1809 und die Folgen Finnland zwischen Schweden, Russland und Deutschland

1809 und die Folgen Finnland zwischen Schweden, Russland und Deutschland Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland Herausgegeben vom Fin...
Author: August Pohl
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1809 und die Folgen Finnland zwischen Schweden, Russland und Deutschland

Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland Herausgegeben vom Finnland-Institut in Deutschland, Berlin Band 12

Jan Hecker-Stampehl, Bernd Henningsen, Anna-Maija Mertens, Stephan Michael Schröder (Hrsg.)

1809 und die Folgen Finnland zwischen Schweden, Russland und Deutschland

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8305-2683-4

Dieses Buch entstand mit freundlicher Unterstützung der Aue-Stiftung, Helsinki.

Lektorat: Lea Baumgarten, Jan Hecker Stampehl, Marion Holtkamp, Stephan Michael Schröder, Suvi Wartiovaara Titelabbildung: Danny Müller, [ *] keksbox marketingagentur Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der unten genannten Inhaber des Copyrights unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2011 BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG GmbH, Markgrafenstraße 12-14, 10969 Berlin E-Mail: [email protected], Internet: http://www.bwv-verlag.de Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Zum Geleit Das Jahr 1809 markiert für Finnland einen der wichtigsten Wendepunkte seiner Geschichte. In diesem Jahr begann für die Finnen die lange Reise zur Unabhängigkeit im Jahre 1917. Den Hintergrund für die Ereignisse in Finnland 1809 bilden die Kriegskonstellationen der napoleonischen Zeit in Europa, in deren Zuge auch Finnland ein Teil der kriegerischen Auseinandersetzungen wurde. Ergebnis des ›Finnischen Krieges‹ zwischen Russland und Schweden 1808–1809 war, dass Schweden seine bisherige Provinz Finnland an Russland abtreten musste und Finnland zum autonomen Großfürstentum des Russischen Reiches wurde. Für Europa nur ein geschichtliches Detail, sollte sich dieses für Finnland als großer Glücksfall erweisen. Der russische Kaiser Alexander I. ermöglichte den Finnen weitgehende Autonomie und die Beibehaltung ihrer Rechte und Gesetze. Dies war die administrative Grundlage für die eigene Verwaltungsstruktur, die die Autonomie mit einem funktionierenden Staatsorganismus ermöglichte, aber ein Garant für den weiteren Ausbau und die Entwicklung der Autonomie war dies keinesfalls. Die Festigung der Autonomie und insbesondere die spätere Weiterentwicklung des neu entstandenen Staates zu einer Nation bedurften vielmehr einer eigenen nationalen Identität. Die finnische Nationalromantik und die Entstehung des finnischen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert waren wichtige Bausteine bei der Festigung der finnischen Autonomie. Eine besondere Rolle spielte hierbei die Universität, wo die geistige Elite des neuen autonomen Territoriums ausgebildet werden sollte. Die Universität war auch der Ort und die Quelle für die neue finnische Kultur. Die wichtigsten Akteure und Organisatoren der neu entstehenden finnischen Nationalromantik waren Gelehrte der Universität. Das heutige Finnland ist das Ergebnis einer langen Entwicklung und eines lang anhaltenden Identitätskonstruktionsprozesses. Die Geschichte des unabhängigen Finnland begann 1809; seitdem hat das Land mehrere schicksalhafte Wendungen erlebt. Finnland erhielt seine Unabhängigkeit im Zuge des Ersten Weltkrieges 1917, jedoch machte der darauffolgende blutige Bürgerkrieg deutlich, wie gespalten die junge Nation nach wie vor war. Nach dem Zweiten Weltkrieg – dem für die finnische Identität bedeutenden Winterkrieg 1939–1940 und dem so genannten Fortsetzungskrieg 1941–1944 – folgte für Finnland die Zeit der politischen Gratwanderung zwischen Ost und West im Kalten Krieg.

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Zum Geleit

Bei einer historischen Betrachtung kann also festgestellt werden, dass Finnlands Zukunft selten in finnischer Hand lag. Meistens wurde diese im Zuge geopolitischer Konstellationen größerer Mächte entschieden. Wie Matti Klinge in seinem Beitrag in diesem Buch feststellt, könnten Finnen, wenn die Geschichte nur einen leicht anderen Verlauf eingenommen hätte, heute genauso gut zufriedene Schweden sein. Oder Finnland könnte eben ein integraler Bestandteil von Russland sein. Neben intendierten Entwicklungen hatte Finnland also auch Glück. Heute scheint es, dass Finnland – auch in außenpolitischer Hinsicht – nun endlich eine weitgehende Handlungsautonomie besitzt. Das Wegbrechen alter Orientierungsgrundlagen mit dem Zerfall der Sowjetunion bedeutet jedoch gleichzeitig eine neue Unübersichtlichkeit, die einen neuen außenpolitischen Identitätsfindungsprozess erfordert. Im Zuge der aktuellen NATO-Diskussion in Finnland wird deutlich, dass anstelle der alten Argumentationsmuster noch keine neuen, den neuen außenpolitischen Bedingungen angepassten Argumentationslinien entstanden sind. Die außen- und verteidigungspolitische Diskussion in Finnland ist nach wie vor durch Handlungslogiken und Sorgen des Kalten Krieges geprägt. Hier wird deutlich, wie jung Finnland in seiner tatsächlichen Autonomie noch ist. Berlin, im Februar 2011

