Wie organisiert man Glaube, Liebe und Hoffnung?

Wie organisiert man Glaube, Liebe und Hoffnung? Der Strukturwandel unserer Kirche als Chance für Pfarrer und Mitarbeiterschaft Eine kleine Pastoralthe...
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Wie organisiert man Glaube, Liebe und Hoffnung? Der Strukturwandel unserer Kirche als Chance für Pfarrer und Mitarbeiterschaft Eine kleine Pastoraltheologie Mit einem Anhang über „Vollmacht und geistliche Leistung“. Dass sich die evangelische Kirche wandelt, ist nicht mehr zu übersehen. Landauf, landab wird viel darüber geredet – meistens veranlasst durch das Geld – und zwar durch das Geld, das fehlt, um die bestehenden Strukturen aufrecht zu erhalten. Nicht aus Einsicht – oder gar aus theologischen Erwägungen – erwächst die Veränderung, sondern sie wird „von außen“, aus der Welt der Wirtschaft und Finanzen, erzwungen. Bedeutet dies, dass sich die Kirche fremden Zwängen unterwirft, weil sie falschen Abhängigkeiten unterliegt? Oder ist der Umweg über das Geld die Pädagogik Gottes – sein Weg, um uns zur Einsicht zu bringen, weil wir eine andere Sprache nicht mehr verstehen? Wird unsere Kirche zu einem Unternehmen – mit einem professionellen Dienstleistungsangebot, das sie mittels Marketing an den Kunden bringt? Oder findet sie wieder den Weg zur Quelle, zur Kraft der Spiritualität, aus der allein sie Glaubwürdigkeit gewinnen kann? Diese Fragen markieren sozusagen die Fahrrinne, innerhalb derer sich pastoraltheologische Überlegungen heute bewegen müssen. Natürlich ist es wichtig, sich mit diesen Fragen der Finanzierung in unserer gegenwärtigen Situation zu beschäftigen, denn einfacher wird es in dieser Hinsicht in den nächsten Jahren sicherlich nicht werden. Auch sind durchgreifende und schmerzhafte Entscheidungen zu treffen, bis hin zum Abbau von Arbeitsplätzen und der Aufgabe liebgewordener und traditionsreicher Arbeitsformen. Dennoch ist mein Eindruck: Wir übertreiben es mittlerweile mit der Beschäftigung mit uns selbst! In der Öffentlichkeit muss – je länger, desto mehr – der Eindruck entstehen, dass die Strukturen der Kirche – vor allem ihre Finanzen – das Wichtigste, und somit das wären, wofür wir in der Kirche leben und arbeiten und die Menschen gewinnen 1

wollten. Das klingt dann so, dass landauf, landab von der Stabilisierung der Kirchenmitgliedschaft gesprochen wird, nicht zuletzt mit dem Ziel, an das Geld der Leute zu kommen. Es ist etwa so wie eine Firma, die statt mit der Schönheit und Nützlichkeit ihrer Produkte zu werben, stets nur sagt: Wir wollen Euer Geld! Die Insolvenz wäre schnell erreicht. Auf der anderen Seite gilt natürlich: Die Stabilisierung der Kirchenmitgliedschaft ist ungeheuer wichtig! Wir müssen alles dafür tun, dass es mit ihr nicht weiter bergab geht, die Zahlen der Kirchenaustritte gestoppt, ja wieder neue Menschen für die Kirche gewonnen werden. Und es ist deutlich, dass die Strukturen, in denen wir leben und arbeiten, diesem Ziel zu oft nicht dienlich sind und deswegen verändert werden müssen. Mission im eigentlichen Sinne: das Gewinnen von Menschen, die innerlich bisher nichts mit Glauben und Kirche zu tun hatten – das gelingt uns fast gar nicht. Eintritte in die Kirche nehmen zu – aber es sind durchweg Menschen, die vorher bereits Mitglieder waren. Eines muss doch klar sein: Die Menschen kommen doch nicht zur Kirche wegen der Kirche – sondern wegen dessen, was sie in der Kirche für ihr Leben zu finden meinen, wegen des Glaubens, wegen der Kraft, von der in der Kirche Zeugnis abgelegt wird und der sich in der Kirche hoffentlich erfahren lässt. Sie kommen zur Kirche, wenn sie es denn tun, weil sie in ihr etwas erfahren können von der Kraft, die ein ganzes Leben trägt, von Glaube, Liebe und Hoffnung. Und so sollte es doch auch sein – oder? Oder suchen wir Leute zur Bauunterhaltung, zur Friedhofspflege, zum Gemeindebriefaustragen oder Ähnlichem? Nicht um die Kirche geht es der Kirche, sondern um die Menschen. Mir scheint es so zu sein, dass in den letzten zehn, zwanzig Jahren die Spannkraft der Kirche an vielen Punkten überdehnt worden ist und die ganze Organisation deswegen in dem, was sie tut und wie sie wirkt, zu lasch. Ihre Größe ist nicht mehr wirklich durch das auszufüllen und all ihre Tätigkeiten aufrechtzuerhalten, was die Kirche eigentlich trägt. Es gibt Arbeitsbereiche, die den inneren Kontakt zum christlichen Glauben zu verlieren drohen und nicht mehr an die Kraftquellen des Glaubens angekoppelt zu sein scheinen. Dass dies dann auch nicht mehr die Menschen begeistern kann – und sei es auch noch so professionell gemacht – liegt 2

eigentlich auf der Hand. Solche Arten von Überdehnung sind in vielen Bereichen zu spüren. Die jetzige Krise bringt aus diesem Grund die Chance zu neuer Konzentration mit sich, zu neuen Spannungsbögen und damit zu neuer Kraft zu finden. Für den Zustand unseres geistlichen Lebens ist es sehr kennzeichnend, dass es des Umwegs über das mangelnde Geld bedurfte, um dies einzusehen. Allerdings muss es nun auch wirklich darum gehen, Reduktionen vorzunehmen, um neue Kraft aus Glaube, Liebe und Hoffnung zu gewinnen und nicht nur neues Geld zu bekommen. Einfach nur die Zahl der bestehenden Aktivitäten herunterzufahren und additiv noch etwas Neues zu machen, reicht nicht aus. Entscheidend sind auch nicht große Konzepte und Theorien, die das Blaue vom Himmel versprechen, sondern entscheidend sind Wir. Wir, das sind die in der Kirche Engagierten, Hauptund Ehrenamtlichen, das sind natürlich voran die entscheidenden Leistungsträger, wie Pastoren und kirchliche Mitarbeiter. Auf ihre Motivation und ihr Interesse kommt es an. Interesse: das bedeutet qualifiziert dabei zu sein, sich selbst als Anteil habend zu empfinden, nicht nur an der äußeren Organisation, sondern vor allem am inneren Geschehen dessen, was Kirche bewegt. In diesem Sinne habe ich die folgenden Überlegungen und ihre thesenartigen Zuspitzungen entwickelt. Wenn sie in dieser Situation etwas anstoßen, um besser dabei zu sein, ist es gut. Aber auch der Widerspruch setzt etwas in Gang. Die Zuspitzung in Thesen bedeutet eine im Grunde genommen unzulässige Reduzierung, die zum Teil auch polemisch abgrenzt. Aber solche Abgrenzungen sind nötig, um Präzision zu gewinnen, mögliche Wege zu beschreiben und Orientierungen zu vermitteln. Die Wahrheit wächst uns im Gespräch, in der Gemeinschaft der Glaubenden zu. Niemand hat sie für sich gepachtet und wer nicht zuhören kann, sollte es gleich ganz vergessen. Sie ergibt sich aus Zuspruch und Widerspruch. Sie ist bedroht und ergibt sich dann allerdings nicht, wenn Menschen sich aus dem Gespräch ausklinken und abwandern. Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit – und das gilt auch für den Dauerdiskurs in der Kirche: Widerspruch – Voice – ist allemal besser, als ein Sichausklinken und der Abschied – Exit. Gerade die schwierigen und bisweilen nervenden Zeitgenossen müssen wir in der Kirche halten. Oft genug liegt die Wahrheit nicht auf dem goldenen Mittelweg, sondern besteht eher in einer Art Gratwanderung, bei der man das Gefühl hat, dass es nach beiden Seiten steil abfällt. 3

Auf einen Einwand sei bereits jetzt eingegangen. In einigen Diskussionen hieß es, dass viele der Thesen das wiederholen, was wir in der Kirche ohnehin schon wissen und machen. Und die Frage war dann: Wo liegt das Neue? Deswegen vorab: Ich glaube nicht daran, dass es das entscheidend Neue wirklich gibt. Zweifellos wäre es schön, wenn es das gebe, und einige unter uns laufen ja auch mit einem entsprechenden, entschlossen wirkenden Habitus herum. Ein paar solcher durchgreifender Ideen könnte ich auch beitragen und tue es in einigen Bemerkungen auch. Aber ich glaube an das vollkommen Neue deswegen nicht, weil das entscheidend Neue ja schon längst unter uns und damit vor uns liegt. Und das meine ich in einem ganz frommen Sinne. Wir müssen uns nur auf unsere eigenen Ressourcen des Glaubens besinnen, diese Ressourcen mobilisieren, uns an ihnen orientieren, statt an der Beseitigung von Defiziten zu arbeiten. Wir müssen daran anknüpfen, wo der christliche Glaube stark ist. Die Probleme, die wir haben, sind Lösungen. Und vor allem: Es sind die kleinen Änderungen in unserem Leben, aber auch in der Organisation Kirche, die letztlich entscheidend sind und aus denen uns Flügel wachsen können. Große Vorschläge lähmen eher, weil man sich klar ist, dass man sie doch nicht umsetzen und die großen Ziele nicht erreichen kann. Intelligente Ideen im Konkreten sind gefragt.

