17. bis 23. Oktober 2011

54. INTERNATIONALES LEIPZIGER FESTIVAL FÜR DOKUMENTAR- UND ANIMATIONSFILM 1 7. bis 2 3. Ok tobe r 20 11 Eröffnungsrede von Festivaldirektor Claas Dan...
Author: Maja Reuter
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54. INTERNATIONALES LEIPZIGER FESTIVAL FÜR DOKUMENTAR- UND ANIMATIONSFILM 1 7. bis 2 3. Ok tobe r 20 11

Eröffnungsrede von Festivaldirektor Claas Danielsen zum 54. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm DOK Leipzig, 17.10.2011 Sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann, sehr geehrte Frau Staatsministerin Professor Dr. Dr. von Schorlemer, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des diplomatischen und konsularischen Korps, sehr geehrte Abgeordnete des Bundestages, des sächsischen Landtages und des Leipziger Stadtrates, sehr geehrte Förderer, Sponsoren, Unterstützer und Partner von DOK Leipzig, sehr geehrte Gäste aus aller Welt, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, „Festung Europa“, so heißt das Lied, das Brockdorff Klang Labor gerade für uns gespielt hat. Sie haben damit den „Protest-Song Wettbewerb 2011“ der Zeitschrift Spex gewonnen. Herzlichen Glückwunsch! In dem Lied heißt es: „Komm her, wir können so nah sein. Was Du auch denkst, es ist ein Wert, nicht ein Geschenk.“ In einem Interview mit Spex sagte die Sängerin Nadja von Brockdorff im Juni, ich zitiere: „Anlass für Festung Europa war die deutsche Flüchtlingspolitik, die mich seit Jahren beschäftigt: Es herrscht die Befürchtung, etwas zu verlieren, und dagegen wird sich abgeschottet. Das Fremde soll ausgegrenzt werden. Kurz nach dem Umsturz in Tunesien kam diese widerliche Diskussion darüber auf, was mit den 30.000 Flüchtlingen auf Lampedusa geschehen soll. Da zeigte sich die Bigotterie der

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westlichen Welt, die Demokratiebewegungen beklatscht, mit den Folgen aber nichts zu tun haben will.“ Zitatende. Was die Ursachen für die Revolutionen in Tunesien und Ägypten waren und mit welchem Mut die Menschen dort für ein Leben in Würde und Freiheit demonstriert haben, können Sie in den Filmen nacherleben, die wir in unserem Schwerpunkt zum „Arabischen Frühling“ in den kommenden Tagen zeigen werden. Es ist die gleiche Energie wie in Leipzig im Jahr 1989. Die Menschen haben ihre Angst überwunden. Das Thema des Umbruches zieht sich durch die Nachrichten der letzten Monate. Und es lässt uns nicht los. Gerade schien die Finanzkrise überwunden, die deutsche Wirtschaft wächst und die Exporte florieren, da kommt die Euroschuldenkrise, und die Bankenkrise setzt sich fort. Die sogenannte westliche Welt, also Europa und Nordamerika, ist dabei, ihre Führungsrolle abzugeben. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, passiert es längst. Und die Angst vor dem Verlust des Status Quo wächst. Festung Europa. Man möchte rufen: Lasst uns die Mauern doch einfach etwas höher ziehen und unseren Glauben an unbegrenztes Wachstum lauter singen. Dann wird alles gut! Augen zu! Dann können wir die Zeichen ja nicht mehr sehen. Lasst uns auch die Ohren zuhalten, damit wir die Hilferufe aus Lampedusa und Ceuta, von den afrikanischen Küsten und aus den fragilen Schaluppen auf dem Mittelmehr nicht hören müssen. Auch die Rufe aus den Abschiebegefängnissen nicht, die Fernand Melgar, der Regisseur unseres Eröffnungsfilms „Vol spécial“, dokumentiert hat. Wir können übrigens auch die Luft anhalten, mindestens eine Minute lang, damit der Duft der Veränderung nicht unsere Geschmacksknospen erreicht.

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Es ist Angst, die pure Angst, die uns dazu bringt, den Blick immer weiter zu verengen und unsere Sinne und Herzen zu verschließen vor den Umbrüchen und Veränderungen, die schon längst vor sich gehen. Angst ist ein gutes Warnsignal, aber ein schlechter Berater. Ich kenne diese Angst. Sie ist alt. Ich habe immer wieder Angst – Angst vor dem Verlust der Menschen, die ich liebe, vor dem Verlust meiner materiellen Absicherung, vor dem Verlust von Anerkennung und Respekt. Auch Angst davor, dass Sie jetzt aufstehen und gehen, weil Sie diese wohlfeilen und moralisierenden Worte nicht hören wollen. Nicht hören wollen. Nicht sehen wollen. Nicht fühlen wollen. Ausatmen, einatmen, ausatmen. Loslassen – lassen wir unsere Angst doch einfach los. „Komm her, wir können so nah sein. Was Du auch denkst, es ist ein Wert, nicht ein Geschenk.“ Wenn ich die Angst loslasse, spüre ich ganz deutlich: ich will wissen. Will wissen, was in der Welt passiert, will verstehen. Ich bin neugierig, ich freue mich auf diese Tage, in denen Gäste aus aller Welt zu uns kommen, zum Beispiel unser Jurymitglied Orwa Nyrabia und seine Kollegin Diana El Jeroudi aus Damaskus, die ich ganz herzlich begrüße, und die uns aus Syrien berichten können. Ich begrüße auch die zahlreichen Filmemacher aus Ägypten, Tunesien und der arabischen Welt, die ihre Filme bei DOK Leipzig präsentieren oder parallel zum Festival an einem Dokumentarfilmworkshop des ‚Arab Fund for Arts and Culture‘ teilnehmen. Und ich begrüße unsere chilenische Delegation: Benvenidos amigos chilenos. Dort übrigens demonstrieren die Studenten seit Monaten für Veränderung. Herzlich willkommen! Ich denke aber auch an die sechs iranischen Dokumentarfilmemacher Mojtaba Mir Tahmaseb, Katayoon Shahabi, Hadi Afarideh, Naser Safarian, Shahnam Bazdar

