1 Einleitung. Wissenschaft ist etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes. (Wilhelm von Humboldt, )

1 Einleitung „Wissenschaft ist etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes.“ (Wilhelm von Humboldt, 1767–1835) Dieser Ausspruch Wi...
Author: Kevin Richter
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Einleitung

„Wissenschaft ist etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes.“ (Wilhelm von Humboldt, 1767–1835)

Dieser Ausspruch Wilhelm von Humboldts, dem Gründer der Berliner Universität, findet sich auf einer Tafel im oberen Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin. Er repräsentiert ein Wissenschaftsverständnis der Geistesund Sozialwissenschaften, das ungeachtet allen Strebens nach verallgemeinerungsfähiger Erkenntnis von der Überzeugung der grundsätzlichen Begrenztheit wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis geprägt ist. Diese Aussage gilt in hohem Maße für die Geschichte, denn sie lässt sich, so lehrt die Erfahrung, besonders leicht in den Dienst politisch-ideologischer Zwecke nehmen. Der reflektierte, kritische Umgang mit Geschichte lehrt eine wissenschaftliche Haltung, die sich an der Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnis orientiert und geprägt ist von Neugier, Skepsis, Vorsicht und Differenziertheit. Jeder Historiker weiß, dass der Fund nur einer einzigen neuen Quelle, d. h. eines Bruchteils vergangener Wirklichkeit, ein ganzes historisches Theoriegebäude einstürzen lassen kann. Der Versuch, Vergangenes darzustellen und zu interpretieren, kann demnach niemals abgeschlossen sein, da neue Quellen auftauchen können oder aber die Perspektive der Fragenden sich verändert. Die Anerkennung, dass es die Rekonstruktion einer vermeintlich objektiv vorgegebenen Geschichte nicht geben kann, verweist auf die Standortgebundenheit und Perspektivität jeder historischen Betrachtung. Die Notwendigkeit, historische Phänomene zu verstehen und zu interpretieren und damit in den jeweiligen historischen Kontext angemessen einzubetten, begegnet uns auch in der Sonderpädagogik stets aufs Neue. Lassen Sie mich zur Veranschaulichung zwei Beispiele anführen: In der Zeitschrift für Heilpädagogik von 1982 findet sich im Heft 8 unter der Rubrik: „Historische Rückschau: Sonderpädagogik 1937“ der Abdruck eines Beitrages mit dem Titel: „Arbeit der blinden Hitlerjungen“, der in der Zeitschrift „Der Hitlerjunge“ von 1937 erschienen war. Die Redaktion der Zeitschrift für Heilpädagogik schrieb dazu einleitend: „Der nachfolgende Bericht eines Hitlerjugend-Führers, der als hochgradig Sehbehinderter eine Blindenschule besuchte, erschien am 16. Oktober 1937 […] Die 45 Jahre alte Darstellung der Arbeit der blinden Hitlerjungen aus der Feder eines Betroffenen legt eindringlich Zeugnis ab von den speziellen Problemen einer Behindertengruppe während

Geschichte als Wissenschaft

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des nationalsozialistischen Regimes. Das seltene aufschlußreiche Dokument wurde der Zeitschrift für Heilpädagogik von der Museumsbücherei der Blindenschule in BerlinSteglitz zur Verfügung gestellt […]“ (Forum „Sonderpädagogischer Alltag“, XXIII)

Der Abdruck dieses Beitrages erfuhr Kritik. So war die Rede von „jener völligen Geschmacklosigkeit der Zeitschrift für Heilpädagogik […] wo als erstes Dokument aus der Nazizeit (nach immerhin 37 Jahren!) ausgerechnet eine Selbstbeweihräucherung der doch noch möglichen Arbeit von Blinden in der Hitlerjugend abgedruckt wird“ (Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 6, 1983, Nr. 34, IX).

