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Wir leben bekanntermaßen in Zeiten der Globalisierung, egal, ob man diesen Umstand positiv oder negativ bewertet. Der Begriff der Globalisierung ist geradezu zu einem Leitmotiv des Weltverständnisses im 20. Jahrhundert geworden, und zwar in den unterschiedlichsten Bereichen. Kaum ein anderer Begriff scheint dessen Charakter treffender zu beschreiben. Dabei wird der Blick zunehmend darauf verstellt, dass das Phänomen der Globalisierung ab dem Ende des 20. Jahrhunderts als das Produkt langwieriger entwicklungsgeschichtlicher Prozesse, von der nicht zuletzt auch die (europäische) Literatur und deren Vernetzung Zeugnis ablegen, begriffen werden muss. In diesem Bereich haben sich viele Ideen und Konzepte seit Jahrhunderten oder gar seit Jahrtausenden weit über ihren Entstehungsort hinaus verbreitet. In diesem Kontext sind vor allem die diversen romanischen und angelsächsischen Schübe zu partiellen Globalisierungen von Bedeutung, denn sie bilden den historischen Hintergrund für die Herausbildung jener vielzitierten Weltliteratur, die den Horizont der Komparatistik darstellt. Die Verwendung von Epochenbegriffen ist stets mit Problemen und Risiken verbunden. Die Lage wird zunehmend schwieriger, wenn ein Epochenbegriff sich auf mehr als ein Land beziehen soll. Einen gemeinsamen Epochenbegriff für Gesamteuropa zu finden, der das 15. bis 17. Jahrhundert abdeckt, ist ein schwieriges Unternehmen, da in den verschiedenen europäischen Ländern unterschiedliche Epochenumbrüche anzusetzen sind.1 Aus diesem Grund wurde im Titel der vorliegenden Untersuchung statt des hochgradig problematischen Renaissance-Begriffs derjenige der Frühen Neuzeit gewählt, auch wenn dieser das Problem nur graduell verkleinert. In Ermangelung einer sinnvollen Alternative und im vollen Bewusstsein der mit dem Begriff einhergehenden Problematik ist die Wahl auf ihn gefallen. Im Kern bezeichnet der Begriff der Frühen Neuzeit hier das 16. und 17. Jahrhundert, aus denen die meisten der literarischen Beispiele, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, stammen. In einzelnen 1 Vgl. hierzu Buschhaus: 1984.

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Kapiteln wurden diesen der Vollständigkeit halber jedoch literarische Texte aus dem 14. und 15. Jahrhundert zur Seite gestellt, wann immer dies sinnvoll erschien. Üblicherweise wird der Beginn der Globalisierung frühestens mit der Beschleunigung der internationalen Austauschprozesse seit dem 19. Jahrhundert angesetzt. Im Sinne einer archäologischen Sichtung der Globalisierung sind jedoch erheblich frühere Prozesse ins Auge zu fassen und zu untersuchen. Dazu gehören Tendenzen zur Internationalisierung der europäischen Literatur, die sich sowohl in formal-ästhetischer wie auch in inhaltlicher Hinsicht manifestieren. Diese können schon in Stoff- und Formtransfer im 12. Jahrhundert erkannt werden. Auch wenn wir schon in der Frühen Neuzeit globale kulturelle Transferprozesse verzeichnen können, so findet der Kulturtransfer primär innerhalb Europas statt. Nichtsdestoweniger können wir zu Recht von Tendenzen der Globalisierung, die sich mit dem Begriff der europäischen Teilglobalisierung beschreiben lassen, sprechen. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden, und zwar anhand von Diskurstypen, Gattungen und Motiven. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich mit der ersten Teilglobalisierung, nämlich der französischen, spanischen und portugiesischen Expansion nach Amerika und Asien, auch in Europa das frühneuzeitliche literarische Gattungssystem herausbildet. Frankreich nimmt in diesem Kontext insofern eine Sonderrolle ein, als hier bereits ab etwa 1360 eine für das Europa der damaligen Zeit einzigartige Übersetzungstätigkeit antiker sowie italienischer Texte einsetzt und von der Krone gefördert wird. Es werden beispielsweise alle in lateinischer Sprache verfügbaren Schriften des Aristoteles ins Französische übertragen. Übersetzt werden dabei auch jene Texte, die maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der