Bismarck-Gemälde von Franz von Lenbach, 1890

„Wie man Frieden sichert“ SPIEGEL-Gespräch Otto von Bismarck galt Generationen von Deutschen als Übervater, Historiker sehen heute eher seine Schattenseiten. Exkanzler Gerhard Schröder ist fasziniert von den politischen Erfolgen des Reichsgründers. Bismarcks Annäherung an das Zarenreich hält er für vorbildlich – und die aktuelle „Ausgrenzung“ Russlands durch Europas Politiker für einen Fehler.

44

DER SPIEGEL 14 / 2015

Deutschland

er Altkanzler kommt noch ganz kanzlermäßig vorgefahren, eine große schwarze Mercedeslimousine setzt ihn vor seinem Büro ab, in wenigen Schritten eilt er die Treppe hoch zur Tür der aufwendig restaurierten Gründerzeitvilla im Zentrum Hannovers. Hier residiert der Rechtsanwalt Gerhard Schröder, 70, Exkanzler, Ex-SPD-Vorsitzender, Berater diverser Unternehmen, vor allem aber Aufsichtsratschef der russisch-europäischen Pipeline-Firma Nord Stream. Schröder ist schwer verschnupft und trotzdem bester Laune. Die SPIEGEL-Journalisten sind am Morgen aus Hamburg gekommen („Was, Sie beide sind Historiker? Das geht ja gut los!“), um mit ihm über Otto von Bismarck zu sprechen, seinen wohl berühmtesten Amtsvorgänger. Bismarck wurde vor genau 200 Jahren, am 1. April 1815, geboren. Dass man nun ihn, Schröder, zu diesem Jubiläum befragt, findet er nur in Maßen überraschend. In seinem Büro hängt ein Bismarck-Porträt, eine Zeichnung von Franz von Lenbach, „ein guter Freund“ habe sie ihm geschenkt. Schröder hat das Bild immer mal wieder Altkanzler Schröder: „Da finden Sie gar nichts Machohaftes“ erwähnt, er mag die kleine Provokation, die darin liegt, dass ausgerechnet er, der Sozialdemokrat, ein Bild des Monarchisten SPIEGEL: Herr Schröder, Otto von Bismarck Russland, abhielten. Auch aus diesem Bismarck besitzt. Da steckt Koketterie da- war ein Sozialistenfresser. Er bezeichnete Grund darf er hier hängen. hinter, aber auch Bewunderung für den Sozialdemokraten als „Ratten“ und ließ SPIEGEL: Zeitgenossen beschreiben ihn als großen Mann, den erfolgreichen Politiker. sie verfolgen. Trotzdem hängt sein Porträt arrogant und rachsüchtig. Er trank überFast zwei Stunden lang wird Schröder in Ihrem Büro. Wie passt das zusammen? mäßig. Ein machohafter Choleriker … nun über Bismarck sprechen. Er kennt sich Schröder: Erst einmal handelt es sich um Schröder: … Ich ahne, worauf Sie hinausin der Geschichte des 19. Jahrhunderts aus, ein gutes Bild, und Kunst lebt ja auch aus wollen … und er zeigt das gern. Er spricht über den sich selbst heraus. Zweitens: Bismarck war SPIEGEL: … ein Mann voller MenschenverReichsgründer, den Sozialreformer und sicher ein Sozialistenfresser, hat aber auf achtung, der meist seine Doggen mit sich geschickten Außenpolitiker, aber natürlich der anderen Seite Sozialdemokratisches führte, die Besucher und Untergebene in auch über den Feind aller Demokraten, bewirkt. Er war schließlich der Schöpfer Angst und Schrecken versetzten. der sozialen Sicherungssysteme. Einer der Schröder: Aus seinen wunderbaren Briefen Katholiken und Sozialisten. Manchmal lacht er vor Vergnügen, weil ganz Großen der deutschen Geschichte. an einen Weinhändler in Magdeburg geht er das Spiel mit den Analogien zwischen Das kann und darf auch ein Sozialdemo- hervor, dass er einem guten Rotwein nicht abgeneigt war. Das lasse ich als Parallele Vergangenheit und Gegenwart so unter- krat nicht bestreiten. haltsam findet, etwa wenn es um Bis- SPIEGEL: In den drei Kriegen, die er zwi- gelten. Aber lesen Sie einmal die Briefe marcks Russlandpolitik geht – und die der schen 1864 und 1870 führte und aus denen an seine Frau, da finden Sie gar nichts MaEuropäer heute. Eine willkommene Gele- der deutsche Nationalstaat hervorging, chohaftes. Im Gegenteil, sie sind mit viel genheit zur Verteidigung seines Freundes starben über 200 000 Menschen. Trotzdem Gefühl und liebevoll verfasst. Auch da gilt: ist er für Sie eine vorbildliche Figur? So eindeutig, wie Sie es haben wollen, ist Wladimir Putin. Noch immer spricht er druckreif und Schröder: Er ist eine vorbildliche Figur, es bei Bismarck nicht. präzise. Und noch immer wittert er überall wenn auch nicht in dem Sinne, dass man SPIEGEL: Sie stammen aus einfachen VerFallen und Fallstricke. Dass der Fotograf alles gutheißen sollte, was er gemacht hat. hältnissen. Ein Mann Ihrer Herkunft hätte ihn vor dem Bismarck-Porträt platzieren Wenn man an die drei Kriege gegen Däne- unter Bismarck kaum Aufstiegschancen möchte, wird sofort abgelehnt. „Das hättet mark, Österreich und Frankreich denkt, gehabt. ihr wohl gern, nee, das mach ich nicht.“ muss man sich vergegenwärtigen, dass der Schröder: Stimmt. Man hätte wohl auf seiWarum, sagt er nicht, aber jeder im Raum Krieg in seiner Zeit als legitimes Mittel der nem Gut als Hilfsarbeiter arbeiten dürfen. weiß es: Das sähe nach Hybris aus, Bis- Politik weitgehend akzeptiert war. Auch Mehr wäre nicht drin gewesen. Er war ein marck und Schröder allein auf einem Foto. war wohl nur so jener Nationalstaat zu Mann seiner Zeit, ein Junker, das hat er Erlaubt wird nur ein anderes Motiv: bilden, den die Deutschen damals wollten. nicht verleugnet. Andererseits verfügte Schröder mit den Porträts aller Amts- Den berühmten Ausspruch, die großen Fra- Bismarck in einem hohen Maß über die vorgänger, von Adenauer bis Kohl, der gen der Zeit würden nicht durch Reden Fähigkeit, sich auf neue Dinge einzustellen. alte Bismarck hängt da in gehörigem oder Mehrheitsbeschlüsse, sondern durch Wenn Sie es positiv wenden: aufgeklärter Abstand. Angela Merkel allerdings fehlt. „Blut und Eisen“ entschieden, hat er nach Pragmatismus. Wenn Sie es negativ wenWarum? Und da ist es wieder, das don- der Reichsgründung relativiert. Er zählte den: ausgeprägter Opportunismus. nernde Schröder-Lachen. „Keine Sorge, zu denjenigen, die die preußischen Militärs SPIEGEL: Wie so viele Staats- und Regiedie kommt noch, sie wird ordentlich da- zur Zurückhaltung mahnten und von ei- rungschefs lesen auch Sie gern historische nem Präventivkrieg, insbesondere gegen Biografien. Sucht man Rat in der Verganneben platziert.“