Anna-Maija Mertens

Vorwort Die Staatenwelt Europas erlebte in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einen bemerkenswerten Wandel: In der Folge der Französischen Revolution und dann erst recht während der Napoleonischen Kriege – die zumindest auf dem deutschen Territorium nicht umsonst ›Befreiungskriege‹ genannt werden – kommt die moderne Staatenbildung in Fahrt, der (aufgeklärte) Absolutismus wird verabschiedet (und kommt danach für einige Jahrzehnte in einigen Ländern zurück), neue Grenzen werden gezogen, das moderne Nationalbewusstsein entsteht, Verfassungen im modernen politischen Sinne werden in vielen Ländern in Kraft gesetzt. Insbesondere im Norden Europas erleben wir in diesen Jahren eine politische und konstitutionelle Wende, die – post festum betrachtet – nachhaltig für die Genese der Demokratie werden sollte. Für den Nordosten Europas war das Jahr 1809 das entscheidende, es steht im Zentrum dieses Bandes: Im Februar 1808 überschritten russische Truppen die Grenze zu Finnland, das damals noch zu Schweden gehörte. Der Krieg war ein blutiger und brutaler Krieg und ging unter der Bezeichnung ›Finska kriget‹ [Der Finnische Krieg] in die schwedische Historiographie ein, er war Teil der gesamteuropäischen Napoleonischen Kriege, die geopolitischen Konsequenzen waren im gesamten Ostseeraum beträchtlich. Als Schweden und Russland im Herbst 1809 in Hamina/Fredrikshamn Frieden schlossen, bedeutete dies den Übergang Finnlands von schwedischer in russische Herrschaft. Schweden verlor ein Viertel seiner Bevölkerung und ein Drittel seines Territoriums. Nur fünf Jahre später – und nun wirklich am Ende der Kriege – verlor Dänemark im Frieden von Kiel Norwegen, das seit über 400 Jahren mit Dänemark verbunden gewesen war und das nun in eine Personalunion mit Schweden überführt wurde. Die Folgen waren in gleicher Weise dramatisch für Dänemark wie die 1809-Entscheidungen für Schweden: Für beide Länder war damit definitiv und nun für alle nachvollziehbar die Großmachtzeit zu Ende, auf dem politischen Theater Europas spielt der Norden seither nur eine periphere Rolle. Als Ergebnis der Napoleonischen Kriege entstand in Nordeuropa die moderne Staatenwelt – die politischen Entitäten, wie sie bis heute bestehen, kamen in diesem Zeitraum auf, wenn auch Norwegen, Finnland und Island bis Anfang des 20. Jahrhunderts auf ihre Souveränität warten mussten. Auffallend sind die vielen Parallelen in der Entwicklung dieser zurückgebliebenen Region in konstitutioneller Hinsicht, in politischer und nicht zuletzt in kultureller: Die Prozesse nationaler Identitätskonstruktionen verlaufen nicht parallel, aber immerhin vergleichbar.

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Vorwort

Mit diesem Band dokumentieren wir drei Veranstaltungen des Jahres 2009, die die Markierungen des Jahres 1809 für Finnland und Schweden festhalten: Eine Ringvorlesung am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin (1809 und die Folgen: Finnland, Schweden, Russland und der Wandel der (nord-)europäischen Staatenwelt), eine Konferenz, die das Nordeuropa-Institut im Juni 2009 zusammen mit dem Finnland-Institut in Deutschland, Berlin, unter dem Titel Finnland – Deutschland 1809–2009: 200 Jahre Begegnungen und Wahrnehmungen veranstaltete sowie die Tagung am Institut für Skandinavistik/Fennistik der Universität zu Köln im November 2009, die unter der Überschrift 1809 – Vom Ende und Anfang der finnisch-schwedischen Beziehungen stattfand. Die Ereignisse im Norden und der Ostseeregion um 1808/1809 und die Folgen dieser ›schwedischen Teilung‹ werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Den Ausgangspunkt stellen die Ereignisse in und um Finnland in dieser Zeit dar, doch geht es auch darum, eine gesamteuropäische Verortung vorzunehmen und Fragen nach den Folgen der Ereignisse bis heute zu stellen, beleuchtet werden der Beginn der finnischen politischen und kulturellen Eigenständigkeit und nicht zuletzt auch die Frage, was 1809 für das heutige Finnland, Schweden und Russland bedeutet. Zu danken haben wir den Autorinnen und Autoren für ihre Geduld bis zur Fertigstellung dieses Bandes. Wir danken aber auch ganz herzlich unseren Unterstützern für die ideelle und die materielle Hilfe, die wir erfahren durften: dem Finnland-Institut in Deutschland als Mitveranstalter der beiden Konferenzen in Berlin und Köln sowie als Mitfinanzier und publizistischer Koordinator des Bandes, dem Institut für Skandinavistik/Fennistik der Universität zu Köln als Konferenzveranstalterin sowie Koordinierungsstelle für die Herausgabe dieses Bandes, dem finnlandschwedischen Thinktank Magma. Finlands svenska tankesmedja und dessen Leiter Dr. Nils Erik Forsgård als Mitveranstalter der Ringvorlesung in Berlin und dem Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin als (Mit-)Veranstalter der Berliner Konferenz und der Ringvorlesung. Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Aue-Stiftung zur Förderung und Erforschung deutschsprachiger Kultur im europäischen Nordosten (Helsinki) hätte der Band nicht gedruckt werden können. Das Lektorat der Beiträge übernahmen Lea Baumgarten (Köln), Jan Hecker-Stampehl und Stephan Michael Schröder sowie vom Finnland-Institut Marion Holtkamp und Suvi Wartiovaara. Weitere redaktionelle Hilfe leistete Paula Enseleit (Berlin). Die sprachliche Durchsicht der Texte von Kristian Gerner und Martin Hårdstedt sowie der Summaries übernahm Peter Dowdy. Berlin und Köln, im März 2011

Jan Hecker-Stampehl Bernd Henningsen Stephan Michael Schröder

Inhalt Zum Geleit ................................................................................................... 5 Vorwort ........................................................................................................ 7

I. Der Finnische Krieg 1808–1809 und sein Kontext Matti Klinge Finnland – Zufall oder Plan? .......................................................................15 Ralph Tuchtenhagen Von ›Tilsit‹ nach ›Fredrikshamn‹. Der Ostseeraum in der Politik Russlands und Großbritanniens 1807–1809 ...............................................23 Martin Hårdstedt The Finnish War of 1808–09 in Context – Warfare, Logistics and Civilian Society ........................................................................................................45 Horace Engdahl Das Standbild Gustavs III. vor, während und nach dem Finnischen Krieg 1808–1809 ................................................................................................57

II. Finnland, Schweden und Russland nach 1809 Max Engman Brautraub oder Liaison? Finnland zwischen Schweden und Russland nach 1809 ..................................................................................................79 Kristian Gerner »The East Sea Lies to the West«. On the community of fate between Finland and Sweden – and Russia...............................................................91 Torkel Jansson Inwieweit haben sich Schweden und Finnland nach 1809 verloren? ........105

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Inhalt III. Autonomie, Nationswerdung und Unabhängigkeit

Robert Schweitzer Der ›bürokratische Patriotismus‹, Kalevala und Fänrik Ståls sägner: (Über-)Lebenskräfte der Autonomie Finnlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ................................................................................121 David Kirby »En munsbit, hvilken af Ryssen utslukades«. Independence as ideal and reality in Finland.......................................................................................143 Frank Nesemann Finnlands »grundlegende Gesetze, Rechte und Privilegien«: Die Bedeutung der Zusicherungen Alexanders I. auf dem finnischen Landtag von 1809 aus russischer Sicht ..................................................................................155 Marja Järventausta Stråhlman gegen Sjögren: In deutscher Sprache über die finnische Sprache ....................................................................................................179 Jörg Hackmann Polen und Finnland: Zwei Wege in der Geschichte des Zarenreichs ..........203