Die Zeitschriftenredaktion bemerkte dazu: „Offensichtlich ist der Kritiker nicht in der Lage, sich von überwertigen Projektionen freizuhalten. Für Schriftleitung und Vorstand des Verbandes jedenfalls muß nicht ständig deklamiert werden, daß sie sich auch 50 Jahre nach der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten vom Sozialdarwinismus und von den verbrecherischen Maßnahmen der Eugenik und Euthanasie distanzieren […] Was den mitunter geäußerten Vorwurf angeht, die historische Aufarbeitung der Nazizeit wurde versäumt, so muß gefragt werden, warum die allseitigen Kritiker nicht das zuliefern, was sie selbst vermissen.“ (1983, IX)

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Dieser Vorgang zeigt, dass mit dem Abdruck dieses Beitrages des blinden HJ-Jungen Paul Werner – ob nun geschickt oder nicht – ein neuralgischer Punkt im Selbstverständnis der Disziplin getroffen worden war, und zugleich macht er auf die Vernachlässigung von Geschichte in der Sonderpädagogik aufmerksam. Das zweite Beispiel: Im Januar 1997 schrieb mir eine Frankfurter Sonderschullehrerin einen Brief und bat mich um fachlichen Rat hinsichtlich der Bewertung der geschichtlichen Vergangenheit des Namenspatrons ihrer Schule, dem ehemaligen Frankfurter Stadtschulrat August Henze. Auch Henze war aufgrund seiner NS-Vergangenheit in die Kritik geraten. Ausgelöst wurde diesmal der Vorgang vom Landesverband des Verbandes Deutscher Sonderschulen in Hessen, der sich im Februar 1996 an das Kollegium der August-Henze-Schule gewandt hatte und darin u. a. schrieb: „Über Gustav Lesemann und August Henze hörte man – wenn überhaupt – lange Zeit nur Positives. Seit die Geschichte des Hilfsschulwesens etwas näher und kritischer erforscht wird, erfährt das strahlende Bild deutlich braune Flecken […] Allerdings steht Lesemann mit seiner vehementen Unterstützung des NS-Eugenik-Programms im VdHD [Verband der Hilfsschulen Deutschlands, gegründet 1898; E.-R.] nicht alleine. Sein Freund und langjähriger Weggefährte August Henze hat sich ebenso unmißverständlich und schon vor 1933 für die Zwangssterilisierung der ‚Minderwertigen‘ und ‚Schwachsinnigen‘ ausgesprochen.“ (Vds-Landesverband Hessen 1996)

Die seit 1996 heftig geführte Debatte endete schließlich im Februar 1998 mit der Aufhebung des Namens August Henze für die Sprachheilschule in Frankfurt a. M.

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Immer, wenn in der Gegenwart etwas fragwürdig, brüchig wird, stellt sich die Frage nach dem Warum, Woher – und damit nach Geschichte. Nicht zufällig nimmt seit dem Fall der Mauer jene Zahl von Büchern zu, die sich mit der deutschen Frage und damit der deutschen Geschichte befassen. Ein neu erwachendes historisches Interesse ist auch in der Behindertenpädagogik seit einiger Zeit erkennbar, und dieses wird verständlich vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verunsicherung des Selbstverständnisses der deutschen Heil-, Sonder- oder Behindertenpädagogik. Einstmals mit tonangebend in der Welt und damit Vorbild für viele andere Länder, befindet sich diese Spezialdisziplin der Pädagogik seit den 70er Jahren in einer zunehmenden Identitätskrise. Sie muss sich damit auseinandersetzen, dass in einer Vielzahl westlicher demokratischer Staaten das sozialpolitische und pädagogische Hilfe- und Fördersystem für Behinderte eine andere Richtung eingeschlagen hat als in Deutschland. Weg von der Besonderung und Separierung hin zur „Normalisierung“ der Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen – so lässt sich diese Richtung schlagwortartig beschreiben. Das Ziel ist stets überall identisch, nämlich ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Eingliederung zu erreichen – unterschiedlich sind allerdings die Wege dorthin:Während man in Deutschland, dem deutschsprachigen Raum und in Holland in der Vergangenheit auf ein hochspezialisiertes System von Sondereinrichtungen setzte, ging man in den skandinavischen und angelsächsischen, später auch den romanischen Ländern mehr und mehr den Weg der stärkeren Einbeziehung sonderpädagogischer Förderung in das allgemeine Schulwesen, bekannt unter dem Stichwort der Integration bzw. neuerdings auch der Inklusion. Als besondere Belastung erweist sich für die deutsche Diskussion, dass das System der Behindertenhilfe und seine Akteure im „Dritten Reich“ in großen Teilen versagt haben, dass es eine jüngste historische Epoche in Deutschland gegeben hat, in der – entgegen allen traditionellen humanistischen Ansprüchen – Menschen mit Behinderungen in ihrer Existenz bedroht waren. Diese Hypothek war lange Zeit verdrängt – nicht zuletzt auch in der DDR. Und somit wirft die wiedergewonnene deutsche Einheit auch in der Behindertenpädagogik die Frage nach der Geschichte neu auf. Gerade im Hinblick auf eine Neuformulierung behindertenpädagogischen Selbstverständnisses wird man nicht daran vorbeikommen, sich auch kritisch mit jenem deutschen Teilstaat auseinanderzusetzen, der von seinem Anspruch her als ein Anwalt von Menschen mit Schädigungen – so der Terminus – auftrat. Geschichtliches Interesse in der Sonderpädagogik ist auch nicht verstehbar ohne eine Berücksichtigung des Wandels des Selbstverständnisses von Geschichte allgemein und von Erziehungsgeschichte im Besonderen. Geschichte ist nicht mehr wie zur Zeit des Historismus im 19. Jahrhundert vorrangig eine Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen (also politische Geschichte, Geschichte der großen Männer), sondern sie versteht sich zunehmend als kritische Sozialwissenschaft und damit als ein Instrument der Aufklärung und Deutung von Vergangenheit und Gegenwart.