1. These: Unsere Kirche ist weit mehr wert, als sie kostet. Das, was sie leistet, lässt sich eigentlich überhaupt nicht in Geld rechnen. Sich in ihr zu engagieren, bedeutet, sich an der Ausbreitung des Geistes des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung unter den Menschen zu beteiligen. Wir reden in unserer Kirche unglaublich viel über das Geld! Prognosen, wie sich die Mitglieder und die Finanzen in Zukunft entwickeln werden, spielen in unseren Planungen eine ganz große Rolle. Dabei ist klar: Die evangelische Kirche wird weniger Mitglieder haben und noch weniger Geld, vor allem wird sie in Zukunft unter einem Problem leiden, nämlich der Überalterung der Gesellschaft. Sie wird viele ältere Menschen in sich umfassen, aber immer weniger in den beruflich aktiven Jahren. Einige Gegenden in Deutschland wird die demografische Entwicklung 4

besonders hart treffen. Dies betrifft besonders Gegenden in den neuen Bundesländern, in denen sich bereits heute Entleerungstendenzen abzeichnen. Diesen Bedingungen unterliegen wir als Kirche genauso wie die gesamte Gesellschaft. Wir werden schrumpfen wie die ganze Gesellschaft. Dies ist der Hauptgrund für den Ressourcenschwund, der unser Land und alle Organisationen in ihm betrifft. Alle anderen Probleme sind hausgemacht und deswegen auch prinzipiell zu lösen. In dieser Situation werden neue Wege gegangen, um mehr Geld aufzutreiben. Neue Finanzierungsinstrumente

werden

entwickelt,

Fundraising,

projektorientiertes

Spendensammeln und vieles mehr. Das sind wichtige und gute Wege! Aber gerade, wenn wir unsere Einnahmesituation wieder stabilisieren wollen, muss gefragt werden, wie wir die Menschen davon überzeugen können, Geld für die Kirche zu geben. Das Problem ist, dass es sich nicht rechnet, Kirchensteuer zu zahlen. Gottesdienste zu finanzieren, rechnet sich nicht, wenn man eine entsprechende Nutzenkalkulation aufmacht und eine solche Finanzierung zum Beispiel mit dem Kauf eines Autos vergleicht – der direkt messbare Nutzen des Autos wird immer höher liegen. Überhaupt ist es ein Problem, sich auf Kalkulationen einzulassen, wie es Jugendliche tun, wenn sie sich von den Geschenken zur Konfirmation her ausrechnen, ob sich die zwei Jahre Konfirmandenunterricht ausgezahlt haben. Nein: wer sich zur Kirche hält, der zahlt dafür, dass diese Einrichtung sich um die Ausbreitung von Lebenskräften kümmert: eben um Glaube, Liebe und Hoffnung. Und diese Leistung lässt sich nicht in Geld berechnen – was für ein Glück! Jeder kann davon etwas haben – auch die, die gar nichts haben. Das klingt selbstverständlich: Aber welchen Bereich in unserer Gesellschaft gibt es denn sonst noch, wo man das Wesentliche umsonst bekommt? Nichts ist umsonst, nur der Tod, und der kostet bekanntlich das Leben, so sagt der Volksmund. Die Gesellschaft lebt von der Exklusion, vom Ausschluss aus ihr. So ist sie konstruiert. Menschen sind dann glücklich, wenn sie sehen, dass es anderen schlechter geht als ihnen. Das ist die perverse Logik einer nach sozialdarwinistischen Grundlagen organisierten Gesellschaft. Genau darauf aber lässt sich die Kirche nicht ein. Und deswegen sei noch einmal gesagt: Wenn die Kirche hauptsächlich und nur von Geld redet, dann hat sie ihre Existenzberechtigung 5

verwirkt, weil sie den Zugang zum Glauben an Bedingungen knüpft und sich so der Gesellschaft gleich macht. Wir müssen vom Glauben reden, weil nur das das ist, wofür Menschen letztlich auch bereit sind, etwas zu zahlen – und zwar in der paradoxen Wendung, dass man Glauben eben gerade nicht für Geld kaufen kann. Auf der anderen Seite brauchen wir natürlich Geld und wir haben ein gutes Recht von unserer Botschaft her, uns selbstbewusst und deutlich um das Geld der Leute zu bemühen. Man kann sein Geld für nichts Besseres ausgeben als für die Verbreitung von Glaube, Liebe und Hoffnung. Wir brauchen dafür mehr Geld – weil das, was die Kirche dafür anbietet, eben nicht mit Geld zu bezahlen ist. Wenn die Kirche nur noch über ihre Geldprobleme redet, dann ist das so, als ob ein Radiosender, statt sein Musikprogramm aufzufrischen, wenn er Zuhörer verliert, nur noch Diskussionen darüber senden würde, wie man denn das Musikprogramm verändern könnte, um wieder an das Geld der Leute zu kommen. Wer nur noch davon redet, wie er an das Geld der Leute kommt, wird kein Geld erhalten.

2. These: Dass die Kräfte des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung das Leben der Menschen

in

unserem

Land

bestimmen,

ist

ganz

und

gar

nicht

selbstverständlich. Es war es nie. Sie können aber ohne diese Kräfte nicht leben. Gerade deswegen brauchen die Menschen uns, die Kirche. Und nun kommt das große Aber: Gut und schön, wird man sagen, dass es so ist, dass der Glaube umsonst zu haben ist, aber das merkt doch keiner! Überschätzen wir uns, wenn wir behaupten, die Menschen brauchen Glauben? Warum strömen sie dann nicht in unsere Kirchen, wenn es so ist? Dazu dreierlei: 1. Wenn Gott nicht diese Welt erhält und die Kräfte des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung stärkt – bei wem und in welcher Form auch immer – längst nicht immer in der Kirche und bei den Christen! –, dann könnten wir gar nichts tun. Wenn Gott das nicht tun würde, wäre die Welt längst im Chaos versunken. Wir leben von 6

Voraussetzungen in der Kirche, die wir nicht selbst schaffen können. Uns geht es viel besser, als wir es verdient haben. Und wir glauben genau dies stellvertretend für die vielen anderen, die das nicht glauben können. Herr, hilf unserem Unglauben! Dieser Glaube ist in der Tat – sieht man es nüchtern, empirisch, praktisch – eine maßlose Selbstüberschätzung. Es ist auch keine Beschreibung unseres tatsächlich vorhandenen Kleinglaubens, sondern eine Beschreibung des Handelns Gottes: Sein Reich kommt! Und es möge bitte mit uns in seiner Kirche kommen. 2. Wir haben in unserer theologischen Arbeit, so meine ich, die Realität der Sünde, die unser aller Realität ist, zu sehr an den Rand gedrängt. Sünde ist Selbstbezug, die Verkümmerung des Menschen in sich selbst, der nicht zulässt, dass er sich dem Licht zuwendet. Menschen leben in selbstgesponnenen Netzen ihrer Bedeutsamkeiten, auf sich selbst bezogen. Bei diesen selbstgesponnenen Bedeutungsnetzen geht es sozusagen um Unterstellungen, mit denen eine bestimmte Wirklichkeitssicht behauptet wird – aber alles geschieht in eigener Interpretation. Die Welt, die Dinge um uns herum, werden so interpretiert, als seien sie nur für uns selbst da. Und in diesen selbstgesponnenen Bedeutungsnetzen fühlen sich die Menschen wohl! Sie können nicht wollen, dass es Gott gibt, wie schon Luther immer wieder betonte. Sie können es deswegen nicht wollen, weil sie dann erkennen würden, dass sie von ihm abhängig sind – was doch, wenn sie es realisieren würden, ihr Leben wäre. Ihr Leben besteht im dauernden Kampf gegen diese Einsicht in ihre Abhängigkeit. Was es braucht, ist eine Kehre, eine Wende im und zum Leben. Offen zum anderen, zu Gott zu werden. „Muss ich denn sterben, um zu leben?“ singt Falco. Wo gibt es solche Erfahrungen, in denen sich solche Wenden abzeichnen? Von ihnen müssen wir reden. Ich erinnere mich zurück an meine eigene Zeit als Gemeindepastor in Celle. Anfang der 80er Jahre haben wir dort eine Arbeitslosengruppe gegründet, als es in Westdeutschland mit der Arbeitslosigkeit begann. Diese Arbeitslosengruppe 7

wollte dann, um sich in der Kirche zu artikulieren, eine theologische Schulung haben

und

bat mich,

Bibelstunden für Arbeitslose

durchzuführen.

Am

eindrücklichsten war die Behandlung des Liedes von der Liebe, 1. Kor. 13, in dieser Gruppe. Ich werde nie vergessen, wie ungeheuer eindrücklich dieser Text auf die Anwesenden wirkte. Einige von ihnen hielten diese Rede von der Liebe körperlich nicht aus, stürmten aus dem Raum hinaus und mussten erst einmal eine Zigarette rauchen. „Solche Liebe gibt es nicht, Pastor!“ so schrieen sie. „Wenn jemand sagt, er liebt dich, dann will er etwas von dir. Uneigennützigkeit habe ich noch nie im Leben erfahren.“ Für mich ist das eine Schlüsselsituation gewesen, in der ich die Kraft des Glaubens und der biblischen Liebe selbst fast körperlich spüren konnte. Gottes Wort kommt nicht leer zurück. 3. Schließlich: die Menschen merken es nicht, weil wir es sie nicht merken lassen. Auch unsere Gemeinden leiden darunter, dass sie zu sehr nur noch auf sich selbst bezogen leben. Da findet ein Gottesdienst in einem Dorf in Südniedersachsen statt. Zehn Gemeindeglieder sind anwesend. Predigttext ist Matthäus 6, die wunderschönen Sätze über die Sorge. Der Pastor entwickelt seine Predigt in Auslegung seines Textes so, dass er das „Sorget nicht“ auf die Situation der Gemeinde selbst bezieht und den zehn Anwesenden sagt, sie sollten nicht traurig darüber sein, dass es nicht mehr Besucher in dem Gottesdienst sind. Er redet nicht darüber, welche ungeheure Kraft das „Sorget nicht“ für das Leben dieser Menschen hätte, sondern nur, was dies für die Situation der Kirche, der Gemeinde selbst, bedeuten könnte. Damit sperrt er die Kraft des Predigttextes in die Selbsterhaltung der Organisation Kirche ein und raubt ihr das entscheidend Faszinierende und Motivierende. Wie soll man da etwas spüren von Glaube, Liebe und Hoffnung? Warum soll man in solch einen Gottesdienst noch jemanden von außerhalb mitbringen? Worum es geht: Es muss die Nachfrage nach Glaube, Liebe und Hoffnung und den entsprechenden Angeboten unserer Kirche entfacht werden. Die Leute kommen nicht von selbst, da sie gar nicht wissen, mit welch einer großartigen Botschaft sie in der Kirche rechnen können. Die Gesellschaft muss von der Realität von Glaube, Liebe und Hoffnung herausgefordert werden. Religion funktioniert angebots- und 8

nicht nachfrageorientiert, um es in der ökonomischen Sprache auszudrücken. Zwar gibt es ein gewisses diffuses Interesse an religiösen Sinnangeboten, aber das Interesse organisiert sich nicht von selbst, sondern erst anhand von konkreten Angeboten. Was es mit dem Glauben auf sich hat – darüber kann man nur selten in eigenen Worten sprechen. Es ist viel einfacher und der Glaube zugänglicher, wenn man dafür die gepredigte Symbolik und geprägte Wortwahl der Überlieferung und der kirchlichen Redeweise übernehmen kann. Insofern führt kein Weg daran vorbei, dass unsere Angebote selbstgewiss, anspruchsvoll und deutlich vorgebracht werden müssen. Die Zustimmung der Menschen stellt sich dann ein oder aber es entwickelt sich Widerspruch, was in dieser Situation auch äußerst produktiv sein kann. Nichts ist schlimmer, als wenn unsere Angebote Indifferenz erzeugen.