IV. 1809–2009: Finnisch-deutsche Beziehungen in Kultur und Wissenschaft Stephan Michael Schröder 1809 aus deutscher Perspektive: Rühs’ Finland und seine Bewohner .........229 Tomi Mäkelä »Unser Land« oder: Wie finnisch war Friedrich Pacius? .............................249 Benjamin Schweitzer Von Berlin bis Viitasaari – finnisch-deutsche Wechselwirkungen in der musikalischen Moderne ............................................................................271 Christoph Parry Deutsch-finnische Literaturbeziehungen gestern und heute .....................287

Inhalt

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Hanna Korsberg Die Bedeutung der deutsch-finnischen Theaterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert ......................................................................301

Autoren- und Herausgeberverzeichnis ......................................................309 Bildnachweis.............................................................................................311

I. Der Finnische Krieg 1808–1809 und sein Kontext

Matti Klinge

Finnland – Zufall oder Plan? Die Gründung eines separaten Finnlands 1808–1809 ist der wichtigste Wendepunkt in der Geschichte Finnlands. Zuvor gab es zwar den Begriff ›Finnland‹, aber dieses Finnland war im Hinblick auf Verwaltung, Wirtschaft, Kirche und Kultur ein Teil des damaligen ›multinationalen‹ Königreichs Schweden. Erst ab 1809 begann Finnland sich als Staat und später als Nation auszubilden. Finnland entwickelte sich zunächst administrativ, anschließend wirtschaftlich und kulturell, und allmählich entwickelte es sich zu einem Land mit nationalem Bewusstsein. Dieser Wendepunkt wurde durch die allgemeineuropäische Kriegslage verursacht: den Weltkrieg in der napoleonischen Zeit. Ohne diesen Weltkrieg hätte es keinen Grund gegeben, ein separates Finnland zu schaffen. Die Geschichte Finnlands hätte ohne den Krieg in den Jahren 1808 –1809 völlig anders verlaufen können und auch ohne den Lösungsansatz unter Kaiser Alexander I., der dazu führte, dass das von ihm eroberte Land zu einem Staat wurde. Zwei verschiedene Alternativen sind denkbar, was sonst hätte geschehen können: Die eine Alternative wäre gewesen, dass Finnland ein Teil Schwedens geblieben wäre. Dadurch hätten sich die stockholmsche Kultur und die Stellung der schwedischen Sprache weiter verstärkt, in Finnland wäre keine Hauptstadt gegründet worden und es wäre keine separate Kultur entstanden. Wir wären heute zufriedene Schweden, die mit Ausnahme einiger abgelegener Gegenden hauptsächlich Schwedisch sprechen würden. Die andere Alternative wäre gewesen, dass Russland später Finnland erobert hätte und es zu einem weiteren Teil Russlands gemacht hätte. In diesem Fall hätte sich kein separates Großfürstentum in Finnland gebildet. Finnland wäre ein fester Teil von St. Petersburg geblieben; und so hätte allmählich der Gebrauch der Sprachen zugenommen, die man in St. Petersburg sprach, das heißt Russisch, Deutsch und Französisch. Auf die gleiche Weise vollzog sich die Geschichte 1917–1920, als das Großfürstentum eine unabhängige Republik wurde. Diese Entwicklung hätte ohne den Weltkrieg und die Revolution in Russland nicht geschehen können. Die großen Umwälzungen in Finnlands Geschichte sind Folgen der allgemeineuropäischen Geschichte: Die Finnen brachten weder die Französische Revolution noch den Napoleonischen Krieg, den Weltkrieg 1914–1918 oder die Revolution 1917 in Russ-

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Matti Klinge

land zu Stande, und sie nahmen auch nicht daran teil. Dennoch führte man zu beiden Zeiten auch in Finnland Krieg.

Finnlands Bereitschaft zur Staatswerdung Es lässt sich die These vertreten, dass Finnland zum Zeitpunkt seiner Selbstständigkeit in fast jeder Hinsicht bereits ›fertig‹ war. Es hatte eine eigene Regierung und einen Reichstag, eigene Gesetze, eine eigene Währung, Kirche und Schulinstitutionen und vor allem ein eigenes Kultur- und Wirtschaftsleben; außerdem ein Volk, das in hohem Grad gebildet war. Aber wie stand es eigentlich im Jahre 1809 um die Bereitschaft, ein eigener Staat zu werden und somit allmählich zu einer Nation zusammenzuwachsen? Nachdem die Armee des russischen Kaisers Alexander I. große Verluste erlitten hatte, wurde der Kaiser 1807 gezwungen, mit Europas großem Eroberer, dem französischen Kaiser Napoleon, dessen Truppen soeben die Ostseeküste erreicht hatten, Frieden zu schließen. Der Vertrag von Tilsit beinhaltete die Vereinbarung, dass Russland Schweden zwingen sollte, das Bündnis mit Großbritannien zu verlassen und sich der Koalition Frankreich-Russland anzuschließen, folglich also an der Kontinentalblockade gegen England teilzunehmen. Der schwedische König konnte das nicht akzeptieren, da Schwedens Handel in hohem Maße vom englischen Markt abhing und da die englische Flotte, die kurz zuvor Kopenhagen schwer unter Beschuss genommen hatte, bereit stand, Schweden anzugreifen, falls es die Seiten wechseln sollte. Kaiser Alexanders Ziel war es ursprünglich weder, Finnland dauerhaft an Russland anzuschließen, noch, Schweden vollständig zu vernichten. Der Kaiser änderte jedoch seine Meinung, als die russischen Truppen bei ihrem Angriff gegen Finnland im Februar 1808 auf so gut wie keinen Widerstand in Südfinnland trafen, sondern ohne Weiteres nach Åbo und sogar bis Åland marschieren (oder auf Skiern dorthin gelangen) konnten. Russland war an den Festungen an der Küste des Finnischen Meerbusens interessiert, besonders an Sveaborg, da eine starke Flotte mit dieser Festung als Ausgangsstation eine große Bedrohung für die mächtige Hauptstadt St. Petersburg bedeutet hätte. Dieses hatte Schweden zuletzt im Krieg von 1788 –1790 versucht, der das Land für seine Flottenkämpfe bekannt gemacht hatte.

Finnland – Zufall oder Plan?

