicht aus isolierten, isolierbaren und kalkulierten Entscheidungssituationen. Die Eigenart der Familie muß geachtet werden, die genannten Dimensionen des Ökonomischen und Politisch-Pragmatischen dürfen nicht in den Kern der Familie eindringen, die Familie darf nicht ökonomisiert bzw. politisiert werden – der Rechtswissenschaftler Dieter Schwab hat bereits vor mehr als 10 Jahren in einer Regensburger Universitätsrede vor der Verrechtlichung der Familie gewarnt unter dem Titel „Konkurs der Familie“ (zit. nach Baumgartner 2002, 17). Diese dramatische Befürchtung ist mit einigem Recht auch zu übertragen auf die Bedrohung der Familie durch die Ökonomisierung und Politisierung, die in der aktuellen Familienpolitik immer wieder durchzuscheinen droht.3 In diesen Kontext der Überlegungen zur Bewahrung der Eigenart der Familie gehört auch zumindest ein kurzer Verweis auf die seit einiger Zeit intensiv geführte politische, gesellschaftliche und ethische Debatte um die Möglichkeit eines Familienlohns.4 Um es vorab zu sagen: Hier scheint mir durch die Ökono196

misierung die Eigenart der Familie nicht genügend geachtet zu werden. Der Gerechtigkeitsperspektive, die hier argumentativ angeführt wird, kommt an dieser Stelle noch einmal eine ganz eigene Qualität zu, wird hier doch in letztlich streng rechnerischer Absicht eine möglichst angemessene Gegenleistung eingefordert. Es gibt eine - hier nicht darstellbare - Vielzahl von Modellen, die sich unterscheiden hinsichtlich der Dauer, der Höhe der Zahlungen, der Grundlage der Berechnung, der Differenzierungsmöglichkeiten etc. (vgl. dazu u.a. Opielka 2000). Prinzipiell setzen aber alle diese Modelle an bei der Erkenntnis, daß das traditionelle Modell der Versorge- oder Hausfrauenehe in der Gegenwart sehr an Bedeutung verloren hat; daß also und warum es notwendiger denn je erscheint, beiden Elternteilen tatsächlich durch entsprechende Rahmenbedingungen – hier sind auch finanzielle Aspekte zu bedenken – die Chance zu geben, frei zu wählen, wie sie beide für sich die Aufteilung zwischen der Erwerbstätigkeit und der Familienarbeit vornehmen wollen. Aber: Familienarbeit zu einem Beruf, einem Job – anderer Erwerbstätigkeit vergleichbar und somit nach zeitlichem Umfang und Inhalt definiert – zu erklären, was de facto mit der Zahlung eines Lohnes passiert, erscheint mir ein zwar effektvoller, aber bleibender Kategorienfehler zu sein. Abgesehen von den eher pragmatischen, aber dennoch fundamentalen Fragen nach dem Arbeitgeber, nach der Grundlage der Berechnung, nach der Überprüfbarkeit und Rechenschaftspflicht, nach der „Arbeitsplatzbeschreibung“ und den Vorgaben, signalisiert dieses Denken den bedauerlichen Erfolg des gegenwärtigen Trends, fasziniert von der „Effizienzlogik von Markt und Wettbewerb“ davon auszugehen, daß die Ökonomie das entscheidende, wenn nicht sogar das einzige Leitsystem der modernen Gesellschaft wird (vgl. Höhn 2000, 419). Familienarbeit – wie übrigens ehrenamtliche Arbeit auch – zeichnet sich jedoch gerade durch eine völlig andere Qualität als die Erwerbsarbeit aus, da sie doch in der Regel motiviert ist durch Liebe und Zuneigung zum Kind, „die auch durch ihre Bindung an ethische Grundlagen eine spezifische Dignität aufweist“ (Lampert 2002, 109, Anm. 61). Sie ist auch aus der Perspektive der Existenz der Gesellschaft unverzichtbar, wird aber in dieser Qualität des Gemeinwohlbezugs vollständig nivelliert, wenn sie bemessen und gewertet wird nach dem Maß ökonomischer Rationalität. Eine Entlohnung von diesen familialen Leistungen zu fordern, scheint den Verlust der solidarischen Grundkonstruktion unserer Gesellschaft zu befördern. – Um nicht mißverstanden zu werden: Familien leisten unschätzbare Arbeit für das Gemeinwesen. Die Kosten für diese Arbeit, von der alle profitieren, dürfen nicht länger privatisiert werden. Die Familien dürfen zumindest nicht noch einen Schaden durch ihre Arbeit haben und – um es salopp zu formulieren – „draufzahlen“. Sie müssen aus sozialethischen, im Weiteren noch näher zu erläuternden Gründen entsprechende finanzielle Unterstützung erhalten. Familie scheint also durch die vielfältig zu beobachtenden Tendenzen in ihrer Substanz bedroht. Diese Substanz und gleichzeitig ihr einmaliger Wert für die Gesellschaft läßt sich eben nicht wirtschaftlich berechnen, sondern vielmehr beschreiben mit Begriffen wie Liebe, Vertrauen, Rücksichtnahme, Hochherzigkeit und Großzügigkeit, Wärme und Hilfsbereitschaft; Papst Johannes Paul II. 197

spricht zur Umschreibung all dieser Aspekte zusammenfassend von einer „Kultur des Lebens“, die die Familie prägt – das alles sind Dimensionen und Elemente, die sich einer ökonomischen und politischen Funktionalisierung entziehen. Sowohl ein freiheitliches Wirtschaftssystem als auch der freiheitliche Staat als auch die Gesellschaft bedürfen notwendig der Familie, gerade ihrer pro-sozialen Lebenskultur und der in ihr erbrachten Leistungen. Die Familie nimmt die fundamentale und unverzichtbare Aufgabe der „Humanisierung der Gesellschaft“ wahr und zwar bereits dadurch, „daß sie den Zwängen und Imperativen einer an Mittel/Zweckrationalität und Effizienz orientierten Logik eine andere Logik entgegensetzt, die Logik des Sein-Dürfens, des Angenommen-Seins, der reinen Selbstzwecklichkeit, auch die Logik des Schenkens und des Liebens. Familie stellt in diesem Sinne einen humanitären Bereich innerhalb unserer Gesellschaft dar, gleichsam ein Gegenbild gegenüber der zweifellos wirkmächtigeren Logik der Verwertung.“ (Kissling 1998, 41; vgl. auch Burkart 2001.) Hinsichtlich des Staates erklärt sich aus dieser Perspektive der unverzichtbaren Aufgabe, die die Familien für die Gesellschaft leisten, logisch der Schutzauftrag für Ehe und Familie in Art. 6 GG, der den Staat verpflichtet, diese „Persongemeinschaften als Keimzellen jeder staatlichen Gemeinschaft zu achten und zu schützen und die Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern sowie vor Beeinträchtigungen und Belastungen zu bewahren.“ (Kirchhof 2003, 10) Aus dieser Logik heraus verbietet es sich auch für den Staat, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften einen eheähnlichen Status zu gewähren. Der Staat ist auf die jungen Bürger und ihre Bereitschaft zur Gründung der Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft, zur Übernahme von Elternverantwortung angewiesen, er weiß aber zugleich auch darum, daß er „als freiheitlicher Staat die Entscheidung für oder gegen die Familie in die Hand der Freiheitsberechtigten geben (muß). Freiheiten sind immer Angebote, die der Freiheitsberechtigte annehmen, aber auch ausschlagen kann.“ (ebd., 11) Von daher ist es nur konsequent, als zweiten sozialethisch-normativen Anspruch zu formulieren: Die Familie darf im Rahmen der Familienpolitik nicht zu einer ökonomisch oder politisch funktionalisierbaren oder funktionalisierten Größe werden. Von daher soll Familienpolitik „die Leistungsfähigkeit der Familie … fördern, aber nicht die Leistung … prämieren; Freiheitsräume … eröffnen und Entscheidungen … ermöglichen, jedoch nicht, Entscheidungen … lenken oder gar … erzwingen.“ (Baumgartner 1995, 60, vgl. ebenso Dettling 2005, 126.) Dieser Punkt sei noch um einen weiteren Aspekt ergänzt: Auch und gerade im Blick auf den in Zukunft möglicherweise durchaus bedrohlich werdenden demographischen Wandel bleibt festzuhalten, daß Familienpolitik insgesamt auch nicht pronatalistisch verzweckt werden darf. Speziell in Deutschland ist der Begriff der Bevölkerungspolitik aus der nationalsozialistischen Vergangenheit heraus sehr lange belastet gewesen und tabuisiert worden. Mittlerweile besteht zwar angesichts der problematischen Entwicklung der Geburtenrate (nicht nur in Deutschland, aber besonders ausgeprägt in Deutschland) durchaus Einigkeit darüber, daß „das Geburtenniveau …, gemessen an seiner Sozialverträglichkeit, schlicht zu niedrig ist.“ (Wingen 2004, 15) Zugleich muß aber auch klar sein, 198

daß familienpolitische Maßnahmen nicht bevölkerungspolitisch verzweckt werden dürfen. Familien dürfen nicht zu Agenten der Gesellschaft werden. Vielmehr können familienpolitische Maßnahmen ggf. einen für die Bevölkerungsentwicklung positiven Nebeneffekt haben. Max Wingen spricht hier im Bemühen darum, dieser Differenzierung gerecht zu werden, von „bevölkerungsbewußter Familienpolitik“ (vgl. Wingen 2004). Wenn der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion Singhammer (CSU) von einem „Marshallplan für mehr Geburten“ spricht und eine „breit gefächerte Kampagne aller Gutwilligen“ fordert (FAZ vom 24.8.2006), dann ist m.E. damit bereits die Grenze einer bevölkerungsbewußten Familienpolitik überschritten. Damit soll natürlich auf der anderen Seite in keiner Weise gesagt werden, daß die Entscheidung zum Kind ohne irgendeine Konsequenz für das Gemeinwohl ist! Auch hier lautet eine wichtige sozialethische Orientierung: Ein direktes Ausrichten der die Familie betreffenden politischen Maßnahmen auf einen staatspolitischen Zweck widerspricht zutiefst den sozialethischen Prinzipien der Personalität und der Subsidiarität. Auch hier gilt, was oben gesagt wurde: Familienpolitik kann es nur darum gehen, den Familien Freiräume zur Entscheidung zu eröffnen und Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß Entscheidungen für Kinder ermöglicht werden. Denn sonst besteht zudem die Gefahr, daß dann, wenn der pronatalistische Effekt ausbleibt, diese familienpolitischen Maßnahmen dem Diktat knapper Kassen wieder zum Opfer fallen.

II. Grundlagen der Familienpolitik Die „Soziallehre der katholischen Kirche (ist) ein integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen“, so hat es Papst Johannes XXIII. in seiner Sozialenzyklika Mater et magistra 1961 formuliert (Johannes XXIII. 1961, 222). Aus diesem Menschenbild ergeben sich die sog. Sozialprinzipien als Konsequenzen zur Gestaltung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Diese sind im Folgenden in den Blick zu nehmen: 2.1 Familienpolitik als subsidiäre Aufgabe des ermöglichenden Staates In der gegenwärtigen Debatte um den angemessenen Weg und die nachhaltige Gestaltung der Familienpolitik lassen sich – pointiert formuliert – wiederum zwei sehr gegensätzliche Antworten ausmachen: Die eine Antwort hält – wie es etwa auch in einigen europäischen Ländern durchaus verbreitet ist (z.B. Großbritannien) – Familie für eine „reine Privatangelegenheit“, mit deren Gelingen und Gestalten die Gesellschaft nichts zu tun hat. Für die zweite Antwort läßt sich zusammenfassend die Aussage des früheren SPD-Generalsekretärs Olaf Scholz zitieren, der für den Staat die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ forderte, um die Familie dem politischen Kalkül des Staates und der Gesellschaft zu unterwerfen, so daß eben nicht die Familie, sondern eine übergeordnete Instanz, letztlich der Staat, beurteilen und durchsetzen sollte, was für die Familie gut und was schlecht sei. Aus der Perspektive einer christlichen Soziallehre sind beide Positionen zu einseitig und für sich allein genommen nicht stimmig. In diesem Kontext erweist 199

sich das gegenwärtig viel, aber oft falsch zitierte Subsidiaritätsprinzip, wenn es nicht einseitig, sondern umfassend verstanden wird, als äußerst hilfreiches Instrument zur angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen Familie, Gesellschaft und Staat und damit auch zur Bestimmung eines angemessenen Verständnisses von Familienpolitik. Es impliziert zwei bzw. drei zentrale Sätze: Erstens geht es um die subsidiäre Kompetenz: Das, was der einzelne resp. die kleinere Einheit aus eigener Kompetenz leisten kann, das muß der einzelne resp. die kleinere Einheit auch tun dürfen. Sie haben das primäre Recht und die primäre Pflicht, entsprechend ihrer Kompetenzen die Aufgaben auch wahrzunehmen. Dabei ist die Person bzw. die personnähere Einheit nicht in der Pflicht, sich für die Übernahme der Aufgaben zu rechtfertigen. Unter Legitimationszwang steht vielmehr die größere Einheit, die eine Aufgabe übernehmen resp. der kleineren abnehmen will. Damit gerät der zweite Satz, der der subsidiären Assistenz – man könnte auch einfach sagen: der der Solidarität – in den Blick: Wenn der einzelne resp. die personnähere Einheit nicht, nicht mehr oder noch nicht in der Lage ist, anstehende Aufgaben zu übernehmen, dann muß die nächsthöhere Einheit, d.h. noch nicht direkt der Staat, im Sinne der Assistenz, der Hilfe zur Selbsthilfe einspringen, Hilfestellung zu leisten, damit Selbstständigkeit so weit wie möglich erreicht wird. Wenn diese Hilfe zur Selbsthilfe erfolgreich war, dann muß – und das gehört als drittes, dynamisches Element mit in die Struktur des Prinzips – sich die höhere Einheit wieder zurückziehen, hier spricht man von der subsidiären Reduktion, damit das Ziel, die Erreichung der Selbständigkeit, nicht ad absurdum geführt wird. Alle Sätze des Subsidiaritätsprinzips gehören notwendig und gleichwertig zusammen, aber die dargestellte Reihenfolge der Sätze darf nicht chronologisch mißverstanden werden, in dem Sinne, daß „die … Akteure … selbst einmal selber vorzuleisten (hätten), und im Erschöpfungsfall habe die Gesellschaft bzw. der Staat ergänzend einzuspringen“ (Schramm 1999, 19). Primäres Ziel des Subsidiaritätsprinzips ist die personale Entfaltung der Person bzw. der jeweils personnahen Einheit – das ist in unserem Kontext die Familie, die „eine Gemeinschaft eigenen und ursprünglichen Rechts ist“ (Vaticanum II. 1965, Dignitatis Humanae 4)5 –, der Schutz ihrer Würde und der damit untrennbar verbundenen Freiheit. Das Subsidiaritätsprinzip stellt mithin das Prinzip der Freiheitsermöglichung der Person bzw. der jeweils personnahen Einheit dar. Ermöglichung bedeutet dabei, daß Hilfestellung gegeben wird, daß dem Individuum bzw. der kleineren Einheit Freiheitsspielräume eröffnet werden, um ihren Kompetenzen, Wert- und Zielsetzungen gemäß handeln zu können. Anders formuliert bedeutet das, daß die jeweils größere Einheit unter den Vorzeichen komplexer pluralistischer und funktional ausdifferenzierter Gesellschaften Rahmenbedingungen und unverzichtbare, aber vom einzelnen nicht (oder heute nicht mehr) zu bewerkstelligenden Voraussetzungen schafft, innerhalb derer dann der einzelne resp. die kleinere Einheit in Freiheit handeln kann. Als weitere sozialethische Erkenntnis läßt sich in Konsequenz daraus festhalten: Subsidiärer Familienpolitik kann es keinesfalls darum gehen, daß der Staat mög200

lichst umfassend die Aufgaben, die genuine Aufgaben der Familie sind und die sie selber erledigen kann, für die Familie übernimmt und erledigt. Umfassende Aufgabe einer subsidiären Familienpolitik ist es vielmehr, das eigenständige Handeln der Familien durch angemessene Rahmenbedingungen zu ermöglichen und zu sichern – insofern ist sie durchaus auch dem familiären Handeln vorgeschaltet. Familienpolitik muß dort, wo es unabdingbar ist, Grundgüter, Dienstleistungen und Strukturen öffentlich zur Verfügung stellen oder deren Gebrauch regeln, die zwar für jede Familie konstitutiv sind, die als Rahmenbedingungen unabdingbar sind, damit Familien ihre genuinen Aufgaben wahrnehmen, ihre eigenen Ziele verfolgen und ihre Freiheitsräume überhaupt erst gestalten können, die aber die Familie – auf sich allein gestellt und von sich aus unter den komplexen Bedingungen der Gegenwartskultur – nicht (mehr) erzeugen, sich erschließen oder genießen kann. (Vgl. Wildfeuer 2000, 304) Solche Einrichtungen, die die Familie im Sinne subsidiärer Familienpolitik unterstützen und ergänzen, sind beispielsweise notwendig im Blick auf die Kinderbetreuung, um so die bessere Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Dabei scheint es zu einfach zu meinen, das Problem sei „soziotechnisch“ zu lösen durch eine „flächendeckende“ Versorgung mit Betreuungseinrichtungen. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Betreuungseinrichtungen sind für viele Eltern eine unabdingbare Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, darum sind es unverzichtbare Optionen, eine ausreichende Zahl von Plätzen zur Verfügung zu stellen, auch und vor allem für die Kinder unter 3 Jahren, aber auch für die über 6 Jahren sowie für die Betreuung eine größere zeitliche Flexibilität zu ermöglichen. Solche Betreuungseinrichtungen haben auch – und das ist ein zusätzlicher bedeutsamer Aspekt – nicht nur ihre Berechtigung im Blick auf die Vereinbarkeitsfrage, sondern haben auch einen ganz eigenen Sinn im Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, etwa hinsichtlich der Frage nach der Chancengleichheit im Bildungsbereich oder vor dem Hintergrund von Migrationsproblematik. Aber auf der anderen Seite – und damit ist eine weitere sozialethische Vorgabe formuliert – kann es nicht Aufgabe staatlicher subsidiärer Familienpolitik sein, nur ein einziges Lösungsmodell der Vereinbarkeitsproblematik ausschließlich zu fördern und damit in logischer Konsequenz alle anderen Lösungen minder zu bewerten oder sogar zu bestrafen. Vielmehr muß Familienpolitik intendieren, für Familien die Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß diese jenen die freie Entscheidung für die ihren eigenen Werten und Zielsetzungen entsprechende Gestaltung ermöglicht. Nach wie vor muß es möglich sein, daß Eltern sich dafür entscheiden, ihre Kinder in den ersten drei entscheidenden Jahren der kindlichen Entwicklung ganz in der Obhut der Eltern aufwachsen zu lassen, Eltern soll es möglich sein, „in ihren biographischen Planungen auf das Aufwachsen von Kindern Rücksicht zu nehmen und sich dafür Zeit zu nehmen.“ (Huber 2005, 4) Zugleich soll es aber auch – ohne vor die höchst unproduktive Alternative „Kind oder Karriere“ gestellt zu sein – möglich sein, einer beruflichen Tätigkeit mit individuell möglichem Zeitaufwand nachzugehen.