3. These: Nicht nur die Zugehörigkeit zur Kirche und die Weitergabe des Glaubens unterliegen heute Abbrüchen. Unser gesamtes Lebens steht immer häufiger unter Veränderungsdruck und Entscheidungszwängen, wie es das „früher“ nicht gegeben hat. Das verunsichert viele Menschen. Aber genau darin liegt die Chance für den Glauben. Ein Grund, warum es viele nicht merken, ist der immer wieder beschworene „Traditionsabbruch“.

Die

Weitergabe

des

Glaubens

wäre

nicht

mehr

selbstverständlich. Vor allem die Familie wird zum Problem, da in ihr wesentliche religiöse Überlieferungen weitergegeben werden müssen. Aber gegen diese These vom Traditionsabbruch muss man immer wieder unser Selbstverständnis als Protestanten halten. Friedrich Naumann formulierte auf dem 24. Deutschen Protestantentag in Bremen 1909: „Der religiöse Liberalismus ist eine weidlich

protestantische

Traditionsautorität

Erscheinung,

aufbaut.

Es

da

ist

der

er

sich

Gegensatz

auf a)

dem zur

Bruch

der

kirchlichen

Zwangsorganisation, b) zum Zwangsbekenntnis.“ Der Bruch der Tradition, das ist der Protestantismus! Das sind doch noch Sätze! Wir sind stolz darauf, dass wir nicht einfach unhinterfragtes Glaubenswissen weitergeben! Deswegen sage ich: Vergesst die Tradition – aber: bewahrt die Erinnerung! Die Erinnerung an die 9

Aufbruchs- und Befreiungsgeschichten des Glaubens hat eine mimetische Kraft. Sie setzt Lebenskräfte frei. Und die mimetische Lebenspraxis der Kirche ist weit mehr als nur Traditionsweitergabe. Diese Kraft findet sich auch in vielen Produkten der Kulturund Unterhaltungsindustrie, in populären Hollywoodfilmen wie in volkstümlichen Sendungen im Fernsehen. Die Wirkungsgeschichte des Christlichen ist hier viel umfassender, als wir oft meinen. Wenn es so ist, dass unser Leben immer fluider wird, mehr Optionen, mehr Entscheidungszwänge erzeugt und immer weniger in lebenslang geordneten Bahnen verläuft: Dann braucht es die Erinnerung an Erschließungssituationen, in denen Menschen durch und im Glauben in Veränderungen leben konnten. Das sind Erinnerungen an die Freiheit stiftenden Situationen der Bibel und des Glaubens. „Die Tore stehen offen, das Land ist hell und weit!“ Solche Situationen haben eine gewaltige Kraft zur Motivation von Menschen, sich zu engagieren und etwas zu tun. Aber zugegeben: Das ist leicht gesagt. Womit Menschen heute fertig werden müssen in ihrem Leben, ist schon heftig. Religion als Zuckerguss über die Brüche existenzieller Unsicherheiten des Lebens – das wird es letztlich nicht sein. Ein Plakat mit dem Aufdruck „Jesus liebt dich“ auch nicht. Die Strukturen unserer Arbeitswelt ändern sich rasant. Es gibt immer mehr flüssige, nicht formalisierte Arbeitsformen. Der Staat zieht sich aus wichtigen Bereichen zurück. Manager haben ein Interesse an personenzentrierter Dynamik, d.h. an Engagement, Leidenschaft und Hingabe, weil man nur dadurch durch die Unsicherheiten des Wirtschaftslebens hindurch kommt. Zufriedenheit alleine reicht nicht mehr aus. Man soll sich mit Leib und Seele der Wirtschaft verkaufen, ins Sklavenhaus wandern. Damit werden zu den heutigen Fleischtöpfe gelockt, wenn man nicht längst heraus gefallen ist. Gefordert wird heute, dass

man

seine

Gefühlswelt

sozusagen

designen

kann.

Wer

im

Dienstleistungsbereich arbeitet, muss „immer gut drauf“ sein, jedenfalls so tun, und sein Lächeln vor sich hertragen. Genau in dieser Situation gilt es die Erinnerung daran wach zu halten, dass vor Gott Authentizität gilt – und nichts sonst! Das ist es. Und das stur und blöde zu tun. Weitertragen, was uns aufgegeben ist. Dadurch zeichnet sich unsere Tätigkeit aus.

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4. These: In der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, besteht die Gefahr, dass der Glaube und die Erfahrungen der Menschen auseinander driften. Der Glaube „organisiert“ immer weniger in unserem Leben. Er wird dann aber nutzlos. Unsere missionarische Aufgabe besteht in der beständigen Neu-Verknüpfung von Glauben und Erfahrung. Der Traditionsabbruch hängt mit der in der Soziologie beschriebenen, so genannten Ausdifferenzierung zusammen. „Früher“ konnte man sich die Gesellschaft sozusagen wie eine Blüte vorstellen: In der Mitte die „Macht“, oft mit der Religion zusammen; die Blütenblätter haften an dieser Mitte an und es sieht alles sehr einheitlich aus. Man kann sich gut orientieren. Gut ist gut und böse ist böse und, wie ein Leben normalerweise verläuft, das weiß man. Die Blütenblätter – Kultur, Religion, Politik, Wirtschaft – haften an dem, was die Gesellschaft zusammenhält. „Man“ gehört dazu. Wer sich nicht am Zentrum orientiert, wird ausgestoßen oder für vogelfrei erklärt. Heute sind diese Blütenblätter sozusagen weggeflogen und driften frei im Raum. Oft ist ein Zusammenhang gar nicht mehr erkennbar. Was hält die Gesellschaft im Kern heute noch zusammen? Die Frage lässt sich schwer beantworten, obwohl sie immer wieder gestellt wird. Das ist auch nicht nur schlecht: Wir erleben eine viel breitere Liberalität, die es mehr Menschen erlaubt, ihr Leben so zu führen, wie sie es wollen, und als es das früher auch nur im Traum vorgestellt sein konnte. Viel Leid ist so begrenzt worden, anderes geschaffen: Es gibt mehr Druck, sich stets entscheiden zu müssen, sein Leben selbst zu bestimmen, etwas zu unternehmen: „der große Zwang zur kleinen Freiheit“. Für den christlichen Glauben ist dies eine schwierige Situation. Auch Religion ist zu einem eigenen Feld geworden, zu einem der Blütenblätter, die quasi weggeflogen sind. Man kann sich zum Glauben halten und religiös sein. Kaum jemand wird das heute noch, wie in früheren Zeiten, offen kritisieren und niemand hindert einen anderen daran zur Kirche zu gehen – und das ist auch gut so. Aber es fordert auch niemanden mehr heraus. Was bedeutet der Glaube für die Arbeit, für die Wirtschaft, für die Politik, für Recht, Kunst, Medizin? Im Grunde genommen herrscht überall 11

zunächst einmal Indifferenz, nicht nur im Osten Deutschlands. Man weiß nicht recht, was man überhaupt mit diesen überkommenen Welten wie Religion und Kirche noch machen soll. Auf diese Weise zieht sich der Glaube zurück, zum einen auf die Kirche und ihre Sonderwelt und zum anderen auf den Einzelnen und sein individuelles Leben. Daneben sind wir dann alle ganz normale Menschen und erleben das oft gerade als Pastoren und kirchliche Mitarbeiter im Urlaub auch als Entlastung. Es ist durchaus anstrengend, unter diesen Bedingungen seinen Glauben zu leben, vor allem deswegen, weil man sich, wenn man sich zu ihm bekennt, angreifbar macht. Funktionale Ausdifferenzierung, das Wegfliegen der Blütenblätter vom Zentrum der Gesellschaft, bedeutet vor allem, dass die einzelnen Bereiche der Gesellschaft nur noch eine sektorale Plausibilität aufweisen. Das gilt für alle Bereiche, so auch für Religion und Kirche. Das bedeutet auch, dass ich die Sprache der jeweiligen Bereiche lernen muss, Sprache in einem umfassenden Sinne, auch die Art und Weise, wie ich mich verhalten muss, wenn ich mich in diesen Bereichen orientieren will. Bezeichnend für die Situation ist in diesem Zusammenhang die Aussage des Soziologen Niklas Luhmann, dass es keine außerreligiösen Gründe mehr gibt, religiös zu sein. Being Christ for the sake of being Christ – man kann Christ sozusagen nur um seiner selbst willen sein. Die religiöse Welt löst keine Probleme der Wirtschaftswelt oder der Politik, sondern nur ihre eigenen. Wenn man sich aber in sie hineinbegibt, hat man eine bestimmte Weltsicht, die Ressourcen erschließt, die sich woanders nicht finden lassen. Aber man muss sozusagen die Katze im Sack kaufen. Die Chance liegt darin, dass die eigene Welt der Religion in der Kirche ausgestaltet wird; durch diese Ausgestaltung – und d.h. nicht durch Anpassung an andere – die Organisation Kraft gewinnt, andere irritiert und herausfordert. Damit einher geht aber oft ein „Drive“ in die Regression, in den Selbstbezug hinein, denen viele in unserer Kirche nachgeben. Es ist verlockend, sich unter den Bedingungen heutiger Zeit in der kleinen Gruppe in der Kirche wohl zu fühlen und sich dort auch zufrieden zu geben. In der Wirtschaft würde man solch ein Verhalten als „satisfactory underperformance“ bezeichnen. Damit kann man durchaus eine ganze Zeit lang überleben – aber man gestaltet dann nichts mehr wirklich mit, weil 12

der Bezug auf das Außen verloren geht. Die Lebendigkeit und Anziehungskraft der Kirche lebt jedoch davon ab, dass wenigstens immer mal wieder an der Verknüpfung von Glauben und wirklich relevanten Lebenserfahrungen gearbeitet wird. Wann haben wir zuletzt über Spiritualität und Arbeitswelt gepredigt? Wo kommt erfolgreiches unternehmerisches Handeln in unserer Kirche vor? Haben wir den Ärzten wirklich plausibel sagen können, was sie dürfen und was nicht? Sind wir mit den Künstlern verbündet, die so oft über die Stränge schlagen und oft kaum auszuhalten sind? Wo identifizieren wir das wahre Leben in den Unternehmen, in der Wirtschaft unseres Landes? Sind Entlassungen unchristlich? Das sind nur einige Fragen, die viel zu selten in der Kirche thematisiert werden – die aber die Menschen bewegen. Glaube muss mit ihnen sozusagen „verschnitten“ werden: artikuliert.

