W i l h e l m Korff/Hans-Otto Rebstock

W e r t e - D i s k u s s i o n i n der Theologie der Gegenwart I.

Grundsätzliches: D i e Frage nach dem Glück als Frage nach einer humanen Ethik

Menschliches Glück ist keine Chimäre. Der Mensch ist zu mehr fähig als dem Chaos zu wehren u n d sein bloßes Überleben zu sichern. Es gibt Augenblicke höchsten Glücks. Es gibt erstaunliche Wegstrecken des Gelingens. Es gibt die immer n e u gewonnene Erfahrung geglückter A n t w o r t auf die dem j e w e i l i g e n geschichtlichen Kairos innewohnenden Bedrohungen u n d Chancen. Es gibt das Innewerden letzten Aufgehobenseins. Entgegen aller Verwundbarkeit, Riskiertheit u n d Endlichkeit: Der Mensch ist seinem Wesen, seiner Bestimmung nach glücks­ fähig. D i e Frage nach d e m Glücken menschlichen Daseins ist von der ethischen Frage nicht zu trennen. Der Mensch ist sich selbst aufgegeben. Er muß sein Leben führen. Er muß sich auf Stimmigkeit h i n entwerfen. D a r i n ist zunächst keine Dimension von Glück gegen die andere ausgespielt. Die vielfältigen Aspekte menschlicher Glückserfahrung empfangen ihre ethische Dignität aus ihrer Bedeutung für sinnhaftes menschliches Gelingen. Eben deshalb aber k o m m t i n diesem Zusammenhang alles darauf an, die ethische Fragestellung von vornherein so anzusetzen u n d auszufalten, daß darin der condicio humana i n der V i e l z a h l ihrer Bedingungsfaktoren u n d Bezüge w i r k s a m Rechnung getragen wird. Genau diesen ethischen Zugang hat i n unserem Jahrhundert M a x Weber i m Be­ griff der Verantwortungsethik zu fassen gesucht. Damit ist i n der Tat ein entschei­ dender Durchbruch gelungen. I m Begriff der Verantwortungsethik können erstmals z w e i geschichtlich maßgeblich gewordene, zu völlig unterschiedlichen Ethikver­ ständnissen führende Schlüsselkategorien des Sittlichen als i n sich konsistente Aspekte einer einheitlichen ethischen G r u n d h a l t u n g begriffen werden: die das Feld des bedingten einholende ethische G r u n d h a l t u n g der K l u g h e i t u n d die den Anspruch des Unbedingten sichernde ethische G r u n d h a l t u n g der Pflicht. Was die klassische antike u n d mittelalterliche Ethik i m Begriff der Klugheit als moralisch handlungsleitender Kraft aufdeckt u n d entfaltet, nämlich die stets n e u zu leistende teleologische Strukturierung konkreten sittlichen Handelns, u n d was die Ethik der Neuzeit m i t der Wende zum Subjekt, demgegenüber wesenhaft deontologisch fundiert, nämlich den unabdingbar zu sichernden personalen Bezug sittlichen Handelns, gewinnt erst i m Begriff der Verantwortung seine innere Zuordnung. Dem Unbedingtheitsanspruch des Personalen gerecht werden, bedeutet gleich­ zeitig, der Bedingtheit dieses Personalen Rechnung tragen. Den Menschen als Person verantworten, heißt zugleich, das tatsächliche Feld seiner naturalen u n d geschichtlichen Voraussetzungen m i t ihren je konkreten Chancen u n d Grenzen i n V e r a n t w o r t u n g nehmen. Weber selbst kommt zu diesem Begriff der Verantwortungsethik auf der Suche nach einem tragfähigen Neuansatz für eine politische E t h i k . Erst i m politischen Handeln, i n dem es u m die vielen geht u n d damit u m das Glück des Menschen i n seinen sozial übergreifenden Bedingungen, gewinnt die ethische Frage ihre ganze Zuschärfung, müssen Lösungen gefunden werden, die der Komplexität miteinander konkurrierender Güter, Interessen u n d Z u m u t u n g e n gerecht werden. Das aber erscheint n u r verantwortungsethisch möglich. Den Kontrast hierzu findet Weber i n 1

1 M . Weber, Politik als Beruf (1919). In: M. Weber, Gesammelte Politische Schriften. München 1921

53

dem ethischen Utopismus politischen Schwärmertums jeglicher Provenienz, d e m es zwar nicht an Lauterkeit der Gesinnung, w o h l aber a n moralischem Realitätssinn mangelt. Er kennzeichnet diese sich über d i e komplexe Verpflichtungsstruktur der W i r k l i c h k e i t hinwegsetzende utopistische Handlungseinstellung als Gesinnungs­ ethik. Demgegenüber sieht er verantwortungsethisches H a n d e l n gerade dadurch q u a l i f i ­ ziert, daß es sich nicht der Realität verweigert u n d sie verdrängt, sondern i n sie z u übersetzen u n d i n i h r zur Entfaltung zu b r i n g e n sucht, was d i e Gesinnungsethik m i t i h r e m Griff nach d e m „Unmöglichen" ohne weitere V e r m i t t l u n g a n deren Stelle setzen zu können glaubt. A u c h Verantwortungsethik ist sonach alles andere als gesinnungslos. Ja sie n i m m t es nicht n u r an gutem W i l l e n , an Lauterkeit der Absicht m i t der Gesinnungsethik auf, sondern auch m i t deren zukunftsgerichteter, innovatorischer Kraft. Was sie i m m e r n e u über sich hinaustreibt, ist der Unbedingtheitsanspruch des Personalen als Unbedingtheitsanspruch seiner Zukunftsgestalt. Genau dies einzulösen aber verlangt nicht n u r Leidenschaft, sondern auch A u g e n ­ maß. Verantwortungsethik ist „Kunst des Möglichen" u n d „Kunst des Unmög­ l i c h e n " zugleich. Hieraus g e w i n n t sie i h r e moralische Überlegenheit gegenüber jedem gesinnungsethischen Utopismus. Es ist die mißachtete Verpflichtungsstruktur der W i r k l i c h k e i t , die diesen l e t z t l i c h i m m e r n e u ins Unrecht setzt. Damit ist zunächst die verantwortungsethische G r u n d h a l t u n g eindeutig als d i e ethisch reifere ausgewiesen. Gerade die Tatsache aber, daß Weber sie hier v o n dem i h r entgegengesetzten moralischen Grundtypus der Gesinnungsethik her erschließt u n d näher z u bestimmen sucht, macht noch e i n weiteres deutlich. D i e Vernunft sittlichen Handelns i s t n i c h t schon dadurch gewährleistet, daß sie sich höchsten ethischen Idealen verschreibt. W o i m m e r u m die Einlösung zentraler Zielwerte unseres Daseins gerungen w i r d , handle es sich n u n u m die Sache des Menschen, d i e Sache der Natur oder die Sache des Friedens, darf d i e Gegenwart nicht der Zukunft geopfert werden. A u c h der W e g muß bereits Vorgriff, Inchoativ der Erfüllung sein. Das Prinzip Hoffnung i s t keine zureichende ethische M a x i m e , der Mensch b l e i b t sich immer auch i m Heute aufgegeben. Die ethische Leistung ist sonach wesenhaft synthetische Leistung, normativ umfassende A n t w o r t auf die jeweils gegebenen Konditionen sinnhaften menschlichen Gelingens. Genau dies ist i m Begriff der Verantwortungsethik angezielt. Solche Anspruchsgestalt menschlichen Handelns ist dennoch keineswegs selbst­ verständlich u n d bietet sich nicht schon v o n vornherein als die eingängigste an. Sie fordert e i n Höchstmaß a n Komplexitätsbereitschaft. Sie muß der Tatsache Rechnung tragen, daß differenzierte Handlungskonstellationen entsprechend diffe­ renzierte A n t w o r t e n verlangen, daß sich Gewißheit über den richtigen W e g nicht selten n u r annäherungsweise, i m Sinne moralischer Gewißheit, erreichen läßt, u n d daß selbst b e i zureichender Klarheit über das anzustrebende Z i e l dies vielfach n u r unter gleichzeitiger Inkaufnahme v o n Übeln v e r w i r k l i c h t werden kann. Entschei­ dungsnot u n d Entscheidungszumutung gehören zur Signatur menschlichen H a n ­ delns. Eben dies auf sich zu nehmen u n d i n der V i e l f a l t der Entscheidungssituationen z u entsprechenden konstruktiven, aus affirmativer Grundeinstellung erwachsenden Lösungen zu gelangen, stellt nicht n u r Anforderungen a n die Vernunft, sondern airch an das psychische Potential des Menschen. Verantwortungsethisches H a n d e l n i m p l i z i e r t zugleich emotionale Reife. Hier, i m psychisch-emotionalen Feld liegt offensichtlich die Hauptschwierigkeit für d e n Menschen, eine Persönlichkeitsstruk­ tur, zu e n t w i c k e l n , die i h n zu versprechenden, ethisch p r o d u k t i v e n Handlungsein54

Stellungen u n d Problemlösungsstrategien befähigt. Unter dieser Voraussetzung muß sich aber auch die ethische Frage selbst zur Frage nach i h r e n bis i n mögliche psychische Dispositionen hineinreichenden defizitären Deutungs- u n d Erschei­ nungsformen ausweiten. Eine solche defizitäre Erscheinungsform des Ethischen hat M a x Weber i m Begriff u n d i n der Sache der Gesinnungsethik namhaft z u machen gesucht. M i t i h r ist jener ethische Formenkreis gekennzeichnet, der d i e Möglichkeit menschlichen Gelingens aus einer r a d i k a l e n Negation gegenwärtiger Lösungswege u n d aus einer einschränkungslos einzufordernden Zukunftsgestalt des H u m a n e n zu bestim­ m e n sucht. Angesichts des großen ethischen Ernstes, m i t d e m d i e Gesinnungsethik diese Zukunftsgestalt des H u m a n e n reklamiert, muß sie der V o r w u r f des Defizitä­ ren zweifellos besonders schwer treffen. I n der Tat bedarf es d e n n auch innerhalb dessen, was Weber i n diesem Begriff zusammenfaßt, noch sehr v i e l genauerer Differenzierung. W i r werden darauf zurückkommen müssen. Doch unabhängig davon b l e i b t zunächst generell festzustellen, daß der gesinnungsethische Formen­ kreis i n Wahrheit keineswegs der einzige ist, der sich gegenüber der Verantwor­ tungsethik als mögliche defizitäre Erscheinungsform abzeichnet. So fügt bereits Werner Schöllgen der gesinnungsethischen Variante eine weitere, dieser konträr entgegengesetzte h i n z u : die Erfolgsethik. M i t i h r reduziert sich der Anspruch des Ethischen umgekehrt n u r mehr noch auf das machiavellistische Kalkül des Erfolgs, auf die kühle M a x i m i e r u n g i n d i v i d u e l l oder k o l l e k t i v ausgelegten Nutzens. Eine E t h i k ohne Zukunftsdimension. V o n hier aus sucht Schöllgen jetzt Verantwor­ tungsethik „als die rechte M i t t e zwischen d e m Utopismus radikaler Gesinnungs­ e t h i k u n d d e m Zynismus machiavellistischer Erfolgsethik" zu bestimmen. 2

Doch selbst damit ist das Feld der defizitären Gestaltkreise des Ethischen keines­ wegs ausgeschritten. Verantwortungsethik bestimmt sich i n Wahrheit noch weitaus komplexer. Es gibt das Phänomen der Gesetzesethik, d e n Legalismus. Er hat m i t dem utopischen Überschwang der Gesinnungsethik so w e n i g gemein w i e m i t dem alles verrechnenden Geist der Erfolgsethik. Er läßt n u r eines gelten, den ethischen Anspruch definierter O r d n u n g . Zweifellos spricht sich auch d a r i n e i n elementares Bedürfnis aus: U b i n o n est ordo, i b i est confusio, (Wo es k e i n e O r d n u n g gibt, herrscht d i e V e r w i r r u n g ) . Der Mensch braucht Sicherheit, Klarheit, Eindeutigkeit. Er w i l l d i e W e l t geregelt wissen. Erst das Gesetz bannt das Chaos. - M i t dem Gesetz bietet sich i n der Tat eine enorme Entlastung an. Es befreit den einzelnen von der N o t immer neuer Entscheidungszumutungen. Es verspricht Eindeutigkeit m a n weiß, woran m a n ist - u n d bewahrt damit vor Identitätsdiffusion. I n eben dieser durchgängig geordnet vorgestellten Welt richtet sich der Legalist ein. Es ist die Welt einer M o r a l , die keine Zweifel mehr zuläßt u n d i n der alles nahtlos auf­ zugehen scheint. Mögliche Konflikte sind bereits kasuistisch aufgeschlüsselt u n d vorweggeregelt oder autoritativ gelöst. Gewissenskompetenz reduziert sich auf p e i n l i c h genaue Erfüllung des v o m Gesetz Geforderten. Der Legalismus erweist sich als e i n System perfekter Rechtfertigung u n d E x k u l p i e r u n g . Wo immer darüber hinaus auch noch e i n religiöser Anspruch ins Spiel kommt, w i r d dieser vollständig integriert. Die religiöse Überzeugung sprengt i n diesem Fall das Gesetzesdenken nicht auf, sondern dient seiner Überhöhung: Der W e g des Gesetzes avanciert z u m Heilsweg. Es l i e g t auf der H a n d , daß hier e i n verengter moralischer Realitätsbezug vorliegt. Gesetze können ihrer Natur nach nur Allgemeines regeln, eben das, was sich i n der V i e l f a l t wiederkehrender Handlungskonstellationen als generalisierbar er2