frühneuzeitlichen europäischen Literatur haben, nämlich die Poetik des Aristoteles, die davor nur in Form einer kurzen lateinischen Paraphrase verfügbar war, und die poetologisch relevanten Aussagen Platons (in der Politeia und vor allem im Dialog Ion). Signifikanterweise ist die erste PlatonAusgabe am Ausgang des 15. Jahrhunderts das Ergebnis eines mediterranen Publikationsprojektes: Marsilio Ficino (1433 – 1499) hat vom Kardinal und Humanisten Basilius Bessarion (1403 – 1472) die finanziellen Mittel erhalten, um eine kritische Ausgabe der Dialoge Platons herstellen zu können. Marsilio Ficino hat darüber hinaus auch an der Erschließung anderer antiker Quellen mitgewirkt, zum Beispiel durch seine Kommentierung der Enneaden Plotins. Dies sind nur einzelne Beispiele für die mit Intensität in der Frühen Neuzeit in Europa betriebenen Anstrengungen zur Verbreitung als wichtig erachteter Schriften antiker Autoren, u. a. auch der einschlägigen Texte zur antiken Literaturtheorie. Im Ergebnis werden die dichtungstheoretischen Positionen von Platon und Aristoteles zu Referenzpunkten der europäischen Poetik. Das heißt, einerseits die Vorstellung, dass die Poesie eine Form von Mimesis ist, also

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Handlungen von Menschen auf eine ganz bestimmte poetische und wahrscheinliche Weise nachbildet, und andererseits die Vorstellung, dass der Dichter im furor poeticus dichtet. Die Auffassung von der Dichtung als einem erlernbaren Handwerk, einer ars/techn¦ steht hier der Inspirationslehre gegenüber. Gänzlich unter Absehung nationaler literarischer Traditionen wird das, was man üblicherweise als Renaissance bezeichnet, – auf die Problematik dieses Begriffs wurde bereits hingewiesen – zum allgemeinen Hintergrund des literaturtheoretischen Denkens in Europa und damit zur maßgeblichen Grundlage der weiteren literarischen Entwicklung. Zu dieser Zeit also entwickeln sich literaturtheoretische Diskurse, die sich auf antike Vorbilder beziehen, was jedoch nicht heißt, dass bestimmte Positionen des Mittelalters in Vergessenheit und daher völlig außer Gebrauch geraten. Exemplarisch lässt sich dieser Befund an Frankreich aufzeigen: Hier belegt dies beispielsweise die Novelle, deren erste Spuren wir im 12. Jahrhundert in der Polemik des Bernard de Clairvaux gegen die die novela vel levia lesenden Mönche finden.2 Dieses Urteil zeigt, dass Novellen oder novellenhafte Erzählungen schon früh eine Rolle gespielt haben müssen. Mittelalterliche Verurteilungen haben sich langfristig jedoch nicht durchsetzen können, weil die Neuigkeit, das charakteristische Merkmal dieser Kurzerzählungen, ganz offensichtlich ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt. Im Frankreich des 16. Jahrhunderts bleiben auch die mittelalterliche chanson de geste und der roman courtois in Prosaform im Umlauf. Wir wissen, dass Francois I. (1494 – 1547) den Druck von altfranzösischen Prosaromanen gefördert hat. Dabei haben die chanson de geste und der roman courtois bereits seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zu europäischen Nachbildungen inspiriert, und noch in den Epen des 15. und 16. Jahrhunderts ist deren Einfluss zu verspüren, wenn auch ins Burleske gewendet. Dies können wir als Schwundstufe des ursprünglichen Modells deuten. Beispiele hierfür sind neben anderen Matteo Maria Boiardos Orlando innamorato (1495) und Ludovico Ariostos Orlando Furioso (1532). Und schließlich bleibt auch das Sonett erhalten, das vermutlich die Transformation einer nicht identifizierbaren Gedichtform aus Südfrankreich darstellt, die in Sizilien entwickelt wurde.3 Ebenso wie im Falle des roman courtois ist auch hier die Beschränkung auf Frankreich obsolet, denn eines der wesentlichen Merkmale der Geschichte des Sonetts ist gerade seine Diffusion im gesamten frühneuzeitlichen Europa. Bis hierhin lässt sich festhalten, dass im Europa der Frühen Neuzeit einerseits 2 Vgl. hierzu Krüger : 2002, 94. 3 Zu den Ursprungshypothesen bezüglich des Sonetts vgl. Schlütter : 1979, 1 ff. und Mönch: 1955, 55 ff.