5. These: Entscheidend für das Gelingen von Mission ist die Zuwendung zu den Menschen. Wie schon in der Zeit der Weltmission gilt es heute in unserem Land im Fremden, kirchlich Distanzierten Christus zu sehen und sich davon herausgefordert zu wissen. Ich sagte schon und es ist ohnehin deutlich: Das entscheidende Hindernis für die Menschen, den Glauben zu entdecken, sind wir in der Kirche selbst, ist die Kirche selbst. Sie ist das Hindernis, ohne das es nicht geht. Sie ist insofern das Ärgernis, das den Glauben provoziert, indem es über sich hinausweist. Entdecken die Menschen die Kirche als ihnen zugewandt? Ja und Nein: -

Ja. Sie erleben Kirche als vielfältig und als da, vor allem für andere, für die, die Kirche brauchen: Für all die, die noch nicht oder nicht mehr im Arbeitsprozess stehen. Für die, die Hilfe brauchen. Als Anwalt der Schwachen jedenfalls zuerst. Das finden die Leute auch gut. Aber man muss hier deutlich sehen: Was die Menschen an der Kirche gut finden, das ist das, was die Kirche für andere tut, eben nicht für sie selbst, die sie sich ja selbst helfen können und sie deswegen eben nicht brauchen.

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-

Nein: Fragt man nach wichtigen Lebensbereichen, dann rangiert die Kirche in der Sicht der großen Masse der Bevölkerung ziemlich weit unten. Religion und Kirche sind die Lebensbereiche, die in den meisten Befragungen mit die geringste Bedeutung im Leben haben.

Es mag also sogar so sein, dass Menschen eine freundliche, offene Kirche erleben – aber es „turnt“ sie sozusagen dennoch nicht an. In dieser Hinsicht sind auch Befragungen und empirische Untersuchungen von großer Bedeutung. Nur, indem wir Untersuchungen anstellen und ihre Ergebnisse ernst nehmen, nehmen wir die Menschen ernst und können Zugänge erschließen. Aber: die eigentliche Arbeit muss in der Interpretation dieser Daten erfolgen. Entscheidend ist die theologische Aufarbeitung ihrer Erkenntnisse und ihrer Umsetzung in theologische Fantasie und exemplarische Lernprozesse. Für sich genommen sind sie im Grunde genommen vollkommen nichts sagend. Dies gilt ganz entscheidend in der Frage des Gewinnens von so genannten Distanzierten für die Kirche. Der Begriff stimmt nicht, weil vielen, die zu dieser Gruppe zählen, das Phänomen einer Distanz zur Kirche gar nicht bewusst und schon gar nicht klar beschreibbar ist. Sie wissen nämlich gar nicht, wovon sie eigentlich distanziert sind. In ihrer Sicht bildet die Kirche eine Sonderwelt, die sie, wie gesagt, freundlich zur Kenntnis nehmen, aber mit der sie nichts zu tun haben wollen. Sie zahlen weiter ihre Kirchensteuer, weil die Kirche etwas für andere tut, bleiben damit aber im Grunde doch indifferent. Allerdings gibt es eine Aktivität unserer Kirche, die durchaus anders funktioniert: Das ist der Kirchentag. Eine Studie des SI zum Kirchentag hat gezeigt, dass er in der Lage ist, das mehrheitlich binnenkirchliche Besucherpublikum erheblich zu erweitern und in der großen Öffentlichkeit bei allen Bevölkerungsgruppen und sozialen Milieus erhebliche Zustimmung zu erreichen. Woran liegt das? Dem Kirchentag gelingt das deswegen, weil er in der Öffentlichkeit auch und von den Kirchenentfernteren ganz primär als eine große Kulturveranstaltung, als ein Kulturevent begriffen wird, das vor allem viel für Jugendliche bietet, ein jugendliches Auftreten hat und mit Prominenten einher kommt. Diese Faktoren sind wesentlich dafür, dass diese Form von Kirche als attraktiv von vielen erlebt werden kann.

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Daraus lässt sich eine Empfehlung für aktive Missionsarbeit von Kirche entwickeln: Man nehme Kultur, mache daraus einen Event und verknüpfe dies mit Kirche, dann hat man die Chance, einen Imagegewinn für Kirche herbeizuführen. Was bedeutet das? Es ist von entscheidender Bedeutung, Formen aufzugreifen, die Menschen in ihrem Leben wichtig sind. Dazu zählen kulturelle und ästhetische, aber ebenso auch ethische und sozial engagierte Formen. Ästhetik und Ethik bieten sozusagen Zugangswege zum Glauben. Sie finden das Interesse der Menschen und können dann in der konkreten Ausgestaltung mit Glaubenserfahrung verknüpft werden. Kultur bedeutet in diesem Zusammenhang Lebensweise: so wie Menschen leben und wie es ihnen gut geht – das ist ihre Kultur. Damit, d.h. mit ihrem Lebensstil, müssen sie sich in der Kirche wieder erkennen können, dann gibt es eine gute Chance, sie auch zu organisieren. Der Glaube transformiert sich in Lebenswelten hinein. Der Weg ist immer individuell – aber Glaube kann dann entstehen, wenn das ästhetische Projekt des schönen oder das ethische des gerechten Lebens kulminieren und scheitern. Der Weg zum Glauben und zur Kirche beginnt folglich nicht mit der Verkirchlichung der Menschen, sondern mit der Kulturalisierung und Ethisierung der Kirche. Das klingt banal, hat aber Folgen für jede Veranstaltung, die wir durchführen: Veranstaltungen müssen so sein, dass sich in ihnen Fremde als solche wohl fühlen können und sich nicht erst unseren Stilen unterordnen müssen. Wo sich aber schon alle kennen, der Gottesdienst von einer Vorbereitungsgruppe gestaltet worden ist oder der Moderator die einen mit Vornamen und die anderen mit Titel anredet, kann so etwas nicht klappen, da den Außenstehenden sofort signalisiert wird, dass sie nicht dazu gehören. Damit sich Fremde wohl fühlen, braucht es einer gewissen Distanz im Umgang und einer natürlichen Freundlichkeit in der Zuwendung. Oder ist es so, wie Wolfgang Nethöfel und Klaus-Dieter Grunwald in ihrem Buch Kirchenreform jetzt! von 2005 schreiben: „Signifikant häufiger als in Firmen, häufiger als in staatlichen Verwaltungen werden etwa

im

Raumangebot

kirchlicher

Organisationen,

beim

Mobiliar,

bei der

Verwendung von Geräten technische Mindest-, Vergleichs- und Sicherheitsstandards nicht eingehalten. Häufiger als nach dem Kontakt mit anderen Organisationen beklagen

sich

unsere

Mitglieder,

Klienten

und

Gäste

über

fehlende

Sekundärtugenden wie Sauberkeit und Pünktlichkeit der Haupt- und Ehrenamtlichen, 15

vermissen sie die gewohnten professionellen Mindeststandards bei Dienstleistungen, beklagen Unzuverlässigkeiten bei Verabredungen und beim Halten üblicher oder vereinbarter Fristen, fehlende Disziplin beim Einhalten von Vorträgen, Ordnungen und Beschlüssen, thematisieren Stilfragen im Schriftverkehr ebenso wie im persönlichen Umgang, sei es im kleineren Kreis oder bei offiziellen Veranstaltungen. Hierzu wäre dies und das zu sagen. (…) Aber in der eigenen wie in der Fremdwahrnehmung

hat

die

Kritik

ein

Gefälle,

rollt

von

verschiedenen

Ausgangspunkten immer wieder auf ein Zentrum zu. Unsere reformträgen Organisationen können schlecht feiern und ehren; sie haben keine Kultur der Wertschätzung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern ausgebildet – wie wollen sie einladend auf Bedürftige und Fremde, Außenstehende und junge Menschen zugehen? Wenn in unserem eigenen ehrlichen Urteil etwas mit der Kritik übereinstimmt, die von außen kommt, dann doch dies: In aller Regel fehlt es ausgerechnet

in

unseren

kirchlichen

Organisationen

an

Herzlichkeit,

Freundlichkeit, Großzügigkeit, an Gastfreundschaft und Freude. An den im Neuen Testament verheißenen und beschriebenen Gaben des Geistes.“ Wenn man Fremde gewinnen will, dann muss klar sein, dass „die Gemeinde“ nicht der primäre Referenzpunkt sein kann, denn sie bedeutet für Fremde lediglich die Unterordnung unter ihnen eben fremde Stilelemente. Es geht nicht darum, dass mehr Menschen sich unseren Gemeinden anpassen, sondern dass wir in unserer Arbeit die Situation der Menschen besser verarbeiten und ihnen näher kommen. Dabei muss natürlich die Situation der Gemeinde mit im Blick bleiben, aber nicht im Vordergrund. Genauso wird es dann auch der Gemeinde dienen.

6. These: Was es unter uns braucht, ist gesteigerte theologische und religiöse Produktivität: das dauernde, mutige Experimentieren mit Lebensformen, stilen, Musik, Kunst, Atmosphären, Arbeitsweisen – mit allem, was das Leben der Menschen bestimmt. Entscheidend ist das gelassene Treffen von Unterscheidungen: Was dient der Begegnung mit Christus – was nicht?