W. Schöllgen, D i e soziologischen G r u n d l a g e n der katholischen Sittenlehre. Düsseldorf 1953, S. 91 - 98

55

weist. V o n daher verbietet es sich, die sittliche Vernunft menschlichen Handelns ausschließlich v o m Gesetz her z u bestimmen. Gesetze vermögen weder d e n A n ­ spruch des I n d i v i d u e l l e n , noch d e n des Situativen, noch d e n des Innovatorischen i n sich zu fassen. Sie müssen sonach, w i e die anderen Anspruchsaspekte auch, einer sie tragenden letzten Legitimationsinstanz unterworfen bleiben, d i e sie auf ihre j e w e i l i g e Sinn- u n d Sachgerechtigkeit z u überprüfen hat: der Vernunft des handelnden Subjektes selbst. Verantwortliches H a n d e l n ist als solches a n k e i n Gesetz delegierbar. I n a l l d e m stellt sich n u n aber die Frage, was solch gravierende Engführungen i m sittlichen HandlungsVerständnis, w i e sie i n den bisher a u f g e z e i g t e n defizitären ethischen Formenkreisen zutage treten, psychosozial überhaupt möglich macht. Welcher A r t also die darin vorwaltenden j e besonderen psychogenetischen Dispo­ sitionen sind, aus denen sie erwachsen. D a m i t sehen w i r uns auf entsprechend weitreichende g e n u i n tiefenpsychologische Differenzierungen verwiesen, d i e uns i n diesem Zusammenhang v i e l l e i c h t klärend weiterhelfen u n d uns z u einer neuen Sichtweite der D i n g e führen können. Da ist zunächst festzustellen, daß sich die bereits v o n Freud entdeckte zwanghafte Neurosenstruktur d e m skizzierten Typus der Gesetzesethik, d e m Legalismus, gera­ dezu fugenlos zuordnen läßt. D i e legalistische Einstellung zeigt i n der Tat alle Symptome der psychischen Regressionsform des Zwanghaften: unverhohlenes Mißtrauen i n d i e eigene Entscheidungskraft u n d e i n überwertiges Sicherungsbe­ dürfnis, das jede Risikobereitschaft u n d jede Hingabefähigkeit z u lähmen droht. Selbstaufgegebenheit w i r d als Bedrohung empfunden. Freiheit schafft Angst. Das, was der eigenen Existenz i m sozialen M i t e i n a n d e r a l l e i n H a l t gibt, ist die über­ greifende Strenge perfektionistisch zu handhabender Reglements. I n deren Ge­ folge: Härte gegen sich u n d andere, Pedanterie, Skrupelhaftigkeit, Fanatismus. Tief versehrende frühkindliche durchlittene Angst vor Liebesentzug u n d gegebe­ nenfalls entgegenschlagendem destruktivem Haß mobilisieren hier, ins Unbewußte verdrängt, perfektionistische Handlungseinstellungen, u m d i e erstrebte, auf keine andere Weise z u erreichende soziale Akzeptanz zu sichern. Eben hieraus läßt sich zunächst eine elementare Einsicht g e w i n n e n . Es besteht e i n grundsätzlicher Zusammenhang zwischen sittlicher H a n d l u n g s e i n s t e l l u n g u n d psychischer Disposition. Daraus ergibt sich zugleich, daß es b e i entsprechenden psychosozial b e d i n g t e n Formen der Versehrung zu entsprechenden Verkürzungen u n d Engführungen i m ethischen Zugangsverständnis zur W i r k l i c h k e i t k o m m e n k a n n . Es g i b t ohne j e d e n Z w e i f e l neurotisch imprägnierte Erscheinungsformen des Ethischen. Z u eben diesen zählt die der spezifisch zwanghaften Neurosenstruktur zuzuordnende ethische Erscheinungsform des Legalismus. Deshalb b l e i b t i m Z u ­ sammenhang unserer Fragestellung z u prüfen, w i e w e i t dies darüber hinaus i n entsprechender Weise auch für die übrigen bisher aufgezeigten defizitären ethischen Formenkreise gilt. Dabei ist davon auszugehen, daß die Psychoanalyse neben der zwanghaften N e u ­ rosenstruktur d r e i weitere, voneinander abgrenzbare Neurosenstrukturen kennt, die schizoide, d i e hysterische u n d die depressive. Sucht m a n n u n nach einer der schizoidautarken Persönlichkeitsprägung am ehesten entsprechenden ethischen Vejhaltenseinstellung, so w i r d m a n i n i h r z u einem wesentlichen T e i l das wieder­ finden, was Schöllgen unter d e m zusammenfassenden Begriff der Erfolgsethik i m Machiavellismussyndrom beschreibt. Demgegenüber w i r d m a n d i e realitätsfeind­ l i c h ausgerichtete hysterische Persönlichkeitsprägung zweifellos d e m Strukturtypus der utopistischen Gesinnungsethik zuordnen müssen. Für die vierte v o n der 56

Psychoanalyse ausgegrenzte Regressionsform, nämlich für die v o n einem tiefen M a n g e l an Selbstwertgefühl u n d v o n der Tendenz zur Selbstaufgabe bestimmte depressive Neurosenstruktur, haben w i r allerdings bisher noch k e i n entsprechen­ des ethisches Pendant genannt. Doch läßt sich dieses jetzt i m Begriff des Fatalis­ mus leicht ausmachen. Fatalismus ist nicht n u r e i n grundlegendes M e r k m a l der Depression, sondern kennzeichnet ebenso auch d i e solch depressive Einstellung ethisch rechfertigende H a l t u n g . Es g i b t den Strukturtypus einer auf Auslöschung aller Eigenaktivität gerichteten, v o n V e r w e i g e r u n g u n d Rückzug bestimmten Schicksalsethik. 3

M i t dieser fundamentalen Ausgrenzung unterschiedlicher ethisch defizitärer Form­ kreise u n d d e m Aufweis ihrer entsprechenden psychischen Dispositionen ist für die ethische Frage selbst zweifellos entscheidend Neues gewonnen. Es g i b t sowohl i n d i v i d u e l l e als auch soziokulturelle, durch Neurosenstrukturen disponierte, sich genuin sittlich verstehende Handlungseinstellungen, die i n Wahrheit die Chancen menschlichen Glückens ethisch eher h i n d e r n als fördern. Z u r ethischen Aufklärung gehört sonach auch die Aufklärung über mögliche neurotisch bedingte Fehldeu­ tungen des Ethischen selbst. U n d dies u m so mehr, als hier nicht selten eine unge­ heure Fülle v o n Rationalisierungsstrategien solchen Fehldeutungen den Schein der Wahrheit verleihen können. Unter dieser Voraussetzung b l e i b t f r e i l i c h die Frage, ob h i e r z u die bisher einge­ brachten Differenzierungen u n d Zuordnungsbeschreibungen nach den vier ge­ nannten ethischen Formkreisen u n d d e n i h n e n entsprechenden Neurosenstruktu­ ren schon genügen. Dabei wäre i m H i n b l i c k auf d i e spezifisch psychoanalytische Problemstellung anzumerken, daß die hier v o n uns rezipierte Typologie der Neuro­ senstrukturen für die Psychoanalyse bis heute Gültigkeit hat. U n d zwar unbescha­ det der Tatsache, daß die Psychoanalyse i m Verlauf ihrer historischen E n t w i c k l u n g von der Triebpsychologie über d i e Ichpsychologie zur Beziehungspsychologie noch weitere zusätzliche begriffliche Instrumentarien u n d Interpretationsmodelle zur Verfeinerung ihrer Diagnostik u n d Therapie ausgebildet hat. A u f diese braucht deshalb nicht eigens Bezug genommen z u werden, w e i l das d a r i n zusätzlich Er­ kannte u n d zutage Geförderte a n eigenständigen Strukturaspekten i m Neurosen­ verständnis i n die heutige Beschreibung der genannten Hauptneurosenstrukturen eingegangen ist. So b l e i b t also i m Rahmen unserer übergreifenden Problemstel­ lung, i n der es wesentlich u m die Bestimmung ethischer Prämissen menschlichen Gelingens geht, vor a l l e m z u prüfen, w i e w e i t die vorgenommene Ausgrenzung nach vier ethisch defizitären Formkreisen tatsächlich trägt, was i h n e n i m einzelnen von den aufgezeigten neurotischen Strukturen her korrespondiert u n d was i n die­ sem Zusammenhang noch a n weiteren Bestimmungen u n d Differenzierungen einzubringen ist. Besonders k o m p l e x scheinen d i e Dinge i m Bezug auf d e n ethisch defizitären Form­ kreis der Erfolgsethik z u liegen. Erfolgsethik deckt gleich e i n ganzes, ethisch nochmals sehr unterschiedlich zu gewichtendes Spektrum defizitärer Verhaltens­ einstellungen ab: Es reicht v o n der rigiden Form eines generellen, menschen­ verachtenden Zynismus, über d i e n u r der eigenen Gruppe verpflichtete Skrupellosigkeit des Chauvinismus, über den Opportunismus, m i t seiner bedenkenlosen 3

D e n H i n w e i s auf d e n Fatalismus a l s möglicher vierter defizitärer Erscheinungsform des Ethischen verdanke i c h m e i n e m wissenschaftlichen Mitarbeiter F . Simmler. Ebenso k a m von i h m a u c h d i e Vermutung, daß z w i s c h e n d e n genannten Hauptneurosenstrukturen und d e n vier ethisch defizitären Formkreisen gegebenenfalls generelle Zusammenhänge bestehen könnten. Dies hat die weiterfolgenden Überlegungen entscheidend bestimmt. Zur psychoanalytischen Neurosenlehre vgl.: H . S c h u l t z - H e n c k e , L e h r b u c h der analytischen Psychotherapie. Stuttgart 1951; F . Beese, Der Neurotiker u n d die Gesellschaft. München 1974; F . R i e m a n n , Grundformen der Angst. MünchenB a s e l 1 9 6 5 S. Elhardt, Tiefenpsychologie. E i n e Einführung. Stuttgart 1971, 1 8 0 2

;

7

57

Anpassungsbereitschaft u m des eigenen Vorteils w i l l e n , - den Pragmatismus, der von reinen Effizienzgedanken des Sachlich-Funktionellen bestimmt bleibt, - d e n Utilitarismus, der mögliche ethische Werte u n d Ideale zwar nicht negiert, sie aber nur soweit berücksichtigt, als sie sich i n das eigene Nützlichkeitsdenken e i n b i n ­ den lassen, - bis h i n z u m Sozialeudaimonismus, der d e n v o n i h m sozioutilitär gefaßten ethischen Anspruch auf „das größtmögliche Glück der größtmöglichen Z a h l " reduziert. Die Reihung zeigt zugleich e i n i n d e n möglichen Ausfaltungen der Erfolgsethik liegendes zunehmendes Gefälle zur V e r a n t w o r t u n g s e t h i k h i n . M a n k a n n hier also durchaus v o n einer abnehmenden Defizienz sprechen. Dennoch läßt sich e i n sie von der Verantwortungsethik grundsätzlich Unterscheidendes u n d i h n e n p r i n z i ­ p i e l l Gemeinsames erkennen: d i e machiavellistische G r u n d o p t i o n für Erfolg. Wo immer aber Erfolg zur exklusiven H a n d l u n g s m a x i m e w i r d , mögen sich n u n i n d i v i ­ duelle oder k o l l e k t i v e Zielvorstellungen m i t i h m verbinden, weist er auf eine zentrale Fehlmotivation zurück: auf eine ganz u n d gar auf sich selbst zentrierte Welt. Genau das aber entspricht jener Verhaltenseinstellung, die die Psychoana­ lyse i m Phänomen der schizoiden Neurosenstruktur beschreibt: „Ich k a n n m i c h auf niemanden verlassen als auf m i c h selbst". W i r haben es hier also m i t einer der zwanghaften Verhaltenseinstellung des Legalismus affektiv geradezu konträr entgegengesetzten Einstellung z u tun. Während der Zwanghafte völlig außengelei­ tet reagiert - „Ich k a n n m i r selbst n i c h t trauen, i c h k a n n m i c h n u r auf eingespielte Rituale verlassen" - lebt der Schizoide ausschließlich v o m Rückgriff auf sich selbst. Sein Lebensgrundgefühl ist Mißtrauen schlechthin, das seiner Genese u n d deshalb auch seinem Umfang nach noch ursprünglicher u n d umfassender angelegt ist als b e i m Zwanghaften. Es erstreckt sich nicht n u r auf das unmittelbar zwischen­ menschliche Geschehen, sondern auch auf d i e Institutionen, j a auf d i e Beziehung zur W i r k l i c h k e i t überhaupt. D i e W e l t insgesamt w i r d als u n - h e i m l i c h , unberechen­ bar, bedrohlich empfunden. Sie nötigt zu ständigem emotionalen Rückzug. Unter den möglichen psychischen Versehrungen ist d i e schizoide die schwerste u n d ' a m tiefsten wurzelnde. Sie hat ihren U r s p r u n g i n basalen sensorischen Entfaltungsstö­ rungen der frühesten Kindheit, die entweder d u r c h gänzliche Versagung oder durch e i n überflutendes Z u v i e l an sensitiver Z u w e n d u n g oder aber durch einen ständigen unberechenbaren Wechsel zwischen A b w e n d u n g u n d Z u w e n d u n g verur­ sacht sind. Hieraus resultiert jenes v o n Mißtrauen beherrschte irritierte W i r k l i c h ­ keitsverhältnis u n d eine daraus zwangsläufg erwachsende „Verständigungskluft zur W e l t " , die den Schizoiden i m m e r n e u auf sich selbst zurückwirft. D e m ent­ spricht auf der zwischenmenschlichen Ebene seine extreme Kontaktlabilität, i n t i m e Direktheit wechselt hier abrupt m i t mißtrauischer A b k e h r . Das einzig Verläßliche erscheint i h m a m Ende n u r er selbst. Deshalb w i l l er v o n niemandem abhängig u n d auf niemanden angewiesen sein. Den von der W e l t ausgehenden Bedrohun­ gen muß durch möglichst rationale, objektiv gesicherte Verfahren entgegengesteu­ ert, der M a n g e l an Gefühlssicherheit durch eine a m Kalkül des Erfolgs orientierte machiavellistische Lebenstechnik ersetzt werden. Dieser Regressionsprozeß setzt sich zwangsläufig bis i n die Auslegungen des ethischen Anspruchs selbst h i n e i n fort, so daß das K r i t e r i u m des Erfolgs schließlich zur Schlüsselkategorie sittlichen Handelns überhaupt w i r d . 4

N u n besteht freilich k e i n Zweifel, daß auch eine der machiavellistischen H a n d ­ lungsorientierung nachdrücklich entgegengerichtete, d e m Anspruch des Persona­ l e n verpflichtete Verantwortungsethik den dort ins Z e n t r u m gerückten Erfolgsge4

S. Elhardt, Tiefenpsychologie, a. a. O., S. 107

58

danken keineswegs schlechthin außer sich läßt, sondern vielmehr als ein d e m personalen Grundanspruch u n d seiner Einlösung zuzuordnendes intentionales M o m e n t integriert. Schon die klassische antike u n d mittelalterliche Ethik bestimmt vergleichsweise das bonum, das sittlich Gute, nicht n u r durch den i h m i n n e w o h ­ nenden Anspruch des honestum, des Ehrenhaften, sondern darüber hinaus eben auch d u r c h d i e i h m d a r i n zugleich zukommende Qualität des delectabile u n d des utile, des Beglückenden u n d des Nützlichen. A u c h hier erscheint das i m Nütz­ l i c h e n hegende M o m e n t des Erfolgs also keineswegs als e i n a p r i o r i Unethisches, sondern b l e i b t durchaus i m V o l l z u g des Guten selbst immer schon mitangelegt. Verantwortungsethisch übersetzt bedeutet dies: d e n Menschen als Person verant­ w o r t e n i m p l i z i e r t zugleich die Pflicht, seine reale Entfaltung nach Maßgabe des Möglichen z u optimieren. 5

D a m i t aber w i r d e i n m a l mehr deutlich, daß die eigentlich verantwortungsethische Leistung der sittlichen Vernunft eine genuin synthetische Leistung ist. Gerade w e i l Verantwortungsethik wesenhaft auf die Entfaltung u n d V e r w i r k l i c h u n g mensch­ l i c h e n Personseins ausgerichtet ist, darf aus d e m d a r i n gesetzten Anspruch des Ethischen das M o m e n t des Erfolgs sittlich ebensowenig herausgefällt werden w i e das i m Legalismus einseitig angesetzte M o m e n t der O r d n u n g u n d das i m Utopis­ mus ebenso einseitig reklamierte des Entwurfs. Dasselbe g i l t n u n aber auch für die v o m Fatalismus z u m einzig Wesentlichen erhobene Erfahrung der Endlichkeit. Verantwortungsethik darf sich der darin geltend gemachten elementaren Wahrheit der Kontingenz j e g l i c h e n menschlichen Bemühens keineswegs entziehen. W o h l aber w i r d sie deshalb n i c h t schon E n d l i c h k e i t m i t Sinnlosigkeit gleichsetzen, w i e dies der Fatalismus tut, der d a m i t alles Seiende seines vitalen u n d eben d a r i n i n Wahrheit seines j e u n d j e über sich hinausweisenden Sinns beraubt. I n der Tat l i e g t hier die eigentliche Differenz der Verantwortungsethik zur fatalistischen Handlungsorientierung. Fatalismus zielt auf schlechthinnige Degradierung, Enthoffnung, Entwertung, j a auf das Absterben jedes eigenen Aktivitätspotentials: „Von m i r her ist alles vergeblich. I c h b i n n i c h t mehr wert als m i r ohne m e i n Z u t u n zugeteilt w i r d . " W e n n es z u den konstitutiven Bestimmungen menschlichen Daseins gehört, daß der Mensch sein Leben führen u n d aus sich selbst herausarbeiten muß, so sucht der Fatalist gerade d e m resignierend auszuweichen. Es mangelt i h m elementar a n g e n u i n sinnerschließendem W i l l e n u n d entsprechendem sich daraus nährendem Selbstvertrauen u n d Selbstwertgefühl. * Für eine solche Einstellung aber, d i e d i e realen Chancen menschlichen Gelingens gleichsam immer n e u emotional u n t e r m i ­ niert, i n d e m sie aller Hoffnung der W i r k l i c h k e i t v o n vornherein V e r g e b l i c h k e i t unterstellt, läßt sich Plausibilität w i e d e r u m k a u m v o n der Vernunft dieser W i r k ­ l i c h k e i t selbst, w o h l aber v o n d e m besonderen Lebensschicksal u n d Lebensaufbau des Fatalisten her erweisen. Psychoanalytisch handelt es sich h i e r b e i u m unbewußt fortwirkende, i n der frühkindlichen oral-kaptativen, aber oft auch i n der analen u n d motorisch-aggressiven Phase erlittene Defizite a n Erlebnissen der Fülle u n d Sättigung, an lustvoller, unbekümmerter Expansion u n d Besitznahme. Der u r ­ sprüngliche vitale Zugriff ist i m wörtlichen Sinne „verleidet". Jeder weitere Z u ­ gang zur W i r k l i c h k e i t b l e i b t v o n dieser Grunderfahrung der E n t m u t i g u n g beglei­ tet. I m Fatalismus als genereller Lebenseinstellung w i r k t das ganze Gewicht einer i n i h r e n eigenen Möglichkeiten zurückgedrängten, niedergeschlagenen frühkindli­ chen E n t w i c k l u n g fort. Die dort erlittenen Versagungen an Eigenaktivität führen zwangsläufig z u entsprechend depressiv gestimmten Lebensentwürfen u n d Bewäl5