FOTOS: AKG (L.); MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL (R.)

D

DER SPIEGEL 14 / 2015

45

Der erste Kanzler

50 1847 Heirat mit Johanna von Puttkamer

AKG

46

DER SPIEGEL 14 / 2015

heutigen Verhältnissen vergleichen. Und bevor Sie mich fragen, ob mir Bismarcks Umstände, Politik zu machen, besser gefielen als jene, unter denen ich Politik machen musste, sage ich Ihnen gleich: im Prinzip ja. Aber ich bin Demokrat genug, um zu wissen, dass das natürlich nicht geht. SPIEGEL: Das Bismarck-Bild der Deutschen changiert zwischen Heldenverehrung und Ablehnung. Sie haben 1966 Abitur gemacht. Welches Bismarck-Bild wurde Ihnen vermittelt? Schröder: Eher ein unkritisches. Der Kulturkampf … SPIEGEL: … der Streit mit dem politischen Katholizismus … Schröder: … der ein großer Fehler Bismarcks war, oder auch die Sozialistengesetze haben wir nicht oder nur rudimentär behandelt. SPIEGEL: Wann hat sich Ihr Bild verändert? Schröder: Ich habe die großen Biografien gelesen: von Lothar Gall oder Otto Pflanze. Da wurde die Widersprüchlichkeit Bismarcks deutlich. Interessanterweise hat er ja sowohl beim Kulturkampf als auch bei den Sozialistengesetzen das Gegenteil

1849 Abgeordneter des Preußischen Landtags

Ehepaar Bismarck 1849

dessen bewirkt, was er wollte. Er hat das katholische Zentrum groß gemacht, und er hat die Sozialdemokratie gestärkt. Nicht zuletzt, indem er 1867 das modernste Wahlrecht in Europa einführte. Die Stärke der Sozialdemokratie im Reichstag war nur möglich durch das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht für Männer. Diese Leistung hat etwas Sozialdemokratisches. Aber wir wollen Bismarck nicht vereinnahmen. SPIEGEL: Ihre Begeisterung für den Junker erstaunt uns. Er führte das Wahlrecht ein, um den Fortschritt zu verhindern. Er glaubte, dass die Bevölkerung konservativ wählen würde – was sie auch zunächst tat.