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Ohne in diesem Zusammenhang auf das neue, ab 2007 gültige Modell des Elterngeldes in allen Punkten eingehen zu können, das die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen basierend auf den Entwürfen ihrer Vorgängerin entwickelt hat, sei doch zumindest auf einen für unseren Kontext relevanten Punkt hingewiesen: Das Elterngeld wird prinzipiell für zwölf Monate gezahlt, für 14 Monate nur dann, wenn sich beide Elternteile bei der Versorgung des Kindes und der Reduzierung der Erwerbsarbeit abwechseln. Zum einen scheint es bei diesem Konzept offenkundig nicht primär um das Wohl des Kindes zu gehen, sondern um die arbeitsmarktpolitische Perspektive auf die Eltern. Zum anderen aber wird deutlich, daß diese Struktur des Elterngeldes dem Anspruch, den Familien wirklich freie Gestaltung ihres Miteinanders von Familien- und Erwerbsarbeit zu ermöglichen, nicht gerecht wird, sondern wiederum eine klare Option vorgibt und prämiert.6 Daß dies den dargelegten sozialethischen Kriterien zur Gestaltung von Familienpolitik nicht gerecht wird und offenkundig wiederum den Wert der Familie nur verengt im Blick hat, liegt auf der Hand. Nebenbei sei allerdings angemerkt, daß es im Kontext eines gewandelten Geschlechterverhältnisses eigentlich selbstverständlich sein müßte, daß Familienpolitik nicht Frauenpolitik ist, sondern eine Politik, die beide Eltern gleichermaßen betrifft. Die Eltern müssen die realistische Chance haben, ihren eigenen Prioritäten und Wertvorstellungen gemäß Zeiten der Familientätigkeit und Zeiten der Erwerbsarbeit miteinander zu vereinbaren, ohne dadurch notwendig Nachteile im beruflichen Leben, vor allem im beruflichen Vorankommen in Kauf nehmen zu müssen. 2.2 Paradigmenwechsel in der Familienpolitik: von solidarischer Unterstützung Notleidender zur Beteiligungsgerechtigkeit für Familien In der sozialethischen Grundlegung der Familienpolitik läßt sich derzeit ein deutlicher Wandel ausmachen: Familienpolitik war ursprünglich angesiedelt im Kontext der Sozialpolitik im engeren Sinn. Die Familie wurde im System der Sozialversicherung entlastet, diese Entlastung basierte auf dem Grundgedanken der Solidarität. „Diese Begründung führte nicht zu einer Gleichheit in der Förderung, sondern bewußt im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit, Ungleiches ungleich zu behandeln, zu differenzierten Formen des Familienlastenausgleichs.“ (Baumgartner, 2002, 14) Entsprechend begründet war auch das Faktum der Berücksichtigung der Familie im Steuerrecht. Die Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs fand in Form einer dualen Familienförderung statt: steuerliche Entlastung plus Transferleistungen (Kindergeld). Daß dies jedoch in keiner Weise der aktuellen Problematik hinreichend gerecht wird, hat sich in den letzten Jahren gezeigt. Immer wieder zeigen Untersuchungen in erschreckendem Maße auf, daß mehrere Kinder zu haben heutzutage ein Armutsrisiko darstellt.7 Hier spielen zum einen die Kosten eine Rolle, die durch das Leben in der Familie entstehen, zum anderen aber auch die Opportunitätskosten, d.h. der Rückgang des Erwerbseinkommens in einem Haushalt durch den Verzicht auf Erwerbstätigkeit. Der auf dem Gedanken der Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit begründete Familienlastenausgleich reicht mithin nicht aus, um eine gezielte Unterstützung für Familien zu gewährleisten, die in Not geraten sind.

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Hier ist eine Neuorientierung notwendig, zumal die Entwicklung der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte deutlich gemacht hat, daß ein weiterer Aspekt zentral wird: Kinder zu haben ist keine Selbstverständlichkeit mehr, es ist eine (unter mehreren anderen) Lebensoptionen. Die Entwicklung der letzten Jahre hat dazu geführt, daß in unserem umlagefinanzierten Sozialversicherungssystem, speziell im Blick auf die Rentenversicherung8 – ganz entgegen dem verfassungsmäßigen Schutzauftrag für Ehe und Familie – von Kindern profitiert, um es zugespitzt zu formulieren, wer keine Kinder hat. Zur Begründung für diese familienfeindliche Entwicklung ist in kürze folgendes zu sagen: Solange Familie mit mehreren Kindern gesellschaftlich gesehen der „Normalfall“ waren und folglich die Leistungen, die diese „Keimzellen“ der Gesellschaft für eben diese Gesellschaft erbringen, selbstverständlich von fast allen (unentgeltlich) erbracht wurden, war dies auch ein unhinterfragter Bestandteil der Familiengerechtigkeit, denn (nahezu) alle waren beteiligt an der Leistung für die Gesellschaft sowie auch an dem Profit, den die Gesellschaft davon hatte. Die gesellschaftlich relevanten Leistungen der Familie ergaben sich selbstverständlich und implizierten ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Diese Wechselseitigkeit ist heute aber einer starken Einseitigkeit gewichen, „die ‚Familienleistungen’ (sind) nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil der persönlichen Lebenspläne und des eigenen Glücks- und Wohlfahrtsstrebens der Menschen ..., sondern (werden) von einem zunehmend geringer werdenden Teil der Bürger ‚erbracht’“ (Kleinhenz 1995, 125). Immer weniger Familien erbringen mithin diese Leistung für einen immer größer werdenden Teil der Gesellschaft. Die Familien sind also vor allem an der Erbringung der Leistungen beteiligt, kaum oder nicht in genügendem Maße aber an den Effekten, speziell der sozialen Sicherung, die diese für die Gesellschaft haben: Kleinhenz (1995, 120) spricht an dieser Stelle von der „‚Ausbeutung’ der Familien“. Kinderlose erwerben mithin im Fall doppelter Erwerbstätigkeit durch ihre monetären Beiträge zur Rentenversicherung auch einen doppelten Anspruch auf Altersversorgung, wobei sie ihren generativen Beitrag, der für das Funktionieren des Umlagesystems konstitutiv ist und einem Bonmot Konrad Adenauers zufolge selbstverständlich schien, nicht leisten. Herwig Birg sieht in dieser Fehlkonstruktion einen „verfassungsrechtliche(n) Skandal“, der „wahrscheinlich eine subtile, zerstörerische Wirkung auf die kulturelle Substanz unserer Gesellschaft und auf unsere rechtsstaatliche Kultur“ (S. 84) hat; für ihn liegt darin sogar „der entscheidende Grund für den schwindenden Wunsch nach Kindern“ (ebd.). Hier wird zugleich offenkundig, daß eine der großen sozialen Fragen der Gegenwart nicht mehr ausschließlich, ja noch nicht einmal mehr vorrangig die Frage nach der intergenerationellen Gerechtigkeit, also nach der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, ist, sondern vielmehr die nach der intragenerationellen Gerechtigkeit, nach der Gerechtigkeit also zwischen den Kinderlosen und den Eltern aus der jeweils gleichen Generation.9 Vor diesem Hintergrund reicht die argumentative Kraft der sozialethischen Kategorie der Solidarität und der Gerechtigkeit im Sinne von sozialstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit zur Begründung von Familienpolitik nicht mehr aus, viel203

mehr spielt die Kategorie der Leistungsgerechtigkeit, vor allem aber die der Beteiligungsgerechtigkeit eine große Rolle. Eine erste frühe, für die katholische Soziallehre, aber auch für die Sozialethik insgesamt sehr bedeutsam gewordene Definition dieses Terminus findet sich im amerikanischen Wirtschaftshirtenbrief von 1986, der die Formel von der „sozialen Gerechtigkeit“ durch die Formel von der „kontributiven Gerechtigkeit“ interpretiert: Soziale Gerechtigkeit beinhaltet demnach, „daß die Menschen die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme am Gesellschaftsleben haben und daß die Gesellschaft die Verpflichtung hat, dem einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen.“ (Nationale Konferenz der Katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika 1986, Nr. 71.) Soziale bzw. kontributive Gerechtigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit zielt also auf ein für jeden Menschen gegebenes Mindestmaß an Teilnahme und Teilhabe an Prozessen, Einrichtungen und Errungenschaften innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Dieser Begriff sozialer Gerechtigkeit lebt also von seinen beiden Dimensionen: von der Partizipation und der Kontribution, bzw., noch einmal anders formuliert, von dem Ernstnehmen des jeweiligen Subjekts (des einzelnen, der Familie) und der gesellschaftlichen Ermöglichung bzw. Unterstützung dieser Subjektstellung (vgl. Sutor 2005, 108). Will man nun diesen Begriff der sozialen Gerechtigkeit im Sinne der Beteiligungsgerechtigkeit fruchtbar machen für die Frage der Familienpolitik, so muß man sich noch einmal vor Augen führen, daß die Familie in und durch diese ihre spezifische Struktur – meistens, ohne gesellschaftlich gewürdigt zu werden – einen wesentlichen gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Beitrag zu Bestand und Entwicklung eben dieser Gesellschaft leistet, der sich zunächst unter die folgenden vier Punkte subsumieren läßt: (1) Die physische Reproduktion und Sicherung des Fortbestandes der Gesellschaft, d.h. Geburt und Versorgung von Kindern, (vgl. Lampert 1993, 125 sowie auch Pechstein 1994, 388 f). (2) Die primäre Sozialisation und Erziehung der Kinder als Ausbildung einer stabilen Persönlichkeit, also die „Beiträge zur Ausprägung der qualitativen Komponente des Humanvermögens in ihrer geistigen, kulturellen, sozialen und beruflichen Dimension“ (Lampert 1993, 125). (3) Der Beitrag „zur Regeneration und zur Erhaltung des Arbeitskräftepotentials“, also „Versorgung der Haushaltsmitglieder, ... Bereitstellung eines privaten Schutz-, Entfaltungs- und Erholungsraumes sowie ... Gesundheitsvorsorge und ... Pflege erkrankter erwerbsfähiger Haushaltsmitglieder.“ (Lampert 1993) sowie schließlich (4) die Versorgung und Pflege kranker und behinderter, nicht mehr erwerbsfähiger Haushaltsmitglieder. In der Sprache und Perspektive der Wirtschaftswissenschaft spricht man davon, daß die Familie einen entscheidenden Beitrag leistet zur Bildung und Erhaltung von Humankapital resp. Humanvermögen. Der Fünfte Familienbericht (1995) führte diesen Begriff ein, um den Zusammenhang zwischen familialen Leistungen, gesellschaftlicher Entwicklung und kultu204

rellem Kapital einer Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Diese Terminologie erscheint allerdings für eine sozialethische Überlegung nur mit großem Vorbehalt geeignet, weist sie doch unter einer umfassenderen anthropologischen Perspektive enorme Defizite auf (vgl. dazu detaillierter Lampert 1993, 123-125). Was nun die eine Seite der Bestimmung des Begriffs sozialer Gerechtigkeit betrifft, die Seite der Kontribution, des Beitrags, den Familien zum Bestand und zur Entwicklung der Gesellschaft leisten (und auch leisten müssen), so kann es daran keinerlei Zweifel geben, aber es besteht ein immer extremer werdendes Gerechtigkeitsdefizit hinsichtlich der zweiten Seite der sozialen Gerechtigkeit, der Partizipation, die für die Familien kaum im Blick ist. Den Familien ist immer weniger in angemessener Weise die Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen möglich – die Altersversorgung von Eltern, speziell von Müttern, die Partizipation am Erwerbsarbeitsleben, der kulturelle Standard von Familien mit mehreren Kindern, zumal im horizontalen Vergleich, seien hier nur exemplarisch genannt. An dieser Stelle legt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Förderung nahe; was sind der Gesellschaft und dem Staat die Leistungen der Familie wert, und was kann zur Erhaltung dieses inzwischen gesellschaftlich knappen Gutes, zur Förderung der Anreize für die Familien und zur Gewährleistung von Familiengerechtigkeit gegenüber den Kinderlosen getan werden? Während nun im Blick auf viele aktuelle Problembereiche des Sozialstaats die Ausrichtung der Politik aus finanziellen, aber auch aus prinzipiellen Gründen darauf abzielt, die Eigenkräfte der Gesellschaft zu mobilisieren und die Entwicklung des Sozialstaates zu einem überbordenden Wohlfahrts- und Fürsorgestaat zurückzuführen, ist mit der Familienpolitik eben ein, wenn nicht der zentrale Bereich genannt, für den die Frage nach einer weitergehenden Verpflichtung des Staates „als Sachwalter des Gemeinwohls“ zu stellen ist. An eine moderne, zukunftsorientierte Familienpolitik muß nun die Frage gerichtet werden, wie sie Gerechtigkeit für Familien weiter befördern möchte, welche Rahmenbedingungen der Staat also schafft, um seinen speziellen Schutz für Ehe und Familie zum Ausdruck zu bringen; was er mithin tut, um die Leistungen der Familie zu ermöglichen, sie anzuerkennen und zu fördern, und dabei auch Partizipation zu ermöglichen. Hier geht es nun um die Dimension des Familienleistungsausgleichs, der weit über das hinausgeht, was der Familienlastenausgleich zum Ausgleich der „kindbedingte(n) Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Familie“ (Familienbund der deutschen Katholiken 1993, 21, ferner Schmidt 2000) erbringt. Oben wurde bereits ausgeführt, daß die Familien eine Vielzahl produktiver und unverzichtbarer Leistungen für die Gesellschaft erbringen, und daß gegenwärtig aus sehr unterschiedlichen Gründen diese Leistung nicht mehr selbstverständlich, sondern ein knappes Gut ist. Diese produktiven Leistungen der Familie sind bislang im Nutzen sozialisiert, in der Erbringung aber privatisiert worden. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft haben sie nicht genügend gewürdigt, zumal man nur beachtete, was im Sinne materieller Produktion quantifizierbar war (vgl. 205

Lampert 1993, 126-128). Sozialethisch normativ ist also hieraus abzuleiten, daß der Leistungsausgleich, der zunächst ein gesellschaftliches Umdenken voraussetzt, so beschaffen sein muß, daß er zum Ausdruck bringt, was die familialen Leistungen der Gesellschaft wert sind. Heinz Lampert hat errechnet, daß „es sich um beachtliche Größenordnungen handelt, die sich pro Kind auf einige Hunderttausend Mark belaufen und für zwei Kinder allein für die Versorgung und Betreuung in die Nähe der Millionengrenze kommen.“ (Lampert 1993, 133) Zu glauben, daß diese Kosten in absehbarer Zeit gesellschaftlich auch nur zur Hälfte ausgeglichen werden könnten, ist sicherlich Utopie. Aber die Benennung dieser Kosten schärft das gesellschaftliche Bewußtsein und bleibt als „Stachel im Fleisch“ eine permanente Aufforderung zur Verbesserung der Lage von Familien.

III. Konsequenz: Familienorientierte Politik statt Familienpolitik Als fundamentale sozialethische Konsequenz aus den bisherigen Überlegungen läßt sich nun zusammenfassend folgendes festhalten: Einer dem umfassenden Wert der Familie gerecht werdenden Familienpolitik muß es um die Realisierung angemessener gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gehen, die es den Familien besser ermöglichen, eine für sie ganz spezifische Kultur des Lebens zu gestalten. Die in den vorstehenden Überlegungen dargelegte transzendentale Begründung und Entfaltung von Familienpolitik kann nun sehr deutlich machen, daß Sozialpolitik aufgrund des skizzierten Paradigmenwechsels eine sehr viel weitere Bedeutung bekommen hat: Sozialpolitik – und damit auch Familienpolitik als Teil von ihr – meint nicht länger allein Umverteilungsmaßnahmen, also die materielle Unterstützung notleidender Familien aus Gründen der Solidarität, sondern die Ermöglichung von Freiheit und von Engagement für die Aufgaben der Keimzelle der Gesellschaft aus Gründen der Gerechtigkeit für alle Familien. Man könnte zur Verdeutlichung besser von „familienorientierter Politik“ anstelle von Familienpolitik sprechen.10 In diesem terminologischen Wechsel artikuliert sich auch die inhaltliche und strukturelle Forderung, Familienpolitik nicht vorrangig als ein Ressort unter mehreren innerhalb der breiten Palette aller Politikbereiche zu verorten, sondern Familienpolitik als eine Querschnittaufgabe aufzufassen, alle Politik mithin an dem Kriterium zu messen, ob die jeweils ins Auge gefaßten Maßnahmen für Familien nachteilig oder zuträglich sind. Wenn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 6 Ehe und Familie unter seinen besonderen Schutz stellt, dann wird man auf politischer Ebene dem in besonderer Weise gerecht, wenn man für alles politische Handeln einen „Familien-Check“ fordert, der prüft, inwiefern nicht nur der ökonomische, sondern auch und besonders der umfassende anthropologische und soziale Wert der Familie berücksichtigt ist.11 Gleichgültig, welchen Bereich der Politik man diesem Familiencheck unterzieht – die Familienpolitik, die derzeit auf den ersten Blick absolute Priorität zu genießen scheint, erweist sich als nicht wirklich familienorientiert.