T h o m a s v o n Aquin, S u m m a Theologiae II - II, 145, 3. T h o m a s nimmt hier die von Ambrosius über C i c e r o b i s h i n z u Aristoteles zurückreichende Argumentation auf (Aristoteles, N i k o m . E t h i k II, 1105, a, 1)

59

tigungsstrategien. Es dominiert das Gefühl der Abhängigkeit. V o n daher zugleich die Tendenz z u symbiotischer A n k l a m m e r u n g , z u Gefügigkeit u n d Unterwerfungs­ bereitschaft bis h i n zur Selbstpreisgabe. Andererseits ruft das gerade d a r i n u m so stärker hervortretende Gefühl des Mangels an Selbstwert u n d Eigenständigkeit gebieterisch nach Kompensation, für die sich i m wesentlichen zwei Lösungsmöglichkeiten erkennen lassen: d i e gegen­ läufige des Ressentiments u n d d i e überhöhende der Ideologie. Ressentimentbe­ stimmt ist der Rückzug i n illusionäre Wunschwelten, das Abfangen des Leidens­ drucks durch Tagträumereien, Introjektionen u n d Erwartungshypertrophien, aber auch das mögliche Ausweichen i n d i e Sucht. I n diesem F a l l w i r d die Droge z u m M i t t e l , das niedergebrachte Selbstgefühl künstlich aufzurichten, „Verwöhnungsin­ s e l n " z u schaffen, die die eigene Versagersituation bewältigen lassen. Der d a m i t verbundene Preis weiterer Selbstzerstörung läßt dabei die W e l t n u r noch mehr ins Unrecht rücken. Aus eben dergleichen, v o n tiefem Ressentiment erfüllten Hoff­ nungslosigkeit vermag sich letztlich auch der Impuls zur äußersten auf Befreiung zielenden Verzweiflungstat zu nähren: die Bereitschaft z u m Suizid. 6

Sehr v i e l konstruktiver für die Kompensation u n d Bewältigung depressiv gestimm­ ter Lebensbedingungen u n d d a r i n zugleich auch kulturfähiger n i m m t sich demge­ genüber der W e g ihrer ideologischen Überhöhung aus. D i e Psychoanalyse spricht i n diesem Zusammenhang v o n „depressiver Ideologie". Der das H a n d e l n des Depressiven bestimmende M a n g e l a n Selbstbewußtsein, E i g e n d y n a m i k u n d ex­ pansiver Kraft g e w i n n t über entsprechend gegebene soziale Verhältnisse u n d diesen zugepaßte Daseinsdeutungen u n d Weltauslegungen eine moralische Auf­ w e r t u n g u n d w i r d so zur T u g e n d stilisiert. H i e r eröffnet sich e i n ganzer T u m m e l ­ platz v o n Bescheidenheits- u n d Genügsamkeitsideologien, v o n fatalistischen U n terwerfungs- u n d Verzichtsmoralen, v o n Lustfeindlichkeit u n d Gehorsamsfetischis­ mus, m i t denen sich der Depressive moralische Überlegenheit verschaffen z u kön­ n e n meint. Nietzsche hat dieses auf Regression der Antriebskräfte ausgelegte fatalistische Sittlichkeitsverständms b e k a n n t l i c h i m Begriff der „Sklavenmoral" z u entlarven gesucht. M i t Recht erkennt er zugleich vieles v o n dem gerade auch i n den k o n k r e t e n geschichtlichen Ausformungen christlichen Sittlichkeitsverständnis­ ses wieder. Dennoch geht er sicher fehl, w e n n er i n diesem Zusammenhang auch das urspriinliche v o m Schöpfungsgedanken getragene u n d v o m Anspruch der Liebe bewegte jesuanische Hochethos selbst d e m Typus der Sklavenmoral zuord­ net. D i e M o r a l Jesu ist eine M o r a l kämpferischer Liebe, d i e jeder M o r a l passiver Schicksalsergebenheit u n d Subordination i h r e m Wesen nach entgegengesetzt ist. 7

D u r c h dominant schicksalsethische Vorstellungen bestimmt ist vielmehr jene v o m Späthellenismus geprägte Welt, i n d i e das Christentum eintritt. Dies g i l t insbeson­ dere i m H i n b l i c k auf die wirkmächtigste der antiken Ethiken, für die E t h i k der Stoa. K e r n p u n k t ist hier d i e Lehre v o n der Ataraxis, der Gelassenheit. N u r m i t i h r vermag der Mensch die Freiheit seines Selbstbesitzes i n den unverfügbaren Schicksalszusammenhängen des Lebens zu wahren. D a r i n erhebt sich d i e stoische E t h i k zugleich wesentlich über jede bloße Sklavenmoral. I h r Thema ist das G e l i n ­ gen des Lebens als Gelingen der Freiheit. Z u g l e i c h aber entfaltet sie dies auf d e m H i n t e r g r u n d einer zutiefst fatalistischen Grundstimmung. Stoisches Ethos versteht sich als Überlebenstechnik menschlicher Freiheit i n einer unberechenbar erschei­ nenden, v o n Größe u n d Tragik, v o n G e l i n g e n u n d Vergehen d u r c h w i r k t e n über­ menschlichen Welt. Die Freiheit menschlichen Daseins w i r d durch Gleichmut u n d 6

S-. Elhardt, Tiefenpsychologie, a. a. O., S. 115

7

S. Elhardt, ebenda, S . 114

60

Gelassenheit unangreifbar. Selbst der Unausweichlichkeit des Sterbens gegenüber vermag der Mensch noch diese Freiheit wahrzunehmen. Er k a n n gelassen über sein Leben verfügen, es l i e g t i n seiner H a n d : Porta patet, exi, (Das Tor steht offen, gehe hinaus.) Eben damit aber w i r d der auf das G e l i n g e n des Lebens als G e l i n ­ gen der Freiheit ausgerichtete qualitative Freiheitsbegriff l e t z t l i c h doch w i e d e r u m preisgegeben u n d auf den Begriff formaler Verfügungsgewalt reduziert. Es wider­ spricht der sittlichen Vernunft menschlicher Freiheit, d e m sinnlos Erscheinenden des Lebens z u irgendeinem Z e i t p u n k t Endgültigkeit beizulegen u n d so das Dasein zur r e i n e n Disposition zu stellen. Was auf d e m H i n t e r g r u n d der Ausweglosigkeit u n d V e r z w e i f l u n g des einzelnen tragisch verlaufenden Lebensschicksals versteh­ bar erscheinen mag, darf nicht zur sittlichen Tat überhöht werden. Dies g i l t letzt­ l i c h auch i m H i n b l i c k auf jenen modernen, d e m Argumentationsansatz der Stoa verwandten ethischen Rechtfertigungsversuch des Suizids, w i e er etwa i n Jean Amerys Postulat „Der Freitod ist e i n Prvileg des H u m a n e n " z u m Ausdruck k o m m t . 8

9

E i n h u m a n wesentlich umfassenderes u n d sublimeres ethisches Handlungskonzept bietet demgegenüber die ebenfalls d e m fatalistischen Formkreis zuzuordnende buddhistische Ethik. I n i h r hat der Suizid k e i n e n Platz, da er sich v o m grundlegen­ den Gedanken der Wiedergeburt her als ethische Möglichkeit v o n vornherein verbietet. Ethische Qualität erwächst hier vielmehr gerade aus einer einschließen­ den V e r a r b e i t u n g der Erfahrung v o n L e i d u n d Sinnlosigkeit. Dabei w i r d die v o n Buddha gegebene letzte u n d umfassende Begründung a l l e n Leidens zugleich z u m Wegweiser seiner Überwindung. Diesen letzten G r u n d des Leidens sieht er i m Werden als d e m Hindrängen z u immer neuem Sein, das i m m e r neue Leiden schafft. Erst i n der Überwindung des Werdens k a n n sonach d i e Erlösung v o m Leiden liegen. Damit ist e i n ethischer Prozeß aufgegeben, der seine höchste Stufe i n der vollkommenen, v o n a l l e n Vorstellungen u n d E m p f i n d u n g e n losgelösten V e r s e n k u n g i n das Walten der treibenden Kräfte des Kreislaufs des Daseins er­ reicht. Erst auf dieser Ebene k a n n die „Erleuchtung" geschehen. Der Mensch gelangt aus d e m Kreislauf des Daseins i n d e n Erlösungszustand des Nirvana, des „Dahinwehens", einem m i t menschlichen Begriffen n i c h t erfaßbaren Zustand e w i g e n Friedens. Das einzigartige dieses ethisch-rehgiösen Systems des Buddha h e g t d a r i n , daß d i e hier a l l e m Sein unterstellte durchgängig irrationale Struktur i n eine d e s k r i p t i v n i c h t mehr auflösbare innere S t i m m i g k e i t u n d Sinnhaftigkeit aufge­ hoben w i r d . D a m i t g e w i n n t die buddhistische Welteinstellung eine das Patholo­ gische depressiver Reaktionsformen w e i t übersteigende, höchste mögliche u n d als solche keineswegs kraftlose, ins Humane gewandte Sinnbestimmung. Gerade das hier angeführte Beispiel der buddhistischen E t h i k als Typus eines d e m fatalistischen Formkreis zuzurechnenden universell angelegten Handlungsentwurfs macht n u n aber zugleich einen weiteren, überraschenden, bisher noch nicht zurei­ chend geklärten Tatbestand deutlich. Es g i b t das Phänomen konstruktiv ausgeleg­ ter, auf Universalisierung zielender Sinndeutung menschlichen Daseins auf der Basis eines defizitären ethischen Zugangsverständnisses zur Wirküchkeit. D i e fatalistische D e u t u n g der E n d l i c h k e i t als Sinnlosigkeit schließt d i e Möglichkeit einer grundsätzlichen A u f h e b u n g dieser Sinnlosigkeit nicht p r i n z i p i e l l aus. Erst der Erleuchtete vermag d i e W i r k l i c h k e i t „wirküchkeitsgemäß" zu erkennen, m i t i h r umzugehen u n d sie z u bestehen. I n dieser Möglichkeit erscheint zugleich d i e Irrationalität des eigenen Ausgangspunktes überwunden. D i e W i r k l i c h k e i t b l e i b t v o n e i n e m letzten, w e n n g l e i c h n u r negativ bestimmbaren humanen Sinn u m ­ schlossen u n d v o n daher i n i h r Recht eingesetzt. 8 V g l . S e n e c a , a d L u d l i u m epist. 91, 15 u n d 108, 34 9

J . Amery, H a n d a n s i c h legen. D i s k u r s über d e n Freitod, Stuttgart 1976, S. 43

61

Eine durchaus ähnliche Transformation z u umfassender, ethisch konstruktiver A u s l e g u n g menschlicher H a n d l u n g s w i r k l i c h k e i t erreicht die machiavellistische Erfolgsethik auf ihre Weise i m Phänomen des Sozialeudaimonismus. Zwar b l e i b t auch hier das ethische Zugangsverständnis auf e i n entsprechend defizitäres K r i t e ­ rium als Basis gestellt, auf das des Erfolgskalküls. I n d e m der Sozialeudaimonismus aber dieses K r i t e r i u m weder auf d e n einzelnen noch auf irgendeine Gruppe, son­ dern auf die Menschheit als Ganzes bezieht, n i m m t er i m p l i z i t das zur Vorausset­ zung, was für das neuzeitliche Bewußtsein längst zur obersten Richtschnur sitt­ lichen Handelns geworden ist, nämlich d i e A c h t u n g vor d e m Menschen als sol­ chem. Jetzt freilich i n einer Weise, die n i c h t dies u n m i t t e l b a r z u m A u s d r u c k b r i n g t u n d als Anspruch geltend macht, sondern die n u r mehr noch den Aspekt der rea­ l e n Einlösbarkeit der Machbarkeit dieser A c h t u n g akzeptiert, eben „das größtmög­ liche Glück der größtmöglichen Z a h l " . Eine ethisch konstruktive A u s l e g u n g menschlicher H a n d l u n g s w i r k l i c h k e i t b l e i b t aber nicht weniger auch über d i e Transformation des legalistischen Ansatzes denkbar. Es w a r gerade die große Leistung der Religion Israels, d e m v o m Rechts­ vertrag u n d Rechtsbund her e n t w i c k e l t e n Gesetzesbegriff z u m Ausgangspunkt seiner Gotteserfahrung zu machen u n d d a m i t das religiöse Verhältnis als e i n ethisches zu bestimmen. A n die Stelle kosmisch-mythischer Religiosität tritt der welttranszendente, freie, geschichtswirksame, personale Gott. Z u g l e i c h empfängt das Gesetzesverständnis selbst hieraus seine entscheidende u n d maßgebliche Zentrierung. Es w i l l von seinem Grundsatz her gerade n i c h t legalistisch als e i n vorwegdekretierendes K o m p e n d i u m kasuistischer Einzelvorschriften verstanden sein, sondern vielmehr als Ausfaltung des Handelns Gottes a n Israel, als A u f g r e i ­ fen seiner schöpferischen Liebe. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß es gerade diese zentrale theologische Situierung des Gesetzesbegriffs ist, die zugleich einem möglichen legalistischen Denken Vorschub leistet. Eine nachfolgende Tendenz zu wachsender Vergesetz­ l i c h u n g aller Lebensbereiche ist i n der T a t unverkennbar. Eben hiergegen richtet sich schon sehr früh die prophetische K r i t i k : „Es ist d i r gesagt, ο Mensch, was g u t ist u n d was der Herr von d i r fordert: nichts als Recht zu üben u n d Güte z u l i e b e n u n d demütig zu w a n d e l n m i t deinem G o t t " (Micha 6, 8). Diese K r i t i k setzt sich fort bis h i n z u d e m unerbittlichen Kampf Jesu gegen das legalistisch entartete Geset­ zesdenken des spätjüdischen Pharisäismus u n d zu der von Jesus vorgenommenen Zentrierung a l l e n sittlichen Handelns auf das Doppelgebot der Gottes- u n d Näch­ stenliebe. Zugleich läßt sein Opfertod, d i e Hingabe seines Lebens „für das Leben der W e l t " (Jo 6, 33) die Frage nach der Leistungskraft des Gesetzes überhaupt ganz n e u stellen. Das Gesetz ist als solches k e i n zureichendes Instrument für das definitive Gelingen menschlicher Existenz. Es erweist sich zwar nicht als schlecht, w o h l aber als ohnmächtig u n d ungeeignet, „denn nichts h a t es zur V o l l e n d u n g gebracht" (Hebr 7, 18). Der für d i e alttestamentliche Heilserfahrung grundlegende, aus d e m Gesetzesgedanken bestimmte Rechtsbund Gottes m i t d e m Menschen transformiert sich i m Neuen B u n d z u einem solchen, dessen „Gesetz" d i e ungeschuldete Gnade u n d Liebe Gottes selbst ist. Erst d a r i n erscheint der Legalismus als möglicher Heilsweg v o m Ansatz her überwunden. Was bisher für die ethisch defizitären Formkreise des Fatalismus, des M a c h i a v e l lismus u n d des Legalismus aufgezeigt w e r d e n konnte, nämlich daß über deren j e w e i l i g e Transformation eine ethisch konstruktive A u s l e g u n g der menschlichen H a n d l u n g s w i r k l i c h k e i t möglich ist, b l e i b t n u n noch i m H i n b l i c k auf d e n ethisch defizitären Formkreis des gesinnungsethischen Utopismus z u prüfen. Das Defizi­ täre dieser ethischen Erscheinungsform liegt darin, daß sie die sittliche Vernunft 62