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Dies bedeutet natürlich nicht: mehr Aktionismus – dagegen spricht ja auch eindeutig der letzte Satz. Sondern: eben das lustvolle Verknüpfen von Erfahrungsweisen, Lebensstilen, kulturellen und ethischen Elementen mit dem Glauben. Solche Projekte finden sich zurzeit vor allem im Bereich der ästhetischen und künstlerischen Erfahrung. Es braucht sie aber weit darüber hinaus – vor allem wieder mehr im sozialen und politischen Bereich. Wir brauchen religiöse Innovationen, wenn man das so bezeichnen kann. Das sind Vergegenwärtigungen religiöser Grunderfahrungen mit den Mitteln unserer Zeit. Das kann ganz groß sein – der Kirchentag leistet in dieser Hinsicht sehr viel. Das kann aber auch in jedem kleinen Projekt so sein: ein verblüffender Gedanke, der einen Unterschied aufmacht, der wiederum auf Christus verweist. Solche Situationen kommen dann zustande, wenn sich die theologische Fantasie, der Theologe oder die Theologin mit Haut und Haaren auf partikulare Erfahrungen und Interessen einlässt. Um Identifikation des Handelns Gottes in der Welt geht es – was immer ein Bekenntnisakt ist. Es geht um exemplarisches Lernen und theologische Fantasie. Wie handelt Gott eigentlich mit uns und mit der Welt? Das interessiert doch die Leute und das müssten wir Theologen doch nicht nur abstrakt, sondern ganz konkret benennen können. Lässt sich zum Beispiel das Handeln Gottes und unsere Existenz als eine Art Kraftfeld beschreiben, in dem wir hin und her gezerrt werden von verschiedenen Kräften und Strömungen, indem wir uns versuchen selbst zu behaupten und doch nur zurechtkommen, wenn wir uns seiner Liebe anvertrauen? Solche Beschreibungen steigern die Intensität unserer Welterfahrung und leisten schon als solche einen Zustrom an Kraft, der der Gefahr des Ausgepowertseins entgegenwirkt. Um Empowerment geht es: Bevollmächtigung zum Leben in der Welt aus seiner Kraft. Als Erfolgsfaktoren entsprechender religiös-innovativer Projekte kommen ästhetische und ethische Qualitäten in den Blick. In ästhetischer Hinsicht sind es Raum, Atmosphäre, Originale, Sakrales, Essen und Trinken; in ethischer Hinsicht sind es Gerechtigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Sichaussetzen, Sichengagieren – aber immer auch die Möglichkeiten, sich Distanzen selbst wählen zu können und selbst zu entscheiden, worauf man sich einlässt.

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Wie gesagt, kann man viele Erfahrungen in dieser Hinsicht mit dem Kirchentag machen. In der Hannoverschen Landeskirche gibt es ein Projekt, das solche Erfahrungen auf Dauer stellen will, das Projekt „Kult-Event-Kirche“. Mit Kult-EventKirche ist die Kombination einer Veranstaltung von Gottesdienst mit Kultur gemeint. Es handelt sich dabei um einen etwa zweieinhalbstündigen Sonnabend- oder Sonntagabend. Es beginnt mit einem Gottesdienst, an dem Künstler beteiligt sind und der dann in eine Kulturveranstaltung übergeht. Dazwischen findet eine Pause statt, in der es etwas zu essen und zu trinken und Zeit für Begegnung gibt. Die Erfahrung ist, dass dieses Konzept, wenn es gut beworben wird und wenn es vor allen Dingen spezifische Künstler integriert, die ein gewisses Publikum ansprechen, auf hohe Nachfrage bei Menschen stößt, die nicht zur Kernklientel der Kirchengemeinden gehören. Sie erleben dann – oft seit langer Zeit mal wieder – einen Gottesdienst und sind durch die Verknüpfung mit den kulturellen Elementen in der Lage, ihn auch wirklich wertzuschätzen. Oder eine andere Veranstaltungsform in der Hannoverschen Landeskirche „Baustelle

Unternehmenskultur“.

Dabei

handelt

es

sich

um

ein

Veranstaltungskonzept, das vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt entwickelt worden ist. Es findet ein- bis zweimal im Jahr in einem herausgehobenen, wirtschaftlich genutzten Gebäude statt, z.B. einer Fabrikhalle oder einem großen Verkaufszentrum. Dieses Konzept kombiniert Kultur, meistens in Form von musikalischen Darbietungen, und eine Meditation mit einem, für in der Arbeitswelt engagierte Führungskräfte interessanten Vortrag von einer entsprechenden Person. Der kennzeichnende Unterschied zu ähnlichen Veranstaltungen besteht hier in der Meditation, die das Thema des Vortrages aufnimmt, vertieft und religiös interpretiert. Wichtig ist bei diesen Projekten, dass Stil- und Qualitätsfragen eine große Beachtung geschenkt wird. Der Eindruck des Selbstgemachten muss vermieden werden, wenn man Menschen von außerhalb der Kirchengemeinde erreichen will. Hochinteressant, was religiöse Produktivität anbetrifft, ist im übrigen die Musikszene. Hier ist von Amerika eine Art christlicher Popmusik herübergeschwappt, die mittlerweile von vielen deutschen Bands und Sängern auch aufgenommen worden ist. Genannt sei nur Xavier Naidoo mit seinen Liedern. Interessant sind die Texte, die oftmals in einer faszinierenden Form religiöse Lebenserfahrungen neu interpretieren. 18

Man denke zum Beispiel an die Gruppe Pink, die folgenden Refrain formuliert: „God is a DJ, live is a dance floor, you are the music, love is the rhythm” und es damit fertig bringen, die Lebenserfahrungen von Jugendlichen im Kontext von Gottes Handeln als als existent in einer Art von Kraftsphäre zu interpretieren. Die Musiker beschreiben Gottes Handeln als eine Art Muster, in dem man sich bewegen und so seine Wirkungen spüren kann. Die Sprach- und Symbolwelt ist nicht die der Bibel, sondern die der von Jugendlichen heute – die Transformation jedoch ist durchaus authentisch. Genau solche Wandlungsprozesse sind gesucht. Sie stiften dann, wenn es gut geht, Vergemeinschaftungen im Glauben. Interessant ist an der neuen Popmusik auch, dass in ihr das Böse meistens nicht ausgeblendet wird, wie wir es in unserer Kirche in den letzten Jahren deutlich erlebt haben. Obwohl die Realität des Bösen den Kern der Erfahrungen der Menschen im 20. Jahrhundert ausgemacht hat, und zwar insbesondere auch der Erfahrung der Deutschen, neigen wir in der Kirche dazu, dieses Böse zu banalisieren und klein zu machen. Es ist kennzeichnend, dass derartige Erfahrungen des Abgründigen und Zerstörerischen in vielen kulturellen Produktionen, insbesondere gerade in den Filmen Hollywoods, immer wieder in einer Deutlichkeit und Drastik vorgeführt werden, vor der wir in der Kirche wegzulaufen neigen. Man denke nur z.B. daran, wie wunderbar zuletzt Woody Allen die Folgen des Vergehens gegen das sechste Gebot in „Match-Point“ inszeniert hat: Wer würde denn wagen, so etwas von der Kanzel zu erzählen? Das Böse auszublenden scheint auf den ersten Blick menschenfreundlich und fast schonend zu sein. Tatsächlich aber werden dadurch unsere Aktivitäten selbst banal und koppeln sich von entscheidenden Lebenserfahrungen ab. Das wirkt dann fast so, als hätte der liebe Gott gegenüber dem Bösen kapituliert. Aber wer soll ihn dann noch ernst nehmen? Dann ist Indifferenz auf jeden Fall klüger. „Das Böse ist immer und überall!“ (Falco) Der Versucher spricht: „Es ist eben menschlich, nicht allzu menschlich zu sein. Nicht der Selbstsüchtige ist das Monstrum, monströs ist doch vielmehr irgendein mildtätiger Urwalddoktor oder eine barmherzige Schwester, die uns mit ihren vielen guten Taten ebensoviel Hochachtung abnötigen, wie sie uns auf die Nerven fallen. Wollen wir die Menschen und die Menschlichkeit nach jenen wenigen Exemplaren definieren, die uns so sehr erstaunen und doch merkwürdig fremd und rätselhaft bleiben? Wäre es nicht 19

angebrachter und realistischer, das als menschlich zu bezeichnen, was der Mensch normalerweise betreibt? Die kleine Schäbigkeit, die uns einen Vorteil bringt, kennzeichnet sie nicht besser das Menschliche? Ich denke, wir werden es viel besser mit uns aushalten, wenn wir akzeptieren, was wir sind.“ (Christoph Hein: Das Napoleon-Spiel). Mutiges Experimentieren mit Lebensformen und religiösen Gehalten bedarf spezieller Zielgruppen, die Spaß daran haben, sich auf neue Erfahrungen einzulassen. In dieser Hinsicht ist eine Gruppe vom Interesse, aber auch von der Bedeutung für die Gesellschaft her, hoch interessant und das ist die Zielgruppe der mittleren, insbesondere jüngeren, Führungskräfte in den Unternehmen. Dies sind Menschen, die wissen, dass von ihnen viel abhängt, und die darum kämpfen müssen, dass sie sich entsprechend verhalten können. Sie sind in all dem, was sie tun, nicht nur in den Unternehmen, sondern auch in der ganzen Gesellschaft oft Stil prägend. Sie für die Kirche, und das heißt für eine Kultur der Barmherzigkeit, zu gewinnen, kann ein überaus lohnendes Ziel kirchlicher Arbeit sein. Sie sind die wirklichen Multiplikatoren, die die Orientierung, die ihnen selbst einleuchtet, auch weitergeben. Es wird aber nur gelingen, wenn es in dem hier beschriebenen Sinne religiöse Innovationen gibt. Die Frage lautet: Wie verknüpfen wir die Erfahrungen dieser Menschen mit christlicher Spiritualität? Banale und platte Gleichsetzungen bringen nichts. Es muss darum gehen, die Präsenz Gottes im Entscheidungshandeln dieser Menschen herauszuarbeiten. Wieder stellt sich die Frage nach der Vollmacht.

7. These: Die Pfarrer- und Mitarbeiterschaft braucht „gelassene Professionalität“. Gelassen: weil sie besser als andere weiß, das Glaube, Liebe und Hoffung nicht erzeugt, sondern nur „von selbst“ wachsen können. Professionalität: weil sie Leistungen erbringen muss, die weit über ihre Kräfte hinausgehen können. Der

Begriff

von

der

„gelassenen

Professionalität“

steht

hier

gegen

das

Charismatikertum. Nicht dass charismatische Führung und Leitung überflüssig wäre – Jesus selbst war Charismatiker – und wir brauchen davon in der Kirche auch eine ganze Menge. Charismatiker sind diejenigen, die Innovationen in die Welt bringen. 20