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Die gegenwärtige Bildungspolitik etwa sucht unter dem Deckmantel der für Deutschland schlechten Ergebnisse der Pisa-Studien flächendeckend Ganztagsschulen zu etablieren. Dabei aber verbessert sie nicht wirklich die Qualität des Bildungssystems, sondern scheint eigentlich vorrangig das Ziel vor Augen zu haben, möglichst flächendeckend eine Ganztagsbetreuung einzurichten, der es wiederum nicht so sehr um das Wohl der Kinder geht. Vielmehr scheint vorrangiges Ziel zu sein, die Kinder möglichst so zu organisieren, daß sie die zum Leitbild der Politik12 erhobene Doppelverdiener-Familie nicht stören.13 Daß eine solche Bildungspolitik bei einem Familiencheck schlecht abschneidet, liegt auf der Hand! Eine Gesetzgebung, die die Ladenöffnungszeiten völlig freistellt, muß sich unter der Maßgabe eines Familienchecks fragen lassen, ob unter dem Deckmantel der größeren Freiheit für Kunden und Geschäftsleute nicht (fragwürdige) ökonomische Ziele im Vordergrund stehen, für deren Erreichung die Belange der betroffenen Geschäftsleute und ihrer Familien vollends zurückgestellt werden. Der Sonntag, der auch und gerade aus christlicher Perspektive eine besondere Bedeutung für die Familie hat, müßte und könnte sich als entscheidender Tag herauskristallisieren hinsichtlich des Bedürfnisses, die möglicherweise im Laufe der Woche stark divergierenden Zeiten von Eltern und Kindern so zusammenzubringen, daß noch gemeinsame Familienzeit bleibt.14 Wenn nun der Wert der Familie gerade nicht nur und nicht einmal vorrangig in ihren marktfähigen, ökonomisch berechenbaren Leistungen für die Gesellschaft liegt, wenn es vielmehr auch darum geht, die Familie als Ort von Humanität, Nächstenliebe, Zuverlässigkeit, Treue und Fürsorge zu schützen, dann muß eine familienorientierte Politik sich auch darüber im klaren sein, daß ihre rechtlichen, legislatorischen und institutionellen Maßnahmen und Strukturen aus sozialethischer Perspektive nur die eine, allerdings unverzichtbare Seite zum Aufbau einer wirklich familienfreundlichen Gesellschaft sind. Gleichwertig und gleich wichtig ist im Konzept der christlichen Sozialethik immer auch die Pflege eines entsprechenden Ethos, die Vermittlung der – so formuliert es die klassische christliche Ethik – Tugenden, der Einstellungen und Wertorientierungen, die notwendig sind, um Familie ihrem umfassenden Wert gemäß zu schützen und zu fördern. Für diesen Aufgabenbereich ist allerdings nicht primär der Staat mit seiner Politik zuständig, er ist hier nicht der primär Handelnde, denn der „freiheitliche, säkularisierte Staat lebt“, so formulierte es Ernst-Wolfgang Böckenförde in dem berühmt gewordenen Paradoxon, „von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz der einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben ...“. (Böckenförde 1976, 60.) Vielmehr bedarf es dafür der Moralität der Mitglieder der Gesellschaft und deren Engagement für den unverzichtbaren Wertekonsens. Hier sind Schulen, Kirchen und andere zi207

vilgesellschaftliche Institutionen gefragt, natürlich auch die Familie selbst, die der erste Ort der Vermittlung solcher Werte ist. Ein gegenwärtig immer wieder zu hörendes Bonmot lautet: Jede Gesellschaft bekommt die Politiker und damit auch die Politik, die sie verdient, oder, etwas behutsamer ausgedrückt, die ihr selbst angemessen sind. Das heißt für unseren Zusammenhang: Wenn wir eine am Wert der Familie orientierte Politik haben möchten, die mehr ist als ökonomisch ausgerichtete Familienpolitik, dann müssen wir als Gesellschaft die – so Franz-Xaver Kaufmann – strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien in unseren Köpfen abbauen, dann muß ein gesamtgesellschaftliches Verantwortungsbewußtsein dafür wachsen, daß die Wertschätzung der Familie als einer fundamentalen Institution für das Heranwachsen von Kindern, als der zentralen zukunftsfähigen Grundeinheit der Gesellschaft eine unverzichtbare Voraussetzung und eine nicht materielle, sondern ideelle Rahmenbedingung für eine familienorientierte Politik ist. Wenn die christliche Sozialethik, basierend auf dem christlichen Menschenbild und den daraus abgeleiteten Sozialprinzipien, genau darum bemüht ist, den umfassenden Wert der Familie wieder in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu rücken, dann leistet sie einen für die Gesellschaft wichtigen, aber auch für die Kirche konstitutiven Beitrag – gehört doch, so sagt es Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus caritas est, das Liebeshandeln der Kirche – im weitesten Sinn also auch das gesellschaftlich-diakonische Handeln – neben der Leiturgia und Martyria – zu den Grundfunktionen der Kirche. Damit kann sie dann auch deutlich machen, an welchem Stern wir uns auch heute um des Wohles aller Menschen willen orientieren können. Anmerkungen 1) Dabei ist es interessant, daß das Thema Familie aus theologisch-sozialethischer Perspektive gegenwärtig sehr intensiv behandelt wird, es aber zur Bedeutung der Ehe kaum Literatur gibt. Deren Spezifikum sozialethisch herauszuarbeiten, bleibt eine wichtige, im Rahmen dieser Überlegungen allerdings nicht zu leistende Aufgabe. Vgl. dazu NothelleWildfeuer 2006. – Allerdings ist weder aus sakramententheologischer noch aus sozialethischer Perspektive Familie mit Ehe völlig gleichzusetzen, wie es etwa Mack 2005 tut, gleichwohl es richtig ist, zwischen Ehe und Familie eine „innere Verbundenheit“ zu sehen, „da bereits die Ehepartner die neue Keimzelle einer Familie bilden und den Bund vor Gott schließen, aus dem Kinder hervorgehen können.“ (Ebd., 16.) Aber sie schließen eben den Bund der Ehe und nicht den der Familie, zur Familie gehören wesensmäßig mehrere Generationen. 2) Vgl. dazu ausführlicher Birg 2005, 33-44. 3) Eine dezidiert ökonomische Haushalts- und Familientheorie findet sich bei Becker 2000. Vgl. zur Kritik daran Hülskamp u. Seyda 2004, bes. 20 f, ebenso Ott 2002, 13 f. 4) Der früher ebenfalls in der Diskussion dafür benutzte Begriff des Erziehungsgehalts scheint weniger geeignet, weil er das weite Feld familiärer Arbeit nicht abdeckt. (vgl. Jünemann 2000, 318-320). 5) Wenngleich sie viel zu wenig beachtet wurde, so ist doch in diesem Kontext die Charta der Familienrechte, die der Apostolische Stuhl 1983 im Nachgang zur Bischofssynode von 1980 veröffentlicht hat, von größter Bedeutung. Sie ist das Ergebnis der Erkenntnis

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der Synode, daß in vielen Ländern die ureigensten Rechte der Familie von untragbaren Anmaßungen von Staat und Gesellschaft bedroht sind. Vgl. dazu Glatzel 2002. 6) Vgl. dazu auch Spieker 2006, 247. 7) Vgl. dazu Lampert 2002, 91-97. 8) Zu einer familiengerechten Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vgl. Althammer u. Mayert 2006. 9) Vgl. dazu u.a. Kaufmann 2005, 60. 10) Wingen 2002, spricht mit ähnlicher Intention von Familienpolitik als „gesellschaftliche(r) Ordnungspolitik“ (71). 11) Das Wort der Deutschen Bischöfe Das Soziale neu denken vom Dezember 2003 (Die deutschen Bischöfe 2003, Abschnitt 4.2, Seite 21) fordert in ähnlicher Weise einen Subsidiaritäts- und Solidaritätscheck. 12) Vgl. dazu etwa Gruescu u. Rürup 2005, die unter dem Stichwort einer nachhaltigen Familienpolitik mit den beiden Komponenten der Steigerung der Geburtenrate und der Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen dieses Leitbild starkmachen mit der Begründung, so Armut beseitigen zu können. 13) Vgl. dazu Mannes 2006, 265, die sehr präzise diese Problematik benennt: „Ehrlicherweise müßte die Definition von Familie heute heißen: ‚Familie ist da, wo keine Kinder sind (,denn die sind ja ganztägig in Betreuungseinrichtungen, Horten und Ganztagsschulen)’.“ 14) Vgl. dazu auch Bertram 2004.

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Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Inhaberin des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Freiburg.

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Bericht und Gespräch

Hans-Peter Raddatz

Ökumene mit dem Islam? Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD Aufgabe und Umfeld Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen wichtigen Ländern Europas – vor allem in Frankreich und England – bilden die Muslime die größte nichtchristliche Glaubensgemeinschaft. Während deren Menschen dort überwiegend aus den früheren Kolonien in Nordafrika und dem indopakistanischen Raum stammen, kommen die hiesigen Muslime zu drei Vierteln aus der Türkei. Nach relativ kurzem Status als „Gastarbeiter“ richten sie sich auf der Basis eines regen Familiennachzugs seit nunmehr über drei Jahrzehnten auf eine ständige Präsenz in Deutschland ein. Das rasante Wachstum der „Umma“, der Gemeinschaft Allahs, in Europa, ihr Vorrücken mit Moscheen, Kulturzentren und verhüllten Frauen, die massive Unterstützung aus dem Orient sorgen für ständigen Gesprächsstoff, den die deutschen Medien und Institutionen in einen inzwischen fest etablierten „Mainstream“ der Toleranz und des Respekts gelenkt haben. Mit einem „interreligiösen Dialog“ schalteten sich beide Kirchen schon früh in diesen Diskurs ein, wobei sie zwei Schwerpunkte bildeten: die Information über die Strukturen des Islam sowie die Begegnung mit den Muslimen in den Gemeinden vor Ort. Jeweils für sich haben die Deutsche Bischofskonferenz für die Katholische Kirche sowie der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland sogenannte „Handreichungen“ herausgegeben, in denen sie den Gläubigen ihre Sicht des Islam bzw. seiner deutschen Version erläutern. Deren spezifische Beschaffenheit und die Mentalität der Anhänger provozieren immer wieder öffentlichen Klärungsbedarf, der mit simplen Aufrufen zu „Respekt“ offenbar nicht bewältigt werden kann. Nachstehend sollen daher die wesentlichen Positionen dieser Dokumente vorgestellt und einer wissenschaftlichen wie auch praktischen Wertung unterzogen werden. Dabei interessiert uns vor allem, in welcher Weise hier die eigene theologische Basis mit den islamischen Interessen in Einklang – oder auch nicht – gebracht und der „aufgeklärten Informationsgesellschaft“ vorgetragen wird. Die letzten Ausgaben der Handreichungen stammen aus den Jahren 2003 (kath.) bzw. 2006 (ev.), also aus einer Zeit nach dem Anschlag auf New York, dem „Urknall“ des islamischen Radikalismus vom September 2001. Die EKD geht schon in 212

der Einleitung auf die Notwendigkeit ein, die erkennbaren Gewaltmerkmale des Islam offen anzusprechen, um lokales Vertrauen schaffen zu können, während sich die Bischofskonferenz (nachstehend DBK) in dieser Hinsicht bedeckt hält. Die Autoren beider Papiere erheben den Anspruch, die vielschichtige Materie des „Dialogs“ hinreichend verständlich zu machen und somit auch die Verständigung zwischen deutschen Alt- und muslimischen Neubürgern zu unterstützen. Den Lesern wird dabei eine „kritische Offenheit“ (DBK) angekündigt, mit der „kritische Rückfragen“ (EKD) gestellt werden sollen, damit der „Dialog“ insgesamt vorankommt. Der formal mögliche Hinweis, daß die EKD im Vorteil sein könnte, weil zwischen 2003 und 2006 zusätzliche Fakten bekannt geworden seien, ginge ins Leere. Grundsätzlich geht es um die Frage der relevanten Unterschiede und nicht um weitere Attentate, die sie bestätigen. Es steht eine Fülle von Literatur zur Verfügung – u.a. auch vom Verfasser dieses Beitrags – die auf gesicherter Basis Auskunft über den real existierenden Islam erteilt. Um der eigenen Leserschaft das Verständnis der nicht immer einfachen Thematik zu erleichtern, beschränken wir uns auf diejenigen Aspekte, die ihre Problematik allein schon dadurch offenbaren, daß „Dialog“ und Muslime sie seit vier Jahrzehnten diskutieren, ohne über eine offenbar unvermeidliche Ergebnislosigkeit hinausgelangt zu sein. Das zentrale Dilemma wurde bislang umgangen: die Verwirklichung der Umma, die bestimmte Bedingungen fordert, um nach ihrem Gesetz existieren zu können. Der Glaubensvollzug und im Grunde auch der Bestand einer muslimischen Gemeinschaft sind nicht dauerhaft heilskräftig, wenn nicht die Aussicht besteht, in absehbarer Zeit das Gesetz Allahs (Scharia) zur vorherrschenden Rechtsgrundlage zu machen. Denn nur sie kann die zwei quasi-sakramentalen Hauptsäulen des Islam tragen: zum einen den Djihad, den Einsatz für die Dominanz des Islam sowie die Kontrolle der Frauen, und zum anderen die Dhimma, die strikte Disziplinierung der theologischen Hauptkonkurrenten, der Juden und Christen. Das arabische Wort Dhimma bedeutet „Schutzvertrag“, eine ambivalente, wenn nicht irreführende Umschreibung, die denn auch beide Religionen großen Schwankungen ausgesetzt hat. Da die Muslime der verschiedenen Regionen diesen „Schutz“ historisch unterschiedlich ausgelegt haben und dabei auf eine den Juden und Christen feindliche Koranauslegung zurückgreifen konnten, durchlief deren Existenz eine wechselvolle Geschichte zwischen Unterdrückung, Verachtung und relativer Duldung. Heute, im Zeitalter verstärkter Modernisierung und Radikalisierung, werden wir Zeugen einer neuen Phase der Gewalt, die sich in islamweiter Christenverfolgung und terroristischer Ablehnung Israels niederschlägt. Diese Entwicklung speist sich aus einer Hinwendung zur Orthodoxie, zu den Wurzeln des Islam, die dessen gesamten Raum – die Türkei inklusive – erfaßt hat und von den Saudi- und Golfeliten mit enormen Finanzmitteln unterstützt wird. Während die Modernisierung die Traditionsgesellschaft in Frage stellt, reaktiviert der orthodoxe Trend den Djihad – mit wachsendem Druck auf die Frauen, die der Wirtschaftprozeß in neue Arbeitsstrukturen zwingt. Die sinkenden Sozialprodukte bzw. Pro-Kopf-Einkommen der islamischen Staaten treiben eine seit Jahren ebenso steigende Migration nach Europa an, die wiederum – latent begleitet vom Droh213

szenario gelegentlicher Anschläge – auf Zuwachs ausgelegten Moscheebau auslöst. Unvergessen ist die Einlassung des zuständigen EU-Kommissars von 2004, der zufolge der Beitritt der Türkei unerläßlich sei, um ein „Bollwerk gegen den arabischen Terror“ zu errichten. Sie erfolgte im Kielwasser von Sondergremien, welche die EU und die IC (Islamic Conference) zur elitären Lenkung des „Dialogs“ gebildet haben. Mit dem Euro-Arab-Dialogue (EAD) und der PAFEAC (Parliamentary Association for Euro-Arab Cooperation) wurden schon 1975 Institutionen ins Leben gerufen, die inzwischen – ausgestattet mit derzeit jährlich etwa 1 Milliarde Euro und personell begleitet von der Muslimbruderschaft – die „Dialog“Propaganda gestalten sowie in zahllosen Symposien und Publikationen europaweit unterstützen. Vor diesem Hintergrund, der mit eindeutigen Antihaltungen gegen die jüdischchristliche Kultur sowie gegen Amerika und Israel einhergeht, müssen die Dialogformen der EU-Staaten in Europa und mithin auch die Sprachregelungen der Institutionen in Deutschland, vorliegend die Angebote der Kirchen, gesehen werden. Sie operieren mit einer eintönigen Begrifflichkeit von „Frieden, Toleranz“, „Respekt“, die sich gegen Kritik mit gleichermaßen stereotypen Klischees wie „Polemik“, „Islamophobie“ und „Rassismus“ etc. verschanzt. Zusammen mit dem Euphemismus des „Dialogs“ wollen sie den Eindruck einer konstruktiven Kommunikation suggerieren, die jedoch selbst eher Fragen aufwirft als sie zu beantworten. Denn ein Phänomen, das solch umfassend positive Eigenschaften in sich vereinigt, bedürfte im Grunde keines „Dialogs“, geschweige denn aggressiver Immunisierung, sondern müßte schon längst zum Vorbild für die anderen Kulturen, vielleicht sogar zum Weltmodell geworden sein. Dem ist bekanntlich (noch) nicht so, so daß es angesichts der Tatsachen, die von der globalen Migration geschaffen werden, um so notwendiger wird, einen pragmatischen modus vivendi mit den Muslimen zu schaffen. Neben der politreligiösen Theorie spielen die täglichen Umstände der sozialen Lebenswirklichkeit – Gottesdienst, Kindergarten, Schule, Krankenhaus, Begegnungen aller Art – eine wichtige Rolle, die dem Kirchendialog eine besondere Bedeutung zuwachsen läßt. Sich ihr bewußt zu sein, stellen DBK und EKD betont heraus, wobei erstere – etwas kryptisch – ihrem Auftrag unter „den gewandelten Rahmenbedingungen so gut wie nur möglich Rechnung zu tragen sucht“ (S. 7), und letztere – wesentlich konkreter – dort Klarheit schaffen will, „wo Zustimmung und Vertrauen und wo Widerspruch und Abgrenzung am Platze sind“ (S. 9).