Preußische Truppen in der Schlacht bei Königgrätz, Gemälde von 1866

Otto von Bismarck

45 1815 Geburt auf Gut Schönhausen bei Stendal

Bismarck-Verehrer Schröder in seinem Arbeitszimmer in Hannover: „Das hättet ihr wohl gern“

A KG

genheit, weil man sich sonst mit niemandem austauschen kann? Schröder: Das ist keine falsche Beobachtung, sie ist aber auch nicht ganz richtig. Ich hatte durchaus einen engen Kreis, mit dem ich mich austauschen und auf den ich mich vollkommen verlassen konnte. SPIEGEL: Bismarck hat oft über die Belastungen des Amtes geklagt. 1871 etwa schimpfte er: „Meine körperliche Fähigkeit, alle die Galle zu verdauen, die mir das Leben hinter den Kulissen ins Blut treibt, ist nahezu erschöpft.“ Klingt das vertraut? Schröder: Das klingt sehr vertraut. Aber nehmen Sie das auch nicht zu ernst. Es ist ein Klagen in der Hoffnung, anschließend gestreichelt zu werden. Das zieht sich durch das Leben vieler Spitzenpolitiker. Helmut Schmidt hat sich über Journalisten als „Wegelagerer“ beklagt. Helmut Kohl und ich haben das natürlich auch so gemacht. Von Frau Merkel habe ich Derartiges allerdings noch nicht gehört. Vielleicht hält sie sich zurück, weil sie im Amt ist. SPIEGEL: Bismarck kompensierte Stress durch übermäßiges Essen und litt unter Schlaflosigkeit. Schröder: Das ist bei mir anders. Ich konnte im Stehen schlafen. Bis auf eine Ausnahme: Das waren die Wochen der Neuwahlentscheidung 2005. Da habe ich schlecht geschlafen, weil die Entscheidung in den Händen anderer lag. Ich wollte Neuwahlen, und dazu mussten die rot-grünen Abgeordneten im Bundestag bei der Vertrauensfrage den eigenen Kanzler durchfallen lassen. Ich wusste zudem nicht, ob der Bundespräsident dann den Bundestag auflösen und was das Bundesverfassungsgericht zu alledem sagen würde. SPIEGEL: War Politik im 19. Jahrhundert ein einfacheres Geschäft? Schröder: Heute sind die Komplexität politischer Entscheidungen und die Schnelligkeit, mit der Sie diese treffen müssen, so groß wie nie zuvor. Was brauchte Bismarck? Das Vertrauen des preußischen Königs und deutschen Kaisers. Das war’s. Er musste natürlich auch auf die Öffentlichkeit und den Reichstag Rücksicht nehmen, aber das lässt sich in keiner Weise mit

55

60 1859 Preußischer Gesandter am Zarenhof in St. Petersburg

65 1862 Bismarck wird preußischer Ministerpräsident

Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus Bismarcks in St. Petersburg

1864 Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark

1866 Krieg Preußens gegen Österreich

1867 Gründung des Norddeutschen Bundes; Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer

Deutschland

1870/71 DeutschFranzösischer Krieg

1873 Dreikaiserabkommen zwischen Deutschland, Russland, ÖsterreichUngarn

AKG

75

Bismarck um 1870

1871 Kaiserproklamation in Versailles und Gründung des Deutschen Reichs, Bismarck wird Reichskanzler

Glück kennzeichnend für unsere Gesellschaft, dass die große konservative Kraft CDU begriffen hat, dass in der Einwanderung und Integration eine Chance liegt. SPIEGEL: Bismarck hinterließ 1890 ein Deutschland, das zwar äußerlich geeint, aber innerlich zerrissen war. Schröder: Historiker zählen diese Spaltung der deutschen Gesellschaft zu den Gründen für das spätere Scheitern von Weimar und den Aufstieg Hitlers, was mir einleuchtet. Es ist eine von mehreren verhängnisvollen Weichenstellungen, die Bismarck mit zu verantworten hat. Eine andere betraf das Verhältnis zu Frankreich. Bismarck hielt eine Aussöhnung mit Paris für unmöglich, weil er dachte, denen habe man einfach zu viel angetan und zugemutet. In der Tat ließ er die Reichsgründung 1871 ausgerechnet in Versailles vollziehen. Noch schlimmer waren die von ihm erzwungene Abtretung von Elsaß-Lothringen und die ungeheuren Reparationszahlungen, die Frankreich leisten musste. Was wurde daraus nach dem Ersten Weltkrieg? Da wurde der Spieß umgedreht, und Deutschland musste riesige Reparationen zahlen. 1940 wurde er wieder umgedreht und 1945 dann noch einmal. Erst danach haben beiden Seiten verstanden – und das ist die große Nachkriegsleistung der Generation von Adenauer, de Gaulle, Schuman –, dass man damit aufhören muss. Das war das Ende der sogenannten Erbfeindschaft. SPIEGEL: Stimmen Sie zu, dass auch Bismarcks Ausflüge in die Kolonialpolitik Deutschland nur geschadet haben? Schröder: Ja, noch eine verhängnisvolle Fehlentscheidung, die übrigens einen Bruch darstellte mit seiner Politik der – heute würde man sagen – Führung aus der Mitte. Nicht zuletzt um die Kolonien in Afrika und Asien zu schützen, hat später Wilhelm II. eine hochgefährliche Flottenrüstung betrieben, die die Engländer unnötig provozierte.