historisches Interesse

Selbstverständnis Sonderpädagogik

historische Hypothek

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„In Wahrheit hat es der Historiker nicht mit der Vergangenheit zu tun, sondern immer nur mit ihrer Interpretation […] Es gibt keine Wirklichkeit ohne ihre Repräsentation […] Historiker sind Anthropologen des Vergangenen. Sie versuchen, jenen Menschen, die in den Texten der Vergangenheit zu uns sprechen, eine Stimme zu verleihen und sie zu verstehen.“ (Baberowski 2005, 22)

Selbstverständnis Geschichte

Geschichte wird also nicht mehr als „objektive“ Wissenschaft verstanden, die erzählt, wie es „wirklich“ war. Mit Blick auf Foucaults historischen Ansatz schreibt U. Brieler, dass historische Praxis nichts anderes sein kann „als Interpretation in und an der Gegenwart unter einer aktuellen Fragestellung“ (1998, 280).Geschichte, so allgemeiner Konsens, ist stets standortgebunden und nimmt ihren Ausgang von relevanten Fragen der Gegenwart. Daraus folgt, dass jede historische Forschung ihr erkenntnisleitendes Interesse offenlegen muss. Eine um Aufklärung bemühte Geschichtsschreibung ist unvereinbar mit den Positionen einer dogmatischen materialistischen Geschichtsauffassung, aber ebenso mit einer vermeintlich wertfreien, narrativen (erzählenden) Ideengeschichte. Gefragt ist vielmehr eine pluralistische, kritische Geschichtsschreibung, die unterschiedliche methodische Zugangsweisen integriert und die daher Momente von Kultur- und Alltags-, Sozialgeschichte, von Institutionen- und Ideengeschichte als prinzipiell gleichberechtigt anerkennt (Eibach/Lottes 2002; Tenorth 2002). Geschichtliches Verständnis soll schließlich dazu beitragen, den professionellen Pädagogen eine Orientierung in der Gegenwart zu ermöglichen: „Geschichte der Pädagogik, das ist […] immer auch der Versuch, an der Erziehungswirklichkeit der Vergangenheit Herkunft und Möglichkeiten der Pädagogik in der Gegenwart zu analysieren und den professionellen Pädagogen eine Tradition zu eröffnen, in der er eine zukunftsfähige berufliche Identität gewinnen kann.“ (Tenorth 1992, 9)