Aber: Religion, unsere religiöse Praxis, ist voller Gefahren. Man kann sich darin verlaufen und man kann sozusagen auch darin „ersaufen“. Religion kann zu einer Droge werden, die ein Leben auch zerstören kann. Professionalität bedeutet in dieser Hinsicht vor allen Dingen das Beachten handwerklicher Gütekriterien in der eigenen religiösen Praxis, was mit der Wahrnehmung eines notwendigen Außenbezuges verbunden ist. Nicht nur die eigene Zufriedenheit oder die Reaktion der jeweils einem Nächsten in der Gemeinde, in der Familie oder in der Gesellschaft kann Kriterium für die Bewertung unserer Arbeit sein, sondern es braucht objektivierbare Kriterien zur Evaluation dessen, was ich tue. Nur so bin ich auch in der Lage, anderen Orientierungen zu bieten und mich selbst in der Situation der Anforderungen durch andere zu führen. Nur, wer sich selbst beherrschen kann, verdient das Vertrauen anderer. In dieser Professionalität – und daran liegt ein gewisser Widerspruch – müssen Pastoren und kirchliche Mitarbeiter allerdings authentisch sein und bleiben. Allerdings bestätigt jede Erfahrung, dass eine sozusagen „übertriebene“ Authentizität erhebliche Grenzen aufrichtet. Wo wir nur noch wir selbst sein wollen, richten wir Schranken auf. Bisweilen muss man sich auch schauspielerischer Fähigkeiten bedienen, um anderen Menschen gerecht zu werden. Es geht insofern um eine Art reflektierter Authentizität: genau das ist mit Professionalität gemeint. Keiner kann aus seiner Haut – aber dennoch kann man und muss man an seiner eigenen Performance gezielt arbeiten. Dazu braucht es vor allen Dingen Spiritualität im Alltag, spirituelle Übungen, die uns im Alltag befähigen, den Blick auf Gott in Christus offen zu halten. Solche Alltagsspiritualität hat etwas mit unserer eigenen Präsenz in den Situationen des Alltages zu tun. Man kann üben, in jeder Situation voll für die anderen da zu sein und insofern jede Situation im Grunde genommen als eine Art Meditation zu begreifen und genau daraus Kraft zu gewinnen. So sehr es spiritueller Oasen für Pastoren durch den Rückzug aus der Gemeinde und aus dem Alltag geben muss, so sehr kann es in dieser Hinsicht auch sein, dass die schlichte Alltagserfahrung zur Kraftquelle wird. Voll in der Situation für den anderen da zu sein, heißt in anderer

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Hinsicht, sich in jeder Situation auch distanzieren zu können und ihr fremd zu werden und aus dieser Weltfremdheit wieder neue Kraft zu gewinnen. Das Problem der Angespanntheit, des Auspowerns und des Bedürfnisses nach Erholung lässt sich wahrscheinlich auch nur in dieser Hinsicht dauerhaft lösen. Natürlich braucht es körperliche Erholung zu bestimmten Zeiten, aber ganz entscheidend ist die mentale Erfrischung, das Installieren neuer Erfahrungen in unserem Leben. Professionalität ist in diesen Zusammenhängen vernünftig, weil sie dafür sorgt, dass wir unsere Kräfte sinnvoll einteilen und deswegen sollte es unter uns professionell zugehen. Sie lässt unterscheiden zwischen dem, was zu tun ist, und dem, was man lassen kann und lassen sollte. Und in dieser Hinsicht ist im Zweifel immer noch Wilhelm Busch hilfreich: „Gut ist, dieser Satz steht fest, stets das Böse, das man lässt!“ Vieles auch nicht zu können und es zu lassen – auch das macht Professionalität aus. Erich Kästner hat nur zum Teil recht, wenn er sagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ – oft gilt auch: „Es gibt nichts Gutes – außer man lässt es!“ Aber in einem hat der schon erwähnte Woody Allen Recht: „Verzweiflung ist der Weg des geringsten Widerstandes.“ – und den können Christen, Protestanten allemal niemals wählen. Aber: Richtig toll ist Professionalität eigentlich nicht. Wenn man sich auf sie einlässt, wird man das Gefühl nicht los, immer nur teilweise und nie ganz bei der Sache zu sein. „Tatsächlich gab es überhaupt nichts, was sie hätte professionell betreiben wollen. Sie hätte am liebsten alles liebend betrieben.“ (Martin Walser: Ohne Einander). Charisma hingegen ist toll und begeistert, spaltet allerdings das Publikum oft auch auf und zieht Grenzen ein, indem es etwas Neues installiert. Um Neues zu installieren, brauchen wir Charismatiker, um Neues zu bewahren, brauchen wir Professionalität.

8. These: Pfarrer und Mitarbeiter sind auf dem Weg dazu, fromm zu werden. Diesen Weg beschreiten sie exemplarisch. Das bedeutet vor allem: Sie wissen, was sie wollen; sie wollen um Gottes Willen jeden Tag ein wenig „besser“ werden.

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Darin nehmen sie Gott, sich selbst und andere ernst. „Wer sich nicht wichtig nimmt, ist bald verkommen.“ (Thomas Mann). Macht es Sinn, sich vorzunehmen, besser zu werden? Geradezu exemplarisch besser in der Frömmigkeit zu werden? Dies vorzuschlagen oder gar einzufordern, ist gegenüber Pastoren, Pastorinnen und anderen kirchlichen Mitarbeitern und -innen sicherlich nicht ganz einfach. Es darf auch nicht moralistisch verstanden werden, als würde man denen, die an dieser Stelle nicht mitkommen, Versagen vorwerfen und ihnen Schuldgefühle machen. Alles ist im Werden, wir sind auf einem Weg und dies betrifft natürlich gerade den Weg der Frömmigkeit. Frömmigkeit ist noch etwas anderes als ethische Bemühung. Es hat viel zu tun damit, sich in Gott zu freuen, Gott sozusagen zu „genießen“. Wenn man aber sich darin einübt, sich Gott gefallen zu lassen, verwandelt sich die Forderung in eine Ermutigung. Besser zu werden in dieser Hinsicht, ist aber natürlich dennoch eine pathetische Formulierung. Sie hat etwas mit einem Aufruf zur Selbsttätigkeit im Glauben zu tun. Es geht darum, sich nicht zu verstecken, Stand zu halten mit dem Glauben, gerade im Angesicht all der Bedrohungen und der Mächte, die ihn zu zerstören scheinen. Besser werden kann man nur, wenn man – in der alten Sprache der Pietisten ausgedrückt – „in Christus eingebildet“ ist, in dieser Hinsicht ein Eingebildeter wird und aus der Vollmacht heraus lebt. Von „außen“ gibt es einen klaren Anspruch an Pastoren und kirchliche Mitarbeiter: eine „angesonnene Vorbildlichkeit“ ist das genannt worden. Natürlich handelt es sich dabei um eine strukturelle Überforderung des Pastorenberufs. Aber sie ist unausweichlich. Solche strukturellen Überforderungen gibt es bei allen klassischen Professionen; bei Ärzten oder Juristen. Auch ihnen wird wesentlich mehr zugetraut – nicht nur, was das Handwerkliche, sondern auch, was ihre inneren charakterlichen Qualitäten anbetrifft – als sie überhaupt tatsächlich aufweisen können. Und es gibt in der Tat nichts Schlimmeres als Seelsorger, die in der seelsorgerlichen Beratung selbst unsicher sind. Es ist gerade die Aufgabe von Seelsorgern, in schwierigen Situationen für andere exemplarisch Sicherheiten herzustellen und d.h., Unsicherheiten zu reduzieren.

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Und was das Besserwerden anbetrifft: Hier gilt es, man selbst zu sein, aber genau darin besser zu werden. So antwortete jemand in einem Interview auf die Frage „Wer würden Sie gerne sein?“: „Ich, aber besser.“ Genau dies ist die korrekte Antwort, die nicht moralisch ist und nicht mit Fremdansprüchen einhergeht, sondern das eigene Selbst aktiviert. Der äußere Mensch soll dem inneren entsprechen und in dieser Hinsicht Christus als Exempel ernst nehmen. Das hat – und hier darf man keine Angst vor irgendwelchen Verengungen haben – natürlich viel mit der Aktivierung unseres Willens zu tun. Man muss auch glauben wollen, sonst fällt einem der Glaube überhaupt nicht zu. Das, was man empfangen hat, das kann man nach außen kehren. Das Eingebildetsein in Christus soll sich auch in unseren äußeren Zügen zeigen. Und dies kann auch durchaus mit einer gewissen Eitelkeit einhergehen. Wenn sie erst völlig beseitigt ist, nimmt einen niemand mehr ernst. Ganz wunderbar ist in dieser Hinsicht das Frömmigkeitsverständnis von Thomas Mann (4. Band, Joseph und seine Brüder, S. 442). Bei der Textstelle handelt es sich um einen Kommentar zu Jakobs durchaus ichbezogenem, sehr selbstinteressiertem und eitlem Verhalten: „Aber Anmaßung und Ichbezogenheit sind nur verneinende Namen für ein doch höchst bejahenswertes und fruchtbares Verhalten, dessen schönerer Name Frömmigkeit lautet. Gibt es eine Tugend, die nicht tadelnder Beziehungen bloß stünde und in der sich nicht Widersprüche wieder von Demut und Hoffart vereinigten? Frömmigkeit ist eine Verinnigung der Welt zur Geschichte des Ichs und seines Heils und ohne die bis zur Anstößigkeit übertriebene Überzeugung von Gottes besonderer, ja alleiniger Kümmernis um jenes, ohne die Versetzung des Ichs und seines Heils in den Mittelpunkt aller Dinge, gibt es Frömmigkeit nicht. Das ist vielmehr die Bestimmung dieser sehr starken Tugend. Ihr Gegenteil ist die Nichtachtung des eigenen Selbst und seine Verweisung ins GleichgültigPeripherische, aus welcher auch für die Welt nichts Gutes kommen kann. Wer sich nicht wichtig nimmt, ist bald verkommen. Wer aber auf sich hält, wie Abraham es tat, als er entschied, dass er und in ihm der Mensch nur dem Höchsten dienen dürfe, der zeigt sich zwar anspruchsvoll, wird aber mit seinem Anspruch Vielen ein Segen sein.“ Besser als andere sein zu wollen, ohne auf sie deswegen herabzublicken, besser man selbst sein zu wollen, ist der Kern der Frömmigkeit. Man kommt da nicht drum herum. Solche Haltung zieht Grenzen ein zu anderen, aber es sind heilsame 24

Grenzen. Wer sie nicht beachtet, nimmt seine Verantwortung anderen gegenüber nicht wahr. Und: „Verlassen kannst Du Dich nur auf diejenigen, die über Deine Fehler traurig sind!“ Solch ein Verhalten hat elementar mit der Einstellung zur Macht zu tun. Pastoren haben in der Kirche eindeutig Macht in dem Sinne, dass sie mehr bewirken können als andere, wenn sie es wollen. Sehr gerne wird dieses Phänomen verleugnet und in einen reinen Dienst umgemünzt. Aber es dürfte unumstritten sein, dass Macht zu haben, so etwas wie ein Lebenselixier darstellt: Macht ist geil. Deswegen sagen wir in der Regel, dass sie kontrolliert werden müsste, setzen uns aber zugleich der Macht auch gerne aus, vorausgesetzt sie „fühlt sich warm“ an. Solche Machterfahrung gehört zum Weg der Frömmigkeit dazu. Ihr schöneres Wort ist Vollmacht: Vollmächtig zu handeln, ist ein frommes Verhältnis zur Macht. Nur wer Macht hat, kann auch etwas Neues in die Welt bringen, weil er oder sie nur dann wirklich frei entscheiden, und d.h. etwas anfangen können. Solche Macht ist allen im Glauben zugesprochen. Und diese Macht wird erfahren und gleichzeitig auch begrenzt in den Übungen der Spiritualität. Spiritualität hat etwas mit Strenge zu tun, mit der Einteilung von Raum und Zeit. In der Repetitio der Raum- und Zeiteinteilungen formt sich ein Leben innerlich durch. Diese innere Durchformung ist wesentlich, um Vollmacht von Hybris trennen zu können. Dann merkt man: Schwächen sind Übertreibungen von Stärken.