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Warum kapitulierte Finnland bzw. der Hauptteil von Finnland so schnell? Das ist die wichtigste Frage, was diesen Zeitabschnitt betrifft, und nicht etwa, dass die schwedisch(-finnisch)e Armee, die sich nach Norden zurückgezogen hatte, später zum Gegenangriff überging, der zu einer geringen Anzahl Gefallener und kleinen Verlusten führte und nicht einmal zu ein paar vorübergehenden Eroberungen im Bereich südlich der Linie Kuopio–Vasa. Sogar die Landungsversuche, die verschiedene Flotten von Schweden aus unternahmen und an denen Gustav IV. Adolf teilweise selbst teilnahm, missglückten vollständig. Heldenerzählungen über Finnlands Widerstand und allem voran über die Pflichttreue und den Heldenmut der finnischen Soldaten tauchten erst Jahrzehnte später in Runebergs Fänrik Ståls sägner auf, während der ›Finnische Krieg‹ damals als eine unbedeutende Nebenerscheinung angesehen wurde, insbesondere wenn man ihn mit der Anzahl der Soldaten, Pferde und der Artillerie verglich, die in den Kämpfen in Russland und auf dem europäischen Festland eingesetzt wurden. An diesen Kriegen nahmen Zehntausende teil, sogar Hunderttausende, Männer und Pferde, während in den Kämpfen im ›Finnischen Krieg‹ zumeist weniger als tausend Mann auf jeder Seite standen und Kavallerie und Artillerie so gut wie gar nicht zum Einsatz kamen. Vielleicht hatten die finnischen Partisanentruppen aber ohnehin eine größere Bedeutung als die eigentlichen Militärtruppen, indem sie sich des Trosses bemächtigten und die Nachschubverbindungen abschnitten. Die Partisanen bestanden zu einem großen Teil aus den ca. 6.000 Mann, die die Russen frei gelassen hatten, nachdem sie die große Festung Sveaborg vor Helsingfors eingenommen hatten. Sveaborg kapitulierte Anfang Mai gemäß der Absprache, die Anfang April getroffen worden war – und bevor die Bedrohung durch Englands Flotte, vor der Russland zitterte, zur Realität werden konnte. (Englands Flotte erreichte den Finnischen Meerbusen erst im folgenden Sommer und führte Kämpfe gegen die Russen.) Russland hatte Finnland bereits im 18. Jahrhundert zweimal erobert, es aber beide Male zurückgegeben, allerdings mit einigen Gebietsabtretungen an der Ostgrenze und unter der Bedingung, dass sich Schweden verpflichtete, Verbündeter zu werden oder eine Freundschaftspolitik zu betreiben. In Schweden gab es jedoch ein Verlangen nach Vergeltung, das dazu führte, dass man mit Frankreichs Unterstützung große Festungen (wie ab 1748 Sveaborg) an der Küste des Finnischen Meerbusens errichtete. Hinter den Festungen stand die Absicht, dass sie als wichtige Flottenbasen dienen sollten, wenn man im Osten angriff. Der Bau dieser Festungen war ein Teil von Frankreichs übergreifender Politik, und neben Schweden gehörte auch die Türkei zu dieser Allianz. Schweden hatte Russland 1788 wie schon früher angegriffen, zusammen mit der Türkei. Auch 1807 war die Türkei ein Staat

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von hoher Wichtigkeit, den Russland und Frankreich aufzuteilen planten, an dem aber auch Österreich und Großbritannien sehr interessiert waren. Dies war der Grund, warum Alexander I. seine großen Streitkräfte nicht in Finnland platzieren wollte – sie wurden andernorts im Süden gebraucht.

Der Ausgang des Krieges und die Einberufung des Landtages nach Borgå Die Festungen an der Westküste auszuschalten, war Finnlands war Russlands wichtigstes Kriegsziel, und als dieses Ziel so rasch erreicht war, sah man in St. Petersburg den Krieg bereits als entschieden an. Es gab mehrere Ursachen, warum die Festungen und der Hauptteil Finnlands ohne Kämpfe kapitulierten. Der wichtigste Grund war die Begründung, die man dem Volk in finnisch- und schwedischsprachigen Kundgebungen gegeben hatte: dass die mächtigsten Staaten Russland und Frankreich gemeinsam die Angelegenheit entschieden hätten. Die Russen erinnerten das Volk außerdem daran, dass sie vierzig Millionen an der Zahl seien, während es bloß drei Millionen Schweden (inklusive Finnen) gebe. Der schwedische Staat und die Armee waren sehr schwach, und die führende Schicht und besonders die Offiziere der Armee und der Flotte hatten keinerlei Vertrauen in den jungen, fast absolutistisch herrschenden König Gustav IV. Adolf. Das ganze Kriegsgeschehen war durch eine defätistische Stimmung gekennzeichnet – man rechnete damit, als Verlierer aus dem Krieg hervorzugehen. Im vorhergehenden Herbst war Schweden gezwungen gewesen, Westpommern Napoleons Truppen zu überlassen, nachdem die starke Festungsstadt Stralsund kapituliert hatte und die Truppen sich erst nach Rügen und von da aus weiter nach Schweden zurückgezogen hatten. An diesem Rückzug hatte der König teilgenommen, der jetzt auch im Jahr 1808 eigentlich der einzige war, der sich noch vergeblich bemühte, auf finnischer Seite aktiv Krieg zu führen. Die Disziplin der russischen Truppen war vorbildlich, und viele lokale Bewohner zogen Nutzen aus den Bestellungen der Russen; der Krieg brachte auch Geld mit sich. Es dauerte nicht lange, bis man auch sozial miteinander umging. Zu der Taktik der Russen gehörte es, die Gunst der höheren Bevölkerungsschichten durch Bälle oder Belohnungen zu gewinnen. Für die Russen war es sehr wichtig, dass die Pfarrer sich unter Leitung der beiden Bischöfe für eine Unterwerfung und gegen einen Widerstand aussprachen. Für die führende Schicht der Pfarrer war klar, dass eine friedliche Lösung benötigt wurde, um den lutherischen Glauben und die üb-

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rige Gesellschaftsordnung behalten zu können. Der Bauernstand und auch manch andere waren froh über die Steuersenkung, die sofort eingeführt wurde. Ziemlich bald wurde deutlich, dass der Kaiser an der Meinung der Finnen in Organisationsfragen interessiert war. Dies führte schließlich dazu, dass ein Landtag in Borgå zusammengerufen wurde. Zeitgleich mit der Eröffnung des Landtages Ende März 1809 kam die Mitteilung, dass die wichtigsten Feldherren, unter anderem der Finne Adlercreutz, den König in Stockholm gefangen genommen hätten. Der König wurde zum Abdanken gezwungen, und als man in Stockholm anfing, einen neuen König zu wählen und ein Statut über eine neue Staatsform einzuführen, vergaß man bald die Finnlandfrage. Während in Borgå der finnische Staat mit bedeutenden symbolischen Feierlichkeiten und Aktivitäten proklamiert und in gewisser Hinsicht begründet wurde, war man in Schweden gezwungen, ein neues Schweden zu ›gründen‹, jetzt also ohne Pommern und Finnland. Finnland war lediglich ein embryonaler Staat, als er 1809 bei den Festlichkeiten in Borgå etabliert wurde, als er dann im Frieden von Fredrikshamn im September 1809 in Russlands Besitz überging und als Viborg, das schon früher zu Russland gehört hatte, 1812 wieder angeschlossen wurde. Als erstes erhielt Finnland eine Verwaltungsstruktur, die auf Gesetzen und Standesprivilegien aus der schwedischen Zeit basierte, vor allem aber eine eigene Regierung, die den Namen ›Kaiserlicher Senat für Finnland› erhielt. Zusätzlich hatte Finnland indes beim Regenten in St. Petersburg noch eine andere ›Regierung‹, die anfänglich ›Komitee für finnische Angelegenheiten‹ genannt wurde. Der Kaiserliche Senat zog 1819 in sein neues stattliches Gebäude am Senatstorget in Helsingfors um, nachdem schon 1812 bestimmt worden war, dass Helsingfors Hauptstadt im Großfürstentum werden sollte. Finnlands alte Hauptstadt war natürlich Stockholm; in den Jahren 1809–1819 fungierte Åbo dann zeitweilig als Hauptort, während die Reichshauptstadt St. Petersburg war, wo auch Finnlands Regent bzw. Kaiser regierte.