menschlichen Handelns v o n der Realität abtrennt u n d ausschließlich aus einer idealen Zielgestalt z u bestimmen sucht. I n d e m sie aber die real gegebenen Vor­ aussetzungen ignoriert, verzichtet sie letztlich auch auf die Frage nach den mögli­ chen Folgen, die m i t der Durchsetzung des erstrebten Zieles verbunden sind. Eben damit aber b r i n g t sie sich i n Wahrheit i m m e r n e u u m die Chancen ihrer tatsächli­ chen Einlösbarkeit: sie b l e i b t utopisch. Das h i n d e r t sie jedoch keineswegs, auch w e i t e r h i n unbeeindruckt v o n j e d e m Scheitern an diese Einlösbarkeit z u glauben. N i c h t die Realität ist schuld, sondern die Borniertheit, der böse W i l l e , j a die p l a n ­ mäßige Sabotage der anderen. Soll das sittlich gute Z i e l erreicht werden, so bedarf es h i e r z u einzig einer lauteren, sich d u r c h Kompromißlosigkeit auszeichnenden Gesinnung. Wo i m m e r m a n sich demgegenüber d e m Ideal nurmehr i n k l e i n e n , die V i e l f a l t der Umstände u n d Folgen mitberücksichtigenden Schritten z u nähern sucht, sieht der Gesinnungsethiker bereits Grundsatzlosigkeit u n d M a n g e l an Überzeugungstreue. W i r h a b e n es i m F a l l des Gesinnungsethikers offensichtlich m i t einer regressiven Form menschlicher Identitätsfindung z u t u n , i n der, das gesamte Handlungsfeld von einer reinen, k o n f l i k t f r e i gedachten, idealen ZukunftsmögÜchkeit her ausge­ legt w i r d . D i e Angst vor d e n Beschränkungen der k o n k r e t i n Anspruch nehmenden Realität treibt zur Flucht nach v o r n : „Ich b i n , was i c h m i r wünsche. I c h k a n n n u r sein, w e n n i c h i n das fliehe, was i c h m i r ersehne." Eben d a r i n aber lassen sich jetzt j e n e Versehrungsdispositionen erkennen, die d i e Psychoanalyse i n der vierten v o n i h r ausgegrenzten psychischen Regressionsform als hysterische Neurosen- u n d Persönlichkeitsstruktur namhaft macht. Reifer Realitätsbezug setzt e i n entspre­ chend hohes Maß a n Ich-Stärke voraus, die dazu befähigt, statt i n T r a u m w e l t e n z u fliehen die notwendige Auseinandersetzung m i t der k o m p l e x e n Realität aufzuneh­ m e n u n d d i e v o n i h r her erfahrenen Z u m u t u n g e n u n d Begrenzungen ertragen u n d p r o d u k t i v verarbeiten z u können. Entscheidende Bedeutung für d i e E n t w i c k l u n g solcher Ich-Stärke k o m m t h i e r b e i d e m V e r h a l t e n der Eltern u n d dann auch der Geschwister i m frühkindlich-familiären Erziehungsprozeß zu, der Rolle, die sie als unmittelbare Bezugspersonen ausdrücken u n d v e r m i t t e l n . D i e H e r a u s b i l d u n g der D y n a m i k des Ich als Resultat der sozialen Identitätsfindung des Kindes muß w e ­ sentlich aus den jeweils gegebenen Konstellationen eben dieses Sozialisationsvorgangs begriffen werden. M a n g e l a n ausgewogener Festigkeit i m Rollenverhalten der Bezugspersonen, a n väterlicher bzw. mütterlicher Zuwendungsstärke, a n ge­ schwisterlichem, Solidarität u n d Selbstbehauptung i n sich schließendem M i t e i n a n ­ der, m i n d e r n zwangsläufig auch d i e Chancen für d i e E n t w i c k l u n g einer entspre­ chenden Ich-Stärke b e i m K i n d . D i e Realität vermittelt k e i n e Verläßlichkeit. Dies führt z u narzißtischer Rückwendung des Kindes auf sich selbst u n d d a m i t zu Iden­ titätsdiffusion .und z u ständiger Flucht nach vorn i n d i e Wirklichkeitsferne heiler, konfliktenthobener T r a u m w e l t e n . Prolongiert i n d i e tatsächliche, z u bewußtem sittlichem H a n d e l n zwingende Le­ benswelt des Erwachsenen w i r k t dies i n eben jenem, letztlich v o n d e m gleichen träumerischen Pathos bewegten gesinnungsethischen Utopismus weiter, der i m e w i g e n Ausgriff nach d e m Eigentlichen u n d Wahren, unbekümmert u m alle Fol­ gen u n d unbeeindruckt v o n seiner eigenen V e r g e b l i c h k e i t das H e i l n u r noch i m kompromißlos reinen Ideal sucht. Der Gesinnungsethiker setzt i n Wahrheit i m m e r schon Z i e l u n d W e g i n eins. Wer das Z i e l weiß, braucht n i c h t noch d i e Wege z u erkunden, d i e z u i h m führen. M a n muß n u r genügend v o n der N o t w e n d i g k e i t u n d Größe des Zieles ergriffen, bewegt, betroffen sein, d a n n ist der W e g dorthin ohne­ h i n k l a r : er liegt i m Z i e l selbst.

63

Hier l i e g t der entscheidende Trugschluß. W i r müssen davon ausgehen, daß der Mensch i n eine W e l t gestellt ist, i n der es zur Sicherstellung u n d Entfaltung seiner Existenz i n Wahrheit eine Vielfalt v o n Z i e l e n z u verfolgen u n d z u berücksichtigen gilt, selbst w e n n diese ihrerseits w i e d e r u m nochmals einer höchsten, als solche maßsetzenden, alles übergreifenden Zielgestalt zuzuordnen sind. Hieraus ergibt sich zugleich zwangsläufig, u n d zwar auch dort, w o k e i n e r l e i böser W i l l e i m Spiel ist, eine entsprechende V i e l f a l t v o n Güterkonkurrenzen, W e r t k o n f l i k t e n u n d Pflichtkollisionen, die nicht dadurch aufzulösen sind, daß m a n sich über sie h i n ­ wegsetzt. Die plurale Zielstruktur menschlicher H a n d l u n g s w i r k l i c h k e i t z w i n g t faktisch zu immer neuer Herausarbeitung v o n Vorzugsgesichtspunkten, z u sorgfäl­ t i g e m Abwägen zwischen den unterschiedlichen, miteinander k o n k u r r i e r e n d e n G u t e m , nicht selten auch zur Bereitschaft, Übel i n Kauf zu nehmen, u m drohende, noch größere Übel z u verhindern. Wo immer m a n dies überspielt, erweist sich alle noch so ideal eingestellte Handlungsausrichtung als vergeblich. Das verfolgte Z i e l bleibt unrealisierbar. Der gesinnungsethische Anspruch erschöpft sich i m u t o p i ­ schen Sentiment. M a x Weber macht i n diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß es gerade diese Erfahrung der Vergeblichkeit ist, die d e n Gesinnungsethiker dazu veranlas­ sen k a n n , i n seinem Denken eine entscheidende Korrektur vorzunehmen, u m d e m utopischen Ideal doch noch zur Realität zu verhelfen: er w i r d z u m „chiliastischen P r o p h e t e n " . U m die wahre, endgültige Gestalt der Welt herauszuführen, bedarf es einer letzten Tat der Gewalt, d i e aller bisherigen Gewaltsamkeit e i n definitives Ende setzt. D i e G u i l l o t i n e w i r d z u m Instrument der Herstellung eines Reichs der Freiheit, Gleichheit u n d Brüderlichkeit. D i e Expropriation der Expropiateure, der letzte gesammelte Aufstand der i m m e r größerer Verelendung ausgelieferten Mas­ sen der Proletarierklasse gegen i h r e Unterdrücker u n d Ausbeuter, läßt d e n neuen Menschen erstehen, der durch keine Entfremdung mehr v o m anderen getrennt ist. Gesinnungsethik stellt hier i n einer letzten, als n o t w e n d i g erachteten Tat i h r Ge­ genprinzip i n i h r e n Dienst. Das machiavellistische Erfolgsprinzip avanciert i m M i t t e l der Gewalt z u m revolutionären Erfüllungsgehilfen der Utopie. 10

N u n w i r d m a n gewiß n i c h t sagen können, daß diese beiden bisher aufgewiesenen Grundformen der Gesinnungsethik - w i r w o l l e n sie e i n m a l d i e sentimentale u n d die degressive Form nennen - als solche bereits eine ethisch konstruktive Ausle­ g u n g der menschlichen H a n d l u n g s w i r k l i c h k e i t eröffnen. Beide bleiben monokau­ sal auf deren utopisch vorausentworfene ideale Zielgestalt fixiert. Beide setzen sich d a m i t über d i e wesenhaft p l u r a l e Zielstruktur der H a n d l u n g s w i r k l i c h k e i t h i n w e g u n d entziehen sich so der ethisch zu leistenden Aufgabe, das d a r i n hegende K o n f l i k t p o t e n t i a l über entsprechende Abwägungsverfahren u n d O p t i m i e ­ rungsstrategien z u m j e w e i l i g e n A u s g l e i c h z u bringen. Beide k o m m e n unter dieser Voraussetzung d e m erstrebten Z i e l , der Heraufführung einer besseren Welt, k e i n e n Schritt näher. Wo d i e Realstruktur der Dinge geleugnet w i r d , läßt sich d i e bessere Welt weder d u r c h gewaltloses noch d u r c h gewalttätiges Aufbegehren h e r b e i z w i n ­ gen. Bleibt n i c h t aber noch e i n dritter W e g denkbar, e i n Weg, der menschliches H a n ­ d e l n auf eine sittliche Zielgestalt verpflichtet, die, ohne Realität i n ihrer i n n e r e n Verbindlichkeitsstruktur z u negieren, sich von i h r abzukoppeln oder sie gar m i t Gewalt abschaffen z u w o l l e n , dennoch u n e n d l i c h über sie hinausgeht? E i n solcher dritter W e g müßte d a n n freilich diese v o n i h m eingeforderte definitive Zukunfts­ gestalt des H u m a n e n i n einer Weise real zur Geltung b r i n g e n können, d i e ihre 10 M . Weber, Politik a l s Beruf, a . a . O . , S . 443

64

tatsächliche weltverändernde Kraft beweist u n d sie eben darin jedem Verdacht des Utopischen entzieht. Exakt dieser Weg erschließt sich i m Hochethos Jesu, u n d zwar gerade auch i n den Hochforderungen der Bergpredigt. M i t i h m g e w i n n t die Handlungsgesinnung des Menschen eine A u s r i c h t u n g , die zwar e i n Äußerstes an Überbietung dessen einschließt, was Menschen normalerweise unter den Bedin­ gungen dieser Welt t u n u n d erwarten, dieses Äußerste aber gerade i n einer Weise i n W e r k setzt, die die Folgen solchen Handelns k e i n e n A u g e n b l i c k außer Betracht läßt u n d aus der eigenen V e r a n t w o r t u n g herausnimmt. H i e r i n unterscheidet sich das Hochethos Jesu wesenhaft von jeglicher A r t utopischer Gesinnungsethik, die jede V e r a n t w o r t u n g für die tatsächlichen Kosten ihrer hochgesteckten Optionen, sei es n u n gedankenlos-naiv oder gegebenenfalls sogar zynisch überspielt. M a n w i r d deshalb M a x Weber entscheidend widersprechen müssen, w e n n er das jesuanische Hochethos, w i e es i n den Forderungen der Bergpredigt z u m Ausdruck kommt, undifferenziert der Gesinnungsethik zurechnet u n d als „akosmistisch" einstuft. Was sich vielmehr i n diesem Ethos ereignet, ist gerade die' Durch­ brechung u n d Transformation bloßer Gesinnungsethik u n d ihres defizitären uto­ pistischen Zugangsverständnisses zur W i r k l i c h k e i t . Ideale Zielgestalt u n d reale Verpflichtungsstruktur des H u m a n e n w e r d e n i m Hochethos Jesu auf eine neue unüberbietbare Weise vermittelt: „Ich b i n n i c h t g e k o m m e n aufzulösen, sondern zu erfüllen" (Mt 5, 17). 11

Diese V e r m i t t l u n g der realen Verpflichtungsansprüche, w i e sie i m Gesetz entge­ gentreten, auf ihre wahre humane Zielgestalt h i n , i n der nach Jesus letztlich über­ haupt erst die Erfüllung des Gesetzes geschieht, setzt d e m Gesamtkontext der hier relevanten Aussagen nach e i n U m d e n k e n voraus, das als solches gewiß fundamen­ t a l ethische, jedoch keineswegs utopische Züge trägt. Dies zeigt sich bereits i n jener zentralen paradigmatischen Aussage Jesu über den anthropologischen Stellenwert von Gesetzen u n d Institutionen, nach d e m sich der U m g a n g des Menschen m i t i h n e n zu bestimmen hat: „Der Sabbat ist des Menschen w e g e n da u n d nicht der Mensch des Sabbats w e g e n " ( M K 2, 27). Eine u n g e m e i n plausible Weisung, die dem Sinn gegebener Institutionen, sofern er sichtbar gemacht w e r d e n kann, nichts n i m m t , zugleich aber daran hindert, sie z u m möglichen Unterwerfungsinstrument für Menschen w e r d e n zu lassen. Hier l i e g t eine grundsätzliche Absage an j e g ­ l i c h e n Legalismus, der sich d a r i n selbst als e i n ins Zwanghafte verkehrter Utopis­ mus erweist. V o n demselben fundamental ethischen u n d d a r i n zugleich antiutopischen Duktus ist der U m g a n g Jesu m i t dem Gesetzesbrecher, dem Sünder bestimmt. A u c h hier b l e i b t alles auf das anthropologische Prinzip des h u m a n Angemessenen u n d Leistbaren abgestimmt. U m k e h r läßt sich nicht über Tugendterror erreichen. Der Mensch muß dort abgeholt werden, wo er steht. Das aber setzt eine Form der Z u w e n d u n g voraus, i n der sich der Gesetzesbrecher u n d Sünder trotz seines Fehl­ verhaltens allererst als Mensch verstanden, bestätigt u n d akzeptiert fühlt. Wo dies nicht geschieht, k a n n auch k e i n w i r k l i c h e r Lernprozeß i n Gang k o m m e n , der zur inneren A u f a r b e i t u n g des Fehlverhaltens führt. Solange n u r m i t moralisierenden A p p e l l e n u n d k r i m i n a l i s i e r e n d e n Strafen operiert w i r d , die den Menschen l e d i g ­ l i c h richten, nicht aber zugleich auch aufrichten, läßt sich bestenfalls Anpassungs­ bereitschaft, aber nicht schon Gesinnungswandel b e w i r k e n . Jesu Tischgemein­ schaft m i t den „Zöllnern u n d Sündern" ist k e i n Gestus sentimentaler Utopie, son­ dern ethische N o t w e n d i g k e i t , Voraussetzung u n d Besiegelung ihrer Umkehr.