9. These: Unsere Kirchen werden organisationsförmiger werden – damit sie nicht immer weiter an den Rand der Aufmerksamkeit geraten. Kirche braucht Anlässe, um sich zu „zeigen“ und die Menschen zu beeindrucken. Aber: Mit ihrer Organisationsgestalt darf sich Kirche nicht vor den Glauben schieben. Diese These klingt recht selbstverständlich, ist es aber ganz und gar nicht. Worum es mir

geht,

ist,

einen

Unterschied

zwischen

Organisation

und

Institution

aufzumachen. Unsere Kirche war über Jahrhunderte eine Institution in der Gesellschaft, d.h., sie war überall selbstverständlich präsent, hatte eine für die Gesellschaft notwendige Funktion auszuüben und brauchte deswegen nicht auf die 25

freiwillige Zustimmung aller zu spekulieren. Dies hat sich deutlich geändert. In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft braucht es Organisationen, die vor allem dadurch gekennzeichnet sind, dass sie auf die Zustimmung ihrer Mitglieder angewiesen sind. Organisation kann man geradezu dadurch definieren, dass man in sie als Mitglied ein- und austreten kann und die Organisation auf die damit verbundenen Signale in ihrem Programm reagieren muss. Dass unsere Kirche sehr lange kaum auf die mit den Kirchenaustritten verbundenen Signale reagiert hat, zeigt, dass sie den Wandel zur Organisation noch nicht wirklich vollzogen hat. Auch heute wird man noch sehr viele institutionelle Charakteristika in der Organisation Kirche finden, so z.B., wie ich denke, die nach wie vor selbst im Osten verbreiteten flächendeckende Präsenz, die längst zur Illusion geworden ist. Organisationen verfolgen zudem Ziele in der Gesellschaft, evaluieren ihre Erfolge und beschreiben sich selbst im Hinblick auf die Funktion, die sie für die Gesellschaft leisten. Auch werden Organisationen anders geleitet als Institutionen. Die Leitung in Organisationen ist proaktiver. Man setzt sich Ziele, die man erreichen will, wohingegen eine Institution eher reagiert. Entscheidend ist, dass in dieser Blickweise eine Organisation Erfolg haben kann, weil sie sich bestimmte Ziele gesetzt hat und diese dann erreicht oder eben auch nicht. Institutionen sind einfach da und können sich über Erfolgskriterien im Grunde genommen nicht verständigen, geschweige denn sie überhaupt evaluieren. Insofern ist die Diskussion in unserer Kirche über Erfolgskriterien von entscheidender Bedeutung. Die reine subjektive Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit oder auch die Zufriedenheit des engeren Kreises der kirchlich eng Verbundenen reicht nicht aus, um wirkliche Strategien zu entwickeln, die Kirchenmitgliedschaft zu erhöhen oder überhaupt missionarische Wirkung zu erzielen. Was es deswegen braucht, ist ein breiter Konsultationsprozess über Kriterien für den Erfolg kirchlicher Arbeit. Dabei muss pragmatisch vernünftig an die Dinge herangegangen werden. So wäre ein sinnvolles Beispiel für eine Zielorientierung z.B. dieses, dass sich eine Kirchengemeinde vornimmt, über einen Jahresverlauf in ihren Veranstaltungen fünf Prozent neue Menschen zu gewinnen. Das scheint ein realistisches Ziel zu sein und es lässt sich auch relativ gut überprüfen. Faktisch wird es dann so sein, dass zu 26

Veranstaltungen zum Teil mehr Leute kommen, aber am Ende des Jahres sind vielleicht tatsächlich fünf Prozent Neue für die Gemeindearbeit gewonnen worden. Die Folge ist die, dass man die Veranstaltungen so ausrichtet, dass man auch wirklich die Chance hat, neue Menschen zu gewinnen und diesen Erfolg dann am Ende des Jahres in irgendeiner Weise auch feiern kann. Klar ist, dass auch solch ein Erfolg in gewisser Weise unverfügbar bleibt, denn man kann niemanden zwingen, Veranstaltungen zu besuchen, aber man kann natürlich Vieles tun, um Menschen dazu zu „verführen“. Interessant ist in diesem Zusammenhang die immer wieder gemachte Erfahrung, dass immer dann, wenn man Veranstaltungen für Kirchenfremde oder kirchlich Distanzierte formatiert, man auch eine ganze Menge für die kirchlich Hochverbundenen tut, denn sie erleben auf einmal, dass ihre Kirche modern ist, sich in Gesellschaft integriert, kein verstaubtes Image hat und dies bestärkt auch die kirchlich Hochverbundenen in ihrer positiven Einstellung zur Kirche. Ein Problem bleibt allerdings oft: Es kann so sein, dass Fremde in die Kirchengemeinde deswegen nicht hineinkommen, weil sich die „Einheimischen“ dort so geben, wie sie sind, und dadurch Distanzsignale aussenden. Dieses Phänomen muss man genau beobachten und die Effekte versuchen zu reduzieren. Grundsätzlich ist hier allerdings eine Erkenntnis aus den Missionswissenschaften hier zu benennen, dass nämlich der Glaube bei Fremden immer zunächst in einer kulturell und habituell inkarnierten Gestalt ankommt und davon auch nicht getrennt werden kann. Den „reinen Glauben“, der sich nicht in bestimmten Gesten, Haltungen, Blicken, Bekleidungsformen, Musikgeschmäckern usw. äußert, kann es nicht geben. Insofern sind völlig neue Wege und Befreiungsschläge in dieser Hinsicht unrealistisch. Was nun die Definition von Erfolgsfaktoren anbetrifft, so muss man sagen, dass messbare Größen der Beteiligung an Kirchengemeinden lediglich als Indikatoren für ein geistliches Geschehen, d.h. die Gewinnung von Menschen für den Glauben an Gott begriffen werden können, aber in keiner Weise solch ein geistliches Geschehen faktisch belegen könnten. Dennoch ist es von entscheidender Bedeutung, auf die Entwicklung der entsprechenden Indikatoren zu achten, da nur sie als äußerliche 27

Kennzeichen von Kirche einen Rückschluss darauf erlauben können, wie man vermuten könnte, dass sich das Reich Gottes ausbreitet. Was die Benennung solcher Indikatoren anbetrifft, so sind sie allbekannt. Es handelt sich um die klassischen vier Kennzeichen von Kirche: 1. Verkündigung, 2. Gemeinschaft, 3. Bildung, 4. Diakonie. (Bisweilen werden hier auch sechs genannt). In diesen vier Feldern, die gemeinsam die Identität von Kirche ausmachen, lassen sich bestimmte Kennziffern wie Teilnahmezahlen, Intensität der Teilnahme u.ä. definieren, die für den Erfolg kirchlicher Arbeit entscheidend sein können. Man kann dann noch weiter differenzieren und Faktoren herausarbeiten, die etwas zum Erreichen erhöhter Kennziffern im Bereich der Indikatoren beitragen. Dies wären dann Dinge wie die Freundlichkeit der Mitarbeiter, die Zugänglichkeit der kirchlichen Angebote, die Sorgfältigkeit der Planung und der Beteiligung von Menschen, die Gestaltung der Räume usw. Ein interessantes Instrument in diesem Zusammenhang sind Befragungen der Kirchenglieder über die Arbeit ihrer eigenen Kirchengemeinde. Sie sollten bei bestimmten Gelegenheiten in den Kirchengemeinden stattfinden. Hier eignen sich besonders gut Kirchenvorstands- oder Presbyteriumswahlen, da man bei ihnen auch alle diejenigen erreicht, die sich nicht aktiv an der Gemeinde beteiligen, aber dennoch Kirchenmitglieder sind. Mittels eine gezielten Fragebogens kann die Zufriedenheit mit der kirchengemeindlichen Arbeit deutlich erfasst werden. Die leitenden Gremien einer Gemeinde können dann darauf reagieren. 10. These: Wir sind nur dann wirklich Kirche, wenn in allem, was wir tun, deutlich wird, wie wir von Glaube, Liebe und Hoffnung getragen sind. Unsere Kirche ist nicht dazu da, das vorhandene Elend, die Ungerechtigkeiten durch Jammer und Klage noch weiter zu vermehren, sondern die Kräfte der Menschen zu stärken. „Sie ist nicht von dieser Welt; die Liebe, die mich am Leben erhält.“ (Xavier Naidoo). Es geht darum, die wirklichen entscheidenden Lebenskräfte der Menschen zu stärken. Dazu müssen natürlich Not, Elend und Ungerechtigkeit deutlich benannt werden. Aber es kann nicht darum gehen, dabei stehen zu bleiben. Das würde das 28

Elend nur noch schlimmer machen. Der Glaube, der uns Kraft gibt, muss gefeiert werden. Solch eine Feier, ein Fest, nimmt mich mit hinein in etwas, bewegt mich und lässt mich doch in ihm ich selbst sein, ja mich selbst gerade in gesteigerter Form erleben. Wie können solche Feste aussehen? Unsere Gottesdienste sind solche Feste und sie müssen immer mehr dazu werden. In ihnen wird die Bewegung vollzogen, von der Klage über Not und Elend hin zur Feier des Lebens und bis zum Hinaussenden in die Wirklichkeit des Alltags. Ohne die Erfahrung solch eines Gottesdienstes am Beginn (und nicht am Ende!) der Woche kann ich eigentlich nicht fröhlich und gelassen durch die Woche kommen. Das sagen unsere Gottesdienste und das müsste in ihrer Gestaltung noch wieder viel deutlicher werden. Wer in den Gottesdienst geht, erlebt ein Befreiungsgeschehen. Von ihm fällt die Last der Sorge um sich selbst ab und er wird frei, sich für die anderen zu öffnen. Er wird frei dazu, er selbst zu sein. Leichtigkeit und Fröhlichkeit entstehen genau dadurch, von sich selbst absehen zu können.