Die Entstehung der finnischen Kultur Genau gegenüber dem Senatsgebäude in Helsingfors steht das Hauptgebäude der Universität, das genauso groß und schön ist wie der Senat. Es veranschaulicht, dass der neue Staat in der Verwaltungsstruktur einen Inhalt brauchte, eine finnische Kultur. Die alte Universität, bereits 1640 zu Kristinas Zeiten gegründet,

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Matti Klinge

erfreute sich vom ersten Augenblick an der besonderen Gunst Kaiser Alexanders und seines Bruders und Nachfolgers Kaiser Nikolaus I. Die Lehrkräfte an der Universität und die Mittel für sie wurden 1811 verdoppelt, zudem bekam sie prachtvolle Gebäude, zunächst in Åbo, nach ihrem Umzug 1828 dann in Helsingfors. Die Universität sollte einen speziellen nationalen Auftrag wahrnehmen: Sie sollte auf einem höheren Niveau als früher ein Beamtenkorps hervorbringen, Verwaltungsangestellte, Richter, Pfarrer, Lehrer, Ärzte und später auch Agronomen und Förster. Zum Gedenken an seinen Bruder gab Nikolaus I. der Universität den ehrwürdigen Namen Kaiserliche Alexanders-Universität in Finnland. Es war diese Universität, die insbesondere ab den 1830ern die zentralen Begründer der finnischen Kultur und jene Stützorganisationen der Universität hervorbrachte, von denen die ersten 1831 die Finnische Literaturgesellschaft und 1838 die Finnische Wissenschafts-Gesellschaft waren. Johan Ludvig Runeberg, Elias Lönnrot, Johan Vilhelm Snellman, Fredrik Cygnaeus und Zacharias Topelius waren alle Universitätslektoren und, mit Ausnahme von Runeberg, Professoren. Auch Fredrik Pacius, der Finnlands neues Musikleben schuf, war Universitätslektor. Er hatte eine genauso eminente Bedeutung wie ein anderer, der von Deutschland nach Finnland kam: Carl Ludvig Engel, der Helsingfors und Finnlands visuelle und baukünstlerische Kultur schuf. Es war teilweise ihr Verdienst, dass das Großfürstentum mit der allgemeineuropäischen Kultur verknüpft wurde und es vermied, allzu isoliert und engstirnig zu werden. Hierzu trugen auch die Hunderte finnischer Offiziere bei, die während der gesamten russischen Zeit an verschiedenen Stellen im gewaltigen Kaiserreich Russland in der Kaiserlichen Armee dienten. Nach ihrer Rückkehr nach Finnland repräsentierten sie hier ein Erfahrungskapital, das sie in Diensten der Großmacht erworben hatten. Aus guten Gründen sollte neben der Universität auch die Kadettenschule in Fredrikshamn erwähnt werden, über die finnische Jugendliche direkt in den Offiziersdienst der russischen Armee gelangen konnten.

Charakteristika der Autonomie Das Großfürstentum Finnland, das 1809 gebildet wurde, war nach innen selbstständig bzw. autonom, und diese Zeit wird oft die Zeit der Autonomie genannt. Es sollte jedoch betont werden, dass diese Selbstständigkeit nur für interne Fragen galt. In der gesamten Außen- und Militärpolitik war Finnland ein wesentlicher Teil des russischen Kaiserreichs, das Finnland aus militärischen Gründen erobert hatte,

Finnland – Zufall oder Plan?

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um St. Petersburgs Sicherheit zu gewährleisten. Daher gab es in Finnland in dieser ganzen Periode russische Quartiere und Soldaten, die keinesfalls notwendig waren, um die zufriedenen Finnen ruhig zu stellen, sondern deren Aufgabe es war, das Kaisertum vor den anderen Großmächten zu schützen, die einen Angriff über die Ostsee planten. In Russland sah man 1809 Englands Flotte und während des Krim-Krieges in den 1850ern Frankreichs und Englands Flotten als Bedrohung an. Ab Ende der 1890er begann Deutschlands Aufrüstung zur See Russland zu beunruhigen und sich sogar auf die Lage in Finnland auszuwirken. Die offizielle Stellung des Großfürstentums im Kaiserreich wurde in staatlicher Hinsicht nie durch ein formelles Gesetz oder Abkommen definiert. Der Kaiser herrschte in Übereinstimmung mit dem alten schwedischen Verwaltungssystem, das ziemlich absolutistisch war. Aber auch wenn das Großfürstentum Finnland formell nicht eindeutig definiert war, konnte es doch eine tiefgehende Entwicklung durchmachen und seinen Wohlstand vermehren, von wo aus dann das jetzt auch nach außen selbstständige Finnland seine Entwicklung fortsetzen konnte. Übersetzt von Dörthe Stefer

Ralph Tuchtenhagen

Von ›Tilsit‹ nach ›Fredrikshamn‹. Der Ostseeraum in der Politik Russlands und Großbritanniens 1807–1809 The contribution adresses the question of how great power politics influenced the Scandinavian realms during the Napoleonic wars. It focuses on the period from 1807 to 1809, beginning with the peace treaty of Tilsit, in which Napoleon and Alexander I agreed to divide the Baltic Sea region between France and Russia, leaving Sweden and Denmark at the mercy of Russia and Prussia and the north German territorial states to France. One of the results of this agreement was the partition of Sweden and the transfer of Finland to Russia in 1809. In the long run, though, Great Britain proved to be the greatest profiteer of the partitions caused by the treaty of Tilsit. Die Geschichte des Ostseeraums im Zeitalter Napoleons in ein theoriegeleitetes Schema zu pressen, steht angesichts der kurzlebigen politischen Entwicklungen dieser Epoche vor zahlreichen methodischen und inhaltlichen Problemen. Es ist auf diesem Hintergrund kaum verwunderlich – und dabei durchaus gerechtfertigt –, dass die große Mehrheit der einschlägigen Darstellungen ereignisgeschichtlichnarrativ angelegt ist und sich mit einer mehr oder weniger gelungenen ›dichten Beschreibung‹ begnügt.1 Dies gilt auch für die meisten Neuerscheinungen im Zu1