11 E b e n d a , S. 440

65

V o n hier aus k a n n jetzt auch ein u n m i t t e l b a r e r Zugang z u m generellen Verständ­ nis Jesu von Herrschaft gewonnen w e r d e n . Was i m m e r sich a n politischen Gewalt­ strukturen u n d Machtverhältnissen herausbildet, b l e i b t auf den Dienst a m M e n ­ schen h i n auszulegen u n d empfängt erst v o n daher seine g e n u i n ethische Rechtfer­ t i g u n g . I n Frage gestellt w i r d h i e r n i c h t die N o t w e n d i g k e i t v o n Herrschaft als solcher - „Gebt dem Kaiser was des Kaisers i s t " ( M T 22, 21), „Du hättest k e i n e M a c h t über m i c h , w e n n sie d i r n i c h t v o n oben gegeben wäre" (Jo 19, 11) - son­ dern die A r t u n d Weise ihrer Ausübung: „Wer unter euch der Größte sein w i l l , sei euer Diener, u n d wer unter euch der erste sein w i l l , der sei euer Knecht" ( M t 20, 26). H i e r w i r d nicht der Anarchie das W o r t geredet, sondern der H u m a n i s i e r u n g politischer Gewalt. Soll sich politische Herrschaft vor Pervertierungen bewahren, muß sie ihren Dienst vom Schwächsten u n d Geringsten her u n d auf i h n h i n ausle­ gen. N u r so k a n n sie zum Dienst a n der j e größeren Gerechtigkeit u n d Freiheit des Menschen werden. A l s Wegweisungen zu je größerer Gerechtigkeit u n d Freiheit müssen i n diesem Zusammenhang aber darüber hinaus auch a l l jene u n m i t t e l b a r a n den einzelnen gerichteten Hochforderungen verstanden werden, m i t denen Jesus die v o m über­ k o m m e n e n Gesetz her gebotenen Lösungen für Konfliktkonstellationen, Bezie­ hungsstrukturen, Besitz- u n d Abhängigkeitsverhältnisse i n ihrer Insuffizienz ent­ hüllt u n d überbietet. I n a l l d e m geht es l e t z t l i c h u m A u f d e c k u n g der Entfremdung des Menschen von seinen eigentlichen h u m a n e n Möglichkeiten. Was hier gefor­ dert w i r d , ist nichts Utopisches, sondern elementarer A n s p r u c h u n d elementarer Ausdruck h u m a n gereiften Verhaltens, das seinen letzten G r u n d i m schöpferischen Liebeswillen Gottes selbst hat, Wegerschließung, die, gerade w e i l sie d e n M e n ­ schen auf j e größere Gerechtigkeit u n d Freiheit h i n offenhält, seinem tatsächlichen Seinkönnen zutiefst entspricht. Z u eben dieser humanen Gestalt des v o n Jesu p r o k l a m i e r t e n Ethos gehört aber auch, daß die darin zutage tretende Diastase v o n u n b e d i n g t e m personalem A n ­ spruch u n d sozialethischer Einlösbarkeit nicht überspielt w i r d . Es wäre völlig ver­ fehlt, d i e hochethischen Forderungen Jesu u n m i t t e l b a r politisch durchsetzen u n d i n Rechtsformen gießen z u w o l l e n . Jesus ist k e i n Chialist. Liebe läßt sich nicht verordnen. Sozialethische Erfordernisse u n d Ansprüche h i n g e g e n müssen für j e ­ dermann verpflichtend u n d d a m i t d u r c h das Recht erzwingbar gemacht w e r d e n können. Sie unterliegen d e m K r i t e r i u m k o l l e k t i v e r Leistbarkeit u n d Effizienz. U m g e k e h r t läßt sich aber auch n i c h t übersehen, daß d i e E t h i k Jesu i n ihrer W i r ­ kungsgeschichte das sozialethische Anspruchsfeld zugleich fundamental verändert hat. Sie erweist sich also keineswegs als sozialethisch u n d politisch irrelevant. So k o m m t i h r vor allem, w e n n w i r h i e r Hegel folgen, für das ethische Bewußtwerden menschlich-personaler Würde u n d Freiheit schlechthin fundierende Bedeutung zu. Die Freiheitsgeschichte der Menschheit hat i h r e theologische W u r z e l i n der Frei­ heitsgeschichte der Botschaft des Evangeliums. M i t der h e u t i g e n A u s f o r m u l i e r u n g von. generellen Menschenrechten u n d ihrer politischen Einlösung stellt sich das Recht selbst i n den Dienst dieses das k o l l e k t i v e sittliche Bewußtsein der Mensch­ heit zunehmend bestimmenden personalen Anspruchs. Dennoch geht dieser A n ­ spruch zugleich bleibend über alles hinaus, was i n d e n Formen einklagbaren u n d erzwingbaren Rechts überhaupt z u fassen ist. Er zielt auf d i e Entfaltung einer Gerechtigkeit, der die Liebe das sie j e n e u transzendierende Maß setzt. Gerade darin aber erweist sich d i e E t h i k Jesu als substantiell h u m a n ausgelegte, dieses Humane i n seiner Totalität erschließende Verantwortungsethik. M i t i h r ist eine

66

A n t w o r t auf d i e Frage nach den ethischen Bedingungen menschlichen Gelingens u n d Glückens gegeben, der auch a m Horizont heutiger n e u aufkommender Pro­ blemstellungen schlechthinnige Maßgeblichkeit zukommt. II.

Das neuzeitliche Verständnis der Arbeit als christliches Verständnis des Men­ schen

Unsere gegenwärtige Welt läßt sich schwerlich verstehen ohne jene tiefgreifenden Wandlungen, die die menschlche A r b e i t i m Prozeß der Neuzeit erfahren hat. Erst i n der Neuzeit tritt d i e A r b e i t aus i h r e m Schattendasein heraus, verliert sie ihre ethisch-anthropologische Randständigkeit u n d M i n d e r b e w e r t u n g . Sie w i r d z u m Motor eines neuen Realitätsbezuges. Neuzeit bedeutet Wende der Vernunft nach außen, Erschließung der Welt i n a l l i h r e n Möglichkeiten, A u f b r u c h des homo faber, rationale U m s t r u k t u r i e r u n g der A r b e i t i m Dienste eines bisher n i e gekann­ ten Glaubens a n gesamtmenschheitlichen Fortschritt. A l s handlungsleitender Begriff ist Fortschritt eine spezifisch neuzeitliche Katego­ rie. Der Mensch weiß sich keineswegs i m m e r schon als jenes selbstmächtige, weltausgreifende, auf Z u k u n f t h i n angelegte Fortschrittswesen, das den Stand seiner j e w e i l i g e n Erkenntnisse u n d Ordnungsgestaltungen provisorisch hält. Menschliche Gesellschaften existieren, w i e uns Ethnologie u n d Kulturgeschichte zeigen, durchaus n i c h t vorrangig z u dem Zweck, ihre Einrichtungen u n d i h r Wis­ sen z u mehren. K u l t u r e n können sich m i t erstaunlicher Beharrlichkeit über Jahr­ hunderte u n d Jahrtausende h i n i n einer ewigen Wiederkehr desgleichen repetie­ ren. Sie ragen selbst noch i n i h r e n steinzeitlichen Formen bis i n unsere Gegenwart h i n e i n , so daß m i t d e m plötzlichen E i n b r u c h der westlichen, technisch-wissen­ schaftlichen Z i v i l i s a t i o n i h r e M i t g l i e d e r Jahrtausende v o n E n t w i c k l u n g e n über­ springen müssen, u m die gleichen Ansprüche jetzt auch für sich geltend zu m a ­ chen. M i t der Neuzeit zeichnet sich d i e entscheidende Transformation ab. Der Mensch beginnt sich als jenes Wesen z u entdecken, das i m ständigen Ausgreifen nach d e m Noch-nicht des i h m i n Wahrheit Möglichen die Vernunft seines Heute findet. Erstmals gehört die Dimension Z u k u n f t z u m Fließgleichgewicht, zur Glücksbilanz einer Gesellschaft. Unter d e m Aspekt dessen, was Gesellschaften zu i h r e m ge­ glückten Funktionieren brauchen, scheint diese „Fauna des experimentierenden Menschen", u m m i t Ortega γ Gasset z u reden, i n der Tat „eines der unwahrschein­ lichsten Erzeugnisse der Geschichte". W i r haben e i n Kultursystem vor uns, das für sein funktionales Gleichgewicht ausdrücklich d i e Dimension Z u k u n f t benötigt u n d einbezieht. Es evoziert ständigen Überstieg. 1

Eben dieses auf ständige A u s w e i t u n g seiner Einsichts- u n d Könnensbestände aus­ gelegte Kultursystem e n t w i c k e l t entsprechend eine eminent expansive Kraft. Z u seiner V e r a r b e i t u n g bedarf es keiner Missionare. Keine überkommene K u l t u r vermag sich auf die Dauer seinem Sog zu entziehen. Tatsächlich hat es eine neue Weltsituation entstehen lassen. M i t der globalen Rezeption dieser technisch-wis­ senschaftlichen Kultur, so m e i n t Hannah Arendt hier, ist „die Entstehung des Menschengeschlechts - i m Unterschied z u der Menschheit als einer regulativen Idee der Menschenwürde - zu einer einfachen Tatsache geworden." Die E n t w i c k ­ l u n g scheint m i t unaufhebbarer N o t w e n d i g k e i t z u verlaufen. 2

1 J . Ortega y Gasset, G e s . Werke, B d . 3, Stuttgart 1956, S. 67 2

H . Arendt, V i t a activa. Stuttgart 1960, S. 252

67

1. Wirkungszusammenhänge der neuzeitlichen, durch rationale Technik veränder­ ten Arbeit Dies alles wurde ;\ur möglich, w e i l sich i n den Formen menschlicher Lebensbewäl­ tigung m i t Beginn der Neuzeit etwas Grundlegendes gewandelt hat u n d sich d a r i n i n äußerstem Maße als effizient erwies: die Veränderung der A r b e i t durch deren planmäßige rationale Ausgestaltung. Das Signum neuzeitlicher A r b e i t ist deren Transformation durch wissenschaftlich fundierte Technik. In einem elementaren Sinne versteht m a n unter Technik a l l jene Verfahren u n d Instrumente, m i t denen m a n etwas herstellt, bewerkstelligt u n d b e w i r k t . A l s solche gehört Technik i m m e r schon z u m Menschen als tätigem, sich selbst aufgegebenem Wesen, das sein Leben führen muß u n d das sich d i e h i e r z u erforderlichen Güter nur durch entsprechende Verfahren der Bearbeitung verschaffen kann. Erst m i t der Neuzeit k o m m t es jedoch zur A u s b i l d u n g einer Rationalität - w o r i n deren Ur­ sprünge auch i m m e r z u sehen sein mögen - m i t der sich der Mensch der Erschlie­ ßung der i h m empirisch vorgegebenen W i r k l i c h k e i t methodisch zuwendet u n d sich damit zugleich neue Voraussetzungen schuf. D i e i n deren Konsequenz hegende sozio-ökonomisch wichtigste Veränderung scheint m i r dabei d a r i n z u hegen, daß m i t der sich e n t w i c k e l n d e n Industriekultur die Produktion als eigenständige Größe zwischen Bedürfnisse u n d Bedürfnissbefriedigung tritt, während vorher die Entste­ h u n g v o n Bedürfnissen u n d d i e Produktion von Befriedigungsmitteln i n e i n - u n d derselben Einheit miteinander verbunden waren. Erst damit w i r d der bisherige ökonomische Rahmen t r a d i t i o n e l l vorgegebener Erwartungswelten endgültig gesprengt. Die Frage der menschlichen Bedürfnisse verliert gleichsam ihre Unschuld. Sie beginnt sich v o n d e n Möglichkeiten der menschlichen Produktivität selber her auszulegen. Wurde vorher wesentlich auf A b r u f u n d Bestellung produziert, so jetzt auf e i n offenes Feld sich immer n e u auftuender Bedürfnischancen h i n . D i e hierzu erforderliche A r b e i t w i r d dabei an zunehmend anspruchsvollere Technologien zurückgebunden. Letztlich ist es also dieser einfache Tatbestand der d u r c h rationale T e c h n i k veränderten Arbeit, der jene Fülle neuer Probleme schuf, d i e d e n Gang der Geschichte der Neuzeit be­ stimmen. Dies zeigt sich bereits elementar i n der Veränderung der Famihenstruktur. D i e Konsumgemeinschaft Familie hört m i t der Auslagerung der A r b e i t auf, zugleich Produktionsgemeinschaft z u sein. D i e zwischenmenschlichen Beziehungen w e r d e n aus i h r e n harten ökonomischen E i n b i n d u n g e n entlassen. Erst jetzt können sie zunehmend i n d i e Personalisierung freigesetzt werden. M i t d e m späteren Ausbau des sozialen Netzes k o m m t es zwangsläufig zur E n t w i c k l u n g der Kleinfamilie u n d der damit verbundenen Neuauslegung der Generationenproblematik. Doch nicht weniger geht es auch u m makrostrukturelle Veränderungen: u m d i e m i t zunehmender Zentrierung der Produktionsstätten einsetzenden gewaltigen Urbanisierungsprozesse; u m das die erste Phase der i n d u s t r i e l l e n Revolution prä­ gende rasante Bevölkerungswachstum i m Gefolge des v o n derselben Rationalität bestimmten, d i e Gesamtentwicklung wesentlich mitsteuernden medizinischen Fortschritts; u m d i e generelle menschliche Bedeutung der neuen Formen der A r b e i t selbst, u m i h r e möglichen dehumanisierenden Bedingungen u n d Folgen, u m die d a r i n zutage tretenden vielfältigen Aspekte menschlicher Entfremdung. Erwuchsen d i e Möghchkeiten v o n Entfremdung z u Beginn der Industriahsierung vor allem aus d e n Bedingungen der Produktion, nämlich aus der extremen ökono­ mischen Abhängigkeit des entstehenden Proletariats v o n den Besitzern der neuen technisch-rationalen M i t t e l , so ergeben sie sich heute eher aus den sich i m m e r 68

mehr ausweitenden Chancen der Konsumtion. D i e Stichworte der neuen Abhän­ g i g k e i t heißen „Überflußgesellschaft" u n d „Bedarfsweckungswirtschaft". „Die Produktion füllt n u r eine Lücke aus, die sie selbst erst geschaffen h a t . " 3