Gottesbegriff Ohne zuviel vorweg zu nehmen, können wir uns schon zu Beginn der Betrachtung dem Eindruck nicht entziehen, daß die EKD dem Versprechen der „kritischen Rückfragen“ eher und öfter gerecht wird als die DBK der „kritischen Offenheit“. In der Diskussion des Eigenverständnisses von Gott und Kirche stoßen wir auf ein wichtiges Merkmal, das systematisch auch in anderen Bezügen wirkt. Es geht um den übergeordneten Unterschied, der zwischen einem Vergleich und dem Bezug 214

durch Einschließung besteht. Um zu einer Kommunikation mit einem Gegenüber zu kommen, kann man das Eigene souverän mit dem Anderen vergleichen; man kann es aber auch durch regelmäßigen Einschluß durch das Andere relativieren, wenn man sich einer eigenständigen Selbstdarstellung nicht sicher ist. Wir können dies zunächst am Beispiel des Gottesbegriffs deutlich machen. Das DBK-Papier sagt schlicht, daß Gott sich unüberbietbar in Jesus Christus offenbart hat, „daß Gott selbst sich zugunsten der Menschen hingibt, um sie in einer unversöhnten, unheilen Welt mit sich und untereinander zu versöhnen und sie zu erlösen (107) ... In Jesus hat Gott nach christlicher Glaubensüberzeugung das Geheimnis seiner Liebe zum Heil der Menschen in unüberholbarer Tiefe und Endgültigkeit erschlossen“ (108). Obwohl diese Aussage für sich selbst spricht und offenbar keiner weiteren Beglaubigung bedarf, scheint die „unüberholbare Tiefe“ vielleicht nicht ganz ausgelotet zu sein, wenn es dennoch heißt: „Dies nicht zu vergessen – darauf kann der Islam aufmerksam machen“ (108). Wie der befürchteten Amnesie vorgebeugt werden kann, mag der Standort der Kirche selbst verdeutlichen: „Die christliche Gemeinde, die sich im Namen Jesu versammelt, lebt aus diesem Geheimnis: sie feiert es in ihren Sakramenten; sie verkündet es auch öffentlich; sie bezeugt es in Werken der Liebe. So wird sie –wie es ihrer Sendung entspricht – zum ‚Zeichen und Werkzeug’ für Gottes Heil in der Welt. Die Kirche bedarf aufgrund ihres Versagens aber auch immer neu der Umkehr und Versöhnung durch den Gott, dessen vergebende Liebe sie bekennt. Sie hat keinen Grund, sich über andere zu erheben ... Dabei können die Christen auch anderen Religionsgemeinschaften, wie z.B. dem Islam, mit Achtung und kritischer Offenheit begegnen ... Gerade wenn man die Tiefe der Liebe Gottes, wie sie in Jesus Christus offenbar geworden ist, bedenkt, wird man verstehen, daß Gottes Liebe nicht begrenzt ist, sondern durch den Heiligen Geist allen Menschen zugewandt und bei allen Menschen wirksam ist“ (109f.). Das Kirchenpapier betont, daß Allah ein streng monotheistischer Gott ist, der die Trinität vehement ablehnt und keinerlei personale Verbindung zum Menschen zuläßt, doch bekennt sich die gleiche Kirche seit dem Zweiten Vatikanum auch dazu, mit den Muslimen den alleinigen Gott anzubeten, „den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat“ (103). Man fordert also dazu auf, diese Gottheit irgendwie, auf nicht näher beschriebene Weise einzuschließen, wenngleich sie andererseits sich strikt von der trinitarischen Selbstoffenbarung distanziert. In Hinblick auf diesen erheblichen, zunächst nicht überbrückbaren Widerspruch müssen wir nach zusätzlichen Angaben suchen, um eine Vorstellung von dieser Bezugsform und der Logik des DBK-Papiers zu bekommen. Einen brauchbaren Hinweis gibt uns die Kombination mehrerer Aussagen: 1. Obwohl niemand dies gefordert hat, wird abgelehnt, „sich über andere zu erheben“; 2. obwohl man sich nicht über andere erheben will, soll der Heilige Geist, der Aspekt der christlichen Trinität ist, „allen Menschen zugewandt und bei allen Menschen wirksam“ sein, also auch bei den Muslimen; 3. heißt es: „obwohl nicht unbedingt mit dem Islam vereinbar, kommt es in einigen (nicht in allen!) Staaten mit vorwie215

gend muslimischer Bevölkerung immer wieder zu Repressalien gegenüber Nichtmuslimen“ (102), wobei deren große Mehrheit christlichen Glaubens ist. Das Aussagenbündel ergibt eine janusköpfige Perspektive dieses Einen Gottes, den man mit den Muslimen anbeten möchte. Der Heilige Geist sagt den westlichen Christen, sich nicht über die Muslime zu erheben, die vom gleichen Heiligen Geist erfaßt, orientalische Christen unter Druck setzen, obwohl – oder weil – dies nur bedingt mit dem Islam vereinbar ist, also vielleicht sogar vom Heiligen Geist inspiriert ist. Diese Interpretation drängt sich auf, weil sich die DBK-Autoren über eine „bedingte Vereinbarkeit“ ausschweigen. Es geht um die koranische Legitimation von Gewalt gegen Juden und Christen, die als Menschen niederer Klasse zu gelten haben. So heißt es neben einer Vielzahl verdammender Verse: „Und auch mit denen, die sagen: ‚wir sind Christen’, schlossen wir einen Bund; auch diese haben einen Teil von dem vergessen, woran sie gemahnt wurden. Darum erregen wir Haß und Feindschaft unter ihnen bis zum Tage der Auferstehung. Und Allah wird sie wissen lassen, was sie getan haben (5/14) ... O die ihr glaubt! Nehmt nicht die Juden und Christen zu Beschützern. Sie sind einander Beschützer. Und wer sie von euch zu Beschützern nimmt, der gehört wahrlich zu ihnen. Wahrlich, Allah weist nicht dem Volk der Ungerechten den Weg“ (5/51). Die EKD erlaubt sich weder die logischen noch die theologischen Schwächen, die im DBK-Text durch die Löschung des zweifelhaften Dhimma-„Schutzes“ entstehen: „So wertvoll die Entdeckung von Gemeinsamkeiten im christlichen und muslimischen Glauben ist, so deutlich werden bei genauerer Betrachtung die Differenzen. Die Feststellung des ‚Glaubens an den einen Gott’ trägt nicht sehr weit. Der Islam geht von einem eigenem Glauben und Gottesbild aus, auch wenn er auf die Bibel und ihre Lehren verweist. Deren Darstellungen ordnet er seiner neuen Lehre unter, die weder die Trinitätslehre noch das Christusbekenntnis und die christliche Heilslehre kennt“ (EKD, 18). Von dort schwenkt die Gedankenführung zum Reformator Martin Luther und seinem berühmten Wort, dem zufolge „das Gott ist, an was der Mensch sein Herz hängt“. Zwar hat gerade auch diese Formulierung historisch zur Zersplitterung des Protestantismus beigetragen, doch bestand nie ein ernsthafter Zweifel daran, daß die Antwort grundsätzlich der Glaube an Jesus Christus war, wenn die Frage nach dem „rechten Glauben“ gestellt wurde. So beugt denn auch die EKD jedem voreiligen Schluß vor: „Ihr Herz werden Christen jedoch schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren ... Eine konfliktfreie Zone der Gottesverehrung kann es nicht geben, wenn der Anspruch beider Religionen, Gottes Offenbarung zu bezeugen, ernst genommen wird. Denn eine Religion ist in geschichtlicher Konkretion lebendig, nicht in religionstheologischen Konstruktionen“ (19).

Die Frau Dieses Vorgehen unterscheidet sich eindeutig von der spekulativen BDKMethodik, zu deren Verständnis ein weiteres, wichtiges Thema beitragen kann, das 216

immer wieder für kontroversen Gesprächsstoff sorgt: die Frau im Islam. Man weist kurz auf den zentralen Koranvers (4/34) hin, nach dem „die Männer den Weibern überlegen sind“, verschweigt jedoch, daß man sie bei Ungehorsam schlagen, ansonsten aber als verfügbares Sexobjekt, sozusagen als „Saatfeld“ bestellen soll (2/223). Während wir erfahren, daß auch Zeugenaussage und Erbteil nur die Hälfte der Männerversion wert sind, bietet das DBK-Papier eine irritierende Wertung an: „Man wird bei verständiger Bewertung kaum zu der Behauptung kommen, solche die Frau nach unserem heutigen Verständnis diskriminierenden Rechtsbestimmungen seien von Koran und Sunna im Verbreitungsgebiet des Islam verursacht worden. Sie haben jedoch einen dort bereits bestehenden Patriarchalismus, verbunden mit einer Zurücksetzung der Frau, mit dem Anschein des Gottgewollten umgeben und dadurch ohne Zweifel nachhaltig verfestigt“ (136). Im permanenten Eifer, Kritik am Islam zu vermeiden, unterläuft zwar unfreiwillig das Gegenteil, indem eine „gerechtfertigte Abwertung“ impliziert wird, doch ist die Kritik am Christentum die ultimative Allzweckwaffe, die unfehlbar vor Fehltritten schützt und das Wohlwollen der Muslime sichert: „Dies festzustellen, bedeutet keine ungerechtfertigte Abwertung des Islam. Vor unhistorischer und insoweit unangemessener Kritik bewahrt den Christen die Kenntnis der Kultur- und Sozialgeschichte der vom Christentum geprägten Völker und Gesellschaften ...“ (136). Diese Aussage will für alle Christen sprechen, beachtet freilich nicht jene, seit Jahren bestätigte, islamisch-unchristliche Regel, die auch von der UNO beklagt wird. Danach gilt die Frau als unreines Wesen zwischen Mensch und Hund, das in statistisch jeder dritten Familie – zumeist zur Wahrung der „Ehre“ – geschlagen und in jeder neunten inzestuös vergewaltigt wird. So wie im ersten Beispiel der christliche Glaube durch den Bezug zum Islam ein positives Vorzeichen bekam, befreit im vorliegenden Fall der gleiche Bezug den Islam von einem negativen Vorzeichen, wenn es denn als solches gesehen wird. Insofern brauchen die DBKAutoren weder auf die probate Vereinfachung zu verzichten, noch sich irgendeine sachlich korrekte, „kultur- und sozialgeschichtliche Kenntnis“ vorwerfen zu lassen. Also genügt der Hinweis, daß die Gewohnheiten der islamischen Männer ihre „Wurzel keineswegs im Islam, sondern in rund um das Mittelmeer verbreiteten gesellschaftlichen Konventionen älteren Ursprungs haben“ (92), ganz zu schweigen von den „christlichen“ Verfehlungen, die jede islamische Verfehlung löschen. Dem entspricht, daß die hohe Achtung, welche die Frau als Gefährtin des Mannes schon im vorchristlichen Europa genoß und auch von den Christen keineswegs abgeschafft wurde, den DBK-Experten unbekannt ist. Während der Brauch rund ums Mittelmeer den Islam von jeder Verantwortung entlastet, soll dies für den Brauch in Europa nicht gelten. Insofern verwundert nicht, daß auch die grundrechtliche Wertung zu kurz kommt, denn im islamischen Bewußtsein sind Kontrolle und Unterdrückung der Frau als vom „Glauben“ auferlegte Pflicht verankert und nicht als Relikte eines „mediterranen Brauchs“. Solange die DBK hieran festhält, nimmt sie Repression, Mißhandlung und nicht zuletzt auch den so genannten „Ehrenmord“ billigend in Kauf. 217

Wenngleich dem EKD-Papier dieser Vorwurf nicht gemacht werden kann, weil es auch die Frauenfrage realistischer in den Blick nimmt, zeigt es gedankliche Schwächen. Neben der strengen Geschlechtertrennung, den begrenzten Frauenrechten und der Ghettobildung kommt die Züchtigung der Frau als inakzeptable Praxis zur Sprache, die auch die zitierten Deutungen diverser Islamvereine nicht entkräften können. Der blinde Fleck in bezug auf die Wahrnehmung des politischen Islam und der Rolle der Frau ist eine allgemeine und zudem wachsende Strukturschwäche des pluralistischen Westens und hat auch die EKD-Autoren nicht verschont. Man beklagt das grassierende Mißtrauen durch mangelnde Integration sowie die Frauenrepression und begrüßt, sich mit den „demokratisch gesinnten Muslimen“ über die Defizite im Ehe- und Familienrecht einig zu sein. Die fundamentale Ungleichheit der Frau als islamische Lebensmitte und wichtigster Bremsklotz im stagnierenden Dialog bleibt ausgeklammert. Als kennzeichnend erscheint hier das Freitagsgebet, das als „nur für die Männer verpflichtend“ eher beiläufig erwähnt wird, als wenn es nur um eine Entlastung der Frauen ginge. Das Gegenteil ist der Fall: Das Freitagsgebet ist von zentraler Bedeutung und mithin obligatorisch, weil es die politische Linie ausgibt, die man exklusiv den Männern vorbehält und dabei zugleich als sichtbare Selbstbeglaubigung die Frauen von jeder Teilnahme am öffentlichen Leben ausschließt. Interessant ist indessen der EKD-Vorschlag, die reale Bedrohungslage der Muslimfrauen zu entlasten, indem die Strafverfolgung der hohen Zahl von Körperverletzungen nicht mehr der Anzeige der Betroffenen überlassen wird (54f.). Ebenso geht man auf den wichtigen Aspekt der islamischen Ehe per Kaufvertrag ein, auf dessen Basis immer mehr muslimische Paare heiraten und dabei das Standesamt übergehen. Ebenso behandeln beide Handreichungen die zahlreichen Probleme, die in Ehen von Muslimen mit nichtmuslimischen Frauen auftreten, wobei sich die Muslimfamilie rigoros das Sorgerecht für die Kinder sichert und tragische Situationen verursacht. Zwar weisen die Autoren beider Handreichungen auf den Reformbedarf der Muslime in Deutschland hin – die DBK weniger, die EKD mehr – doch ist beiden nicht klar oder nicht der Erwähnung wert, daß die oberste Priorität des Islam in der Kontrolle der Frau als politischer Dimension besteht. Ihrer uneingeschränkten, sexuellen und personalen Verfügbarkeit ist alles andere strikt zu unterordnen, um die biologische Reproduktion und damit den Bestand der Umma zu sichern. Da dieser Priorität nichts vorgeht, ist sie auch offizieller Teil des Djihad, des Kampfs gegen das Nichtislamische, sei es verbal oder handgreiflich. Wer seine Frau, Tochter, Schwester, Nichte sexuell diszipliniert, verprügelt oder im Zweifel auch tötet, handelt im Auftrag Allahs. Wenn dieser Auftrag auch die Tabus der Tötung (von Muslimen) und des Inzests durchbricht, erklärt sich von selbst, warum die gläubigen Muslime um Fassung ringen, wenn sie auf etwas so „Normales“ wie die weibliche Verhüllung, geschweige denn das „Stück Stoff“ des Kopftuchs verzichten sollen. Dabei liegt ihnen fern, sich auf einen „Brauch des Mittelmeers“ zu berufen. Wie in diesem Kontext die „freiwillige“ Verhüllung bzw. 218

die Religionsfreiheit allgemein zu sehen sind, bleibt hartnäckige Leerstelle in den beiden Handreichungen wie auch im gesamten „Dialog“.

Der Djihad Über die Reproduktion der Umma verbindet sich der innere Djihad gegen die Frauen untrennbar mit dem äußeren Djihad, der sich früher oder später gegen alle Widerstände wenden muß, die der Verbreitung nämlicher Umma und ihrer schariatischen Basis entgegensteht. Die Radikalisierung des gesamten Islamraums in den letzten drei Jahrzehnten hat ihre Wirkung auch auf die deutschen Muslime nicht verfehlt, die sich von islamistischen, offiziell akzeptierten Verbänden führen lassen. Damit konnten Abschottung, interne Kontrolle und Bereitschaft zur Denunziation zunehmen, so daß es schwierig ist, zuverlässige Umfragezahlen zu ermitteln, geschweige denn „Zivilmuslime“ vor Mikrofon und Kamera zu bekommen, die den Mut haben, sich zur politreligiösen Lage der Gemeinschaft zu äußern. Dennoch erscheinen Schätzungen der letzten Jahre nicht unplausibel. Danach gelten zwei Drittel als passive, „schweigende Mehrheit“, während das Restdrittel aus gläubigen, regelmäßigen Moscheegängern besteht, die wiederum zu einem Drittel den islamistischen Gruppen und Verbänden angehören bzw. zu etwa zwei Dritteln mit ihnen sympathisieren. Nachdem die offizielle Zahl der Ausländer in Deutschland über viele Jahre bei 8 Millionen eingefroren war, wurde sie um die Mitte des Jahres 2006 auf die offenbar realistischere Zahl von 15 Millionen freigegeben. Um diesen Schub zugleich auch verbal verdaulich zu machen, wurde ihre Bezeichnung auf „Menschen mit Migrationshintergrund“ abgeändert. Kurioserweise erfaßte dieser Vorgang die Muslime zunächst nicht, so daß der Anteil ihrer Größenordnung zwischen 3 und 4 Millionen schlagartig von etwa 40 Prozent auf rund 20% verringert wäre. Da dies niemand ernsthaft annimmt und der muslimische Anteil an der Gesamtmigration seit zwei Jahrzehnten die 40 Prozent nur zeitweise und unwesentlich unterschritten hat, ist zunächst – bis angepaßte Zahlen vorliegen – eine muslimische Bevölkerung von etwa 6 Millionen anzunehmen. Das Drittel der Muslime, die man dem islamistischen Umfeld zurechnet, stellt sich mithin auf ca. 2 Millionen, die sich wiederum um die meisten Frauen und Kinder reduzieren. Zwar drückt die Modernisierung inzwischen auch auf die muslimische Reproduktion, doch können wir noch nicht von der Kleinfamilie ausgehen, wie sie bei der deutschen Basisbevölkerung üblich ist. Wer daher 1 Million Muslime in Deutschland annimmt, denen der Begriff des Djihad als aktiver Kampfbegriff etwas bedeutet, setzt sich kaum dem Vorwurf aus, die Situation zu pauschalisieren oder gar, wie es im „Dialog“ oft heißt, „Ängste zu schüren“. Wenn es denn solche gibt und Interesse an ihrem Abbau besteht, müssen sich die Verantwortlichen fragen lassen, wie sie das linientreue, weiter wachsende Islam-Potential nutzen wollen. Nach offizieller Lesart stellen alle Muslime eine „Bereicherung“ dar, so daß dem DjihadDrittel besondere Aufgaben im laufenden „Strukturwandel“ zufallen. Wie gehen nun die Handreichungen mit dem Djihad um? Bezogen auf seine bisherige Methode verfährt das DBK-Papier zunächst erstaunlich faktenorientiert und 219