Der Sinn von Geschichte – so können wir zusammenfassen – zielt auf das handlungsfähige Subjekt, das seine Identität in Gegenwart und Zukunft durch die Begegnung mit dem Vergangenen erfährt. Die Beschäftigung mit der Geschichte nimmt stets ihren Ausgang von Problemen der Gegenwart, sie hilft, gegenwärtige Phänomene besser zu verstehen, und sie eröffnet Perspektiven für gesellschaftliches Handeln. Wenn wir in der Gegenwart von Sonderpädagogik sprechen, dann verstehen wir darunter einen Oberbegriff für die verschiedenen sonderpädagogischen Einzeldisziplinen. Es wird deutlich werden, dass dieses Verständnis bereits Ergebnis eines historischen Prozesses ist, denn am Anfang der Entwicklung vor mehr als 200 Jahren gab es zunächst nur eine Pädagogik der Taubstummen, der Blinden und später auch der Geistesschwachen, aber keine ordnende, übergreifende Begrifflichkeit – diese erfolgte zum ersten Mal im 19. Jahrhundert mit dem zweibändigen Werk von Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt „Die Heilpädagogik“, dessen erster Band 1861 erschien und sich schwerpunktmäßig der „Idiotie“ und

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den „Idiotenanstalten“ widmete, gleichwohl aber das Gesamtgebiet der Heilpädagogik im Auge hatte. „Heilpädagogik“ als Oberbegriff wird wenig später von dem Taubstummen- und Schwachsinnigenpädagogen Heinrich Ernst Stötzner in seiner Schrift „Altes und Neues aus dem Gebiete der Heilpädagogik“ von 1868 unter Berufung auf das Werk von Georgens und Deinhardt aufgegriffen, indem er den Gegenstand dieses „neuen Zweiges der Pädagogik“ wie folgt umschreibt: „In ihren Bereich gehören die Viersinnigen, die sittlich Verwahrlosten, die Blöd- und Schwachsinnigen, die Cretinen, die Stotterer, die körperlich gebrechlichen Kinder; Letztere, so weit dadurch die geistige Entwicklung gehemmt wird. Im weitesten Sinn wird alle Pädagogik zur Heilpädagogik, sobald es gilt, falsch ausgebildeten Willensund Gemüthsrichtungen im Kinde entgegenzutreten.“ (Stötzner 1868, 2)

Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik war bislang primär eine Geschichte der jeweiligen sonderpädagogischen Disziplinen und das von Svetluse Solarová 1983 herausgegebene Werk „Geschichte der Sonderpädagogik“ spiegelt genau dieses Vorgehen wider, indem es jeweils einzelne Abhandlungen zu den jeweiligen sonderpädagogischen Fachrichtungen aufweist. Die von Andreas Möckel 1988 vorgelegte „Geschichte der Heilpädagogik“ repräsentiert die erste übergreifende Darstellung des Gegenstandes Heilpädagogik. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Möckel die Geschichte der Heilpädagogik im Referenzsystem von Pädagogik schlechthin thematisiert, denn er postuliert, dass „die Ursprünge der Heilpädagogik [uns] pädagogische Ursprünge [sind]“ (Möckel 1988, 24f). Indem Möckel allerdings seinen Blick auf das Scheitern in der Erziehung richtet, Versagen als zentrale Fragestellung wählt, ferner sein Augenmerk vor allem auf die Entstehung und Entwicklung „der ersten, bahnbrechenden Institutionen“ (S. 27) für behinderte Schüler lenkt und schließlich Heilpädagogik eher als Gegenentwurf (so gegen Rousseau), nicht jedoch als komplementäres oder gar einheitsstiftendes Element der Allgemeinen Pädagogik ansieht, verharrt er letztlich, so scheint uns, notwendigerweise in einem eingeschränkten behindertenpädagogischen Referenzsystem. Unser Blick auf die Geschichte der Sonderpädagogik möchte einen anderen Weg einschlagen, indem er die Blickrichtung wechselt. Ausgangspunkt unserer Darstellung soll nicht das bereits als Ergebnis historischer Prozesse generierte Besondere der Pädagogik sein, sondern das Allgemeine, der Universalitätsanspruch auf Bildung für alle. Die Pädagogik der Moderne (vgl. Herrmann 2005; Tenorth 2006a) ist gekennzeichnet durch Ambivalenzen und Widersprüche, die sich am zentralen Begriff der Bildsamkeit aufzeigen lassen. Bildsamkeit als der zentrale Begriff der Pädagogik „zur Bezeichnung der Erziehbarkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen“ (Benner/Brüggen 2004, 174) schließt als Idee und aus anthropologischer Sicht alle Personen ein, also auch Behinderte, sie gilt demnach universell. In ihrer praktischen Wirksamkeit – und darin liegt zugleich ihr paradoxaler Charakter – führt diese Idee der Bild-