SPIEGEL: Trotz solcher Fehler haben Sie einmal erklärt, Sie seien von Bismarcks „Umsicht im Umgang mit Macht“ fasziniert. Schröder: Wir haben eben über den Umgang mit Frankreich 1871 und über die Kolonialpolitik gesprochen, die am Ende seiner Kanzlerschaft lag. Dazwischen hat er ein Maß an politischer Führung in Europa gezeigt, das sich an der Art und Weise orientierte – um es mal mit einem Vergleich zu sagen –, wie Stachelschweine sich lieben: Er war nämlich im Grunde vorsichtig. Er hat sehr darauf geachtet, auch die Gegner von einst, vor allem Österreich, nicht zu demütigen. Und da er einen Zweifrontenkrieg fürchtete und den Konflikt mit Frankreich für unlösbar hielt, hat er sich um Russland bemüht. Bei ihm – und im deutschen Konservatismus sowieso – hat es immer beides gegeben: die Angst vor den Russen und eine russlandfreundliche Position, die aus unseren vielen kulturellen Gemeinsamkeiten resultiert, bei der Literatur etwa oder der Musik. SPIEGEL: Verklären Sie da nicht seine Motive? Bismarck schloss Bündnisse mit den rückständigen Kaiserreichen von ÖsterreichUngarn und Russland, um die Monarchie als Staatsform zu bewahren. Es sei Deutschlands „erstes Bedürfnis“, so sagte er, „die Freundschaft zwischen den großen Monarchien zu erhalten, welche der Revolution gegenüber mehr zu verlieren als im Kampfe untereinander zu gewinnen hätten“. Schröder: Dass er ein durch und durch Konservativer mit reaktionären Zügen war, will ich nicht bestreiten. Aber ich bleibe dabei, dass seine Außenpolitik in jener Phase vorsichtig und klug war: Sämtliche Bündnisse, die er als Reichskanzler geschlossen hat, waren defensiver Natur. SPIEGEL: Die Bündnispolitik Bismarcks mit Russland ging auf Kosten der Polen, denen er einen eigenen Staat verweigerte. Schröder: Da will ich ihn nicht in Schutz nehmen. Allerdings hat Bismarck nicht deshalb ein tragfähiges Verhältnis zu Russ-

1878 Berliner Kongress: Versammlung von Vertretern der europäischen Großmächte, auf der die Balkankrise beendet und eine neue Friedensordnung für Südosteuropa ausgehandelt wurde

80 1878 Sozialistengesetz: Verbot sozialistischer und sozialdemokratischer Organisationen und deren Aktivitäten

Ölskizze „Bismarck auf dem Totenbett“

85 ab 1883 ab 1884 Einführung Gründung von von Krankendeutschen und UnfallKolonien versicherung sowie einer Invaliditäts- und Altersversicherung

G EH E IME S STA ATSARC H IV

gehen, dass sich bei der Erweiterung des Wahlrechts etwas bewegen würde. Hätte für den Reichstag das alte Dreiklassenwahlrecht gegolten, das es für das preußische Abgeordnetenhaus noch bis 1918 gab, dann hätten die Sozialdemokraten nie eine Chance gehabt. SPIEGEL: Auch die Einführung der Sozialversicherungen, also der Renten-, Invaliditäts-, Unfall- und Krankenversicherung, sollte die Monarchie stabilisieren und nicht etwa Deutschland modernisieren. Schröder: Das hatte etwas sehr Patriarchalisches, Bismarck wollte die Leute arbeitsfähig halten. Und natürlich wollte er den Sozialdemokraten das Wasser abgraben. SPIEGEL: Sie haben in der Sozialgeschichte dieses Landes ebenfalls eine Zäsur gesetzt. Sehen Sie Ihre Agenda-2010-Politik als Bruch oder Fortsetzung der bismarckschen Sozialgesetzgebung? Schröder: Als Fortsetzung, denn ohne die Agenda-Reformen wäre der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar gewesen. Nehmen Sie nur die Rente mit 67. Man kann die demografische Entwicklung nicht austricksen. Die Agenda 2010 war der Versuch, unter völlig veränderten Rahmenbedingungen Sozialstaatlichkeit zu stabilisieren. Aber natürlich gab es bei mir auf gar keinen Fall, wie bei Bismarck, das Motiv, die Sozialdemokratie zu schwächen. Das können Sie mir glauben. SPIEGEL: Zu Bismarcks Herrschaftstechnik zählte die Ausgrenzung der sogenannten Reichsfeinde, also der Katholiken, Sozialdemokraten und der Polen im Osten Preußens. Er wollte durch die Beschwörung von Feindbildern Mehrheiten sichern. Kann man heute noch so Politik machen? Schröder: Das funktioniert nicht mehr. Noch bei der Landtagswahl in Hessen 1999 hat die CDU einen ausländerfeindlichen Wahlkampf geführt und gewonnen. Heute würde man mit dieser harten Form der Ausgrenzung nicht weiterkommen. Das ist zum