erläutert den Djihad als historisch gewachsenes Phänomen, das Orthodoxe, Mystiker und die Masse der Muslime vereinnahmte und bis heute fasziniert. Da man das aktive Kampfgebot und die gewaltsame Unterwerfung nicht ständig praktiziert habe, seien auch Phasen der friedlichen Koexistenz entstanden. Diese Aussage gehört nun wieder zum Dialog-Arsenal des Banalen, weil der Begriff des Djihad zwar auch „Anstrengung“ bedeutet, es aber schlicht zu anstrengend und finanziell ruinös ist, sich im unentwegten Kriegszustand zu befinden. Gerade auch mit Rücksicht auf die Radikalisierung der letzten drei Jahrzehnte überzeugt der Hinweis auf den „Frieden des Islam“ nicht. Somit fordern die Autoren, daß sich die Muslime einer Diskussion der gegenläufigen Aussagen in Koran und Tradition stellen, denn immerhin hätten sich auch die Christen vom Denken der Religionskriege gelöst (81f.): „Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß es den zeitgenössischen Muslimen nicht ebenfalls möglich sein sollte, sich mit dem problematischen Erbe des Dschihadgedankens auseinanderzusetzen“ (82 f.). Demnach müßten sich viele Gründe für einen solchen innerislamischen Diskurs finden lassen, im weiteren Verlauf aber ausbleiben, weil es sie schlicht nicht gibt. Weder wird die Rolle der Islamisten, noch die Rolle der Autoritäten – AzharUniverstät, Medina-Moschee, Fatwa-Rat – erklärt, die dem militanten Islam den Rücken stärken. Diese elitäre Allianz, die nach wie vor eine sich selbst legitimierende Endlosschleife bildet und vom westlichen „Dialog“ unterstützt wird, macht Kompromisse überflüssig. Angesichts der enormen wirtschaftlichen Interessen treten ideelle Aspekte wie die strapazierten „Menschenrechte“ in den Hintergrund. Darauf läßt allemal auch der bisherige Verlauf des einschlägigen Machtpokers und des „Dialogs“ schließen. Zwar weist das DBK-Papier auf die Hemmnisse durch Energiepolitik, gewaltbereiten Islamismus und korrupte Regierungen hin, doch flüchtet es sich wiederum in die bekannte Palliativsprache, die in aller Regel sachlich falsch und damit islamischen Interessen dienlich ist. So auch hier: „Diesen expansionistischen Dschihad zu führen, ist keine individuelle Pflicht eines jeden Muslim. Es genügt, wenn die Staatsführung dafür Sorge trägt, daß er weitergeht“ (80). Nicht nur in diesem Kontext, sondern auch in vielen anderen Aspekten fallen die Einlassungen des „Dialogs“ oft so abweichend von den gesicherten Tatsachen aus, daß die Grenzen zwischen Nachplappern, Halbwissen und Lüge verschwimmen. In seiner Abhandlung über „Machtausübung und private Gewalt im Islam“ leitet der Orientalist Tilman Nagel aus dem Bezug zwischen Tradition und Moderne die Begründung her, warum Muslime den Systemfeind nicht nur belügen, sondern aktiv bekämpfen, also das Gewaltmonopol besetzen müssen. Jeder Muslim ist zur eigenen Entscheidung aufgefordert, wie er Allahs oberste Gebote, die Stärkung und Verbreitung der Scharia, das „natürliche Wachstum“ des Islam, optimal fördert. Hier kommt der Begriff des „Vertrags“ ins Spiel, mit dem die muslimischen Repräsentanten – Türken wie Araber – den Verantwortlichen kurzfristig staatskonformes Verhalten suggerieren, langfristig jedoch den Wandel vom Vertragsstatus zum „Islamland“ im Auge behalten. Die DBK-Autoren praktizieren dabei oft bewährten ideologischen Relativismus: Sie ziehen das Djihad-Thema ins Unverbindliche, daraus allerdings den verbindlichen Schluß, daß der Glaube des Muslim keine Rolle spielt. Während man hier 220

zwangsläufig zu falschen Schlüssen kommt, die zu konkreten Gefahren für den Staat führen können, bleibt das EKD-Dokument auf dem Boden der islamischen Grundlagen. Gerade weil der Koran ein vieldeutiges Djihad-Manifest ist und mit aggressiven Anweisungen die – historisch oft bestätigte – Dominanz über den Nichtislam anstrebt, sind die Dialog-Parteien um so mehr gefordert, sich um Ausgleich zu bemühen. Dabei stellt die permanent erkennbare, überall wirksame Klammer von Religion und Politik, die ebenso zwanghafte Scharia-Reflexe bedingt, das zentrale Problem des Islam im pluralistischen Rechtsstaat dar. Zu dessen Bewältigung schlägt die EKD ein zweistufiges Projekt vor, das die Monotonie des bisherigen „Dialogs“ konstruktiv übersteigen könnte: zum einen die „Entflechtung“ des Filzes zwischen Glaube und Staat, zum anderen der Gewaltverzicht als integraler Bestandteil des Glaubens (45 f.).

Scharia und Moschee Kein Wunder, daß die Islamvertreter empfindlich reagierten und harsche Kritik an der EKD-Position übten, die sich erlaubt, sogar auf der vom Islam so gefürchteten Mission zu beharren. Dessen klares Ziel ist nach wie vor das „natürliche Wachstum“ von Scharia und Umma, das durch den EKD-Vorschlag unnatürlich gebremst und schließlich beendet würde. Aus dem gleichen Grund zogen sie im Frühjahr 2007 ihre Loyalitätserklärung zur deutschen Verfassung zurück, die sie wenige Monate zuvor gegenüber der vom Innenministerium geleiteten „Islamkonferenz“ abgegeben hatten. Solche Vorgänge, die auch manche Teilnehmer kaum durchschauen, ganz zu schweigen von der Öffentlichkeit, werden gern von muslimischen Profis zur Desinformation genutzt. Verwirrkünstler wie Islamratsmitglied Ayman Mazyek und der Publizist Navid Kermani führten die Medien gekonnt an der Nase herum. Sie vollführten einen beeindruckenden Schleiertanz um die Frage, wer wann was abgeschwächt oder bewahrt hatte, nicht jedoch um das Faktum selbst: den Rückruf der Loyalität zur Verfassung (dradio.de, 11.5.07). Daß beide ein problematisches Verhältnis zur Gewalt haben, verleiht ihnen in der aktuellen Politstruktur den operativen Bonus, ohne den eine Karriere im interkulturellen „Dialog“ wenig Aussicht auf Erfolg hat. Da auch die Handreichungen zu diesem Umfeld gehören, mag deutlich werden, warum der „Dialog“ in diesem fundamentalen Aspekt auf der Stelle tritt und dabei unaufhaltsam an ethischem und rechtlichem Boden verliert. Im Zentrum dieser Frage steht der Gewaltverzicht, der die Aufgabe von Djihad und Scharia bedeutet und mithin einer Art Teilabfall vom Islam entspricht. Dem tragen die Kirchen allerdings traditionell Rechnung. Eine beliebte Floskel der Dialog-Terminologie nutzend, betonen sie oft, daß „nicht alle“ Muslime den Djihad bzw. die Scharia wollen bzw. „viele von ihnen“ die Demokratie anstreben. Freilich hat weder irgendjemand ersteres behauptet, noch gibt es Daten oder Anzeichen, die letzteres unterstützen. Solche Schwammformeln, die unprüfbar und durch die Religionsfreiheit zusätzlich immunisiert sind, begleiten seit vielen Jahren auch die islamische Infrastruktur, die 221

Ausweitung des Moscheenetzes. Beide Handreichungen behandeln dieses empfindliche Thema mit gebührender Unverbindlichkeit, wobei sie der Bevölkerung eine „Gelassenheit“ abverlangen, die sie den Muslimen ersparen. Aus merkwürdig kühler Distanz registrieren sie „Ängste“, als wenn sie die Bevölkerung nur am Rande etwas anginge und Verantwortung eine Zumutung bedeutete. Dem entspricht das deutliche Desinteresse, mit dem die gesamte westliche Welt den langsamen Christozid im Islamraum zur Kenntnis nimmt. Die DBK befürwortet den Wunsch der Muslime nach Moscheen, welche „die gleichen Funktionen erfüllen können wie in der Heimat“ (126), wobei bekannt ist, daß sie dort auch als Hauptquartier für Kampfhandlungen und Waffenlager dienen. Der kriegerischen Moschee-Tradition scheint sich immerhin die EKD bewußt zu sein, wenn sie von provokanten Kampfnamen wie „Eroberer“ abrät (67). Um so mehr verwundert, daß sie den deutschen Nationalfeiertag als für den „Tag der offenen Moschee“ besonders passend hält. Wenngleich es hier nicht um ein Gottes-, sondern Versammlungshaus geht, rufen die Muslime und ihre „Dialog“Soldaten immer lauter nach prätentiösen Kuppelbauten und möglichst hohen Minaretten. Dazu paßt der Ruf des Muezzin, dessen Bekenntnis zwar – nicht vergleichbar mit dem Kruzifix – die negative Glaubensfreiheit verletzt, aber keine Ausgrenzung zu fürchten braucht, weil nur die Lautstärke zählt und die Religionsfreiheit ohnehin auf Muslime und Nichtmuslime unterschiedlich angewendet wird. Den „demokratischen“ Institutionen fehlt ebenso wie den Kirchen die Fähigkeit, kongenial auf die Universalität des Islam einzugehen. Es bedarf einer MetaInstitution, die eine übergeordnete Leistungsqualität entfalten muß, wenn sie das islamische Polit-Phänomen mit den Institutionen des pluralen Rechtsstaats in Einklang bringen will. Bislang ist das Gegenteil der Fall: Mit dem „Dialog“ besteht eine Struktur von „Islamreferenten“, die sich zwar parallel in Parteien, Stiftungen, Wirtschaft, Justiz etc. betätigen; sie beschränken sich dabei allerdings auf ein Bündel islamdienlicher Leistungen, während sie sich weigern, auch die Mehrheitsgesellschaft mit vergleichbarer Sorgfalt zu bedienen. Wer eher den Rechts- als den Schariastaat im Auge hat, muß also einen fachlich und sachlich kompetenten Dialog anstreben, neue Strukturen mit aufgeklärten Muslimen entwickeln, die sich weniger für die Verwirklichung islamischer Symbole, sondern für das Gemeinwohl ihrer Gemeinde interessieren. Wie die islamischen Wirtschafts- und Bildungsschwächen zeigen, ist dieses Gemeinwohl kaum zu optimieren, wenn Abschottung und Kulturzentren gefördert und den Frauen die Grundrechte verwehrt werden. Schon der große Islam-Philosoph und Jurist Averroes (gest. 1198) hatte sich unbeliebt gemacht, als er einst die Scharia reformieren wollte und seinen spanischen Landsleuten vorwarf, ihre Frauen „wie Pflanzen“ zu behandeln. Vor dieser progressiven Denkweise scheuen acht Jahrhunderte später nicht nur die islamistischen „Repräsentanten“, sondern auch viele ihrer Hilfssoldaten, die treuen „Islamreferenten“ in den deutschen Institutionen und eine erhebliche Zahl ähnlich indoktrinierter Journalisten in den diversen Medien zurück. Indem sie sich gänzlich solidarisch mit dem „Glauben“ der Muslime erklären, zwängen sie sich nolens volens in das Korsett der Scharia, des politreligiösen Regelwerks, das sowohl in 222

den Staaten Allahs eine erstaunliche Renaissance erlebt, als auch bei den westlichen „Islamreferenten“ auf wachsende Akzeptanz stößt.

Der Gebetsdialog Den Kirchen kommt hier die Sonderaufgabe des „sozialen Dialogs“ zu, der in die Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Altenheime hineinwirkt. Gerade weil beide Dokumente in dieser Hinsicht den Eindruck von Verantwortung und Engagement vermitteln, ist es um so wichtiger, daß die andere Seite diese Einsatzfreude nicht durch Desinteresse oder auch vorgetäuschte Kooperation verspielt. Eine solche Gefahr ist, wie der Verfasser selbst in zahlreichen Kommunen erleben konnte, konkret gegeben und kommt auch in den Handreichungen zum Ausdruck. Nicht selten wird diese Gemengelage durch ungeduldige Dialogführer vor Ort verkompliziert. Sie möchten den Religionswandel durch gemeinsame Gebete mit den Muslimen beschleunigen, ein sich ausbreitender Drang, den der Kölner Kardinal Meisner für sein Bistum unterbunden hat. Er fußte auf Papst Benedikt, der zuvor – anläßlich des 20. Jahrestages von Assisi – jede interreligiöse GebetsVermischung ausgeschlossen hatte. Beide Dokumente gehen auf diesen sehr sensiblen Praxisaspekt ein – die EKD mehr (113 ff.), die DBK weniger (181 f.) –, wobei letztere auf das bekannte konziliare Gebets-Passepartout verweist: „Der Heilswille umfaßt auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die sich zum Glauben an Abraham bekennen und mit uns den einen Gott, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.“ Damit sogar auch die Rede von „demselben Gott“ sein kann, bleiben wichtige Aspekte unerwähnt, die ansonsten störende Unterschiede erkennbar machen würden: die ganz andere Funktion Allahs als nicht ruhender „Schöpfer“, der – identisch mit der Zeit – die Welt ständig neu schafft, und die ganz andere Funktion Jesu, der am Jüngsten Tag alle Christen töten wird, die nicht zu Allah übertreten. Dennoch scheinen die Autoren mit dem kollektiven Charakter der Ritenmechanik, welche die Menschen wie physikalische Teilchen auf den Mekka-Magneten ausrichtet, einen gewissen Unterschied zu ahnen. Gleichwohl überwiegt erneut die obligate Eigenschwäche, die zum Bezug auf den Islam drängt. So „deckt es (das christliche Gebet) sich mit Grundaspekten des muslimischen Gebets: Dank, Anbetung und Lob ...“ Gemäß dem Wort Wittgensteins muß auch hier über das geschwiegen werden, über das man nicht reden kann: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Aus DBK-Sicht läßt sich dem Gemeinschaftsgebet offenbar eine zwar unverbindliche, dafür potentiell um so ergiebigere Perspektive öffnen. Das EKD-Papier kommt dagegen – gemäß der Suche nach Klarheit – nach ausführlicher Diskussion zu einem deutlicheren Ergebnis, wobei man auch die subtilen Fallstricke der Angelegenheit erkennt: „Das interreligiöse Gebet kommt aus theologischen Gründen nicht in Betracht. Auch jegliches Mißverständnis, es finde ein gemeinsames Gebet statt, ist zuverlässig zu vermeiden ... In diesem Sinne ist in jedem einzelnen Fall über den angemessenen Ort, Ablauf, Verantwortlichkeiten, Symbolik und mögliche Missverständnisse sorgfältig und verantwortlich zu entscheiden“ (117). 223

So kann die EKD der DBK-Eingottidee nicht folgen: „Ein gemeinsames Gebet in dem Sinne, daß Christen und Muslime ein Gebet gleichen Wortlautes zusammen sprechen, ist nach christlichem Verständnis nicht möglich, da sich das christliche Gebet an den Einen Gott richtet, der sich in Jesus Christus offenbart hat und durch den Heiligen Geist wirkt“ (115). Um so näher hätte gelegen, die Gottheiten auch bei ihren Namen zu nennen. Im Text erscheinen Gott und Allah dagegen durchgehend als „Gott“, wobei Allah zwar ein Gott, aber eben nicht Gott ist. An dieser Position machte EKD-Bischof Huber auch in der Öffentlichkeit keine wirklichen Abstriche, wenngleich seinen Autoren ein wichtiger Islam-Aspekt entgangen sein mag, der von erheblicher Wirkung sein kann. Sie halten eine „respektvolle“ Teilnahme am Freitagsgebet für denkbar, das es ihnen offenbar besonders angetan hat. Bei dessen zentraler politischer Bedeutung impliziert für Muslime die gelegentliche Präsenz von Christen die Anerkennung ihrer DhimmaUnterwerfung ebenso, wie sie für die allgemeine Unterstützung des Moscheebaus zutrifft. So gilt auch für sie: Die christlich-jüdischen Gottesbegriffe kann man auf arabisch zwar auch Allah nennen, aber sie eben nicht Allah. Er ist das Ende aller Gottheiten, so wie Muhammad das Siegel der Propheten ist.

Ein weiblicher Kirchenmufti Krieg und Frieden, Beten und Essen, Ehe und Familie, Fasten und Wallfahrt, Kaufen und Erben sind verschiedenste Bereiche, die nach ein und demselben Kodex der Scharia geregelt werden und aufgrund ihrer technischen Einheitlichkeit geeignet scheinen, sich mit den pluralen Korrektheitscodes westlicher Toleranz zu verschränken. Abweichungen, die im Islam als Sünde gelten, können auch im interkulturellen Betrieb der Westgesellschaft empfindliche Folgen haben, die sich nur in der Härte der Ausgrenzung unterscheiden. So wie sich die Rechtssysteme der liberalen Demokratien in Europa entwickeln, scheint sich die Religionsfreiheit auf die nichtreligiös-politischen Regeln der Scharia auszudehnen. Wie erläutert, lassen auch die Dokumente der beiden Kirchen nicht erkennen, daß man die Tragweite der Scharia-Bestimmungen und ihre desintegrative Wirkung sowohl auf die Demokratie als auch die Kirchen selbst erfaßt hat. Vielmehr entfalten die „Islamreferenten“ in der aktuellen Dialogpraxis eher eine Art charismatischer Konkurrenz um Anpassung und islamisches Wohlwollen. Aus ihrer Sicht wird das Menschsein selbst beschädigt, wenn der Nichtmuslim die Akzeptanz des Islam durch irgendwelche Vorbehalte trübt. So erhebt allein schon seine Religion den Muslim zum sakrosankten Theologen, der bei geschickter Nutzung dieser Offerten die Qualität eines Heilsträgers annehmen kann. Die praktische Erfahrung bestätigt solche Vorgänge immer öfter und auf immer gleiche Weise. Mit großer Inbrunst wird diese Tendenz von der „Kirche von unten“ vorangetrieben. Besonders allahvernarrte „Islamreferenten“, die man auch „Kirchenmuftis“ nennen kann, verstehen sich als Vorhut einer religiösen Mutation, die mit ihren muslimischen Heilsobjekten möglichst rasch verschmelzen möchte. Eines der in der Szene bekannteren Beispiele ist die Beauftragte für den Interreligiösen Dialog der Diözese Würzburg, die kein „Dialog“-Klischee ausläßt und 224