Vgl. z.B. Göran Rystad/Klaus Richard Böhme/Wilhelm M. Carlgren (Hg.): The Baltic in po wer politics, 1500 1990. I: 1500 1890. Lund 1994; H. Arnold Barton: Scandinavia in the revolutionary era. Minneapolis 1986; Sten Carlson: Den svenska utrikespolitikens historia. Bd. III,1: 1792 1810. Stockholm 1954; Allan Sandström: Sveriges sista krig. De dramatis ka åren 1808 1809. Örebro 1994. Stefan Björklund (Hg.): Kring 1809. Stockholm 1965; Anders Grade: Sverige och Tilsitalliancen 1807 1810. Lund 1913; Sam Clason: Gustav IV Adolf och den utrikespolitiska krisen under Napoleon. Stockholm 1913; Sven G. Trulsson: British and Swedish policies and strategies in the Baltic after the peace of Tilsit in 1807. A study of decision making. Kungälv 1976 (= Bibliotheca Historia Lundensis 40); Albert Vandal: Napoléon et Alexandre I. 3 Bde. Paris 1897; A.A. Lobanov Rostovskij: Russia and Europe 1789 1825. North Carolina 1947; Walther Mediger: »Rußland und die Ostsee im 18. Jahrhundert«. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 16 (1968), S. 85 103; Ders., »Rußland und die Ostsee im 18. Jahrhundert«. In: Der Ostseeraum im Blickfeld der deut schen Geschichte. Köln Wien 1970 (= Studien zum Deutschtum im Osten; 6), S. 141 164 (jedoch ohne Anmerkungen); Nicolai Krarup: Danmark i nødsaarene 1801 1814: Belej ring Besættelse Bankerot. Kjøbenhavn 1940; Ole Feldbæk: Danmarks historie. Bd. 4: Tiden 1730 1814. København 1982; Naarva Bjørgo/Øystein Rian/Alf Kaartvedt: Norsk utenrikspolitikks historie, Bd. 1: Selvstendighet og union fra middelalderen til 1905. Oslo

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Ralph Tuchtenhagen

sammenhang mit dem 200. Jubiläum des Übergangs Finnlands an Russland und der ›schwedischen Revolution‹ im Jahre 2009. Dennoch ist es ein Anliegen dieses Aufsatzes, die übergeordneten Linien der internationalen Politik dieser Jahre im Ostseeraum deutlich zu machen. Dabei soll vor allem die These, Russland und Großbritannien seien die entscheidenden Akteure im politischen Machtspiel der Jahre 1807 bis 1809 gewesen, Konturen gewinnen. In der Konsequenz mussten die vormaligen Ostseegroßmächte Dänemark und Schweden den Anspruch auf ihre Rolle als Dominatores maris Baltici aufgeben. Russland und Preußen glaubten an diese Rolle schon seit dem Großen Nordischen Krieg 1700–1721 nicht mehr.

Nordeuropa vor Tilsit – die staatenpolitischen Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Seit den 1740er Jahren hatten Russland, Schweden, Dänemark und Preußen versucht, die Ostsee durch wechselseitige Verträge in ein mare pacificum zu verwandeln. Solche Versuche waren jedoch von Großbritannien immer wieder durchkreuzt worden, weil die Briten fürchteten, durch eine Einigungspolitik der Ostseestaaten Nachteile im Ostseehandel zu erleiden und ihre neben den Niederländern führende Position bei den Handelstransporten zu verlieren. Seine dominierende Stellung hatte Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert aufgebaut. Um sie zu erhalten, verfolgte es gegenüber den Ostseeanrainerstaaten eine Politik des divide et impera und eine daraus abgeleitete Konzeption der balance of power.2

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1995, S. 177 235; Ole Feldbæk/Nikolaj Petersen: Dansk udenrigspolitiks historie, Bd. 2: 1720 1814, København 2002, S. 451 527. Zur aus der Ethnologie entlehnten Methode der ›dichten Beschreibung‹ (›thick description‹) vgl. v.a. Clifford Geertz: »Thick description. Toward an interpretive theory of culture«. In: Ders.: The interpretation of cultures. Selected essays. New York 1973, S. 3 30. Vgl. H.S.K. Kent: War and trade in Northern Seas. Anglo Scandinavian economic relations in the mid eighteenth century. Cambridge 1973; Jaap R. Bruijn: »The Long Life of Treaties. The Dutch Republic and Great Britain in the Eighteenth Century«. In: Rolf Hobson/Rom Kristiansen: Navies in northern waters, 1721 2000. London 2004 (= Cass series na val policy and history; 26), S. 41 59; E.S. van Eyck van Heslinga: »A competetive ally. The delicate balance of naval alliance and maritime competition between Great Britain and the Dutch republic 1674 1795«. In: G.J.A. Raven/N.A.M. Rodger (Hg.): Navies and armies. The Anglo Dutch relationship in war and peace 1688 1988. Edinburgh 1990, S. 1 11; Jeremy Black/Philip Woodfine: The British Navy and the use of naval power in the eighteenth century. London 1988. Zur militärwirtschaftlichen Abhängigkeit Großbri tanniens vom Ostseeraum vgl. R.G. Albion: Forests and sea power. The timber problem of the Royal Navy, 1652 1862. Cambridge/Mass. 1926, S. 139 199; R.C. Anderson: Naval wars in the Baltic during the sailing ship epoch, 1522 1850. Princeton/N.J. 1910 (ND

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Russland arbeitete seit 1763 unter der Führung von Zarin Katharinas II. wichtigstem Mitarbeiter in außenpolitischen Angelegenheiten, Nikita Panin (1718 – 1783), an einem ›Nordischen System‹, in dem alle nordeuropäischen Mächte (im alten Sinne des Wortes: Russland, Preußen, England, Polen, Dänemark, Schweden) unter der Ägide Russlands zusammengebunden werden sollten.3 Angesichts der zunehmenden Kapertätigkeit auf den Weltmeeren, von der – inoffiziell – auch Großbritannien profitierte, fanden sich Russland, Schweden und Dänemark 1780 schließlich zu einer gemeinsamen Deklaration über die bewaffnete Neutralität zur See4 zusammen, gegen die Großbritannien sich wieder einmal sträubte, der sich andere Staaten aber nach und nach anschlossen. Im Einzelnen sah die Deklaration vom 27. Februar (neuer Stil) bzw. 9. März (alter Stil) 1780 vor: 1. Neutrale Schiffe dürfen Häfen kriegsführender Parteien ungehindert anlaufen. 2. Das Eigentum kriegsführender Parteien auf neutralen Schiffen (Ausnahme: Konterbande) ist geschützt. 3. Als Konterbande gelten alle militärischen Güter (z.B. Waffen, Munition, etc.). 4. Als blockiert gilt ein Hafen dann, wenn er de facto von feindlichen Kriegsschiffen kontrolliert wird.