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und Mohsen Shahrnazdar. Sie wurden am 17. September im Iran festgenommen und ins Evin-Gefängnis gebracht, weil ihnen Spionage und "Kollaboration" mit der BBC vorgeworfen wird. Zwar sind zwei von ihnen wieder frei, es wurden jedoch weiterer Filmemacher verhaftet, deren Namen wir nicht kennen. Aktuell erreicht uns die Nachricht, dass der große Regisseur Jafar Panahi, Mitglied der Berlinale Jury 2011 und Gewinner des Silbernen Bärs 2006, von einem Berufungsgericht wegen staatsfeindlicher Propaganda zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufs- und Reiseverbot verurteilt wurde. Die Machthaber im Iran haben Angst, so große Angst, dass sie auch die Botschafter der Wut und Unzufriedenheit des eigenen Volkes verhaften. Ich fordere die iranische Regierung im Namen von DOK Leipzig auf, alle Filmemacher und Regimekritiker umgehend freizulassen. Wann endet die Unterdrückung im Iran, in Syrien, in Burma, in China und in vielen anderen Ländern? Wir wissen es nicht. Aber ich habe in den letzten Monaten gelernt, dass keine Veränderung undenkbar ist. Ganz im Gegenteil, die Veränderung liegt in unseren Händen – wir müssen nur den Mut haben, sie zu denken! Dann erkennen wir ganz neue Chancen und Möglichkeiten, eine neue Freiheit, die uns erlaubt, die Angst zu überwinden und klug zu handeln. Wenn wir unsere Angst vor Verlust und Veränderung loslassen und uns unserer Kraft besinnen, wird auch der Wunsch nach Verständnis und Veränderung immer größer. Wir bei DOK Leipzig sehen jedes Jahr Tausende von Filmen aus der ganzen Welt und erfahren, welche Schicksale sich hinter den Schlagzeilen verbergen. Dank der geduldigen Beobachtung der Dokumentarfilmer erhalten wir ein tieferes, ein emotionales Verständnis der Welt. Unser diesjähriges Sonderprogramm „Filmmakers as Changemakers – The Rhythms of India“ steht exemplarisch für die zentrale Aufgabe von DOK Leipzig, jedes Jahr das „Fenster zur Welt“ aufzustoßen und frische Luft in unsere Köpfe zu lassen. Ein herzliches Willkommen geht auch an unsere Gäste aus Indien.

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Hinsehen, hinhören, hin spüren, verstehen, Vorurteile verabschieden – das wollen die weit über 30.000 Zuschauer unseres Festivals, die mehrheitlich jung sind. Für sie ist das Fernsehen längst kein Leitmedium mehr. Wir sehen mit Unruhe, dass unabhängige Produktionsfirmen insolvent gehen oder aufgeben, weil sie von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, während sendereigene Tochterfirmen ihre Marktposition ausbauen. Wir sehen mit Sorge, wie großartige Talente nach exzellenten Abschlussarbeiten und Debutfilmen verschwinden, weil sie aus den Rastern der Nachwuchsförderung oder -redaktionen fallen und gleichzeitig Hunderte neuer Filmemacher nachrücken. Wir lesen fassungslos, dass Dokumentarfilmredaktionen Produzenten aus ihrer Region teilweise nur noch 10.000 Euro als Ko-Finanzierung für einen Dokumentarfilm anbieten. Auch in unserer Branche gehen also tiefgreifende Umbrüche vor sich, die wir nicht mehr verdrängen können. Da reicht es nicht, als Dokumentarfilmer zu fordern: „Halt! Wir wollen ein größeres Stück vom Kuchen!“ Produzenten und Filmemacher müssen sich auf völlig neue Arbeitsweisen, Absatzmärkte und Partnerschaften einrichten. Statt das verlorene Paradies zu beklagen, gilt es auch hier, Ängste zu überwinden, sich Neuem zu öffnen und selbstbewusst für Veränderungen zu kämpfen. Aber auch die Kollegen in den öffentlich-rechtlichen Sendern begreifen erst langsam, dass nichts so bleiben wird, wie es war. Erdrückende Pensionslasten, geringere Rundfunkgebühren, weil die Bevölkerungszahl sinkt, ein erstarrter Apparat und das Dogma der Quote, das so viel Kreativität und Vielfalt erstickt und das ureigene Profil verblassen lässt, all das lähmt diese Anstalten. Leider hat meine Eröffnungsrede von vor zwei Jahren nichts an Aktualität eingebüßt. Und dennoch: die Veränderung ist nicht aufzuhalten, das sehen wir auch vor unserer Haustür bei unserem Medienpartner, dem MDR. Der Sender befindet sich mitten in einem