somit eher als „Beauftragte für den Islam“ unterwegs ist. In scheinbarem Gegensatz zur Kirche von oben, die immerhin ihr Gehalt bezahlt, erhebt sie die Forderung, daß die Juden und Christen mit den Muslimen nicht nur an den gleichen, sondern an denselben Gott glauben sollen (Pressestelle des Ordinariats Würzburg 13.4.07). Im vorauseilenden Gehorsamsfundamentalismus, der diese Dialogform auszeichnet, geht sie über die islamische Einrichtung der Dhimma hinaus und möchte offenbar einen neuen Typus von Krypto-Konvertiten schaffen, der irrtumsfrei an denselben Gott, also Allah glaubt. Auch ohne offizielle Legitimation breitet sich diese Transformation durchaus in der Kirche aus und kann den Glaubensmutanten auch konkrete Vorteile verschaffen. So auch der „Dialogbeauftragten“: Sie kann immerhin das ihr verwehrte Priesteramt überspringen, zum Kirchenmufti mutieren und – sozusagen par ordre de moufti ecclésiastique – in vormodernem Stil den Glauben an „denselben Gott“ verordnen. Für die solcherart Beschenkten behält sich Allah indessen Maßnahmen vor, die bei „demselben“, jüdisch-christlichen Gott unbekannt sind. Unverändert stehen sämtliche Vorschriften des Djihad und der Dhimma bis hin zu apokalyptischen Höllenstrafen zur Debatte. Sie lassen sich ohne Ausnahme realisieren, weil bekanntlich jeder Muslim das Gesetz Allahs selbst besetzen kann. Wie der erwähnte Orientalist Nagel schreibt, ist es diese Gewalt vermittelnde Autonomie, die den Untertan zum Herrscher macht und ihre „begeisternde“ Wirkung auf die „westlichen Islamenthusiasten“ nicht verfehlt hat. Der Verfasser dieses Beitrags hat an anderer Stelle belegt, daß es diese Autonomie ist, die die „Islambeauftragten“ ermächtigt, die demokratischen Institutionen zum „islambeauftragten“ Parallelstaat umzubauen, ganz ähnlich den NS-Institutionen, die unter Einsatz primitiven Personals der Verwaltung des Altstaats parallel aufgezwungen wurden. Da das EKD-Dokument diesen Trend deutlich bremst, erscheint es unserem weiblichen Kirchmufti als Sand im Getriebe, der die dialogische „Riesenbaustelle ins Stocken bringt“, mithin das natürliche Wachstum der Scharia stört, denn „besonderes Gewicht liegt auf dem Austausch mit dem Islam“. Ihr Dienstherr, Papst Benedikt XVI., wirkt offenbar als besonderer Dorn im kirchenblinden Auge, indem er sich einst mit der Regensburger Rede blasphemisch gegen die Religionsmutation auflehnte und unfähig scheint, „zu begreifen, was anderen heilig ist und das mit Respekt zu betrachten“. Notwendigerweise und mit genüßlicher Polemik verstößt die Muftistin gegen ihre eigene Scheindirektive, „Ideal mit Ideal und Realität mit Realität zu vergleichen.“ Denn würde sie angewendet, müßte man islamweite Gewaltaspekte diskutieren – Terror, Christenverfolgung, Frauenrepression – die durch die Dialogbrille eher als „Mißbrauch des Islam“ erscheinen. Die eklektische Islamsicht, die „Ideal mit Realität“ gleichsetzt, wäre mit den bekannten Anweisungen des Korans konfrontiert, die mit unentwegtem Verbrennen, Kopfabschlagen, und Hautabziehen (Suren 4, 22, 41, 66, 71) eine Renaissance des inquisitorischen Scheiterhaufens in Aussicht stellen und – wie unsere Muftistin nach dem Muster von Sure 5 vorschlägt – auch mit anderen Problempunkten des Djihad und der Dhimma dazu anregen, „nach den guten Dingen zu wetteifern“. 225

Mithin ist sie deutlich bestrebt, nicht in die Fettnäpfe der Dialogkirche zu treten, verordnet aber in altklerikalem Machtstil das „Stück Stoff“ des Kopftuchs, um zu verhindern, daß die muslimischen Frauen sich etwa gegen das männliche Menschenrecht des Sexualdiktats auflehnen könnten. Im modernen Doppeltrend von Enthüllung und Abtreibung bleibt abzuwarten, ob diese Methode nachhaltig „fruchtet“. Nicht nur wegen der zunehmenden Bildungsmisere werden sich auch nichtmuslimische Frauen in den Sog des Religionswandels ziehen lassen. Wie die Geschichte zeigt, sind Frauen überhaupt für religiöse Attraktionen aufgeschlossen. Dies schließt nicht auch aus, sondern eher ein, daß sie der laufende Trend zur geistigen Einfachheit auch biologisierend erfaßt und wieder zu ähnlich bestellbaren „Saatfeldern“ rückentwickelt, wie sie in Europa bis weit ins 19. Jahrhundert üblich waren. Vor der Rückkehr derartigen Buchstabenglaubens versagt selbst der jesuanische Geist, der einst die Frauen vom „ersten Stein“ befreite. Immerhin gesteht ihm der Würzburger Dialoggeist – zumindest vorläufig – eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Geist „vieler muslimischer Mystiker“ zu, so daß er in dieser eher esoterischen Form (noch) in der Kirche verweilen darf. Dem Gottesbild des DBK-Dokuments entspricht das zwar nicht ganz, doch war der „mystische Leib Christi“ seit jeher jenem Geist ausgesetzt, „der weht, wo er will“. Papst Benedikt und die Kirche aller Windrichtungen dürfen gespannt sein, mit welchen Entwicklungen die angekündigte Neuauflage der „Christen und Muslime in Deutschland“ aufwartet. Dem Vorsitzenden, Kardinal Lehmann, zufolge scheint allerdings ein neuer Realismus in bezug auf Fragen des Gottesbildes, der Gewalt und der Wurzeln mit den jüdischen Dhimma-Brüdern möglich. Was immer man den beiden Handreichungen an Verbesserungen empfehlen mag – sei es aus orientalistischer, theologischer oder hermeneutischer Sicht – so bleibt festzustellen, daß an ihr Niveau die Muslim-Produkte nicht im entferntesten heranreichen. Wie erläutert, bestand bislang weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit dazu. Die fest verankerte EU-Ideologie des politreligiösen „Respekts“ und der schariatische Herrschaftsglaube passen zu gut zusammen, als daß ihn die Demutshaltung, die ihm die islamische Dominanzforderung vorschreibt, hätte überschreiten können. Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist, Volkswirt und Systemanalytiker, ist Ko-Autor der „Encyclopaedia of Islam“ und Autor zahlreicher Bücher über den Islam.

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Walter Brandmüller

Vorbereitungsjahr für Seminaristen In seiner Ansprache an die zum Ad limina-Besuch in Rom weilenden deutschen Bischöfe ging Papst Benedikt XVI. auch auf Probleme der Priesterausbildung ein. Es kann nicht verwundern, daß er die vielerorts in Seminarien üblichen gruppendynamischen Übungen, Selbsterfahrungsgruppen und andere psychologische Experimente ablehnte. Was er hingegen mit Nachdruck forderte, war die Einrichtung des im Konzilsdekret „Optatam totius“ über die Priesterausbildung vorgeschriebenen „ausreichend langen Einführungskurses“ vor dem Beginn des eigentlichen philosophisch-theologischen Studiums: „In dieser Einführung soll das Heilsmysterium so dargelegt werden, daß die Alumnen den Sinn, den Aufbau und das pastorale Ziel der kirchlichen Studien klar sehen; daß ihnen zugleich geholfen werde, ihr ganzes persönliches Leben auf den Glauben zu gründen und mit ihm zu durchdringen; daß sie endlich in der persönlichen und frohen Hingabe an ihren Beruf gefestigt werden.“ Zuvor hatte das Konzil schon gefordert, daß die Seminaristen jenen „Grad humanistischer und naturwissenschaftlicher Bildung erreichen, der in ihrem Land zum Eintritt in die Hochschulen berechtigt. Sie sollen zudem soviel Latein lernen, daß sie die zahlreichen wissenschaftlichen Quellen und die kirchlichen Dokumente verstehen und benutzen können. Das Studium der dem eigenen Ritus entsprechenden liturgischen Sprache – das ist in unserem Falle das Latein – „muß als notwendig verlangt werden; die angemessene Kenntnis der Sprachen der Heiligen Schrift und der Tradition soll sehr gefördert werden.“ Wie steht es nun damit in Deutschland? Bislang wurde gewöhnlich auf die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems verwiesen, um die Notwendigkeit einer solchen Vorbereitung zu verneinen. Es hätte jedoch nicht der ernüchternden Ergebnisse der „Pisa“-Studien bedurft, um das Gegenteil zu beweisen. Wer immer in den letzten Jahrzehnten eine akademische Lehrtätigkeit ausübte, Examens- oder Seminararbeiten, ja sogar Dissertationen und Habilitationsschriften zu begutachten hatte, weiß ein Lied davon zu singen, daß selbst von Beherrschung der deutschen Muttersprache in vielen Fällen nicht die Rede sein konnte. Natürlich gilt dies in weit höherem Maße von der Kenntnis moderner Fremdsprachen und besonders des Lateinischen und Griechischen. Kann man jedoch wirklich noch von akademischem Niveau sprechen, wenn für Seminararbeiten kaum fremdsprachige Literatur herangezogen werden kann, wenn lateinische und griechische Quellentexte nur in Übersetzungen benutzt werden können, wobei die Studenten nicht in der Lage sind, die Korrektheit einer Übersetzung zu überprüfen? Dies aber ist heute und seit langem weithin der Fall. Noch schlimmer ist, daß man vor diesem Bildungsnotstand seit Jahrzehnten die Augen schließt. In Wahrheit verzichtet man damit auf wissenschaftliche 227

Ausbildung überhaupt. Die Frage ist, ob die Kirche sich einen derart oberflächlich ausgebildeten Klerus leisten kann. Sie kann und darf es keinesfalls, wenn immer sie am intellektuellen Diskurs der Gegenwart teilnehmen und als Gesprächspartner ernst genommen werden will. Es geht also nicht ohne solide Kenntnisse der klassischen und der einen oder anderen modernen Sprachen. Bedenkt man nun, daß ein zunehmender Teil des Priesternachwuchses sich aus Absolventen naturwissenschaftlich-technisch, musisch oder ökonomisch orientierter Schulen rekrutiert, deren Lehrpläne weder Latein- noch erst recht Griechischunterricht vorsehen, dann wird vollends klar, daß zur Erreichung des vom Konzilsdekret gesteckten Zieles irgendein Vorbereitungskurs niemals genügen kann. Es ist vielmehr hierfür ein ganzes Jahr notwendig. Man kann doch nur von einem dürftigen Feigenblatt sprechen, wenn wie bisher, in den ersten beiden Studienjahren Latinums- bzw. Graecumskurse mit je zwei Wochenstunden angeboten werden. Auf diese Weise kann weder ein halbwegs befriedigender Kenntnisstand in den klassischen Sprachen erzielt, noch das eigentliche Studium ernsthaft betrieben werden. Was dabei herauskommt ist eine Farce. Und nun die deutsche Muttersprache! Von ihrer Beherrschung hängt die kirchliche Verkündigung in hohem Maße ab. Das Wort Gottes verlangt ein dem Inhalt angemessenes Sprachgewand. Ebenso verlangen die Zuhörer vom Prediger ein gehobenes Sprachniveau. Das aber erreicht ein junger Mann nur, wenn er sich in der deutschen Literatur – auch in der Gegenwart – umgesehen hat. Auf diese Weise gewinnt er außerdem Zugang zum Lebensgefühl der Gesellschaft und zu den Fragen, die die Menschen unserer Zeit bewegen. Gerade auf sie muß aber der Prediger und Religionslehrer aus dem Glaubensgut der Kirche Antwort geben können – wenn er sie denn kennt. Beinahe noch dringlicher ist der Handlungsbedarf hinsichtlich des Katechismuswissens und der religiösen Praxis der Studienanfänger. Es ist hierbei zu konstatieren, daß die Curricula der höheren Schulen eine umfassende Darstellung der Glaubens- und Sittenlehre sowie der Lehre von Gebet und Sakramenten nicht vorsehen. In nicht wenigen Fällen entstammen junge Leute, die sich mit dem Gedanken an das Priestertum tragen, auch Familien, in denen sie keine normale katholische religiöse Praxis – Gebet, Sonntagsmesse, Beichte, Kommunion, Feier des Kirchenjahres etc. – kennengelernt haben. Selbst viele Pfarreien vermitteln all dies nicht mehr in zureichendem Maße. Wie aber soll nun ein junger Mann, dem all dies eher fremd ist, sich im Seminar zurechtfinden, ein persönliches Glaubens- und Gebetsleben aufbauen, sich um seine sittliche, charakterliche Formung bemühen und fehlende altsprachliche Kenntnisse erwerben – wenn das alles neben dem Studium herlaufen muß? Glaubte man, der gegenwärtige Zustand habe so seine Richtigkeit, wäre dies ein Zeichen mehr für die – uneingestandene – Geringschätzung der intellektuellen und geistlichen Formung des Priesternachwuchses, von dem man wohl eher „soziale Kompetenz“, kommunikative und didaktische Fähigkeiten erwartet als solide wissenschaftliche und allgemeine Bildung. Daß ein so defizitär ausgebildeter Klerus den pastoralen Herausforderungen von heute gewachsen sein könnte, ist jedoch eine Illusion. Man sollte sich ernstlich die Frage stellen, ob der 228

Auszug aus den Kirchen nicht auch eine Folge davon ist, daß die Predigt weithin hinter den Anforderungen der Zeit zurückbleibt. Was also ist – von einer ohnehin notwendigen gründlichen Reform der theologischen Studien einmal abgesehen – zu tun? Es müßten erneut die Voraussetzungen für ein fruchtbares Studium geschaffen werden – durch die Einrichtung eines Vorbereitungsjahres, das den eigentlichen Philosophie- und Theologiestudien vorausgeht – im Sinne des II. Vatikanums. Wie aber könnte ein solches Vorbereitungsjahr aussehen? Nun, zuallererst müßte es sich um ein wirkliches, ganzes Jahr handeln. In einem Stundenplan wäre sodann angesichts der weitverbreiteten religiösen Unwissenheit jeden Tag eine Stunde der Lektüre und Erklärung des „Katechismus der katholischen Kirche“ zu widmen. Ein wichtiger Effekt davon wäre es auch, daß die Studenten an die Universität ein solides Gerüst religiösen Grund-Wissens mitbrächten, das es ihnen gestattete, das in den Vorlesungen Gehörte in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Sie könnten dann, und das ist im Hinblick auf die akademische Wirklichkeit nicht zu unterschätzen, – auch erkennen, ob die Lehre der Professoren mit jener der Kirche übereinstimmt – oder nicht. In vielen Fällen hätte dieser Katechismusunterricht auch die Folge, daß dadurch den Studenten erstmals ein umfassender Überblick über das Ganze des kirchlichen Glaubens – und damit eine solide Grundlage für den persönlichen Glauben vermittelt würde. Von der Muttersprache war schon die Rede und von ihrer Bedeutung für die Verkündigung in Predigt und Unterricht. Der deutschen Sprache und Literatur wäre gleichfalls jeden Tag eine Stunde einzuräumen. Das gleiche gilt für das Latein und das Griechische. In eine fünfte Stunde am Tag könnten sich eine moderne Fremdsprache, Kunst- und Musikgeschichte teilen. Mögen diese Disziplinen auch am Gymnasium gelehrt worden sein, so bedürften sie doch für den künftigen Priester einer besonderen Ausrichtung und Vertiefung. Es genügt, darauf hinzuweisen, wie viele historisch und künstlerisch bedeutende Kirchenbauten wir besitzen. Hinzu kommt die vielerorts beachtliche Ausstattung mit wertvollem Inventar an Statuen, Gemälden, liturgischen Gefäßen und Gewändern. Ein verantwortlicher Kirchenrektor, der nicht in der Lage ist, dergleichen in seinem Wert zu erkennen, es zeitlich wenigstens ungefähr einzuordnen, kann hier nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten. Wenigstens allgemeine Kenntnisse auf diesem Gebiet können jedenfalls ein entsprechendes Problembewußtsein vermitteln, das zur Vorsicht im Umgang mit dem künstlerischen Erbe anleitet. Schließlich hat ein für eine historisch bedeutendere Kirche verantwortlicher Priester auch mit den Behörden der Denkmalspflege, mit Handwerkern und Restauratoren zu verhandeln. Hat er von all dem keine Ahnung wird er eine denkbar schlechte Figur abgeben und von seinen Gesprächspartnern nicht ernst genommen werden. Analoges gilt von der Musik, die wegen ihrer unentbehrlichen Funktion für den Gottesdienst besonderer Aufmerksamkeit durch den Klerus bedarf. Da nun geht es darum, die Auswahl der zu singenden oder zu spielenden Kompositionen im Einklang mit den Erfordernissen der Liturgie vorzunehmen. An den wenigsten 229

Kirchen sind Kirchenmusiker tätig, die auch eine liturgische Ausbildung erhalten haben. Gewöhnlich sind Chorleiter und Organisten eben Musiker – oder gar Dilettanten. So kommt dem Priester bei der musikalischen Gestaltung der Liturgie eine wichtige Rolle zu. Ein anderes Problem stellen die sich häufenden Konzerte in Kirchen dar, wobei darauf zu achten ist, daß nur geistliche Musik dargeboten wird. Im Vorfeld solcher Planungen sollte ein Pfarrer in der Lage sein, die Spreu vom Weizen zu scheiden. Ohne entsprechende Kenntnisse ist er dazu nicht in der Lage – ergo ist eine gewisse musikalische Bildung vonnöten. Von diesem eher pragmatischen Gesichtspunkt abgesehen sind es doch gerade die großen Schöpfungen der Musik, die die schönsten Erlebnisse bereiten. Zu ihnen sollten auch die Seminaristen hingeführt werden. Die Nachmittage und Abende könnten sodann für persönliches Studium, Sport und musische Aktivitäten frei bleiben. Eine gelegentliche Unterweisung in guten Umgangsformen sollte nicht fehlen. Wenn dann noch die eine oder andere Exkursion, eine gemeinsame Wallfahrt, Theater- bzw. Opernbesuch hinzukämen, könnten die jungen Leute ein reiches und schönes Jahr erleben. Würden die künftigen Seminaristen ein solchermaßen gestaltetes Vorbereitungsjahr durchlaufen, könnten sie ihr eigentliches Studium unbelasteter und gewinnbringender antreten als ohne die so vermittelten Fähigkeiten und Kenntnisse. Ein Vorteil dieses dem eigentlichen Seminareintritt vorgeschalteten Jahres bestünde darin, daß eine weitere Klärung der Frage nach der Echtheit der Berufung zum Priestertum erfolgen könnte. Sollte der eine oder andere diese Frage am Ende negativ beantworten, so hätte er eigentlich nichts verloren, sondern einen Zuwachs an Bildung, und wohl auch religiösen Gewinn erfahren. Wird hingegen die Entscheidung bis zum Ende des Studiums in der Schwebe gehalten, dann ist bei einem Wechsel des Berufszieles viel verloren. Nicht wenige denken in dieser Lage an einen kirchlichen Beruf als Pastoralassistent etc. Wie problematisch eine solche Lösung sowohl für den Betroffenen als auch für die Kirche ist, sollte nicht verkannt werden. Für die Seminarvorstände böte das Vorbereitungsjahr auch die Möglichkeit, daß sie die jungen Leute während eines ganzen Jahres immer besser kennenlernen könnten, was für eine seriöse Beurteilung der Kandidaten nur hilfreich wäre. Es ist schwer verständlich, daß im ganzen deutschen Sprachraum dieser Forderung des 2. Vatikanischen Konzils vierzig Jahre nach dessen Abschluß noch immer nicht entsprochen wurde. Zum Schluß sei noch eines bemerkt: Noch nie hat es zur Verbesserung bestehender Verhältnisse gedient, wenn man Hürden abbaute. Im Gegenteil! Es gilt die Latte couragiert höher zu legen. Solche Forderungen schrecken nur den Schwachen ab. Intelligente, kraftvolle Jugend ziehen sie an. Prälat Prof. Dr. Walter Brandmüller ist Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft in Rom.