95 1898 Tod Bismarcks auf seinem Anwesen in Friedrichsruh bei Hamburg

1890 Entlassung Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II.

A KG

FOTO: MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

Schröder: Aber er musste schon davon aus-

Karikatur „Der Lotse geht von Bord“

DER SPIEGEL 14 / 2015

47

land gesucht, weil er den Polen einen ei- bewegt. In der Griechenlandfrage hingegenen Staat verweigern wollte. Die polni- gen scheint mir der von der Bundesregieschen Teilungen lagen weit vor seiner Zeit, rung verfolgte Weg – ich spreche nicht von und nicht Preußen oder das Deutsche der Kanzlerin, auch nicht vom AußenmiReich, sondern Russland hatte sich das 1815 nister, wohl aber von dem einen oder anderen Minister – zu wenig europäisch und eingerichtete Kongresspolen einverleibt. SPIEGEL: Bis heute verfolgen viele Polen zu deutsch zu sein. die Entwicklung des deutsch-russischen SPIEGEL: Wir ahnen, das zielt auf Wolfgang Schäuble. Verhältnisses voller Misstrauen. Schröder: Ich verstehe, dass es in Polen Schröder: Auf den einen oder anderen historisch bedingte Ängste gibt, die dem Minister. einen oder anderen noch kein rationales SPIEGEL: Ist die Stärke des geeinten Verhältnis zu Russland erlauben. Die Fol- Deutschland ein grundsätzliches Problem gen des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 sind für die EU? bis heute spürbar. Diese Ängste dürfen nur Schröder: Nein. Sie können politische Annicht die Politik der gesamten EU gegen- sprüche nur stellen, wenn Sie ökonomisch über Russland bestimmen. Polen ist heute stark sind. Sonst funktioniert das nicht. Mitglied der EU – Gott sei Dank –, und es Das ist auch eines der Probleme, die Frankreich gegenwärtig hat. Frankreichs ist Mitglied der Nato und … SPIEGEL: … zur polnischen Nato-Mitglied- führende Rolle in Europa ist völlig unbeschaft sagen Sie nicht „Gott sei Dank“? stritten. Aber in dem Maße, wie die ökoSchröder: Doch: Gott sei Dank. Damit habe nomische Kraft Frankreichs nachlässt, ich kein Problem. Beide Beitritte fallen in braucht Frankreich Deutschland. Und die Zeit meiner Kanzlerschaft. Ich sage Deutschland braucht Frankreich aus polinur: Polen und die baltischen Staaten ha- tischen Gründen, weil wir noch an unserer ben heute ein Maß an Sicherheit, das – ra- Geschichte zu tragen haben. Jacques Chitional betrachtet – eine Gefährdung durch rac etwa wusste ganz genau, dass es mit andere ausschließt. Ich kenne niemanden, „Gloire“ allein nicht zu machen ist, sonauch nicht in Russland, der so verrückt dern dass Frankreich die ökonomische wäre, es auch nur in Erwägung zu ziehen, Kraft Deutschlands braucht, um auch über die territoriale Integrität Polens oder der Europa hinaus eine Rolle spielen zu könbaltischen Staaten infrage zu stellen. nen. Und in Deutschland wissen alle KanzSPIEGEL: Von dem Historiker Ludwig Dehio ler, dass man die Trikolore dreimal grüßen stammt die Formel, Bismarcks Kaiserreich muss, wie es Helmut Kohl einmal treffend habe in Europa eine „halbe Hegemonie“ beschrieben hat. ausgeübt. Sind die Deutschen inzwischen SPIEGEL: Bismarck sagte nach der Reichswieder zu schwach, um Europa zu domi- gründung, Deutschland sei „saturiert“ und nieren, aber zugleich so stark, dass sie als erhebe keine Ansprüche mehr gegenüber seinen Nachbarn. Vor dem Reichstag erBedrohung wahrgenommen werden? Schröder: Ich habe als Kanzler beides er- klärte er: „Die Tage der Einmischung in lebt. Man fährt zum Gipfel nach Brüssel, das innere Leben andrer Völker werden,

„Es bleibt ein Verstoß gegen das Völkerrecht, aber es ist unwahrscheinlich, dass die Krim zur Ukraine zurückkehrt.“ und wenn man sich mit Frankreich vorher geeinigt hat, was wir immer versucht haben, dann murren die anderen Partner: Jetzt habt ihr schon wieder alles vorab entschieden. Wenn man sich nicht mit Frankreich geeinigt hat, fährt man zum Gipfel nach Brüssel, und die Verhandlungen dauern und dauern. Und dann beklagen sich die anderen: Warum habt ihr euch nicht vorher geeinigt? Insofern gilt: In Europa geht es nicht ohne Deutschland. Aber es zeigt sich auch, dass wir gut beraten sind, nicht dominieren zu wollen, sondern den Versuch zu machen, uns mit den Franzosen zu einigen, aber auch mit anderen wichtigen Partnern. SPIEGEL: An welche Beispiele denken Sie? Schröder: Nehmen Sie das Abkommen Minsk II: François Hollande und Angela Merkel haben beim Ukraine-Konflikt zusammengearbeitet – dann hat sich etwas 48

DER SPIEGEL 14 / 2015

so hoffen wir, unter keinem Vorwand und in keiner Form wiederkehren.“ Sehen Sie Parallelen zum Verhalten des geeinten Deutschland nach 1990? Schröder: Ja, wir sind inzwischen sogar eher deutsche Europäer als europäische Deutsche. Die Einbindung in die EU gehört zur Staatsräson dieses Landes. Darüber gibt es in unserer Gesellschaft einen breiten Konsens. Insofern ist Deutschland vermutlich das europäischste Land. Deshalb ist es uns auch eher möglich, eine Wirtschaftsregierung in der Eurozone anzustreben, die man ja braucht, wenn die Stabilität der Währung auf Dauer gesichert werden soll, und dafür Souveränitätsverzicht zu üben, als das heute etwa in Frankreich der Fall ist. SPIEGEL: Während die Deutschen also nach der Wiedervereinigung zu Mustereuropäern geworden sind, verfolgen andere