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Vollmacht / Empowerment

Einige Gedanken über geistliche Leistung und Projektarbeit

„Ich liebe, was ich tue. Jede Nacht, wenn ich einschlafe, ist das wie die letzte Szene in einem großartigen Film.“ (Taddy Blecher, CIDA Johannesburg)

Geistliche Leistung geht über methodische Effizienz weit hinaus: es ist die Erfahrung, dass Gott etwas mit mir leistet; etwas mit mir geschieht und mich dieses Geschehen frei macht. Ich höre. Ich antworte. Ich bete. Ich lasse mich bestimmen. Alles hängt an Aufmerksamkeit: Attention is better than intention. Geistliche Leistung ist Bildung des inneren Menschen. Alles, was wir tun, dient der Anbahnung dieses Geschehens. Es schafft Hindernisse auf dem Weg zu Gott beiseite. Es tut dies, indem es Unterschiede in die Erfahrungswelten der Menschen einzieht: Unterschiede zwischen dem, was dem Heil dient, und dem, was ihm entgegensteht. Dies passiert durch die Verknüpfung des Erlebens der Menschen mit der Story, der Symbolik, der Atmosphäre, dem Klang des Glaubens. Genau dies ist unsere Arbeit: Auferbauung des Leibes Christi; einer „virtuellen Organisation“, die in uns ihre Schnittstellen hat. Auf diese Weise „organisieren“ wir Erfahrung und formen so Sehnsüchte, Bedürfnisse, innere Bilder – alles das, was Menschen im Leben bestimmt. Das ist keine Kleinigkeit: Es ist eine Arbeit am Unterschied von Leben und Tod. Wir sind dazu bevollmächtigt. Das muss praktisch werden; mehr als eine Methode oder ein Management–Tool: eine Haltung. Etwas, das sich in uns durchträgt und an uns abgelesen werden kann. Ein permanenter Hinweis auf Transzendenz. Etwas an uns sagt: Was es gibt und 30

was ihr erfahrt, ist nur ein Gleichnis. Es gibt ein Geheimnis in der Welt, in dem ihr geborgen seid. Wie macht man das? Dazu ein paar Hinweise, die sich vor allem auf die Durchführung von Projekten beziehen aber durchaus verallgemeinerbar sind. 1.

Mache das, was Dich wirklich begeistert! Sei authentisch! Mache etwas, woran Du selbst gerne beteiligt sein würdest und wofür Du deswegen auch selbst Eintrittsgeld ausgeben würdest! Aber sei darin gut und werde immer besser! Qualität ist nachhaltiger als Moral.

2.

Liebe Deine Ideen und verfolge sie nachhaltig! Aber behalte eine gewisse Distanz zu ihnen!



In jedem Projekt ist es von größter Bedeutung, aufmerksam und flexibel zu bleiben. It's never all or nothing.



Es ist wichtig, einen Plan zu machen. Aber dieser Plan gehört in die Schublade. Die wichtigste Funktion eines solchen Planes ist es, schnell und präzise erkennen zu können, welche Veränderungen in einem Projekt stattfinden, und darauf reagieren zu können.

3.

Wenn man mit einem Projekt beginnt, braucht es ein wenig Geld. Aber zuviel Geld ist tödlich! Geld folgt den Ideen. Der umgekehrte Weg tötet Kreativität und Engagement.

4.

Nimm die wichtigsten Faktoren ernst:



Raum, Klang und Ritual •

Originale Artefakte (Kunstwerke, Bauten, Orte)



Kommunikation (Essen, Trinken, Einkaufen).

31

Aber inszeniere sie! Setze sie in eine durchdachte Beziehung der „gutenGestalt“. Das Wichtigste passiert nebenbei. Protestantisch ist der Stil – weniger der Inhalt. 5.

Gestalte Dein Projekt so, dass es klar ist und in seinen Konturen deutlich und eindeutig wahrnehmbar. Aber denke daran, dass Widersprüche produktiv sind! Sie müssen "ästhetisiert" werden, damit man sie genießen kann.

6.

Arbeite die Stärken Deines Projektes heraus und betone sie. Aber wo ein Projekt stark ist, da ist es schwach. Nichts findet die Zustimmung aller – oder es ist kein gutes Projekt. Es sind die "Spitzen" eines Projektes, die stechen. Feilt man sie fort, bleibt Harmlosigkeit.

7.

Schaffe einen klaren und stabilen Rahmen für die Menschen, insbesondere die Künstler, die Du beteiligst. Aber lass sie dann machen, was sie wollen. •

Insbesondere

Künstler

oder

andere

„Kreative“

sind

nur

durch

Vertrauensvorschuss und nicht durch Kontrolle zu Höchstleistungen zu motivieren. • 8.

Kommunikation mit ihnen "auf Augenhöhe" bleibt jedoch wichtig.

Fixiere Die Menschen deutlich, für die Du etwas planst; mach Dir ein Bild von ihnen, dadurch, dass Du mit Ihnen sprichst. Aber biedere Dich nicht an! •

So etwas wie "Niedrigschwelligkeit" bei kirchlichen Projekten gibt es nicht. Wenn es sich um ein kirchliches Projekt handelt, das gut gemacht ist, ist es nie für alle da. Die "Schwelle" lässt sich nur um den Preis jeden Anspruchs und jeder Qualität beseitigen. Überhaupt ist vollkommen unklar, was Niedrigschwelligkeit eigentlich sein sollte: wer etwas Neues erleben will, geht immer über eine Schwelle. Wer das nicht will, kommt sowieso nicht. 32

8 a) Wenn Du das "Volk" begeistern willst: Erzähle eine Geschichte! Erzähle sie spannend und deutlich ohne Zweideutigkeiten und Ambivalenzen. Sorge für Ordnung und "Sauberkeit" und vermeide "dunkle Ecken". Sorge dafür, dass jeder sich zu jeder Zeit in Deinem Projekt aufgehoben weiß und deutlich orientieren kann. Das Geheimnis der Begeisterung des Volkes ist Identifikation. Schaffe Möglichkeiten zur Identifikation. 8 b) Wenn Du die "gehobenen Kreise" begeistern willst, lass moderne Kunst in die Kirche einziehen! Je weniger Identifikation möglich ist, desto besser: Je weniger verständlich und reduzierter, desto schöner wird das Projekt werden. Das Geheimnis der Begeisterung der gehobenen Kreise besteht in der inszenierten Fremdheit, die Distanz ermöglicht und die Menschen, die sich gerne abgrenzen, in distanzierter Gemeinsamkeit zusammenbringt. 8 c) Kirchliche Projekte sollten immer für die kirchlich Distanzierten bzw. für Unkirchliche geplant werden. Die sogenannte "Kerngemeinde" ist ohnehin gut versorgt und es ist nicht nötig, sie durch neuartige Projekte und erhebliche Anstrengungen zu motivieren. Allerdings werden die kirchlich Distanzierten oder Kirchenfernen tatsächlich meistens kaum erreicht werden. Das ist aber nicht schlimm! Stattdessen haben die Projekte die Funktion, die Kirchennahen wieder neu zu begeistern und ihnen zu vermitteln, dass sie nicht in einer Nische, sondern in der großen Öffentlichkeit existieren können. In den kirchennahen Kreisen gibt es in der Regel eine Art Minderwertigkeitskomplex, was Professionalität und Qualität kirchlicher Projekte anbetrifft. Dieser wird durch Dein Projekt beseitigt. Und das ist von großer Bedeutung. 9.

Insgesamt gilt für alle, die Du erreichen willst: Mache etwas, was die Leute kennen! Aber dann überrasche sie! Die Menschen wissen selten, was sie wirklich wollen! Sie wissen es insbesondere dann nicht, wenn sie um die Möglichkeiten gar nicht wissen können. Sie wissen dies insbesondere nicht im Hinblick auf ihre religiösen Bedürfnisse. Dein kirchliches 33

Projekt formt religiöse Bedürfnisse, ja weckt sie unter Umständen überhaupt erst. Genau das ist gut und richtig. • Es gilt also: "Surfe" über die Erwartungen der Besuchergruppen hinweg! „Zaubere“ mit den Wünschen und Sehnsüchten der Menschen. Lenke ihre Aufmerksamkeiten. Aktiviere und begeistere sie. Nicht im Zielgruppen geht es, sondern um Menschen. 10. Gestalte Deinen Auftritt klar und deutlich unterscheidbar. Aber mit hoher Qualität! Dies gilt insbesondere für die "Kleinigkeiten" des Projektes wie das Design, insbesondere der Werbemittel. Gestalte Deine Werbemittel so, dass die Menschen sie mit nach Hause nehmen und aufbewahren, weil sie so schön sind. Design ist Wertschätzung – von sich selbst und von anderen. 11. Bilde ein Team, bei dem alle bei allem mit anpacken. Aber lass immer Zeit für die, die auftreten sollen. Gut ist ein Team dann, wenn gegenseitige offene Kritik möglich ist und Schlampereien, Faulheiten usw. nicht geduldet werden. Dazu braucht es einer guten Mischung aus Vertrautheit und Fähigkeit zur Distanz (= Professionalität). 12. Es geht bei einem Projekt fast immer alles schief. Aber das ist nicht schlimm! Bei den meisten Problemen reicht es aus, wenn man für Abhilfe sorgt, lösen kann man sie ohnehin nicht; und das ist auch nicht nötig.

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13. Plane alles managementmäßig durch! Aber achte besonders auf das Geistliche. Viele Fragen, die insbesondere die Organisation betreffen, lassen sich gut an andere delegieren und von anderen regeln. 14. Nötig sind immer wieder Entscheidungen. Aber: Entscheidungen werden nicht gefällt, sondern sie entstehen. „Wer argumentiert, verliert!“ Die Leiter müssen entsprechende Prozesse umsichtig fordern. Je näher ein Projekt rückt, desto weniger Leute entscheiden. Diese Überlegung beruhigt all diejenigen, die zu Anfang über das Chaos an Einflussnahmen und Mitentscheidern frustriert sind. Schließlich: "Nimm an, dass der Erfolg Deiner Unternehmungen gänzlich von Dir selbst abhängt und keinesfalls von Gott; aber handele dennoch so, als ob Gott allein alles tun wird und Du selbst nichts." Praktiziere eine Haltung der "angestrengten Gelassenheit" oder der "passiven Kreativität". Auf jeden Fall brauchst Du die Fähigkeit, Widersprüchliches nicht nur auszuhalten, sondern gut miteinander zu kombinieren. Dann "lebt" ein Projekt. Du kannst das, weil Du gerade in den Widersprüchen Gottes Geist am Wirken siehst.

G. Wegner, Hannover, 16.01.05 [email protected]

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