Dennoch sollte auch hier n i c h t l e i c h t h i n moralisiert werden. I n Wahrheit geht es nämlich n i c h t n u r u m d e n z u zahlenden T r i b u t a n einen sich n e u auslegenden Funktionskreislauf der Wirtschaft. Die Wende zu einer offenen, v o n der Kreativität menschlicher Produktivität getragenen menschlichen Bedürfniswelt erscheint u n w i d e r r u f l i c h . Die Phase der großen i n sich geschlossenen geschichtlichen Stil­ epochen der Menschheit ist endgültig überschritten. I n der bisherigen Form k a n n es sie i m Grunde i n der Z u k u n f t nicht mehr geben. Das Zukunftsproblem der i n d u s t r i e l l entwickelten W e l t w i r d deshalb v e r m u t l i c h n i c h t das ihrer wirtschaft­ l i c h e n Versorgung sein, sondern das der h u m a n e n S t r a k t u r i e r u n g ihrer sich fort­ schreitend wandelnden, v o n keiner Gegenwart endgültig einholbaren Entfaltungs­ u n d Erfüllungsmöghchkeiten. Eine n i c h t geringe Bedeutung dürfte hier insbesondere der W a h r n e h m u n g jener Erfüllungsmöglichkeiten zukommen, die sich d e m einzelnen gerade außerhalb der Zeit seiner eigentlichen Berufsarbeit eröffnen. D i e sogenannte „Freizeit" - auch sie letztlich erst e i n Resultat der modernen Industriekultur - m e i n t j a keineswegs nur die sich anbietende Zeit z u bloßer Konsumtion, der d a n n die Arbeitszeit als die eigentliche Zeit der Produktion gegenüber z u stellen wäre. G e w i n n t sie doch i h r zunehmendes Gewicht gerade daraus, daß sie i n vielfältiger Weise als wesent­ liche Chance z u menschlich erfüllter alternativer Produktivität, als Herausforde­ r u n g zu g e n u i n tätiger Bedürfnisbefriedigung erkannt u n d wahrgenommen w i r d . Eben hier hätte auch eine ethisch sachgerechte K o n s u m i e r u n g anzusetzen. D i e K u l t i v i e r u n g des menschlichen Bedürfnislebens läßt sich i m Grunde n i c h t über b l a n k e Verzichtsforderungen u n d Maßhalteappelle erreichen, sondern wesentlich nur über die V e r m i t t l u n g v o n Erfahrungen, i n denen Selbstüberbietung u n d Be­ dürfnisbefriedigung k o i n z i d i e r e n . „Je höher m a n i n der Hierarchie der Bedürfnisse aufsteigt," bemerkt G. Scherhorn, „desto deutlicher prägt sich das aus, daß d i e eigentliche Bedürfnisbefriedigung hier i n einer Tätigkeit besteht u n d daß Konsum­ güter die F u n k t i o n haben, Tätigkeiten z u v e r m i t t e l n . " Erst d a m i t aber verliert d a n n auch e i n Leben des bloßen Konsumierens seinen Reiz. Das Konsumtive be­ hält zwar seinen h u m a n e n Stellenwert, aber das M o m e n t des Produktiven vermit­ telt letztlich die stärkere Erfüllung. Erst unter dieser Voraussetzung erscheint dann schließlich auch eine Überwindung jener d u r c h d i e moderne Industriekultur er­ zeugten Polarisierung möglich, d i e den Menschen nur noch v o m Wechsel zwischen der Rolle der „Arbeitsraupe" u n d der des „Konsumschmetterlings" bestimmt sein läßt. D i e H u m a n i s i e r u n g der Freizeit ist i n Wahrheit n i c h t m i n d e r w i c h t i g w i e d i e längst erkannte u n d i n v i e l e m längst eingelöste H u m a n i s i e r u n g der Arbeit. N u r : Das eine ließ sich w e i t g e h e n d über Kampfsolidarität u n d gesetzgeberische Maß­ n a h m e n erreichen, das andere b l e i b t hingegen wesentlich Aufgabe schöpferischer Erziehung. Menschliche Produktivität läßt sich n i c h t erzwingen. Sie trägt das S i g n u m der Freiheit. 4

5

Doch m i t der durch rationale T e c h n i k veränderten A r b e i t stellt sich noch e i n w e i ­ teres Problem v o n fundamentaler Bedeutung, das d i e Struktur der ökonomischen O r d n u n g selbst berührt. D i e Tatsache, daß es wesentlich d i e eingesetzten techno­ logischen M i t t e l sind, d i e der zu investierenden A r b e i t b e i der Güterherstellung 3

I. K. Galbraith, Gesellschaft i m Überfluß. München-Zürich 1958, S. 169

4

G . S c h e r h o m , Verbraucherinteresse u n d Verbraucherpolitik. Göttingen 1975, S. 22. Weiterführend a u c h G . Mertens, Z u r Konzeption u n d Realisation der V e r b r a u c h e r e r z i e h u n g i n der Schule. I n : Pädagogische Welt, (1983), S. 117 - 124

5

J . E i c k , W e n n M i l c h u n d Honig fließen. E i n e wirtschaftskritische Studie. Düsseldorf 1958, S. 112

69

erst die i h r eigene Produktivität verleiht, läßt die Frage nach d e m Verfügungsrecht über diese M i t t e l z u einer wirtschaftlichen Schlüsselfrage werden. Ja es entsteht damit überhaupt eine neue, ökonomisch höchst relevante, i n dieser Weise vorher nie gegebene Form von Besitzmöglichkeit, eben das E i g e n t u m an Produktions­ m i t t e l n . Entsprechend ist es denn auch völlig berechtigt zu fragen, b e i w e m das Recht auf diese A r t v o n Eigentum originär liegt. W e n n m a n davon ausgeht, daß menschliche Ansprüche n u r dadurch z u l e g i t i m i e r e n sind, daß sie d e m Menschen dienen, so w i r d m a n es zweifellos dort ansiedeln müssen, w o es sich i n seiner humanen Effizienz als a m besten aufgehoben erweist. Gerade das aber ist n i c h t apriori auszumachen. Liegt es vorrangig b e i m einzelnen, der m i t seiner unterneh­ merischen D y n a m i k ein solches Aggregat produktiver Möglichkeiten a m ehesten zu schaffen u n d zu nutzen vermag? Oder l i e g t es vorgängig b e i der Gemeinschaft, für die die Güter dieser Erde letztlich bestimmt b l e i b e n müssen? Die Welt hat sich über diese Frage b e k a n n t l i c h i n Blöcke gespalten. Sieht m a n also hier einmal v o n allen weiteren, für die j e w e i l i g e Ausgangsoption reklamierten Begründungszusammenhängen u n d Zielvorgaben ab, so k a n n m a n sagen, der derzeitige Zentralkonflikt der Menschheit, der alle übrigen Konflikte überlagert, erweist sich i m Grunde als e i n M a r k t o r d n u n g s k o n f l i k t . Läßt sich dabei der einen Seite vorhalten, daß sie m i t ihrer vorgängigen Z u w e i s u n g des Verfügungsrechts über Produktionsmittel an den einzelnen d e n Bedürfnishaushalt der Menschheit z u kommerzialisieren droht, so der anderen, daß sie m i t ihrer vorgängigen K o l l e k t i ­ v i e r u n g dieses Rechts den Bedürfnishaushalt der Menschheit der Politisierung ausliefert. U m hier zu einer ethischen G e w i c h t u n g zu kommen, w i r d m a n also fragen müssen, welche der beiden Seiten a m ehesten d i e Chance einer Gegen­ steuerung zuläßt. Das aber g i l t e i n d e u t i g für die erstgenannte. Wie dies d i e Ent­ w i c k l u n g der liberalen zur sozialen M a r k t w i r t s c h a f t i n den meisten westlichen Industrieländern zeigt, ist es offensichtlich sehr v i e l leichter, i n einem freiheit­ l i c h e n Marktsystem durch Ausbau entsprechender sozialer Widerlager den Interes­ senausgleich z u optimieren, als i n planwirtschaftlichen Systemen nachträglich noch freiheitliche Prinzipien zur G e l t u n g zu bringen. Die ganze Komplexität eben jener als Folge Wirkung der durch rationale Technik veränderten A r b e i t zu Tage getretenen vielfältigen Probleme schärft sich nochmals i m Zuge der Einbeziehung der zuvor n i c h t industrialisierten Länder i n diesen Entwicklungsprozeß zu. A u f ihrer Suche nach Anschluß a n die moderne Industrie­ k u l t u r werden sie von Entwicklungs- u n d Übergangsproblemen geradezu geschüt­ telt. D a b e i reicht es zur Analyse i h r e r Situation zweifellos n i c h t aus, dies aus­ schließlich auf d i e M a r k t d o m i n a n z e n u n d expandierenden Machtlagen der aufstre­ benden Industrienationen zurückzuführen u n d m i t H i l f e v o n Kolonialismus-, Impe­ rialismus- u n d Neokolonialismustheorien alles erklären zu w o l l e n . Der entschei­ dende Faktor hegt vielmehr i n d e m zunehmenden Transfer der technisch-wissen­ schaftlichen Kultur als solcher. Erst m i t deren unzureichend gesteuerter, überstürz­ ter A p p l i k a t i o n k o m m t es zur eigentlichen Entgleisung der vorher i n sich s t i m m i g funktionierenden ökonomischen u n d ethno-ökologischen Struktur dieser Länder. Erst dadurch werden sie z u „Entwicklungsländern" m i t der ganzen Problemfracht wirtschaftlicher Unterversorgung, ausuferndem Bevölkerungswachstum u n d u n ­ gehemmter Urbanisierung, w i e sich dies heute darstellt. Eben damit aber geht es i n ihrer Z u o r d n u n g zu den hochindustrialisierten Ländern i m Grunde zunehmend weniger u m die Aufhebung v o n Ausbeutungsverhältnissen u n d i m m e r mehr u m die Befreiung v o n stets stärker hervortretenden Unterprivilegierungen, die sie ohne die H i l f e v o n außen n i c h t z u überwinden vermögen. #

70

N u n ist zwar sicherlich n i c h t z u übersehen, daß d i e Erkenntnis dieser Situation u n d die Bereitschaft, hier auf den verschiedensten Ebenen Strategien der Hilfe z u e n t w i c k e l n , i n den letzten Jahrzehnten b e i d e n westlichen Industrienationen durchaus i m Wachsen begriffen ist. Ja m a n w i r d sagen müssen, daß sich d a r i n Tendenzen abzeichnen, die i m Grunde auf A u s w e i t u n g der bisher nationalstaatlich eingeschränkten subsidiär gerichteten sozial-marktwirtschaftlichen Prinzipien zie­ len. Dennoch läßt sich dies n u r schwer i n wirtschaftliche, überstaatliche Ordnungs­ zusammenhänge übersetzen. Was i n d e n nationalen Volkswirtschaften mehr als e i n Jahrhundert gebraucht hat, nämlich d i e Effizienzlogik des Wettbewerbsprin­ zips über subsidiäre Maßnahmen zugleich m i t d e m generellen ethischen Anspruch der Solidarität z u vermitteln, w i r d auf der Ebene der zunächst ebenfalls nach d e m Wettbewerbsprinzip organisierten Weltwirtschaft k a u m weniger zügig zu erreichen sein. Das ökonomische Gefälle ist schlichtweg z u gewaltig, u m bereits hier u n d jetzt das notwendige Maß a n strukturell abgesicherter Solidarität über dazu erfor­ derliche metastaatliche Steuerungssysteme durchsetzen zu können. Tatsächlich dürfte eine d a m i t verbundene zwangsläufige Relativierung der bisherigen, m i t d e m Prinzip des souveränen Nationalstaats verknüpften, dominant auf das eigene nationale W o h l gerichteten Volkswirtschaften n u r i n eben j e n e m Maße die allge­ meine politische Z u s t i m m u n g finden, als d a r i n Erreichtes n i c h t gefährdet er­ scheint, sondern eher eine Steigerung verspricht. Freilich w i r d es gerade v o n daher d a n n aber auch verständlich, w e n n manches E n t w i c k l u n g s l a n d eher z u sozialistischen Lösungen tendiert, i n der Hoffnung, d a m i t die andrängende Über­ macht seiner Gegenwartsprobleme wirksamer u n d schneller zu bewältigen. Offen­ sichtlich steht sonach d i e Menschheit i m H i n b l i c k auf die Lösung ihrer großen ökonomischen Ordnungsprobleme noch vor ihrer eigenen Bewährungsprobe. Aber es b l e i b t noch eine letzte Problematik, d i e erst ganz a m Ende der n e u z e i t l i ­ chen E n t w i c k l u n g i n i h r e m v o l l e n Gewicht hervorgetreten ist: die ökologische Krise. Z i e l der d u r c h d i e Zuwächse a n rationaler T e c h n i k fortschreitend veränder­ ten menschlichen A r b e i t ist die fortschreitende Erschließung der uns verfügbaren W e l t i n a l l i h r e n Möglichkeiten. Aber eben - u n d v o n hier n i m m t die ganze Pro­ b l e m a t i k i h r e n Ausgang - i n i h r e n Möglichkeiten. Die Tatsache, daß die Natur zurückschlägt, w o der Boden ihrer Bedingungen preisgegeben, w o ihre Ökologie zerstört u n d i h r e Ressourcen geplündert werden, zeigt an, daß sich auf die Dauer k e i n Fortschritt auszahlt, der n i c h t v o n der N a t u r mitgetragen w i r d . Menschliche Vernunft ist d i e Vernunft einer Natur, d i e i n i h r e m ebenso gewaltigen w i e versehr­ baren Potential n u r i n d e m Maße verfügbar bleibt, als der Mensch respektiert, daß sie n i c h t d a r i n aufgeht, a l l e i n für den Menschen dazusein. Insofern b l e i b t es der menschlichen Vernunft grundsätzlich verwehrt, d i e Möglichkeiten ihres Könnens ungefragt z u m Richtmaß ihres Dürfens z u machen. H i e r setzt die Natur selbst d i e u n e r b i t t l i c h e n Grenzen. Entsprechend bedarf es n o t w e n d i g einer fundamentalen Rückbindung der Ökonomie an d i e Ökologie. Der Haushalt des Menschen ist v o m größeren Zusammenhang des Haushalts der N a t u r her auszulegen. Er steht i n bleibender Abhängigkeit v o n ihr. Andererseits überschreitet der Mensch i n der tecrmisch-wissenschaftiichen K u l t u r die Schwelle z u einem Daseinsverständnis, m i t d e m er das i h n umgreifende Poten­ t i a l der Natur überhaupt erst als schöpferische Chance seiner eigenen Selbstentfal­ t u n g als Vernunft- u n d Freiheitswesen w a h r z u n e h m e n u n d systematisch auf seine humanen Möglichkeiten h i n zu übersetzen beginnt. Das aber i m p l i z i e r t zugleich U m b a u der N a t u r auf i h n h i n . Soll er zur tatsächlichen Ausfaltung der i h m von der Natur her gebotenen Möglichkeiten seines Menschseins gelangen, k a n n er dies nur über d e n i h m i n der rationalen T e c h n i k eröffneten, zur Umgestaltung dieser 71

Natur führenden W e g erreichen. Entsprechend rückt d a n n aber auch d i e v o n i h m zu gestaltende Ökonomie unter eine Z i e l vorgäbe, für die die Rückbindung a n d i e ökologischen Erfordernisse der Natur zwar eine notwendige, jedoch keineswegs schon zureichende Bedingung darstellt. D a m i t aber ist der K o n f l i k t einprogram­ miert. Eine schlechthin konfliktfreie A l l i a n z zwischen Ökonomie u n d Ökologie k a n n es i m Prinzip nicht geben. Diese w i e d e r u m laßt dann f r e i l i c h manchen, ange­ sichts tatsächlich gegebener, z u m T e i l gewiß verheerender Mißgriffe u n d Fehlent­ w i c k l u n g e n , zu dem Schluß k o m m e n , daß technologischer Fortschritt u n d U m w e l t ­ zerstörung i n einem notwendigen inneren, gar proportional bestimmbaren Zusam­ menhang stünden, so daß der W e g zur H e i l u n g u n d d a m i t z u m Überleben des Ganzen nur über e i n „Zurück zur N a t u r " gehen könne. D e m aber steht der Tatbe­ stand der Selbstaufgegebenheit des Menschen grundsätzlich entgegen. Der Mensch ist nicht, w i e alle übrigen Lebewesen, i n d i e Natur eingepaßt. U m z u m Stande seines Menschseins zu gelangen, muß er d i e Bedingungen hierzu, u n d darin i n einem wesentlichen Sinne sich selbst, aus der i h n umgreifenden N a t u r herausarbeiten. Das aber k a n n n i c h t als M a n g e l angesehen werden, sondern begründet gerade die Einzigartigkeit u n d Größe seiner Stellung i m Kosmos. Inso­ fern stellt also d i e damit n o t w e n d i g verbundene u n d durch die rationale T e c h n i k i n umfassendem Sinne möglich gewordene U m s t r u k t u r i e r u n g der Natur auf i h n h i n auch unter einem kosmisch-evolutiven B l i c k p u n k t d e m Grundsatz nach keines­ wegs ein Übel dar. V i e l m e h r treibt auch d i e N a t u r selbst d a r i n über sich hinaus. D a m i t aber erscheint zugleich d i e ganze Polarisierung v o n Anthropozentrik u n d Physiozentrik i n der derzeitigen ökologischen Diskussion hinfällig. Die A u s w e i ­ t u n g der technischen Welt widerspricht als solche der evolutiven Vernunft der Schöpfung nicht. Tatsächlich vollzieht sie sich ganz u n d gar auf deren Linie, so­ lange der Mensch i n jedem seiner technisch-rationalen Schritte v o n der Zielvor­ stellung eines j e u n d j e herzustellenden möglichst stabilen Fließgleichgewichts zwischen Ökonomie u n d Ökologie m i t b e s t i m m t bleibt. A l s defizitär erweisen sich technische Errungenschaften entsprechend dort, w o deren N e b e n w i r k u n g e n i n A b k o p p e l u n g v o n d e m stets mitzuverantwortenden humanen u n d ökologischen Gesamtzusammenhang unaufgearbeitet bleiben. 2. Das gewandelte Verständnis von Arbeit Daseinsverständnisses

im Licht

christlichen

M i t den hier aufgezeigten, i n i n d i v i d u e l l e w i e gesamtmenschheitliche, j a k o s m i ­ sche Zusammenhänge hinreichenden hochkomplexen Folgen der durch rationale Technik veränderten A r b e i t w i r d n u n aber zugleich deutlich, daß d a r i n auch d i e A r b e i t selbst für das neuzeitliche Bewußtsein eine ganz andere, sich ins Z e n t r u m menschlichen Selbstverständnisses verlagernde W e r t u n g u n d G e w i c h t u n g erfährt. Sie w i r d z u einem entscheidenden Schlüssel der Frage nach d e m Menschen u n d seinem Gelingen, u n d zwar n i c h t n u r unter d e m Gesichtspunkt der erst m i t dieser Form v o n A r b e i t sich ausweitenden Möglichkeiten menschlicher Bedürfnisbefriedi­ gung, sondern gerade auch unter d e m Gesichtspunkt des sich i m Phänomen A r b e i t als solchem eröffnenden Vollzugs menschlicher Freiheit, menschlicher P r o d u k t i v i ­ tät u n d menschlicher Daseinsverwirklichung. Ist dieses gewandelte Verständnis v o n A r b e i t einem g e n u i n christlichen M e n ­ schen- u n d Weltverständnis p r i n z i p i e l l zuordnenbar? Geht es b e i d e n zahlreichen Deutungen dieses säkularen Phänomens i m Rahmen einer modernen „Theologie der A r b e i t " u m dessen nachträgliche christliche Rechtfertigung oder geht es d a r i n u m e i n Stück originärer, weiterführender Erschließung des christlichen Daseinsverstärrdnisses selbst? 72