Nationen eher ihre eigenen Interessen. Offenbar gibt es sogar eine Rückkehr des Denkens in Macht- und Einflusssphären wie zu Bismarcks Zeiten. Schröder: In der EU denkt niemand in solchen Kategorien. Niemand in der EU sagt etwa, Serbien gehöre zu unserer Einflusssphäre und müsse daher Mitglied werden. Nur wenn Belgrad Mitglied werden will, gibt es darüber Verhandlungen. Die Europäer haben aus ihrer Geschichte gelernt. Es gibt andere, die das noch vor sich haben. SPIEGEL: Da fällt uns das Vorgehen Ihres Freundes Wladimir Putin gegenüber der Ukraine ein. Schröder: Ich glaube nicht, dass der Ukraine-Konflikt als Beispiel für fehlende Lernbereitschaft genommen werden kann. In diesem Konflikt sind auf allen Seiten Fehler gemacht worden, die dazu geführt haben, dass es zu einer Spirale aus Drohungen, Sanktionen und Gewaltanwendungen gekommen ist. Aus dieser Spirale muss man jetzt wieder herauskommen. Minsk II zeigt, dass alle Beteiligten daran ein Interesse haben und niemand die territoriale Integrität der Ukraine infrage stellt. SPIEGEL: Und warum unterstützt dann Putin die Separatisten im Donbass? Schröder: Ich habe keine Kenntnis, welche Art von Unterstützung dort, übrigens auf beiden Seiten, geleistet wird. SPIEGEL: 2006 haben Sie erklärt, die Ukraine sei ein „selbstständiger Staat, akzeptiert von Russland“. Letzteres würden Sie heute nicht mehr sagen, oder? Schröder: Doch. SPIEGEL: Aber Ukraine minus Krim. Schröder: Es bleibt ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Aber man sollte den Realitäten ins Auge schauen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Krim zur Ukraine zurückkehren wird. Mit dieser Realität muss die europäische Politik umgehen. Und das tut sie ja auch, denn dieses Thema hat in den Verhandlungen von Minsk keine Rolle gespielt. SPIEGEL: Was haben Sie gedacht, als Sie im Fernsehen die russischen Soldaten auf der Krim gesehen haben, die Uniformen ohne Hoheitsabzeichen trugen? Etwa: „Ach Wladimir, du bist aber auch ein schlauer Fuchs“? Schröder: Nein. Ich habe gedacht, was andere auch gedacht haben: Hoffentlich entwickelt sich daraus kein Krieg. SPIEGEL: Sie haben vor einem Jahr auf die Frage, was Sie an Putin schätzen, geantwortet: „Seine Verlässlichkeit. Wenn er Ja sagt, ist ja, wenn er Nein sagt, ist nein.“ Gilt das noch? Schröder: Davon gehe ich aus. SPIEGEL: Die Russen haben 1994 im sogenannten Budapester Memorandum gemeinsam mit Briten und Amerikanern die Integrität der Ukraine garantiert.

FOTOS: BPK (U.); DENIS GRISHKIN / DPA (O.)

Deutschland

Freunde Schröder, Putin im Moskauer Bolschoi-Theater 2001: „Europa braucht Russland …

… und Russland braucht Europa“: Zar Alexander III. (3. v. l.), Reichskanzler Bismarck (2. v. r.)* Schröder: Die Russen haben bekanntlich

zur Krim-Frage eine andere rechtliche Auffassung. Sie sprechen nicht von Annexion, sondern Sezession. Formal betrachtet verstößt ihr Vorgehen gegen das Budapester Memorandum. SPIEGEL: Ein Rückfall in altes Denken? Schröder: Natürlich ist es das alte Denken. Das ist Teil der russischen Gesellschaft. Sie müssen sehen: So lange ist es ja noch nicht her, dass bis zu 30 Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Dass Russland Einkreisungsängste hat,

kann doch nicht fraglich sein. Die sind nicht neu und beziehen sich weniger auf die EU als vielmehr auf die Nato. Ich fand es weitsichtig, dass die Bundesregierung 2008 verhindert hat, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird, wie es die Amerikaner wollten. Dass deren Vorgehen russische Ängste hervorruft, kann man nicht ernsthaft bestreiten. SPIEGEL: Wir meinen mit „altem Denken“ nicht russische Einkreisungsängste, son* Mit Kronprinz Wilhelm II. (2. v. l.) 1887 in Berlin.