Universalität von Bildung

Ambivalenzen moderner Pädagogik

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samkeit zu Besonderheiten, zur Partikularität, sei es durch spezifische Methoden, besondere Bildungsorganisationen oder aber eigene Professionsgruppen. „In der subtilen Identifikation von Problemen wird die Partikularisierung verschärft und die Differenz und Separierung der Klientel erzeugt, die der an Gleichheit von Bildung und Bildsamkeit orientierte Diskurs an sich verbietet.“ (Tenorth 2006a, 498)

In ähnlicher Weise, unter Rekurs auf Störungen der Bildsamkeit, schrieb U. Bleidick 1978: „Die Idee der Allgemeinen Pädagogik stammt von Herbart. Er hat ihr im Grundbegriff der Bildsamkeit des Zöglings […] das begriffliche Fundament gewiesen. Wenn nun Pädagogik über diese allgemeinen Aussagen hinausgeht, nach den einzelnen speziellen Inhalten der Bildung in den sprachlichen, religiösen, technischen Disziplinen, nach ihren institutionellen Formen in Familie, Schule, Kirche und Staat, nach Erziehungsformen, Bedingungen der Bildsamkeit usw. fragt, fächert sie sich in eine differenzielle Pädagogik besonderer Bereiche auf.“ (S. 52f) Bildsamkeit Behinderter

historische Grundfragen

Differenz und Differenzierung

Dieses Phänomen der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ist – und das sei hier besonders betont – konstitutiv für den Charakter der Pädagogik seit ihrem Entstehen als Disziplin im 18. Jahrhundert. Die vorliegende Einführung in das pädagogische Spezialgebiet Sonderpädagogik unternimmt demzufolge den Versuch, die Idee der Bildsamkeit im Hinblick auf den Personenkreis der Behinderten unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit von Universalität und Partikularität zu untersuchen. Dabei ist es Ziel, sowohl die Idee selbst in ihrer Variabilität als auch die Referenzräume von Methoden, Institutionen und Profession zu analysieren. Es sind die in Tabelle 1.1 aufgeführten Grundfragen, die wie ein roter Faden die einzelnen Kapitel durchlaufen, aber in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung zum Tragen kommen werden. Ich wähle also als Ausgangspunkt meiner Darstellung nicht die besonderen Problemlagen oder Institutionen, sondern orientiere mich in der historischen Frage nach einer Pädagogik der Behinderten an der für jede Pädagogik zentralen Kategorie der Bildsamkeit. Damit erteile ich allen Versuchen eine Absage, Fragestellungen und Antworten einer Geschichte der Heil- bzw. Sonderpädagogik ermitteln zu wollen, die nur für die Heil- bzw. Sonderpädagogik gelten. Ungeachtet des verbindlichen, universalen, gemeinsamen Bezugspunktes von Bildsamkeit geht es in der Sonderpädagogik mit Blick auf Partikularität allerdings sehr wohl um Differenz und Differenzierungsprozesse. Die bereits bei Arno Fuchs 1928 anzutreffende Unterscheidung in ältere und jüngere Sonderschulen, die von Andreas Möckel in seiner Geschichte der Heilpädagogik (1988) aufgegriffen wurde, ist ein bedeutsamer Hinweis auf das Phänomen der Differenzierung bzw. Ausdifferenzierung, das auch jüngst von U. Hofer als zentral herausgestellt wurde. Sie schreibt: „Die historische Konsolidierung des Fachgebiets Sonderpädagogik zeigt sich als

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Tab. 1.1: Historische Grundfragen

– Warum werden behinderte Kinder und Jugendliche gebildet und erzogen?