Es ist gewiß nicht v o n ungefähr, daß sich die Frage nach einer „Theologie der A r b e i t " i n dieser umfassenden Weise erst i n unserem Jahrhundert zu stellen be­ ginnt. Hierfür sind sicher die zunehmenden Einsichten i n die evolutive Struktur der Schöpfung u n d die Sonderstellung des Menschen, w i e insbesondere aber auch die ungeheuren Konsequenzen der m i t der neuzeitlichen „Wende der Vernunft nach außen" heraufgeführten technisch-wissenschaftlichen Kultur, der damit ver­ bundenen Fortschrittserwartungen, aber auch der Erfahrung ihrer Grenzen die entscheidenden Auslöser. Keine Theologie, die sich der damit gegebenen Gesamt­ p r o b l e m a t i k heute mehr entziehen könnte. Christlicher Glaube versteht d i e Erde u n d das Universum als Schöpfung Gottes. Aus dieser Tatsache g e w i n n t aller rationale U m g a n g des Menschen m i t der W i r k ­ l i c h k e i t zugleich seine ursprüngliche theologische Legitimation, nämlich m i t der darin r a d i k a l vorgenommenen E n t d i v i n i s i e r u n g der W e l t u n d der gleichzeitigen E i n w e i s u n g des Menschen i n die Herrschaft über diese Welt. M i t d e m offenbarungs-theologisch geltend gemachten Anspruch der a l l e i n i g e n Gottheit Gottes, der letztlich erst i m Erfassen der W e l t als Schöpfung, als W e r k Gottes konsequent z u Ende gedacht ist, verliert d i e den Menschen umgreifende naturale W i r k l i c h k e i t jede mythische, magische u n d d i v i n e Bedeutung u n d d a m i t zugleich ihre vorge­ ordnete, aus solcher Überlegenheit fließende moralische Appellqualität. Theologie, Kosmologie u n d Soziologie, d i e vorher eine untrennbare E i n h e i t bildeten, treten definitiv auseinander. V o n daseienden Göttern entleert, w i r d d i e Welt Herrschafts­ r a u m u n d Arbeitsfeld des Menschen. Dieser i n der biblischen Offenbarung einge­ leitete Prozeß der E n t d i v i n i s i e r u n g der Welt (die Sonne ist nicht mehr e i n Gott, sondern eine Leuchte) findet seine konsequente Weiterführung i n der Entmythologisierung der entsprechenden biblischen Verstehensmuster. E i n Vorgang, der seine Voraussetzungen i n d e n v o n Kopernikus über Galilei bis Darwin reichenden naturwissenschafthchen Einsichten i n grundlegende Gesetzmäßigkeiten u n d Z u ­ sammenhänge der W e l t w i r k l i c h k e i t hat u n d der dann schließlich i n der theolo­ gischen H e r m e n e u t i k unseres Jahrhunderts insbesondere durch Bultmann ratifi­ ziert wurde... Sehr v i e l w e n i g e r spektakulär u n d fast u n b e m e r k t schiebt sich aber noch e i n w e i ­ teres Problem i n den Vordergrund, das sich erst m i t der Heraufkunft der modernen Sozial- u n d Humanwissenschaften stellt u n d für das nicht e i n m a l e i n entsprechend griffiges Reizwort ähnlich d e m der Entmythologisierung zur Verfügung steht. Z u möglichst neutraler Charakterisierung* des zur Frage stehenden Sachverhalts möchte i c h hierfür einen Terminus heranziehen, der i n der amerikanischen Sozial­ psychologie, speziell der Identitätsforschung, Bedeutung gewonnen hat, nämlich den der Reifizierung, d . h . der Versachlichung u n d Konkretisierung der Bedingun­ gen menschlichen Gelingens. M i t der Reifizierung seiner Bedingungen führt der Mensch demnach dasjenige n u n m e h r auch auf der anthropologischen Ebene z u Ende, was i m Entdivinisierungsgedanken i m m e r schon angelegt ist: Er k o m m t sich selbst auf d i e Spur. Er b e g i n n t die tatsächlichen Ausmaße seines Könnens, seiner Größe u n d seiner Grenzen z u entdecken. Er erkennt seine Lebenszusammenhänge, seine Paläogenese, seine Psychogenese, das Geflecht seiner ökonomischen, sozio­ logischen, psychologischen Bedingtheiten. Er w i r d z u m Entdecker seiner eigenen Ökologie. D a r i n ist der m i t der H e r k u n f t der kritischen Vernunft entwickelte Gedanke der Autonomie, der Befreiung v o n fremder Autorität jeglicher A r t bereits vorausge­ setzt. Eben d a r i n aber tritt jetzt zugleich die besondere theologische Bedeutung der Humanwissenschaften zutage. D u r c h sie empfängt dasjenige G e w i c h t i g k e i t u n d I n h a l t l i c h k e i t , was den Menschen seiner ursprünglichen Struktur nach i n 73

seiner theologischen Dimensionierung v o n A n f a n g a n charakterisiert, nämlich seine Gottebenbildlichkeit (Gen 1, 27). N a c h Thomas von Aquin, der den theolo­ gisch-anthropologischen Gehalt dieser Chiffre h i e r meines Erachtens i m K e r n trifft, ist der Mensch imago Dei, B i l d Gottes, insofern er entsprechend seinem U r b i l d , also Gott selbst, Ursprungsprinzip seiner eigenen Werke ist, u n d zwar kraft seiner Vernunft u n d seiner Freiheit. Der M e n s c h ist das Wesen der Selbstursächlichkeit, das seine H a n d l u n g e n m i t Wissen u n d W i l l e n z u setzen imstande ist u n d d a r i n Macht hat über seine Werke. Hieraus fließt zugleich seine einzigartige V o l l m a c h t : seine Teilhabe an der „divina Providentia", a n der Vorsehung Gottes. Sie ge­ schieht darin, daß er für sich u n d andere Vorsehung auszuüben vermag (sibi ipsi et aliis providens). Kraft der i h m eigenen naturhaften sittlichen Vernunft n i m m t der Mensch sonach aktiv teil an der göttlichen Ordnungsvernunft. Eben dieser Sach­ verhalt findet seine Imperativische Form i n d e m A u f t r a g zur Herrschaft über d i e Erde (Gen 1, 28). Dieser Auftrag zur Herrschaft aber empfängt sein Maß aus eben jener selbstverantwortlichen Vernunft, d i e die menschliche Gottebenbildlichkeit ausmacht: Der Herrschaftsstellung des Menschen über die Natur korrespondiert zugleich seine Einbettung i n d i e Natur. Jüdisch-christliche Tradition w i r d häufig m i t besonderem Verweis auf eben diese Stelle als einer der Faktoren i n A n s p r u c h genommen, die d i e moderne Beherr­ schung der Natur durch Wissenschaft u n d T e c h n i k ermöglicht haben. D i e W e l t w i r d zu einem der Gestaltung freigegebenen O b j e k t des Menschen. Nachdem n u n die Grenzen des Wachstums u n d d a m i t d i e Grenzen technischer Weltbeherrschung sichtbar geworden sind, fällt m i t d e m technischen Herrschafts wissen auch d i e jüdisch-christliche Tradition als eine seiner weltanschaulichen W u r z e l n unter das V e r d i k t einer bedenkenlosen A u s b e u t u n g der Natur. Solche K r i t i k e r übersehen freilich, daß der biblische A u f t r a g zur Herrschaft ganz u n d gar nicht i m Sinne einer Willkürherrschaft verstanden sein w i l l , d i e d e n Menschen z u beliebiger V e r w e n d u n g der übrigen Kreatur ermächtigt, sondern v i e l m e h r A u f t r a g an i h n ist, die Erde z u seinem Haus u n d seiner H e i m a t zu machen. Das aber i m p l i z i e r t : Der Mensch k a n n n u r i m verantwortlichen U m g a n g m i t der N a t u r existieren. Mensch u n d Natur sind Mitgeschöpfe, zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Dies w i r d noch deutlicher aus d e m Kontext jenes anderen Auftrages i m zweiten K a p i t e l der Genesis, nach welchem A d a m das Paradies dieser W e l t anvertraut wurde, daß er es - so wörtlich - „bebaue u n d b e w a h r e " (Gen 2, 15). Der Herrschaftsauftrag ist zugleich Gärtnerauftrag. Bekanntlich legt die griechische A n t i k e eine grundlegende Zäsur zwischen d e m Lebensvollzug des freien Bürgers u n d alle n u r dienenden Tätigkeiten. Was i m m e r an Tätigkeiten l e d i g l i c h dazu gebraucht wurde, u m das für das Leben Notwendige herbeizuschaffen oder das bloß Nützliche zu produzieren, Ackerbau, H a n d w e r k u n d Handel, j a selbst die A r b e i t des Künstlers, b l i e b d e n Unterschichten bis h i n zum Sklaven zugewiesen. Es bildete insgesamt d i e niedrigste Form i n der Rang­ ordnung der menschlichen Tätigkeiten u n d w a r eines freien Mannes unwürdig. N i c h t „Arbeit", sondern die schöne u n d angemessene „Tätigkeit" dessen, der Herr seines Lebens ist, kennzeichnet den Bürger. Diese untergeordnete Stellung der A r b e i t w i r d a n der wirkungsgeschichtlich äu­ ßerst folgenreichen Differenzierung der menschlichen Tätigkeit b e i Aristoteles besonders deutlich. Hiernach bestimmt sich A r b e i t wesenhaft durch e i n Tätigsein des Menschen i m Sinne von „Hervorbringen" u n d „Herstellen", das als solches, auf äußere Gegenstände gerichtet, e i n v o n i h m ablösbares „Werk" z u m Resultat hat. Als solches aber b l e i b t es durchgängig von den Wünschen, Nöten u n d Zwän74

gen der Menschen abhängig, stellt also v o n daher k e i n e Lebensform dar, i n der sich Freiheit manifestiert. Menschliches Leben als gleichzeitiger V o l l z u g bürgerli­ cher u n d erst darin menschlicher Freiheit k a n n sich sonach n u r i n Formen eines Tätigseins ereignen, das eben nicht durch Zwänge bestimmt ist, sondern aus sich selbst u n d u m seiner selbst w i l l e n geschieht. Das aber erscheint nach Aristoteles nur i n dreierlei Weise möglich: als e i n Leben des Genusses, als e i n Leben i m Dienst der Polis, als e i n Leben der Hingabe an d i e Philosophie: Der V o l l z u g menschlicher Freiheit vollendet sich i m k o n t e m p l a t i v e n Ideal eines „aktiven Le­ bens des Geistes", i n der übergreifenden Schau des ßios ΰεωρητιχοε , des „theoretischen Lebens". D a r i n k o m m t menschliches T u n d e m W i r k e n der Gottheit a m nächsten, das „reines Schauen" ist, u n d b i r g t so „am meisten v o m Wesen des Glücks i n s i c h " . 6

Was n u n aber eine derartige Klassifizierung für das i n d i e antike Welt eintretende Christentum i n dieser Form gegenstandslos u n d unannehmbar machte, ist gerade die genannte Grundprämisse. Es kennt v o n seinem Verständnis des Menschen her k e i n e r l e i Disqualifizierung der Arbeit. Die m i t i h m verkündete Botschaft v o m Reich Gottes ist an alle Menschen gerichtet. D i e d a r i n begründete Gleichheit der Menschen vor Gott u n d der Brüderlichkeit aller Menschen b l e i b t jeder sozialen Rangordnung m i t ihrer Auf- u n d A b w e r t u n g der Tätigkeiten übergeordnet. Unter dieser Voraussetzung konnte selbst die „Sklavenarbeit" z u m Christendienst erho­ ben werden, gleichgültig welche Mißachtung m a n i h r auch i n der hellenistisch­ römischen W e l t entgegenbrachte. I n der Zugehörigkeit zur Gemeinde Christi als d e m Xaos &εου , d e m V o l k Gottes, w a r der Unterschied zwischen Herren u n d Sklaven i m Prinzip aufgehoben: „Ihr alle seid einer i n Christus" (Gal 3, 28). Was demgegenüber jedoch an sich i n der Tat voneinander unterscheidenden Le­ bensvollzügen zu d e n Grundweisen christlicher Daseinsgestaltung gehört, l i e g t nicht i n den Unterschieden menschlicher Tätigkeit, i n der A r t der A r b e i t begrün­ det, sondern ergibt sich u n m i t t e l b a r aus d e m g e n u i n religiös fundierten Daseins­ verständnis als solchem: d i e Differenz u n d Komplementarität v o n A r b e i t u n d Ruhe, v o n A r b e i t u n d Gebet. Vorgezeichnet i m alttestamentlichen Sabbatgebot (Einmün­ den aller Schöpfungsarbeit i n die Sabbatruhe Gottes) u n d christlich v e r b i n d l i c h gesetzt i m Gebot der Sonntagsheiligung (als d e m T a g der Auferstehung Christi, d e m B e g i n n der V o l l e n d u n g u n d Neuschöpfung der W e l t i n der H e r r l i c h k e i t Got­ tes) empfängt die „Ruhe", hier als Lebensvollzug der ungestörten H i n w e n d u n g zu Gott verstanden, i n Komplementarität z u m Lebensvollzug der A r b e i t eine eigene Bedeutung u n d Maßgeblichkeit. Dennoch b l e i b e n beide wesenhaft aufeinander bezogen. Dies w i r d i m Prinzip auch dort nicht preisgegeben, w o m a n m i t d e m sich schon früh e n t w i c k e l n d e n Mönchtum nach Wegen der Nachfolge Christi sucht, die i n der Form der „evangelischen Räte" den spezifisch eschatologischen Charakter der christlichen Botschaft i n eigener Weise bezeugen. Es w a r gerade der Vater des abendländischen Mönchtums, Benedikt von Nursia, der m i t seiner Doppelforde­ r u n g des ora et labora diesen Doppelaspekt christlicher Lebensgestaltung auch für d e n Mönch v e r b i n d l i c h setzte. Andererseits verstand sich das Mönchtum dennoch als eine besondere g e n u i n religiöse Lebensform, b e i der der dominante A k z e n t zweifellos auf der Seite des orare, der H i n w e n d u n g zu Gott lag. V o n daher konnte sich i n einer auch sonst ständisch ausgelegten mittelalterlichen Welt sehr schnell die V o r s t e l l u n g zweier gestufter christlicher Lebensformen durchsetzen, einer tätigen, der Welt zugewandten, der vita activa, u n d einer betrachtenden, v o n der 6