dern dass Putin wie ein Herrscher zu Bismarcks Zeiten Teile Osteuropas als seine Einflusssphäre betrachtet. Schröder: Wenn man einem so großen Land wie Russland, das ja etliche Erfahrungen in seiner Geschichte hat machen müssen, mit einem Bündnis, das aus dem Kalten Krieg stammt, so nahe rückt, darf man sich über empfindliche Reaktionen nicht wundern. Vergessen Sie nicht: Mit dem Ende der Sowjetunion hat der Warschauer Pakt aufgehört zu existieren, während die Nato nicht nur weiterbestand, sondern sich erheblich nach Osten ausgedehnt hat. SPIEGEL: Ist Putin nicht vermittelbar, dass die Nato ein Defensivbündnis ist? Schröder: Schwierig. Natürlich ist sie ein Defensivbündnis, und jeder von uns weiß das. Aber Präsident Putin reagiert nicht wie Bismarck, schon weil die Umstände nicht vergleichbar sind. Damals hatte das Deutsche Reich mit Russland, ÖsterreichUngarn und Italien eine Reihe von Mächten als mehr oder weniger zuverlässige Bündnispartner an seiner Seite. Russland steht heute in dieser Hinsicht allein da. Im Grunde ist Russland auf Europa orientiert. Aber die Folge der Ukraine-Krise, auch die Folge der westlichen Politik kann sein, dass Russland sich China zuwendet. Und ein solches Bündnis wäre nicht im europäischen Interesse. SPIEGEL: Wann war der Bruch zwischen Russland und dem Westen für Sie absehbar? Schröder: Das war ein Prozess. Wenn ich mit Putin rede, verweist er darauf, dass Russland große Vorleistungen in der Abrüstungsfrage vollbracht hat. Das sei ihm nicht gedankt worden. Und er sagt: Wir haben akzeptiert, was wir akzeptieren mussten, nämlich die Erweiterung der Nato um vormalige Verbündete der Sowjetunion, ja sogar um ehemalige Sowjetrepubliken. SPIEGEL: … in Ihre Regierungszeit fällt ein Großteil der Nato-Osterweiterung. Schröder: Ja, in der Zeit meines Vorgängers war sie angebahnt, während meiner Kanzlerschaft ist sie vollzogen worden. Wir hatten auch keine Alternative. Deutschland kann den baltischen Staaten und Polen nicht sagen: Ihr dürft nicht Nato-Mitglied werden. Und Putin sagt, das habe Russland auch akzeptiert. Die Schwierigkeiten begannen mit der Präsidentschaft von George W. Bush. Ich erinnere an die Debatte über den Wunsch Georgiens, in die Nato aufgenommen zu werden. Der zweite Punkt war die einseitige Kündigung des ABM-Vertrags durch Washington, eines Abrüstungsvertrages, und in diesem Zusammenhang die Planungen zur Stationierung eines amerikanischen Raketenabwehrsystems – ausgerechnet auch in Osteuropa. Dass diese Systeme die Europäer gegen iranische Angriffe schützen sollten, haben die selbst kaum geglaubt. DER SPIEGEL 14 / 2015

49

Deutschland

SPIEGEL: Sehen Sie eine Spaltung zwischen Amerikanern und Europäern in der Russland-Politik? Schröder: Es gibt kein gemeinsames Interesse des Westens. Die Amerikaner sehen in der Auseinandersetzung mit Russland ein globales Problem. Man will keinen weiteren Konkurrenten neben China. Die Europäer hingegen wissen aus historischer Erfahrung, dass es immer dann gut ging, wenn es einen Ausgleich mit Russland gab, und immer schwierig wurde, wenn der fehlte. Das allerdings wusste schon Bismarck. Für uns handelt es sich also um ein europäisches Problem. SPIEGEL: Das klingt so, als ob nur die Amerikaner Fehler gemacht hätten. Schröder: Der große Fehler der Europäer, auch der Bundesregierung, lag darin, dass sie es zugelassen haben, dass der EU-Kommissionspräsident Barroso nur mit der Ukraine und nicht auch mit Russland über eine EU-Assoziierung verhandelte, obwohl man wusste, dass die Ukraine kulturell ein in sich gespaltenes Land ist: im Osten und Süden eher russisch orientiert, im Westen eher europäisch. Die Einbeziehung Russlands wäre auch ökonomisch sinnvoll gewesen. Dann hätte man schon damals die Frage erörtern können, über die jetzt gesprochen wird: Was passiert mit einer Ukraine, die beides ist – mit der EU assoziiert und Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion. SPIEGEL: In Ihren Erinnerungen haben Sie bereits 2006 geschrieben, Putin wolle „die Rekonstruktion Russlands als Weltmacht, die mit den USA auf gleicher Höhe verhandelt, redet und agiert“. Da war der Konflikt mit dem Westen doch angelegt. Schröder: Warum? Wir Deutschen haben wesentlich dazu beigetragen, dass Russland in die G-7-Gruppe aufgenommen wurde, und wenn man dort miteinander redet, befindet man sich auf dem gleichen Niveau. Leider ist das ja heute wieder vorbei, weil Russland aus der G-8-Gruppe ausgeschlossen wurde.