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1980), S. 71 221. Allgemein zur Geschichte der britischen balance of power Konzeption, v.a. im 18. Jh., vgl. Michael Sheehan: The balance of power. History and theory. London 2000, S. 98 121. Vgl. Fritz Arnheim: »Beiträge zur Geschichte der nordischen Frage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«. In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1889), S. 410 443; Erik Amburger: Rußland und Schweden 1762 1772. Katharina II., die schwedische Verfas sung und die Ruhe des Nordens. Berlin 1934; Jörg Philipp Lengeler: Das Ringen um die Ruhe des Nordens. Großbritanniens Nordeuropa Politik und Dänemark zu Beginn des 18. Jahr hunderts. Frankfurt/M. et al. 1998 (= Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig holsteinischen und skandinavischen Geschichte; 18); Hans Bagger: »The role of the Baltic in Russian foreign policy, 1721 1773«. In: H. Ragsdale (Hg.): Imperial Russian foreign policy. Cambridge 1993, S. 36 72; Hans Bagger: »Dansk russiske forbindelser i 1700 tallet«. In: Svend Aage Christensen/Henning Gottlieb (Hg.): Danmark og Rusland i 500 år. Køben havn 1993, ²2010, S. 62 84 (auch russ. »Datsko russkie otnošenija v XVIII veke.« In: Svend Aage Christensen/Henning Gottlieb (Hg.): Danija i Rossija 500 let. Moskau 1996, S. 62 84). Zur Kontinuität der St. Petersburger Außenpolitik im Ostseeraum: Otto Brandt: »Das Problem der ‚Ruhe des Nordens‘ im 18. Jahrhundert«. In: Historische Zeitschrift 140 (1929), S. 550 565; Alan Palmer: Northern shores. A history of the Baltic Sea and its peoples. London 2005, S. 137 156; Lars Bangert Struwe: »Allieret eller neutral? Dansk sikkerhedspolitik 1740 1807«. In: Eric Lerdrup Bourgois/Niels Høffding (Hg.): Danmark og Napoleon. Højbjerg 2007, S. 17 32. Vgl. Isabel de Madariaga: Britain, Russia and the armed neutrality of 1780. New Haven 1962.

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5. Bei Anerkennung der Legalität einer ›Prise‹ (Aufbringen von Schiffen) sind diese Grundsätze zu Grunde zu legen; die Seestreitkräfte neutraler Staaten übernehmen den Schutz des Seehandelsverkehrs.5 In der Konsequenz richteten die drei Gründerstaaten einen gemeinsamen Patrouillendienst zur See ein, der auch von anderen Mitgliedern des Bündnisses genutzt werden konnte. Diese Maßnahme musste Großbritannien jedoch als Affront auffassen. Dazu kam in den 1780/90er Jahren eine Verschlechterung der Beziehungen des Russländischen Reiches und Großbritanniens auf dem Hintergrund der Anerkennung der USA durch Russland im Jahre 1784.6 Zwischen den beiden Großmächten konnten die kleineren Staaten des Ostseeraums (Dänemark, Schweden, Preußen, Polen-Litauen) nur versuchen zu lavieren. Schweden und Dänemark hielten es angesichts der sich komplizierenden Situation im Ost- und Nordseeraum für klug, ihre bewaffnete Neutralität durch eine weitere gemeinsame Deklaration zu bekräftigen, die sich im Rahmen des europäischen Revolutionskrieges nun vor allem gegen die Kapertätigkeit der Franzosen und Briten richtete.7 Bestrebungen Großbritanniens, eine antirussische Koalition mit Polen-Litauen im Zentrum zu Stande zu bringen, erwiesen sich angesichts der zweiten und dritten Teilung Polen-Litauens (1793, 1795) und dem damit verbundenen zwischenstaatlichen Konsens Russlands und Preußens als aussichtslos. Im Jahre 1800 fanden sich Preußen, Schweden und Dänemark also erneut zu einer gemeinsamen Neutralitätsdeklaration zusammen, diesmal unter russischer Führung.8 Diese führte zu scharfen 5

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Text abgedruckt in: Official Documents bearing on the armed neutrality of 1780 and 1800. Washington D.C. 1917 (= Pamphlet series of the Carnegie Endowment for International Peace. Division of International Law; 27), S. 23 66, auch in: Convention signed at St. Pe tersburgh the 5/17 June 1801, and Extracts from the two Conventions of Armed Neutrality concluded in 1780 and 1800 (frz. und engl.). London 1802; Sir Francis Piggott/G.W.T. Omond: Documentary history of the armed neutralities 1780 and 1800. Together with selected documents relating to the War of American Independence 1776 1783 and the Dutch War 1780 1784. London 1919 (= Law of the Sea Series; 1). Zum allgemeinen Kon text vgl. Carl Jacob Kulsrud: Maritime neutrality to 1780. A history of the main principles governing neutrality and belligerency to 1780. Boston 1936. Vgl. Thorvald Boye: De væbnede neutralitetsforbund. Et avsnit av folkerettens historie. København 1912, S. 139 213; Herbert Wrigley Wilson: »The armed neutrality, 1780 1801. Sect. II. Naval operations (1800 1). The command of the sea, 1803 15«. In: A.W. Ward (Hg.): The Cambridge Modern History, Bd. 9: Napoleon. Cambridge 1902; Thomas Alfred Walker: »The armed neutrality, 1780 1801: The Baltic powers«. In: A.W. Ward (Hg.): The Cambridge Modern History, Bd. 9: Napoleon. Cambridge 1902; Piggott/ Omond: Documentary history. Zur Vorgeschichte in den 1780er Jahren vgl. Clas Theodor Odhner: »Gustaf III:s besök i Köpenhamn 1787 och förslag till ett skandinavisk förbund«, In: Historisk tidskrift (S) 1 (1881), S. 161 194. Text abgedruckt in: Official Documents bearing on the armed neutrality of 1780 and 1800,