N i k o m a c h i s c h e E t h i k I, 3 1095b 14 - 1 0 9 6 a 10; v g l . ebenda. X , 8 1178b 20 - 22; X , 9 1 1 7 9 a 22 - 32

75

H i n w e n d u n g z u Gott bestimmten, der v i t a contemplative. Eben hierfür aber glaubte m a n m i t d e m Rückbezug dieser beiden Begriffe auf die aristotelische Unterscheidung der beiden ethisch bestimmten Lebensformen, des ßios nohnxos u n d des ßios ϋεωρητιχοε , eine entscheidende, n u n m e h r zugleich auch philoso­ phisch begründete Abstützung z u finden. So jedenfalls stellt sich dies b e i Thomas von Aquin dar, i n seinem durchaus fundamental angelegten Versuch, d i e Höher­ r a n g i g k e i t der vita contemplativa gegenüber der vita activa aufzuweisen. Dabei erscheint es m i r weniger w i c h t i g , daß es sich b e i dieser Z u o r d n u n g der Begriffs­ paare, w i e das H. Arendt hier m i t Recht hervorhebt, keineswegs u m einfachhin deckungsgleiche Größen handelt. V i t a activa u n d bios nohxixos m e i n e n etwas durchaus Verschiedenes. E i n christlicher Handlungsbegriff duldet keine D i s q u a l i f i zierung der Arbeit. V i t a activa beschränkt sich n i c h t auf das Leben einer politisch u n d pädagogisch ausgerichteten πληξιε i m Sinne des ßios nohxixos , sondern i m p l i z i e r t als solche „alle A r t e n einer aktiven Beschäftigung m i t d e n D i n g e n der W e l t . " * Entsprechendes g i l t aber auch i m Bezug auf vita contemplativa u n d ßios ΰεωρητιχοε . D i e Heilserfahrung, die der Religiöse i n der v i t a contemplativa sucht, ist offensichtlich nochmals e i n Anderes als die Erfahrung jenes Glücks, das der Philosoph i m „aktiven Leben des Geistes" als einem Schauen i n der Weise der Götter findet. Doch was immer hier auch an Unterscheidendem u n d Gemeinsamem festgestellt werden mag, wesentlich b l e i b t i n beiden Fällen dieselbe Z i e l r i c h t u n g der Beweisführung: der Nachweis einer ethisch überlegeneren, höheren u n d einer davon abzugrenzenden ethisch geringeren, niederen Lebensform. Genau dies aber läßt sich v o n d e m eben genannten biblischen Grundansatz der Komplementarität her gerade n i c h t rechtfertigen. Das darin ausgesagte Zuordnungsverhältnis der beiden fundamentalen Lebensvollzüge „Arbeit" u n d „Ruhe" darf auch dort nicht, w o sie sich zu eigenen Lebens- u n d Tätigkeitsformen stilisieren, i n e i n moralisches Rangordnungsverhältnis uminterpretiert werden. Wo dies aber dennoch geschieht, müßte m a n i n der Tat Luther Recht geben, w e n n er den z u seiner Zeit sich w e i t h i n i n dieser Weise als status perfectionis, als „Stand der V o l l k o m m e n h e i t " , verstehen­ den u n d sich auch sozial so darstellenden Mönchsstand als einen „Stand w i d e r den göttlichen W i l l e n " ablehnt. 7

9

Aus a l l d e m w i r d m a n aber zunächst das Resümee ziehen müssen, daß sich keine menschliche Tätigkeit gegen eine andere moralisch ausspielen läßt. Solange sie einem menschlich erkennbaren sittlich guten Z i e l dient u n d m i t sittlich gerecht­ fertigten M i t t e l n verfolgt w i r d , ist sie moralisch jeder anderen gleich z u achten, Aus der Tatsache, daß jede Tätigkeit, je nach A r t , auch anderen zusätzlichen Be­ wertungsmaßstäben unterliegt, seien sie sozialer, ökonomischer, geistig-kultureller oder religiöser A r t , u n d hier w i e d e r u m nach D r i n g l i c h k e i t , Bedeutsamkeit, Rang­ höhe u n d dergleichen beurteilt w e r d e n kann, ist n i c h t zugleich auch e i n höherer moralischer Rang der betreffenden Tätigkeit abzuleiten. Dieser ist vielmehr - für jedermann gleich - einzig dadurch bestimmt, daß der i n der j e w e i l i g e n Sache Tätige nach bestem Gewissen u n d Können verfährt u n d eben damit sittlich gut handelt. Erst wo der moralische Wert menschlicher Tätigkeit wesenhaft personal, nämlich einzig v o n d e m moralischen W i l l e n , d e m Können u n d der Tüchtigkeit dessen her definiert w i r d , der sie ausübt, vermag sie eine generelle menschliche Bedeutung zu gewinnen, k a n n i m Prinzip jede A r t v o n Tätigkeit, also auch jede sozial u n d 7

S u m m a Theologiae, II - II, 182,1

8

H . Arendt, V i t a activa. Stuttgart 1960, S. 20

9 V g l . W L A 1 2 , 1 3 3 , 4 ff.

76

ökonomisch eingebundene A r t menschlicher Tätigkeit i m Sinne v o n Berufs- u n d Erwerbsarbeit, z u m möglichen M a t e r i a l menschlichen Gelingens, zur Vollzugsform menschlicher Erfüllung, z u m M e d i u m menschlicher Glückserfahrung werden. Eben d a r i n aber tritt jetzt zugleich der grundsätzliche Zusammenhang zwischen menschlicher Tätigkeit u n d menschlicher Glückserfahrung als e i n wesenhaft mo­ ralischer Zusammenhang hervor. W i e auf der einen Seite keine Tätigkeit, d i e einem als menschlich n o t w e n d i g u n d sinnvoll, u n d d a m i t als sittlich berechtigt erkannten Z i e l dient, moralisch disqualifiziert w e r d e n k a n n , so k a n n es auf der anderen Seite für d e n Menschen k e i n e r l e i dauerhafte, tiefere Erfüllung geben, ohne daß er n i c h t i n irgendeiner Weise i n i h m hegende Fähigkeiten entwickelt, ein Können ausbildet u n d z u der i h m gemäßen V o l l k o m m e n h e i t b r i n g t u n d sich darin als Mensch v e r w i r k l i c h t . Gerade m i t der zweiten Aussage ist n u n aber z u ­ gleich jene fundamentale Einsicht des Aristoteles aufgenommen, der i n der T a t bleibende Bedeutung z u k o m m t u n d d i e als solche d e n gesamten Gang seiner ethischen Reflexion bestimmt: Menschliche Glückserfahrung ist nicht denkbar ohne aktualen V o l l z u g menschlichen Seinkönnens; erst i m „wirkend Tätigsein gemäß vollendeter Tüchtigkeit" g e w i n n t sie i h r e e i g e n t l i c h humane D i m e n s i o n . Hinzugefügt w e r d e n muß jedoch, daß diese Aussage i m Prinzip k e i n e r l e i E i n ­ schränkung duldet, also auch für jene Form menschlichen Tätigseins zu gelten hat, die, w i e die ποιησιε - das Herstellen u n d H e r v o r b r i n g e n - v o n Aristoteles selbst noch als verachtenswert u n d würdelos eingestuft w u r d e , obschon sie für d e n M e n ­ schen n i c h t n u r elementar n o t w e n d i g ist, sondern sich zugleich auch als h u m a n sinnvoll u n d sinnerfüllend z u erweisen vermag. 10

Daß es b e i dieser p r i n z i p i e l l e n Bestimmung der ethisch-ontologischen Kohärenz v o n „Tätigkeit" u n d „Glück" u m den A u f weis eines Zusammenhangs geht, d e m zugleich eine schlechthin grundlegende theologische Valenz zukommt, zeigt d a n n schließlich dessen faszinierende Zusammenschau u n d Entfaltung b e i Thomas. Hiernach ist d i e gesamte Schöpfungswirkhchkeit gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie sich durchgängig, i n a l l i h r e n Erscheinungsformen als eine dynamische, z u eigentätigem Sein befähigte Größe darstellt. Schöpfung m e i n t n i c h t e i n f a d i h i n Fertigung i m Sinne v o n F e r t i g s t e l l u n g . Das ins Dasein Gerufene geht n i c h t d a r i n auf, daß es ist, sondern daß es sich v e r w i r k l i c h t , erfüllt. „Jedes Seiende ist seiner eigenen Tätigkeit u n d seiner V o l l e n d u n g w e g e n d a . " Erst aus der D y n a m i k der i n i h m selbst liegenden W i r k k r a f t z u d e m i h m eigenen Tätigsein vermag es z u glücken, g e w i n n t es d i e i h m j e eigene sinnhafte Gestalt u n d Realität. Das g i l t i m Prinzip für alle geschaffenen Möglichkeiten, v o n der leblosen Materie bis h i n z u m Menschen. Thomas w e n d e t sich damit insbesondere gegen jene i n der islamischen Philosophie seiner Zeit vertretenen Positionen, nach denen alle W i r k k r a f t der geschaffenen Dinge unmittelbarer Ausdruck des Wirkens Gottes ist, so daß i h n e n jede Fähigkeit zur Eigentätigkeit abgesprochen w i r d . Eben dies aber hieße nach Thomas n i c h t n u r d i e Dignität der Kreatur herabmindern, sondern auch die V o l l ­ kommenheit der schöpferischen M a c h t Gottes selbst v e r k l e i n e m u n d i n Frage s t e l l e n . Der Schöpfungsgedanke würde entleert, d i e W e l t zur Marionette eines i n seiner A l l m a c h t reduzierten Gottes. Demgegenüber sieht Thomas die durch Gott ermöglichte spezifische Qualität eines jeden geschaffenen Seins gerade dadurch bestimmt, daß es aus sich selbst heraus tätig z u sein vermag, u n d zwar aufgrund 11

1 2

13

10 N i k o m a c h i s c h e E t h i k I, II, 1 1 0 1 a 14 - 26. V g l . hierzu J . Ritter, D a s bürgerliche Glück. Z u r aristotelischen Theorie des Glücks. I n : Vieteljahresschrift für wiss. Pädagogik 32 (1956), S. 60 - 92 11 V g l . h i e r z u A. Auer, C h r i s t s e i n i m Beruf. Düsseldorf 1966, S . 240 f. 12 S u m m a Theologiae 1,65 , 2 13 S u m m a contra gentiles ΠΙ, 69

77

u n d gemäß der i h m j e eigenen W i r k k r a f t u n d F o r m . N u n ist aber das Sein des Menschen, aus dem sich für diesen das i h m spezifisch eigene Tätigsein als Sinn ermöglichendes u n d Sinn realisierendes Transfer ergibt, k e i n statisch ausdefinier­ tes, sondern wesenhaft entwurfsoffenes, sich selbst aufgegebenes Sein. Der Mensch ist „sui causa", Wesen der Selbstursächlichkeit. Gerade d a r i n unter­ scheidet er sich j a v o n allen übrigen Geschöpfen. Das Spezifische seines Tätig­ seins ist vernunftbestimmtes Tätigsein, kraft dessen er sein Leben zu führen u n d zu gestalten vermag u n d d a r i n i n eigener Weise t e i l h a t a n der schöpferischen Tätigkeit Gottes. Eben damit aber g e w i n n t auch das, was für den Menschen Erfül­ l u n g , Gelingen, Daseinsverwirklichung, Glück heißt, eine ganz eigene, i n dieser Weise b e i k e i n e m anderen Geschöpf gegebene Bedeutung u n d Qualität. M e n s c h l i ­ che Glückserfahrung geht wesenhaft m i t d e m a k t u a l e n V o l l z u g u n d der Einlösung menschlicher Selbstaufgegebenheit zusammen, m i t d e m „wirkend Tätigsein" entsprechend der d e m Menschen wesensspezifischen Befähigung z u optimaler Entfaltung seines Seinkönnens, seiner „Trefflichkeit". Thomas n i m m t hier d i e Grundaussage des Aristoteles uneingeschränkt auf: „Felicitas est operatio secun­ d u m v i r t u t e m perfectam. Dies alles b l e i b t für Thomas auch unter der Vorausset­ zung gültig, daß darin immer noch nicht die endgültige V o l l e n d u n g u n d Erfüllung liegt, das schlechthin vollkommene Glück, das für d e n Menschen i m Prinzip n u r Gott selbst sein kann. Ja es ist gerade dieses Wissen, daß die letzte V o l l e n d u n g des Menschen i n Gott selbst liegt, das d e m begrenzten tätigen Glück dieses Le­ bens nochmals eine neue, erst d a r i n erkennbare Dignität vermittelt. Es ist n i c h t mehr nur welthaftes Glück - „felicitas" - sondern, w i e Thomas jetzt d e n aristoteli­ schen Begriff des Glücks theologisch übersetzt, w i r k l i c h e „beatitudeo", Teilhabe am ewigen göttlichen Glück, w e n n auch noch unter d e n Bedingungen u n d i n der Weise der Endlichkeit: „Göttlicher denn alles ist, Gottes Mitarbeiter z u s e i n . " U n d eben dies ist der Mensch. 14

15

16

17

III. Konkretionen Der dritte T e i l des Vortrags k a n n hier leider n i c h t z u m Ausdruck k o m m e n . Es wurde d e u t l i c h gemacht, daß es i n der Theologie k e i n e Werte-Diskussion i m enge­ ren Sinne gibt, sondern daß Werte vorausgesetzt werden, u m v o n ethischem H a n ­ deln u n d v o n „Verantwortung" überhaupt sprechen z u können. Es w u r d e noch eingegangen auf das gefährlich verengte A n l i e g e n einer Theologie der Revolution, einer Theologie der Befreiung, überhaupt einer politischen Theologie. Ferner w u r d e n noch Aspekte der theologischen Ehe-Interpretation u n d der Friedenssiche­ r u n g aufgezeigt. Es seien Schlußworte zitiert: „Die Geschichte der Menschheit erweist sich ohne Zweifel bis zur Stunde als eine Geschichte ungeheurer Konflikte, aber sie erweist sich zugleich ebenso unbezweifelbar auch als die Geschichte des Aufstiegs ihrer Freiheit u n d d a m i t als Geschichte ihres Aufstiegs z u einem fort­ schreitenden, auf universelle Gestalt drängenden Frieden. Hierauf m i t a l l e m Ver­ fügbaren a n i n d i v i d u e l l e r w i e k o l l e k t i v e r Vernunft h i n z u w i r k e n ist sonach tatsäch­ l i c h - u n d hier bestätigt sich Kants Einsicht a m Ende i n überzeugender Weise noch einmal - nicht n u r ,moralische Pflicht': es i s t »gegründete Hoffnung'." Hinweis: Der Text I und Π wurde zusammengestellt aus verschiedenen einschlägigen Ver­ öffentlichungen des Vortragenden am Leitfaden von Vortragsnachschriften. Teil I ist entnom­ men aus: Wilhelm Korff, Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik. Serie Piper München/Zürich 1985, S. 9 - 32. - Sollte ein Tagungsteünehmer den Vortrag mitstenogra­ phiert haben oder gar auf Band aufgenommen haben, so möge er mir bitte Mitteilung machen. Dr. Rebstock 14 E b e n d a 1,43

16 S u m m a Theologiae I - Π, 3, 2

15 D e veritate 24,1 u n d 22, 6 a d 1

17 S u m m a contra gentiles II, 21, Zitat Ps. Dionysius, D e coel. hier. 3

78