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Generationswechsel und der Rundfunkrat stellt sich bei der Intendantenwahl quer. Ich glaube, dass es höchste Zeit ist, jenseits von Dogmen, auf Augenhöhe, ehrlich und angstfrei, miteinander zu sprechen und sich endlich auf faire Bedingungen für die Zusammenarbeit zwischen öffentlich-rechtlichen Sendern und der unabhängigen Produktionswirtschaft zu einigen. Auch hier gilt es, Mauern einzureißen. „Kommt her, wir können so nah sein. Was Ihr auch denkt, es ist ein Wert, nicht ein Geschenk.“ In dieser Umbruchphase ist es ein unübersehbares Zeichen, dass die Zahl der Nominierungen für den Deutschen Filmpreis „Lola“ im Bereich Dokumentarfilm auf drei erhöht wurde. Ich danke Ihnen, sehr geehrter Staatsminister Neumann, für die Finanzierung dieser zusätzlichen Nominierung in Höhe von 100.000 Euro. Aber das reicht nicht. Wir brauchen mehr Unterstützung für all jene Filme, die aus dem Raster der Förderungen fallen, weil das Fernsehen nicht an Bord ist oder sich noch kein Verleih gefunden hat. Wir brauchen Unterstützung für all jene Filme, die radikal, unbequem, innovativ, eigenwillig und unberechenbar sind, die eine neue Filmsprache suchen und Themen anpacken, die im Quotenfernsehen nicht mehr vorkommen. Wir brauchen einen Fonds für Filmemacher aus Asien, Afrika und Amerika genauso wie für Kollegen aus Deutschland und Europa. Wir brauchen Mechanismen, die die radikalen Umbrüche in der Film- und Medienlandschaft abfedern und überbrücken, bis neue Vertriebs- und Finanzierungsmodelle funktionieren. Deshalb heißt unser nächstes Projekt, vielleicht sogar unsere dringlichste Aufgabe „DOK Fonds“. Wir wollen mit dem DOK Fonds künstlerische, innovative, riskante, mutige und visionäre Dokumentar- und Animationsfilmprojekte unterstützen, Filme, die Sie in ein paar

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Jahren auf den Festivalleinwänden schmerzlich vermissen würden, wenn sie nicht entstünden. Filme, in denen sich Herz und Kunst zu etwas Größerem vereinen – The HeART of Documentary – and Animation! Deshalb ist der DOK Fonds auch für die Zukunft dieses Festivals überlebenswichtig. DOK Leipzig ist mit seinen vielfältigen internationalen Partnerschaften der ideale Ort, an dem der DOK Fonds funktionieren kann. Und als Leitfestival nehmen wir die Verantwortung an, die Zukunft unserer beiden Genres aktiv mitzugestalten. Die Idee ist da, jetzt brauchen wir nur noch leidenschaftliche Mitstreiter und finanzielle Partner für diesen Fonds. Und da kommen Sie ins Spiel! Lassen Sie uns dieses Projekt in den kommenden Tagen diskutieren und in den nächsten Monaten Realität werden! Erste Mitstreiter gibt es bereits. „Komm her, wir können so nah sein. Was Du auch denkst, es ist ein Wert, nicht ein Geschenk.“ Ich danke all unseren Förderern, Sponsoren, Spendern, Unterstützen und Partnern, die Sie hinter mir sehen, für Ihre Großzügigkeit und Treue. Helfen Sie bitte mit, dass DOK Leipzig seinen wiedererreichten Rang als eines der wichtigsten Dokumentarfilmfestivals der Welt halten und festigen kann. Dafür brauchen wir weiterhin eine stabile Förderung, die Kostensteigerungen mit auffängt, genauso wie potente Sponsoren und Unterstützer mit einer Leidenschaft für Film, Kunst, Fantasie und Wirklichkeit. Übrigens: DOK Leipzig engagiert sich auch für Partner außerhalb der Filmwirtschaft. In diesem Jahr unterstützen wir die unabhängige Entwicklungshilfeorganisation Oxfam. Helfen Sie mit!

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„Festung Europa“ hat Brockdorff Klang Labor vorhin für uns gespielt. Wie es jenen Flüchtlingen ergehen kann, die die europäischen Mauern überwunden und den Weg in die Festung gefunden haben, zeigt unser Eröffnungsfilm „Vol spécial“. Bevor ich jetzt den Regisseur Fernand Melgar auf die Bühne bitte, wünsche ich uns allen eine inspirierende, Mut-machende, freudvolle, aufregende und erfolgreiche Woche. Hiermit eröffne ich das 54. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm und danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.