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die Positionen Platons zur dichterischen Inspiration und andererseits diejenigen des Aristoteles zum handwerklichen und damit lehr- und erlernbaren Aspekt der Dichtung im Umlauf sind. Mit diesen antiken Dichtungstheorien werden auch antike Formen übernommen, wie beispielsweise die Tragödie, Komödie, Satire, Elegie und Ode. Der frühneuzeitliche Gattungskanon beschränkt sich aber eben nicht nur auf diese antiken Modelle, sondern er zeugt ebenfalls vom Überleben und der Weiterentwicklung einiger mittelalterlicher Formen, wie eben des Sonetts. Positiv bewertet und aus diesem Grund empfohlen wird das Sonett beispielsweise in drei wichtigen poetologischen Schriften aus der Frühen Neuzeit: Joachim Du Bellays La deffence, et illustration de la langue franÅoyse (1549), Sir Philipp Sidneys The Defence of Poesie (1595) und Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624).4 Können wir im Mittelalter einen europaweit stattfindenden Rezeptionsvorgang lateinischer Textsorten beobachten, so spielen in der Frühen Neuzeit neben diesen antiken Modellen auch literarische Traditionen und Modelle eine Rolle, die selbst erst den volkssprachlichen Traditionen des Mittelalters entstammen. Im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung soll dies am Beispiel der Verbreitung der Novelle und des Sonetts, die jeweils das Prinzip der imitatio mit demjenigen der variatio verbindet, aufgezeigt werden. Dabei entsteht letztlich die innovatio in der variatio. Es wurde eine lyrische und eine narrative Form gewählt, wobei jedoch nicht der Eindruck entstehen soll, dass sich entsprechende Verbreitungsprozesse nur in Lyrik oder Narrativik nachzeichnen lassen. Auf den Bereich der Dramatik wird ausführlich im Kontext des Romeo-undJulia-Stoffes eingegangen. Den beiden ausgewählten Gattungen, dem Sonett und der Novelle, ist dabei gemein, dass ihr Ursprung in Italien liegt, dem in dieser Zeit eine der antiken Kultur vergleichbare Bedeutung zugesprochen wird. Im Folgenden soll es darum gehen, der Verbreitung beider Gattungen, vor allem aber den damit einhergehenden Transformationsprozessen, die aus dem Bestreben einer jeweils nationalen Anverwandlung resultieren, nachzuspüren. Nicht zuletzt handelt es sich hierbei um einen Beleg für die frühneuzeitlichen translatio studii und die zeitgenössischen Hegemoniebestrebungen im kulturellen bzw. literarischen Bereich. Vor dem Kapitel zu diesen beiden Gattungen steht jedoch ein solches zu Diskurstypen, die sich in der Literatur der Frühen Neuzeit abzeichnen und die im Bereich der inszenierten poetischen Kommunikation über die zwischenmenschliche Liebe anzusiedeln sind. In der Frühen Neuzeit lässt sich sowohl innerhalb der nationalsprachigen Literaturen als auch im Bereich ihrer Vernetzung eine ausgesprochene Tendenz zur Pluralisierung von Liebesdiskursen 4 Am stärksten fordert Du Bellay zum Sonettieren auf: »Sonne moy ces beaux Sonnetz […].« (Du Bellay : 2001, 136). Vorzüge gestehen auch Sidney und Opitz dem Sonett zu.

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verzeichnen, wobei drei dominante Liebesdiskurse das Feld anführen: der petrarkistische, der neo-platonische und der hedonistische Liebesdiskurs. Aufgrund seiner extremen Beliebtheit in den europäischen Literaturen des 16. und 17. Jahrhunderts wird der petrarkistische Liebesdiskurs samt der aus ihm abgeleiteten bzw. aus seiner Variation resultierenden erotischen Diskurse am ausführlichsten betrachtet. Der Prozess der europäischen Teilglobalisierung der Literatur in der Frühen Neuzeit lässt sich jedoch nicht nur im Rahmen der Verbreitung von Diskursen oder Gattungen beobachten, sondern auch durch den Transfer von Stoffen. Darum werden schließlich zwei frühneuzeitliche Motive mit großem Verbreitungsradius in den Blick genommen, nämlich der – ebenfalls aus Italien stammende – Romeo-und-Julia-Stoff und das Motiv des Fluges zum Mond. Befindet sich der Mythos der tragischen Liebe der beiden jungen Leute im Zentrum der motivlichen Nachahmung innerhalb Europas, so ist die Mondthematik an deren Peripherie anzusiedeln. Dadurch lässt sich die Vernetzung der europäischen Literaturen im 16. und 17. Jahrhundert und damit jener Aspekt der europäischen Teilglobalisierung, um den es in der vorliegenden Untersuchung zentral geht, jedoch umso eindrucksvoller belegen.