Die Frage nach den Ideen.

– Wer ist gemeint?

Die Frage nach dem Personenkreis.

– Wie sollen Bildung und Erziehung geschehen?

Die Frage nach den Methoden.

– Wo soll es geschehen?

Die Frage nach den Institutionen.

– Wer soll das leisten?

Die Frage nach der Profession.

– Wie artikulieren sich die Subjekte?

Die Frage nach der Selbstvertretung behinderter Menschen.

Akt zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Bemühungen um menschliche Bildbarkeit“ (2004, 887). Dabei wird das Phänomen der Differenzierung nicht nur auf die Institutionen bezogen, sondern auch untersucht im Hinblick auf Methode, Anthropologie, Klassifikation, Bildungsziele und Normen. Der Fokus auf die Differenz offenbart erneut das ambivalente Spannungsverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in der Pädagogik. Die in der Disziplin der modernen Pädagogik selbst zu verortenden Tendenzen von Universalität und Partikularität, von Inklusion und Exklusion, von Gleichheit und Differenz haben in verschiedenen Epochen zu unterschiedlichen Resultaten geführt; ihre exemplarische Darstellung soll uns im Folgenden beschäftigen, eingedenk der Erkenntnis von Kontingenz, nämlich, „es hätte auch anders kommen können“ (Bleidick 2001, 11). Gemäß dem geschilderten Verständnis von Geschichte kann die vorliegende Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik nicht den Versuch unternehmen, ein möglichst vollständiges Bild einer mehr als 200jährigen Entwicklung nachzeichnen zu wollen. Das Ziel ist ein sehr viel bescheideneres, nämlich anhand spezifischer Fragestellungen und in exemplarischer Weise unter dem Aspekt der Bedeutsamkeit für die Gegenwart die Historie im Hinblick auf Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher zu befragen. Die Entscheidung für das Exemplarische ist notgedrungen subjektiv, aber nicht beliebig. Die Auswahl orientiert sich an der Frage, welchem Wandel die Idee der Bildsamkeit Behinderter über den Zeitraum von zwei Jahrhunderten unterlag und welche Wirkungen und Folgen sich hinsichtlich der erwähnten Fragestellungen ergaben. Die Verpflichtung zur informierenden Orientierung verlangt, dass der gesamte Zeitraum präsent ist – unter dem Gesichtspunkt der erkenntnisleitenden Fragestellung muss es jedoch zu

Bedeutsamkeit für Gegenwart

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Periodisierung

Quellenstudium

Schwerpunktsetzungen kommen. So wird der Darstellung der Entwicklung des ersten Jahrhunderts (bis ca. 1860) relativ viel Raum gewährt, da in ihr die entscheidenden Grundlagen für die Entfaltung und Wirksamkeit des Bildungsbegriffs für Behinderte gelegt sind, während hingegen das Dritte Reich, das eher eine Pervertierung dieses Gedankens verkörpert, in der Logik dieser Einführung keine dominante Stellung erhält. Da diese Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik auch ein Verständnis für das historische Gewachsensein gegenwärtiger Phänomene anbahnen möchte, muss die Darstellung nach meinem Verständnis der zeitlichen Chronologie folgen, womit sich die Frage nach der Periodisierung geschichtlicher Abläufe stellt. Ein Blick in historische Standardwerke, wie etwa das „Handbuch der deutschen Geschichte“ von B. Gebhardt in vier Bänden (1954ff) oder aber die „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von H.-U. Wehler, ebenfalls in vier Bänden (1989ff), zeigt keine Übereinstimmung in der Festlegung der Perioden, was schließlich auch für das „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ in sechs Bänden von Berg und Mitautoren (1987ff) sowie die „Geschichte der Erziehung“ von H.-E. Tenorth (19922) zutrifft. Diese unterschiedliche Akzentuierung bei der Festlegung von Perioden offenbart nur einmal mehr, dass es die Geschichte nicht gibt, dass jede Darstellung historischer Phänomene durch Standortgebundenheit mitbestimmt wird. Die sich anschließenden sieben Kapitel folgen der Entwicklung von den Anfängen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis zu einer Analyse gegenwärtiger Tendenzen wobei nicht nur die „Einheit“ der Pädagogik den Blick lenkt, sondern, in aller Begrenztheit, auch die Rückbindung an Politik- und Gesellschaftsgeschichte sowie das Interesse für Entwicklungen des Auslandes. Eine Einführung in historisches Denken ist schließlich nicht möglich ohne die Begegnung mit dem Original, also der Quelle. Auch dies kann hier nur ansatzweise erfolgen, denn wir müssen auf einen umfänglichen Abdruck von Originaltexten sowie eine eingehende Erörterung von Quelleninterpretation und Quellenkritik verzichten. Aber die Verwendung von Auszügen ursprünglicher Texte soll die Erkenntnis vermitteln, dass die Darstellung vergangener Phänomene, und das sei hier wiederholt, immer bereits Interpretation ist, dass also der Unterschied von „Quelle“ und „Darstellung“, so Hans-Jürgen Pandel, auf einer „fundamentalen erkenntnistheoretischen Differenz“ beruht: „Geschichte […] ist narratives Wissen, das sich jede Generation immer wieder neu erarbeiten muß, da die Gegenwart sich ständig verändert […] Jede Gegenwart läßt neue Fragen an die Vergangenheit entstehen. Insofern gibt es auch neue Antworten, und selbst die bekannten Quellen geben auf neue Fragen neue Antworten […] Im Gegensatz zu den Quellen ist historisches Wissen immer gegenwärtiges Wissen.“ (2003, 8f)