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Manfred Bunte

Neuordnung der Arbeitslosenversicherung Schon immer haben die politischen Parteien um die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung gerungen. Schon immer war sie einer der Hauptgegenstände der politischen Auseinandersetzung. Zuletzt setzte Bundeskanzler Schröder im Rahmen seiner Agenda 2010 vom 14.3.2003 gegen alle Widerstände eine Reduzierung der Bezugsdauer des beitragsfinanzierten Arbeitslosengeldes durch, die vor ihm der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ am 14.11.2002 gefordert hatte.1 Ab 1. Februar 2006 beträgt daher die maximale Bezugsdauer nicht mehr 32 Monate, wie unter Kohl/Blüm, sondern nur noch 12 Monate, ab Vollendung des 55. Lebensjahres 18 Monate. Kanzlerin Merkel setzte eine paritätische Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2,3 Prozentpunkte durch. Seit dem 1.1.2007 gilt daher für die Arbeitslosenversicherung der neue Beitragssatz der Großen Koalition nämlich 4,2% statt 6,5% des beitragspflichtigen Lohnes – 2,1% für die Arbeitnehmer, 2,1% für die Arbeitgeber. Die ‚Reformen’ sind gerade mal in Kraft, schon fordern politische Kräfte erneut Änderungen in der Arbeitslosenversicherung. So sollen die eben erst festgelegten Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung – nach der Bremer Erklärung der CDU vom Januar 2007 – nicht von Dauer sein. Sie sollen paritätisch – d.h. zur Entlastung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern – noch weiter gesenkt werden. Am 22.03.2007 lehnte die Große Koalition den Antrag der Linkspartei im Bundestag ab, der forderte, daß jene, die länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, im Falle der Arbeitslosigkeit auch länger Leistungen erhalten sollen. Vor ihr hatten u.a. Rüttgers, Seehofer, der DGB ebenfalls vergeblich gefordert, Schröders Kürzung rückgängig zu machen. Gleichwohl halten alle Kritiker ihre Forderungen aufrecht. Schon in der Weimarer Republik war die Arbeitslosenversicherung Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Am 27.3.1930 zerbrach die erste große Fünf-Parteien-Koalition der deutschen Parlamentsgeschichte unter Reichskanzler Herrmann Müller, weil sich SPD, Zentrum, BVP, DVP und DDP nicht über die Arbeitslosenversicherung „einigen“ konnten.2 Aber muß sich die Politik über die Arbeitslosenversicherung „einigen“? Muß die Arbeitslosenversicherung ein Spielball der Politiker bleiben? Muß sie nicht! Ein Blick zurück auf 36 Jahre paritätisch finanzierter Arbeitslosenversicherung zeigt, daß es für die Arbeitslosen – und auch für die Arbeitnehmer – besser wäre, wenn (1.) die Arbeitslosenversicherung dem Machtkampf der Parteien entzogen würde, (2.) die Einkommens(ver)sicherung bei vorübergehender Arbeitslosigkeit nicht mehr paritätisch finanziert würde, sondern ausschließlich in den Händen der Arbeitnehmer läge und wenn (3.) die Arbeitnehmer und ihre Repräsentanten allein für

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Organisation und Leistungsversprechen einer neuen Einkommensversicherungsanstalt oder Bundesagentur für Einkommen zuständig wären. Gegenwärtig werden in den meisten Sozialversicherungen die Beiträge paritätisch aufgebracht – je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das Prinzip der Parität galt jedoch nie für die Unfallversicherung, deren Beiträge die Arbeitgeber allein zahlen. Immer jedoch galt es in der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und der Arbeitslosenversicherung. In der Finanzierung der Pflegeversicherung durchbrach Minister Blüm 1995 das heilige Prinzip der Parität in der Sozialversicherung - zugunsten einer komplizierten, föderalen Paritätslage: In der Pflegeversicherung zahlen zwar die Arbeitgeber vom Beitragssatz 50% und die Arbeitnehmer ebenfalls 50%, aber die Arbeitnehmer müssen zur Entlastung der Arbeitgeber am aufgegebenen Bußund Bettag unentgeltlich arbeiten. Biedenkopf widersetzte sich damals dieser „optischen Paritätsregelung“. Er schaffte den Feiertag nicht ab und ließ die Arbeitnehmer „offen“ (fast) allein zahlen. Heute führen die Arbeitgeber in Sachsen 0,35%, die Arbeitnehmer 1,35% des beitragspflichtigen Lohnes als Beitrag zur Pflegeversicherung ab.3 Beim gesetzlich versicherten Rentner tritt die Institution „Rentenversicherung“ sichtbar in die Fußstapfen des früheren Arbeitgebers. Sie zahlt aus ihrem Beitragstopf die Hälfte der Beiträge für die Krankenversicherung des Rentners, wie vorher dessen Arbeitgeber. Die restlichen 50% zahlt der Rentner „aus seiner Rente“ selbst. Die Rentenversicherung übernimmt für den Rentner lediglich die Überweisung an die Kasse. Der Rentner weiß und sieht, daß nur der „Zahlbetrag der Rente“ auf seinem Konto landet und daß dieser stets kleiner ist als die Rente, weil die Rentenversicherung seine Rente um seinen Krankenkassenbeitrag kürzt, bevor sie ‚die Rente’ überweist. In der Arbeitslosenversicherung ist alles anders. Hier gibt es nur das „Arbeitslosengeld“. Der Begriff Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes ist unbekannt. Hier zahlt eine „Bundesanstalt für Arbeit“ das „Arbeitslosengeld“ und zusätzlich – aber unsichtbar für den Arbeitslosen – alles, was sie für die Pflege-, Kranken-, und Rentenversicherung des Arbeitslosen abführen muß. Der weiterhin krankenund rentenversicherte Arbeitslose kennt diese monatlichen Sozialabgaben nicht, er kennt den Aufwand nicht, den die Bundesanstalt seinetwegen trägt. Er weiß nicht, was er der Bundesanstalt kostet. Der Arbeitslose ahnt vielleicht, daß sein überwiesenes „Arbeitslosengeld“ in Wahrheit ein Netto-Arbeitslosengeld ist oder – in Analogie zur Rente – der Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes. Lediglich beim Ende seiner Arbeitslosigkeit, d.h. zum Ende des Leistungsbezuges erhält er eine Bescheinigung – allerdings nur über die Summe der für ihn von der Bundesanstalt gezahlten Rentenbeiträge. Rechtlich gesehen bilden die vom Arbeitnehmer und vom Arbeitgeber paritätisch aufgebrachten Beitragsanteile für die Arbeitslosenversicherung einen Beitrag, den der Arbeitgeber der „Bundesanstalt für Arbeit“ (2004 umbenannt in „Bundesagentur für Arbeit“) schuldet. Man kann sie jedoch auch als zwei gleichgroße Zwangsbeiträge betrachten, obwohl sie in der Riesenbehörde ‚verschwinden’ und dort für vielerlei ausgegeben werden – u.a. auch für die Berechnung und 232

Auszahlung des „Arbeitslosengeldes“. Diese Untersuchung geht von zwei gleichgroßen Beiträgen an die Bundesanstalt aus, um folgende Fragen beantworten zu können: Reichten in der Vergangenheit – d.h. in der Zeit von 1970 bis 1990 und im Zeitraum von 1991 bis 2005 – die Beitragsanteile der Arbeitnehmer – also 50% der Beitragseinnahmen der Bundesanstalt – aus, um das „Arbeitslosengeld“ zu finanzieren? Haben die Arbeitnehmer mit ihrem Beitrag das an sie ausgezahlte „Arbeitslosengeld“ selbst finanziert? Mußten sie eventuell sogar mehr als das bezahlen? Hat ihnen die Verschmelzung der paritätisch aufgebrachten Beiträge zu einem Gesamtbeitrag an die Bundesanstalt eventuell sogar geschadet? Ist dies nur erkennbar, wenn man unterstellt, es gebe zwei Beiträge?

Sozialabgaben und Arbeitslosengeld Um die aufgeworfenen Fragen exakt beantworten zu können, unterscheidet die folgende Untersuchung – anders als die einschlägigen Statistiken – bezüglich der Beträge, die die „Bundesanstalt für Arbeit“ (BA) als Trägerin der Arbeitslosenversicherung (AV) für die Arbeitslosen von 1970 bis 2005 ausgegeben hat, zwischen drei verschiedenen Ausgabenposten der BA: 1. dem Aufwand der Bundesanstalt für Arbeit (BA), 2. dem Brutto-Arbeitslosengeld (Brutto-Alg.) und 3. das Netto-Arbeitslosengeld (Netto-Alg.). Zum Aufwand4 zählen die BA-Ausgaben incl. 100% der Sozialabgaben zugunsten der Arbeitslosen – allerdings hier ohne Pflegeversicherung (PV).5 Das Brutto-Alg. errechnet sich entweder aus: BAAufwand minus 50% der Abgaben für die Krankenversicherung (KV) und Rentenversicherung (RV) oder aus dem Netto-Alg. plus 50% der Abgaben für KV und RV zugunsten der Arbeitslosen. Schließlich ist das Netto-Alg. definiert als Brutto-Alg. minus 50% oder als BA-Aufwand minus 100% der KV- und RVAbgaben. Anders gesagt: Das Netto-Alg. ist das ausgezahlte, überwiesene „Arbeitslosengeld“ – analog zum in der RV bekannten „Zahlbetrag der Rente“ der Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes. Beispieljahr 1970 (nur KV-Abgaben) aus Periode I (in DM) Aus Periode I (1970 bis 1990) lauten die Zahlen für das Beispieljahr 1970, in dem als Sozialabgaben nur Krankenkassenbeiträge anfielen6: BA-Aufwand 0,650 Mrd. DM: Leistungen für die Arbeitslosen incl. (0,15 Mrd.*) Sozialabgaben - 50% KV* 0,075 Mrd. DM: [zahlt *) die AV für die Arbeitslosen / wie die RV für die Rentner zahlt] Brutto-Alg 0,575 Mrd. DM: [ähnlich dem „Brutto-Lohn“ im Erwerbsbereich] - 50% KV* 0,075 Mrd. DM: [zahlt *) die AV für die Arbeitslosen / die RV für die Rentner nicht7] Netto-Alg 0,500 Mrd. DM: Das ist der Jahres-Zahlbetrag des „Arbeitslosengeldes“ bzw. der „Lohnersatzleistung“ – also das, was die BA überwiesen, ausgezahlt hat. * Hälftige Zahlung unterstellt. Tatsächlich zahlt die BA stets 100%. 233

Beispieljahr 1995 (ohne PV-Abgaben) aus Periode II (in Euro) Wegen der komplizierten Paritätslage bleiben die Beiträge zur Pflegeversicherung in Periode II (1991 bis 2005) unberücksichtigt.7 Diese Vorgehensweise verfälscht nicht das zentrale Ergebnis der vorliegenden Untersuchung. Die gesamten Beiträge lagen vom Jahr der Einführung der Pflegeversicherung an, d.h. von 1995 bis zu Jahr 2005 pro Jahr bei rund 0,5 Mrd. Euro, in den 11 Jahren insgesamt bei 5,6 Mrd. Euro.8 Im Beispieljahr 1995 aus der untersuchten Periode II belaufen sich die entsprechenden Ausgaben (in Euro) – unter Berücksichtigung der Abgaben der BA für die Kranken-, und Rentenversicherung der Arbeitslosen:9 BA-Aufwand 24,3 Mrd. Euro: Leistungen der BA für die Arbeitslosen incl. (9,6 Mrd.) Sozialabgaben - 50% KV + RV 4,8 Mrd. Euro: Brutto-Alg 19,5 Mrd. Euro: (ähnlich dem „Brutto-Lohn“ im Erwerbsbereich) - 50% KV+ RV 4,8 Mrd. Euro: Netto-Alg 14,7 Mrd. Euro: Jahres-Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes Nach dem Rechenschema für die Jahre 1970 und 1995 wurden die jährlichen Ausgabenposten der BA und die Gesamtsummen pro Periode I und pro Periode II ermittelt.

Beiträge der Arbeitnehmer für ihre Arbeitslosenversicherung Wegen der paritätischen Aufbringung ist der in verschiedenen Statistiken für die „Beitragseinnahmen“ ausgewiesene Milliarden-Betrag durch zwei zu teilen, um jene Summe zu erhalten, die den Beitragszahlungen der Arbeitnehmer entspricht – pro Jahr und insgesamt für die untersuchte Periode10. Die so ermittelten Einnahmen wurden dann den Ausgabenposten in der neuen Abgrenzung gegenübergestellt, um auf die gestellten Fragen Antworten zu finden: Wieviel Mrd. haben die beschäftigten Arbeitnehmer für ihre arbeitslosen Kollegen pro Jahr und insgesamt an die Bundesanstalt abführen müssen? Waren ihre Zwangsabgaben höher oder niedriger als das Netto-Alg., als das Brutto-Alg.? Wurden für die Einkommenssicherung der Arbeitslosen überhaupt Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung benötigt? Fast man die Ergebnisse für die beiden getrennt untersuchten Perioden von 1970 bis 1990 (Periode I) und von 1991 bis 2005 (Periode II) zu einem Zeitraum zusammen, so macht die vorliegende Untersuchung ein weithin unbekanntes Faktum erstmals öffentlich: Unter dem Fortschrittssiegel „paritätische Finanzierung“ haben die Arbeitnehmer – auf Eurobasis umgerechnet – in den 36 Jahren von 1970 bis 2005 mit ihren Zwangsbeiträgen an die Arbeitslosenversicherung in Höhe von rd.430 Mrd. Euro (1.) nicht nur das Netto-Arbeitslosengeld von rd. 294 Mrd. Euro finanziert, also das, was die Bundesanstalt den Arbeitslosen auf ihre Konten überwies, sondern auch (2.) das Brutto-Arbeitslosengeld von rd. 382 234

Mrd. Euro (Netto-Arbeitslosengeld plus 50% der Sozialabgaben = 88 Mrd.) und (3.) zusätzlich zum Brutto-Alg. noch rd. 48 Mrd. Euro. Das ist etwas mehr als die ‚zweite Hälfte’ der Sozialabgaben in Höhe von rd. 88 Mrd. Euro. Bezogen auf das Netto-Arbeitslosengeld zahlten die Arbeitnehmer rd. 136 Mrd. Euro zuviel. Bezogen auf den Aufwand der Bundesanstalt für das Einkommen und die Sozialversicherung der Arbeitslosen von rd. 470 Mrd. Euro (382 Mrd. plus 88 Mrd. Sozialabgaben) waren Arbeitgeberbeiträge (oder andere Finanzmittel) lediglich für rd. 9% des Aufwandes erforderlich: In 36 Jahren rd. 40 Mrd. Euro, d.h. rd. 1 Mrd. Euro pro Jahr. Für die Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit im Sinne des Netto-Arbeitslosengeldes und auch im Sinne des BruttoArbeitslosengeldes wurden Beitragsmittel der Arbeitgeber nicht benötigt. Im folgenden werden die Gesamtbeträge der untersuchten Periode I und der untersuchten Periode II erstmals dokumentiert – aus der Periode I in DM, aus der Periode II in Euro. Die Berechnungen fußen auf Quellen der Bundesanstalt für Arbeit und der Deutschen Bundesbank (Abkürzungen siehe Anmerkungen). Die Zahlen für die Zeit von 1970 bis 2005 (d.h. für Periode I + II) setzen die Umrechnung der DM-Beträge der Periode I in Euro voraus. 36 Jahre Arbeitslosenversicherung (Periode I + II in Euro): Zeitraum 1970 bis 2005 * BA-Aufwand rd. 470 Mrd. Euro (ohne PV) Beitragssumme der AN an die AV rd. 430 Mrd. Euro Brutto-Arbeitslosengeldsumme rd. 382 Mrd. Euro Netto-Arbeitslosengeldsumme rd. 294 Mrd. Euro Summe Abgaben für RV+KV rd. 176 Mrd. Euro * Die DM-Beträge der Periode I wurden vor Addition mit den Zahlen aus Periode II in Euro umgerechnet 21 Jahre Arbeitslosenversicherung ( Periode I in DM ): Zeitraum 1970 bis 1990 BA-Aufwand rd. 210 Mrd. DM (ohne PV) Beitragssumme der AN an die AV rd. 203 Mrd. DM Brutto-Arbeitslosengeldsumme rd. 176 Mrd. DM Netto-Arbeitslosengeldsumme rd. 141 Mrd. DM Summe Abgaben für RV+KV rd. 69 Mrd. DM Bezogen auf das von der BA überwiesene Arbeitslosengeld zahlten die Arbeitnehmer rd. 62 Mrd. DM zuviel. Zur weiteren Interpretation den hier wiedergegebenen Gesamtsummen s. Anmerkung.11 Für die Jahressummen gilt: Die jährliche Beitragssumme, die die beschäftigten Arbeitnehmer im Rahmen der paritätischen Finanzierung an die Bundesanstalt abführen mußten, war in den untersuchten 21 Jahren der Periode I - immer größer als das jährliche Netto-Arbeitslosengeld (Ausnahme: 1975) und

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- immer größer als das jährliche Brutto-Arbeitslosengeld (Ausnahme: 1975, 1981, 1982). 15 Jahre Arbeitslosenversicherung (Periode II in Euro): Zeitraum 1991 bis 2005 BA-Aufwand rd. 363 Mrd. Euro (ohne PV) Beitragssumme der AN an die AV rd. 327 Mrd. Euro Brutto-Arbeitslosengeldsumme rd. 293 Mrd. Euro Netto-Arbeitslosengeldsumme rd. 222 Mrd. Euro Summe Abgaben für RV+KV rd. 141 Mrd. Euro Bezogen auf das von der BA ausgezahlte Arbeitslosengeld zahlten die Arbeitnehmer rd. 105 Mrd. Euro zuviel. Zur weiteren Interpretation der hier wiedergegeben Gesamtsummen s. Anmerkung.12 Für die Jahressummen gilt: Die jährliche Beitragssumme, die die beschäftigten Arbeitnehmer für die Einkommenssicherung bei vorübergehender Arbeitslosigkeit abführen mußten, war in den untersuchten 15 Jahren der Periode II (1.) immer größer als das jährliche NettoArbeitslosengeld und (2.) immer größer als das jährliche Brutto-Arbeitslosengeld (Ausnahme: 1996, 1997).