Schröder: Wir haben ein Interesse daran,

Schröder beim SPIEGEL-Gespräch* „Ich konnte im Stehen schlafen“ SPIEGEL: Hätten Sie das als Kanzler anders gemacht? Schröder: Ja. Es ist doch wie in der Georgien-Krise 2008, als die Gespräche im Nato-Russland-Rat ausgesetzt wurden. Gerade in der Krise sind Gespräche zwingend erforderlich. Außerdem: Was bewirkt ein solcher Ausschluss? SPIEGEL: Es ist ein Zeichen an Putin. Schröder: Aber wohin führt das? Ich gehe davon aus, dass die Ukraine-Krise beigelegt werden kann. Dann werden die Rechnungen für die Stabilisierung der Ukraine kommen, und die werden an die EU und speziell an Deutschland gehen. Spätestens dann wird man doch mit Russland zusammenarbeiten müssen. Man kann so ein Land nicht ausgrenzen. SPIEGEL: Im Augenblick sind wir von einem Ende der Ukraine-Krise weit entfernt, und Putin unterstützt die Separatisten, die ihr Spiel weitertreiben. Schröder: Wie ich die Minsk-Verhandlungen interpretiere, hat die russische Seite sehr wohl geliefert. Sonst wäre Minsk II nicht zustande gekommen. SPIEGEL: Noch verfügen die Separatisten jedenfalls über genügend Waffen, um die Unruhe im Osten der Ukraine zu schüren. Sie haben in Ihren Erinnerungen auch geschrieben, es liege im deutschen Interesse, Putin beim Wiederaufstieg Russlands zu helfen. Warum eigentlich? * Mit den Redakteuren Martin Doerry und Klaus Wiegrefe in Hannover.

dass es kein zerfallendes, sondern ein starkes Russland gibt. SPIEGEL: Aber die Amerikaner sind unsere engsten Verbündeten … Schröder: … das sollen sie auch bleiben … SPIEGEL: … von daher entsprechen unsere Interessen doch denen der transatlantischen Vormacht USA? Schröder: Jetzt gebe ich Ihnen die Frage zurück: Warum eigentlich? Diese Einpoligkeit gibt es wegen der weltpolitischen Rolle Chinas schon nicht mehr. Interessenausgleich ist ein vernünftiger Aspekt jeder denkbaren Außenpolitik. SPIEGEL: Ist der deutsche Handlungsspielraum in einer multipolaren Welt größer? Schröder: Das ist sicher so. Wir haben bekanntlich in der Frage einer Beteiligung am Irak-Krieg 2003 gesagt: Das machen wir nicht mit. Wir haben über diese Frage ein Stück Souveränität in unserer Außenpolitik gewonnen, und die spannende Frage ist jetzt: Gibt man das wieder auf? SPIEGEL: Sie sprechen über das Putin-Regime wie über die amerikanische Demokratie. Schröder: Es geht hier nicht um Fragen der inneren Verfasstheit, sondern darum, wie man Frieden sichert. Nur ein Beispiel: Es ist doch ein Irrtum zu glauben, dass man ohne Beteiligung Russlands auf Dauer im Nahen Osten Frieden schaffen kann. SPIEGEL: Müssen wir uns damit arrangieren, dass Russland, dem eine demokratische Tradition fehlt, niemals eine Demokratie nach westlichem Muster wird? Schröder: Ich glaube, dass diese Chance besteht. Ich bin überzeugt, dass sich Russland auch in dieser Hinsicht weiterentwickeln wird, schon weil es sonst in Europa in einer Außenseiterrolle verharren müsste. Und daran können weder Russland noch der Rest Europas ein Interesse haben. Europa, gerade auch Deutschland, braucht Russland, und Russland braucht Europa. An dieser Tatsache hat sich seit den Tagen Otto von Bismarcks nichts geändert. SPIEGEL: Herr Schröder, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Christoph Nonn Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert C.H. Beck, München 2015; 400 Seiten; 24,95 Euro.

Es ist die bedeutendste Bismarck-Biografie seit Jahren. Der Historiker Christoph Nonn hat ganz Europa und dessen führendes Personal in den Blick genommen. Der Vergleich lässt den einstigen Giganten gehörig schrumpfen. Selbst bei der Reichsgründung 1870/71 war Bismarck nur ein „Akteur unter vielen“. 50

DER SPIEGEL 14 / 2015

Ernst Engelberg Bismarck. Sturm über Europa Siedler, München 2014; 864 Seiten; 39,99 Euro.

Ein Historiker aus der DDR, Ernst Engelberg, hat den Klassiker über Bismarck geschrieben. Das Werk erschien 1985 zeitgleich in Ost- und Westdeutschland und wurde weltweit rezensiert, unter anderem von SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein. Der Sohn Achim Engelberg legt nun eine bearbeitete Fassung vor.

Gabriele Hoffmann Otto von Bismarck und Johanna von Puttkamer. Die Geschichte einer großen Liebe. Insel, Berlin 2014; 399 Seiten; 24,95 Euro.

„Mein süßes Herz Du, komm ja zum Sonntag“, schreibt Otto von Bismarck 1849 aus Berlin an die Gattin Johanna. Die Briefe des Paares bilden das Fundament dieser Biografie, sie zeigen eine fast moderne Ehe und fügen dem Bild des „Eisernen Kanzlers“ eine sympathische Facette hinzu.

FOTO: MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

Neue Bismarck-Bücher