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Gegenmaßnahmen Großbritanniens, durch die Dänemark, ein wichtiger Handelspartner Großbritanniens, in den Strudel der europäischen Großmachtpolitik geriet. Großbritannien verlangte von Dänemark den sofortigen Austritt aus dem Verbund der neutralen Mächte des Jahres 1800. Die dänische Regierung befand sich damit in einer schwierigen Lage: Würde sie dieser Forderung nachkommen, machte sie Dänemark zum Alliierten Großbritanniens, verlöre die Neutralität und riskierte einen Konflikt mit Frankreich, Russland und deren Alliierten. Zusätzlich standen bereits schwedische Truppen an der Grenze zu Norwegen, um das Land im Falle einer dänisch-britischen Auseinandersetzung zu übernehmen. Die dänische Regierung weigerte sich letztlich, auf die britischen Forderungen einzugehen. Die Reaktion in London ließ nicht lange auf sich warten: Am 12. März 1801 entsandte die britische Regierung ein Geschwader unter Admiral Hyde Parker (1739–1807) und Horatio Nelson (1758–1805) nach Seeland. In der darauf folgenden ›Schlacht auf der Reede‹ am 2. April 1801 konnten die Briten zwar keinen eindeutigen Sieg erringen. Inzwischen hatte sich jedoch die politische Situation grundlegend geändert. Am 21. März hatte Großbritannien Friedensverhandlungen mit Frankreich eingeleitet, am 24. März hatte sich ein britischer Kurier auf den Weg nach Russland gemacht, um dort zu einer politischen Übereinkunft mit dem Zaren zu kommen. Zar Paul I. war jedoch kurz zuvor ermordet worden, und sein Nachfolger, Alexander I. (1801–1825), erstrebte nun seinerseits ein Neutralitätsabkommen mit Großbritannien und hatte einen Kurier Richtung Großbritannien geschickt. Zum Zeitpunkt der Schlacht wussten weder Parker und Nelson noch die Dänen von diesen diplomatischen Aktivitäten. Erst am 8. April erfuhr die königliche Regierung in Kopenhagen vom Tod des Zaren. Der am folgenden Tag geschlossene Waffenstillstand spiegelte dann bereits die neue Situation wider: Mit dem Tod des Zaren war der Neutralitätsbund des Jahres 1800 hinfällig. Dänemark blieb nun zwar neutral, war aber ganz auf sich gestellt; und im nachfolgenden Friedensvertrag vom 23. Oktober 1801 verlor es seine gesamte Kriegsflotte an die Briten.9 Der schwedische König Gustav IV. Adolf (1792–1809) interpretierte den Waffenstillstand zu seinen Gunsten, sprach von einem Verrat der Dänen am Neutrali-

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S. 157 117 und Convention signed at St. Petersburgh. Vgl. Seved Johnson: »Neutralitets förbundet 1800 i sitt storpolitiska sammanhang«. In: Historisk tidskrift (S) 73 (1953), S. 313 327. Vgl. Lars Lindeberg: De så det ske. Englandskrigene 1801 14: Slaget på Reden, Gul dalder, Statsbankerot, København 1974; Ole Feldbæk: Denmark and the armed neutrality 1800 1801. Small power policy in a world war. København 1980; Ole Feldbæk: Slaget på Reden. København 1985 (ND 2001); Digby George Smith: Navies of the Napoleonic era. Atglen/PA 2004, S. 82 88; Otto von Pivka: Navies of the Napoleonic era. New York 1980, S. 58 88; Henning Søby Andersen: En lus mellem to negle. Dansk norsk neutralitetspolitik 1801 1807. Odense 1991.

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tätsbund und tat alles, um Dänemark beim neuen Zaren in ein schlechtes Licht zu stellen. Gleichzeitig schmiedete man in Schweden Pläne, die darauf hinausliefen, zunächst Norwegen und später Kopenhagen anzugreifen und damit eine Konzeption umzusetzen, die schon ein großer Vorgänger Gustavs IV. Adolf, Karl X. Gustav (1654–1660), im Zweiten Nordischen Krieg (1655 –1661) verfolgt hatte, nämlich die Auslöschung oder zumindest deutliche territoriale Stutzung Dänemarks zu Gunsten des Schwedischen Reiches. Diese Planungen blieben jedoch mangels alliierter Unterstützung papierene Fantasien. Preußen verlangte seinerseits von Dänemark, Hamburg zu räumen, während Preußen selbst keineswegs gewillt war, seine Truppen aus dem von ihm besetzten Hannover und Lauenburg abzuziehen. Dänemark machte seine außenpolitischen Schritte in der Folge weniger von Schweden und Preußen als vielmehr vom Verhalten Russlands abhängig. Russland wiederum arbeitete an einem Ausgleich mit Großbritannien und verzichtete auf die gegen die Briten gerichteten Klauseln des Neutralitätsbundes von 1800. Schweden schloss sich an, um Russland wegen seines geplanten Norwegenfeldzugs nicht zu verprellen. Dänemark blieb nichts weiter übrig als ebenfalls einzuwilligen.10 Bis zum Mai 1803, als Briten und Franzosen erneut einen Krieg vom Zaun brachen, konnte Dänemark seine neutrale Handelspolitik fortsetzen. Der dritte Koalitionskrieg (1805), der für Napoleon am 2. Dezember 1805 mit einem entscheidenden Sieg in der Schlacht von Austerlitz endete, ihm die Herrschaft über Mitteleuropa verschaffte und zur Bildung des Rheinbundes (12.7.1806) führte, brachte allerdings neue Probleme. Napoleon verlangte nämlich nun von Dänemark, Holstein dem Rheinbund anzugliedern. Dieser Forderung kam Dänemark nicht nach, sondern erklärte Holstein am 9. September 1806 zu einem ›ungetrennten‹ Bestandteil des dänischen ›Gesamtstaates‹.11 Nach dem französischen Sieg über Preußen 1806 rief Berlin am 21. November 1806 eine Kontinentalblo-

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Vgl. Lindeberg: De så det ske; Søby Andersen: En lus mellem to negle, S. 22. Zum weiteren Kontext vgl. Karl V. Key Åberg: De diplomatiska förbindelserna mellan Sverige och Storbritan nien under Gustav IV Adolfs krig emot Napoleon intill konventionen i Stralsund d. 7 sept 1807. Uppsala 1890. Gesetze und Gewohnheitsrechte in Holstein blieben jedoch unangetastet. Vgl. Franklin Ko pitzsch: »Schleswig Holstein im Gesamtstaat 1721 1830: Absolutismus, Aufklärung und Reform«. In: Ulrich Lange (Hg.): Geschichte Schleswig Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Kiel 1996, S. 281 332, hier: S. 285; Jann M. Witt: »Frieden, Wohlstand und Reformen Die Herzogtümer im dänischen Gesamtstaat«. In: Jann Markus Witt/ Heiko Vosgerau: Schleswig Holstein von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Kiel 2002, S. 221 261, hier: S. 256; Olaf Klose/Christian Degn: Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721 1830. Neumünster 1960 (= Geschichte Schleswig Holsteins; 6), S. 161 427; Ole Feldbæk: »Revolutionskriege und Gesamtstaat. Das Ende der Neutralitätspolitik«. In: Zeit schrift der Gesellschaft für Schleswig Holsteinische Geschichte 116 (1991), S. 107 123.