Arbeitgeberbeiträge unnötig Die Berechnungen aus offiziellen Statistiken belegen, daß sich die Arbeitgeber mit ihren Zwangsbeiträgen an die Bundesanstalt für Arbeit weder an der Finanzierung des Einkommens bei Arbeitslosigkeit beteiligt haben, noch an der Finanzierung der Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung der Arbeitslosen – bis auf einen kleinen ‚Zuschuß’, der auch aus anderen Finanzmitteln stammen könnte. Das Einkommens- und Sozialversicherungsrisiko bei Arbeitslosigkeit (ohne PV-Beiträge) versicherten die Arbeitnehmer in den zurückliegenden 36 Jahren zu über 90% aus den Beiträgen, die sie an ‚ihre’ Arbeitslosenversicherung abführen mußten. Hätte es ab 1970 statt der einen zwei Bundesanstalten gegeben, von denen - eine als Bundesanstalt für Einkommen (z. B. in Düsseldorf) nur die Beiträge der Arbeitnehmer eingezogen und verwaltet hätte – und zwar für deren Einkommenssicherung bei vorübergehender Arbeitslosigkeit und - eine andere als Bundesanstalt für Arbeit (z. B. in Bamberg) nur die Beiträge der Arbeitgeber – und zwar für Arbeitsförderung, Arbeitsvermittlung u.a. – hätte es diese zwei Behörden ab 1970 gegeben, wäre offenkundig: Eine Versicherung des Einkommensrisikos bei Arbeitslosigkeit allein durch Arbeitnehmersolidarität, für die einen ein Skandal, für die anderen möglich, für wieder andere nicht möglich, fand statt, 36 Jahre lang. Das Recht auf ein zeitlich befristetes beitragsfinanziertes Einkommen ohne Arbeit – gleichgültig ob im Sinne des Netto-Arbeitslosengeldes oder im Sinne des Brutto-Arbeitslosengeldes – das Recht auf ein befristetes „Einkommen während Arbeitslosigkeit“ (heute allgemein „Arbeitslosengeld I“ genannt), dieses Recht 236

haben sich die Arbeitnehmer – unerkannt von der Öffentlichkeit – über 30 Jahre lang ohne Inanspruchnahme des Arbeitgeberbeitrages zur Arbeitslosenversicherung garantiert. Sie könnten es – unter Beibehaltung des jetzigen Prinzips der Zwangsversicherung und des Versicherungszwanges – logischerweise, auch zukünftig – und das mit der großen Chance, das sozial stigmatisierende Arbeitslosengeld I zu ersetzen durch ein Bürgereinkommen ohne Arbeit.

Bürgereinkommen ohne Arbeit Das beitragsfinanzierte Bürgereinkommen ohne Arbeit hätte mit dem traditionellen Arbeitslosengeld wenig gemein. Es besäße eine ganz neue Qualität – als Institution und für die Arbeitnehmer und die Arbeitslosen. Das Besondere wären wählbare Beitrags- und Tarifstaffeln und die Tatsache, daß es errechnet und ausgezahlt würde von einer Einkommensversicherungsanstalt – geleitet ausschließlich von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern. Unterschiedliche Tarife, verschiedene Beitragssätze für das Bürgereinkommen ohne Arbeit, aber auch für die Sozialversicherung wären möglich im Rahmen der gesamtwirtschaftlich notwendigen und der individuell gewünschten Absicherung. Die Arbeitnehmerbeiträge blieben am Bruttolohn gekoppelt, eine Beitragsmessungsgrenze machte keinen Sinn mehr. Höhe und Bezugsdauer des Bürgereinkommens ohne Arbeit wären nicht mehr politisch fremdbestimmt. Arbeitslose würden – wie Selbständige – zu Arbeitsunterbrechern mit selbstfinanzierter Einkommensversicherung. Sie müßten keine Arbeit annehmen, solange der gewählte Versicherungsschutz greift und verlören damit den Status des Hilfeempfängers, der heute zur aktiven Stellensuche und zur Aufnahme (fast) jeder zumutbaren Arbeit, die angeboten wird, verpflichtet ist. Mit der Einführung eines Bürgereinkommens ohne Arbeit gewännen die Arbeitslosen den Status des freien Einkommensbürgers ohne Arbeit. Die Arbeitnehmer verbesserten ihren Zustand qualitativ (mehr Freiheit) und – je nach Tarifwahl – auch quantitativ gegenüber dem, was sie von 1970 bis 2005 unter der angeblich sozialen Fortschrittsidee – „paritätische Finanzierung“ – gezwungen waren, zuviel abzuführen. Für die Realisierung dieses Konzepts werden Arbeitgeberbeiträge nicht unbedingt benötigt. Das zeigt auch der Blick zurück auf 36 Jahre Versicherungszwang mit einer paritätisch finanzierten Zwangsversicherung. Die Verwaltungs- und Sachkosten der neuen Einkommensversicherungsanstalt oder Bundesagentur für Einkommen dürften bei ca. 2% der jährlichen NettoArbeitslosengeldsumme liegen.13 Über die Zukunft der Arbeitgeberbeiträge (2005 noch 23,5 Mrd. Euro) muß völlig unabhängig von der Errichtung einer neuen Einkommensversicherungsanstalt, die ja nur das Bürgereinkommen ohne Arbeit berechnen und auszahlen soll, entschieden werden. Die folgenden Verwendungsvorschläge haben daher mit dem Projekt im engeren Sinne nichts zu tun. Denkbar wäre, - daß jene Konzern-Verantwortlichen, die Arbeitnehmern betriebsbedingt kündigen, in geeigneter Weise verpflichtet werden, nicht zu Lasten des Konzerns, sondern zu Lasten ihres persönlichen Einkommens einen Einmalbetrag an die 237

Einkommensversicherungsanstalt abzuführen – und zwar in Höhe eines angemessenen Prozentsatzes der ‚gekündigten’ Lohnsumme (das würde nicht nur die Motivation, sondern auch die Kreativität von Vorständen und Aufsichtsräten fördern, nach besseren Auswegen aus Kostenklemmen zu suchen – als durch Entlassungen. Die Abgaben wären punktuelle ‚Zuschüsse’ zum laufenden Haushalt der Einkommensversicherungsanstalt), - die Arbeitgeber zu verpflichten, einen bestimmten Teil ihres Zwangsbeitrags durch ‚ewige’ Monatsraten in eine neue Pensionskasse, verwaltet von den Arbeitgebern, umzulenken, um die zukünftigen Alterseinkünfte ihrer Beschäftigten zu erhöhen (kapitalgedeckte Zusatzrente), - die Einmalzahlung zum Start der Einkommensversicherungsanstalt z.B. auf die Höhe eines Monatsbeitrags zu begrenzen, um eine zweite Monatsrate über dieselbe Höhe – als Einmalbetrag – der Pensionskasse zuzuführen, - daß die Arbeitgeber zum Start der Einkommensversicherungsanstalt einen oder mehrere Monatsbeiträge als Einmalbetrag an die Anstalt abführen müssen, um sich auf alle Zukunft hin freizustellen, damit die beschäftigungsfeindlichen Personalzusatzkosten sinken und damit die Zahl der Bürger wächst, die am Markt wieder ein Einkommen aus Arbeit beziehen. Neben der Einkommensversicherungsanstalt bzw. einer Bundesagentur für Einkommen verbliebe eine zweite Agentur, die tatsächlich nicht mehr für Einkommen und Arbeit, sondern nur noch für Arbeit zuständig wäre. In ihr spielten die Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter keine Rolle mehr, sondern nur Vertreter der Arbeitgeber oder/und des Bundes – je nachdem, wer von beiden wieviel der Finanzierungskosten für jene Aufgaben zu tragen hätte, die niemand privatisieren oder/und kommunalisieren will. Die Einführung eines beitragsfinanzierten, befristeten Bürgereinkommens ohne Arbeit als Ersatz für das Arbeitslosengeld I. - entspringt der Eigenverantwortlichkeit der Bürger und der Solidarität der Arbeitnehmer, - befördert den Arbeitslosen zum Einkommensbürger ohne Arbeit, - stellt Arbeitnehmer und Arbeitslose qualitativ und quantitativ besser als im paritätischen System, - zeigt offen, daß die Arbeitnehmer ihr beitragsfinanziertes „Arbeitslosengeld“ selbst bezahlen, was sie schon immer getan haben, - bedingt die Errichtung einer Einkommensversicherungsanstalt (bzw. Bundesagentur für Einkommen), in der nur die Arbeitnehmer bzw. die Gewerkschaften bestimmen – ohne Mitbestimmung von Repräsentanten der Arbeitgeber oder/und des Bundes, - stellt sicher, daß die beitragsfinanzierte Einkommenssicherung der Arbeitnehmer bei vorübergehender Arbeitslosigkeit dem Machtkampf der Parteien entzogen wird.

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Abkürzungen: Alg. = Arbeitslosengeld / AN = Arbeitnehmer / AV = Arbeitslosenversicherung / BA = Bundesanstalt (-agentur) für Arbeit / BA-Aufw. = Aufwand der BA / BK = Monatsberichte der Deutschen Bundesbank / KV = Krankenversicherung / PV = Pflegeversicherung / RV = Rentenversicherung

Anmerkungen: Wer genaue Zahlen sucht über die Höhe des „Arbeitslosengeldes“, gerät schnell in einen verwirrenden Zahlenwald. So setzt Lampert (4) „Arbeitslosengeld“ mit dem BA-Aufw. gleich, die BA mit dem Netto-Alg., die BK spricht von „Arbeitslosenunterstützung“, von der das „Arbeitslosengeld“ ein Teil ist, der jedoch nicht quantifiziert wird. 1) Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Berlin, den 14.11.2002, Drucksache 856/02, 15.11.02, S. 249. 2) Die Weimarer Republik, Verlag Literatur und Zeitgeschichte, 1962, Hannover, S. 184, 185, 276 (Die Vorgängerin der ‚ersten’ Großen (Fünf-Parteien-)Koalition bestand aus vier Parteien. Sie war quasi die erste ‚kleine’ Große Koalition. In ihr fehlte die BVP). 3) TK-Aktuell, Das Magazin der Techniker Krankenkasse, Nr.3, 2006, S. 26. 4) BA-Aufwand wird bei Lampert mißverständlich „Arbeitslosengeld“ genannt. Heinz Lampert: 20 Jahre Arbeitsförderungsgesetz, zit. von Klaus Mackscheidt: Finanzierung der Arbeitslosigkeit, in „Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B34-35/91, 16.8.1991, S. 30 / Tabelle: Einnahmen, Ausgaben und Ausgabenstruktur der Bundesanstalt für Arbeit 1970 bis 1989 (absolute Beträge in Mrd. DM). 5) Zu den Sozialabgaben, die die BA zugunsten der Arbeitslosen abführt, gehören jene an die KV und ab 1978 jene an die RV und ab 1995 auch jene an die PV. Zwar gehören die PV-Abgaben ab 1995 zum Aufwand der BA für die Arbeitslosen. Sie werden jedoch in der Periode II nicht berücksichtigt. Die von Blüm geschaffene, komplizierte Paritätslage in der PV verbietet es, die PV-Abgaben der BA durch zwei zu teilen. Die Halbierungsmöglichkeit der Sozialabgaben der BA ist ihrerseits aber die entscheidende Voraussetzung, um die Höhe des Brutto-Alg. berechnen zu können. Nur die paritätisch finanzierten Beiträge zur Kranken-, und Rentenversicherung der Arbeitslosen fließen daher in die Berechnungen ein – mit jeweils 50% (s. Beispielrechnungen für 1970 in DM und für 1995 in Euro). Für das Ergebnis der Untersuchung spielen die nicht berücksichtigten PVAbgaben keine Rolle. Auch nicht die Tatsache, daß die Krankenkassen ab 1.7.2005 einen „Zusatzbeitrag“ von 0,9% erheben, den die Versicherten allein tragen müssen – ab 1.7.2005 in der KV also eine saubere Parität nicht mehr besteht. 6) BA-Geschäftsberichte von 1973 bis 1990 sind Quelle für die Berechnung der absoluten KV-Beiträge von 1970 bis 1976 (23% des BA-Aufwandes – abgeleitet aus den Zahlen für 1977 und 1978). Ab 1977 weist die BA die absoluten KV- und ab 1979 die absoluten RVBeitragssummen aus. Das Netto-Alg. heißt bei der BA (irreführend) „Arbeitslosengeld“, der zugeordnete absolute Betrag „Leistung ohne Sp. 3 u. Sp. 5“, d.h. ohne „Beiträge zur KV und RV“. 7) Würde den Arbeitslosen ein Brutto-Alg. zustehen, wie dem Rentner die (Brutto)‚Rente’, so verwandelten sich 50% der Sozialabgaben der BA in Sozialbeiträge der Arbeitslosen zu ihrer Renten-, und Krankenversicherung. Die Arbeitslosen würden diesen Teil der Beiträge selbst bezahlen und zwar „aus ihrem Brutto- Arbeitslosengeld“ – so wie die gesetzlichen Rentner ihre KV-Beiträge „aus ihrer Rente“ bezahlen, die RV sie ledig-

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lich für sie abführt. Die notwendige Transparenz, die im Arbeitslosensektor heute der Slogan „Brutto für Netto“ verhindert, würde hergestellt. 8) Bundesagentur für Arbeit-Agentur für Arbeit Düsseldorf, August 2006. 9) Bundesagentur für Arbeit-Agentur für Arbeit Düsseldorf, August 2006: Aus den vorliegenden Zahlen für das Netto-Alg. und für die „RV- und KV-Beiträge“ wurden die fehlenden Größen Brutto-Alg. und BA-Aufwand (ohne PV) errechnet. Die Statistik der Deutschen Bundesbank war für die Ermittlung der verschiedenen Ausgabenposten der Bundesanstalt unbrauchbar; denn sie weist nur einen einzigen Milliardenbetrag aus – und zwar für „Arbeitslosenunterstützung“, der neben „Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Eingliederungsgeld“ auch „Sozialbeiträge“ enthält. 10) „AV-Beiträge der beschäftigten AN“ (Wegen der Parität: Zahlen durch Zwei geteilt): a) Zahlen für 1970-1989: Lampert (s. 4) / Zahlen für 1990: IW-Zahlen, 1991. b) Zahlen für 1991-2005: „Monatsberichte der Deutschen Bundesbank“ (BK) / für 1991 und 1992: BK, Okt. 1995 / für 1993 bis 2005: BK, Juni 2006. 11) Bezüglich der Gesamtsummen für die drei neu definierten Ausgabenposten der BA gilt in der Periode I (1970 bis 1990) folgendes: Aufwand der Bundesanstalt: Insgesamt gesehen wurden in den 21 Jahren für die Finanzierung der Einkommenssicherung und der Renten-, und Krankenversicherung der Arbeitslosen (im Sinne des Aufwandes der BA) rd. 7 Mrd. aus dem Beitragstopf der Arbeitgeber (oder andere Finanzmittel) benötigt – durchschnittlich rd. 0,3 Mrd. pro Jahr. Die BA konnte rd. 97% der Mittel für diesen Zweck dem Beitragstopf der beschäftigten AN entnehmen. Brutto-Arbeitslosengeld (Brutto-Alg.): Insgesamt gesehen wurden die Arbeitgeber-Beiträge an die AV für die Einkommenssicherung der Arbeitslosen und für die Finanzierung der Hälfte der Sozialabgaben, d.h. für ein Brutto-Alg. nicht benötigt. Pro Jahr betrachtet gilt das Gleiche (Ausnahme:1975, 1981, 1982). Bezogen auf das Brutto-Alg. führten die AN rd.27 Mrd. DM zuviel ab – rd. 13% der Beitragssumme. Netto-Arbeitslosengeld(Netto-Alg.): Insgesamt gesehen waren für die Finanzierung des Netto-Alg. keine AV-Beiträge der Arbeitgeber notwendig. Pro Jahr betrachtet gilt das Gleiche (Ausnahme: 1975). Bezogen auf das Netto.-Alg. zahlten die AN rd. 62 Mrd. DM zuviel – rd. 30% der Beitragssumme. 12) Bezüglich der Gesamtsummen für die drei neu definierten Ausgabenposten der BA gilt in der Periode II (1991 bis 2005) folgendes: Aufwand der Bundesanstalt: Insgesamt gesehen wurden in den 15 Jahren rd. 36 Mrd. Arbeitgeberbeiträge oder andere Finanzmittel für die Finanzierung des Aufwandes von rd. 363 Mrd. benötigt. Das sind rd.10% des Aufwandes – durchschnittlich 1,7 Mrd. pro Jahr. Brutto-Arbeitslosengeld: Insgesamt gesehen wurden für die Finanzierung eines Brutto-Alg. von rd. 293 Mrd. keine Arbeitgeberbeiträge benötigt. Pro Jahr betrachtet gilt das Gleiche (Ausnahme: 1991, 1992). Bezogen auf das Brutto-Alg. führten die AN rd. 34 Mrd. Euro zuviel ab – rd. 10% der Beitragssumme. Netto-Arbeitslosengeld: Insgesamt gesehen waren AV- Beiträge der Arbeitgeber für die Finanzierung der Einkommenssicherung der Arbeitslosen im Sinne des Netto-Alg. nicht notwendig. Pro Jahr betrachtet gilt das Gleiche. Von den AN wurden rd. 105 Mrd. Euro zuviel Beiträge abgeführt – rd. 32% der Beitragssumme. 13) vgl. Geschäftsbericht der BA für 2005, S. 120.

Dipl. Pol. Manfred Bunte war Mitglied der Geschäftsführung des Bildungswerks der NRW-Wirtschaft e. V. Gleichzeitig war er geschäftsführendes Mitglied des „Studienkreises Kirche-Wirtschaft NRW und verantwortlicher Redakteur der vom Studienkreis herausgegebenen Schriftenreihe „Kirche/Wirtschaft“.

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