Dem Reiz, auch unveröffentlichte Quellen abzudrucken, konnte ich nicht widerstehen; im Interesse von leichterer Zugänglichkeit und Nachprüfbar-

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keit schien es mir allerdings geboten, den Schwerpunkt auf veröffentlichte Quellen zu legen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass eine Geschichte der Sonderpädagogik ein kühnes Unternehmen ist, das viele Fallstricke bereithält, denn der Stand der historischen Forschung ist nicht so, dass man mit Gelassenheit auf breite gesicherte Erkenntnisse zurückgreifen könnte. Groß sind nach wie vor die Lücken des historischen Wissens, und vieles liegt eher schemenhaft an der Oberfläche, ohne gründlich erforscht zu sein. Mangel herrscht an regionalgeschichtlichen Studien sowie an Darstellungen, die sich auf bestimmte Zeitepochen konzentrieren, aber auch die Ansätze einer ideen-, institutions-, historisch-vergleichenden und alltagsgeschichtlichen Zugehensweise verlangen eine stärkere Beachtung in der sonderpädagogischen Historiografie. Die Not der Auswahl erfordert schließlich einen Mut zur Lücke, den jeder aufbringen muss, der das Wagnis einer Einführung auf sich nimmt. Der kluge und historisch bewanderte Leser wird vieles vermissen; diesem Mangel versuche ich durch ausführliche Literaturhinweise ein Stück zu begegnen. Ungeachtet der angedeuteten Begrenztheiten und Unsicherheiten möchte ich mit dem vorliegenden Buch den Versuch wagen, eine übergreifende Darstellung zur Geschichte der Sonderpädagogik zu präsentieren, die seit längerer Zeit ein Desiderat auf dem Buchmarkt ist und seit Jahren in der akademischen Lehre vermisst wird. Ein letzter Hinweis gilt der Terminologie. In der Regel benutze ich die historischen Begriffe, die uns heute häufig fremd und befremdlich erscheinen, aber als zeitgebunden, meist nicht wertende pejorative Termini zu verstehen sind. Heil-, Sonder-, Behinderten- und Rehabilitationspädagogik werden schließlich als synonyme Begriffe verwendet. Geschichte ist immer auch Erzählung und lebt von der Erzählung, sie ist ohne Narration nicht vorstellbar. Ich möchte somit im Folgenden erzählen von der mehr als 200-jährigen Geschichte der pädagogischen Anstrengungen um Bildung und Erziehung Behinderter, von dem Entstehen einer Heilund Sonderpädagogik, ihren Glanzlichtern und Triumphen, aber auch ihren Schatten und Niederlagen.

Forschungsdesiderata

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